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Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften · dbnl

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Pädagogische Schriften

Joannes Murmellius

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Joannes Murmellius, Pädagogische Schriften (ed.) Joseph Freundgen. Ferdinand Schöningh, Paderborn 1894

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© 2015 dbnl

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Einleitung.

I.

Im Jahre 1384 gründete Geert Groote in seiner Vaterstadt Deventer in Holland das erste ‘Fraterhaus’.

Geert Groote hatte eine durch die Lehrweise und die Lehrziele der Zeit beherrschte

wissenschaftliche Bildung genossen. Der Abschlusz seiner Berufsbildung hatte ihn

auf die Hochschulen zu Paris und zu Köln geführt. Nach kürtzer Lehrthätigkeit in

Köln hatte er ein einträgliches Kanonikat zu Aachen erhalten und damit die Sicherung

eines sorgenfreien behäbigen Lebens. Er hatte die Freuden, wie sie die Welt dem

Genusz der Menschen darbot, ohne die Schranken weiser Mäszigung gekostet; statt

erheiternder Befriedigung fand er Überdrusz und Ekel. Andere hatte er durch sein

belehrendes Wort im Rahmen der gelehrten Bildung seiner Zeit zum Wissen und zur

Erkenntnis führen wollen. Auch diese Thätigkeit, welche ihm den Beifall der Welt

einbrachte, fesselte ihn nicht. Das Leben in der Welt erfüllte ihn mit Überdrusz an

der Welt. Diese Stimmung führte ihn zur Einkehr in sich selbst. Er gab seine Stellung

in der Welt auf und zog sich in das Karthäuser-kloster Monikhusen - Mönchhausen

- bei Arnheim zurück, um daselbst, ohne der Ordensgemeinschaft als Mitglied

beizutreten, in der stillen Beschaulichkeit der Weltabgeschiedenheit das ernste Werk

der Selbstprüfung und der Selbstzucht an sich vorzunehmen. Während der drei Jahre

seines Ausenthaltes hierselbst vertiefte er sich unter Leitung des Kathäuserpriors

Heinrich von Kalkar in die Durchforschung der heiligen Schrift, um seinen nach

Erkenntnis ringenden Geist zum Finden der Wahrheit zu führen. Man legte es ihm

nahe, er möge sich

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zum Priester weihen lassen; in seinem demutsvollen Sinne indes hielt er sich des Empfanges der Priesterweihe für unwürdig.

Von Monikhusen begab sich Geert Groote zu dem hochbetagten Johannes Ruysbroek,

1

der als Prior das Augustinerkloster Groenendael - Grünthal - unweit Waterloo leitete, um sich von ihm in die Lehren der Mystik

2

einweihen zu lassen.

Johannes Ruysbroek galt zur Zeit als der bedeutendste Vertreter der Mystik; er hatte den überlieferten Lehren der Mystik eine auf eigene Gedankenarbeit gegründete selbständige Fortbildung gegeben. Ruysbroek lehrte seine Schüler durch freigewählte Abtötung sich den Neigungen zu entfremden, welche den Menschen zur Welt hinziehen und an die Welt fesseln; er hielt sie an, all ihr Denken, Fühlen und Wollen dem innern Leben zuzuwenden und dieses innere Leben in all seinen Bethätigungen Gott hinzugeben; durch Wort und Beispiel leitete er sie zu dem ernstlichen Streben hin, sich auch der Lust an den selbstgeschaffenen Früchten des inneren Lebens zu begeben, um in der Vollkommenheit der Herzensreinheit und des Geistesfriedens der Vereinigung mit Gott entgegenzureifen. In der Entsagung, die bis zur

Bedürfnislosigkeit führte; in der friedvollen Einmütigkeit des Zusammenlebens, das sich nach den Grundsätzen der christlichen Liebe regelte; in der Freudigkeit des Opfermutes, der sich in der Werken der Nächstenliebe bekundete, erinnerte die Klostergenossenschaft zu Groenendael an die ersten Zeiten des Christentums.

Unter Ruysbroeks Zuspruch reiften hier für Geert Groote die Pläne, deren Verwirklichung er sein weiteres Leben widmete. Seitdem zog er als Volksprediger umher im Umkreise des Bistums Utrecht. Er predigte zum Volke in der Sprache des

1 Johannes Ruysbroek (1293-1381), ehedem Geistlicher an der Kirche S. Gudula zu Brüssel, wird nach seinem Geburtsort Ruysbroek bei Brüssel genannt; sein Familienname ist nicht bekannt. Einen Teil seiner philosophischen Werke schrieb er in vlämischer Sprache; einige derselben hat Geert Groote ins Lateinische übersetzt. Johannes Ruysbroek erhielt von den Zeitgenossen den Beinamen: ‘doctor extaticus.’

2 Mit ‘Mystik’ wird eine in der zweiten Hälfte des Mittelalters wirksam hervortretende philosophische Richtung benannt, deren wesentlichste Merkmale in den im weiteren (s. oben) erwähnten Lehrmeinungen des Johannes Ruysbroek ihre Kennzeichnung finden.

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Volkes. Er redete ‘gewaltig in der Kraft Johannes des Täufers,’

1

mild und gewinnend, wenn es galt, die beseligende Macht der Lehre Christi zu erweisen; streng und unerbittlich, wenn es galt, sittliche Verwilderung jeglicher Art zu bekämpfen;

überzeugend und erschütternd in jedwedem seiner Worte. Der Zulauf zu seinen Predigten ward so gewaltig, dasz die Kirchen nicht ausreichten, die Hörer zu fassen;

so predigte er denn auf öffentlichen Plätzen. Der Freimut, mit welchem er sich gegen das vielfach würdelose Gebaren der Bettelmönche aussprach, wandte ihm die Feindschaft der Bettelorden zu. Diese wuszten von dem Bischofe von Utrecht das Verbot seiner Predigten zu erwirken.

Geert Groote beschränkte hinfort seine Wirksamkeit auf einen kleineren Kreis. In seiner Vaterstadt sammelte er jüngere Leute, vornehmlich Schüler der Lehranstalt daselbst, um sich. Durch Lesen guter Schriften suchte er ihre Kenntnisse zu erweitern und ihre Sitten zu veredeln. Das eigene reiche Wissen des Meisters ward ihnen zur Fundgrube neuer Kenntnisse, nicht minder aber die stattliche Bücherei desselben, deren Schätze er von überallher sorglich zusammengetragen hatte. Da seine Anhänger meist unbemittelt waren, hielt Geert Groote sie an, durch eigene Arbeit, vornehmlich durch Abschreiben, sich selbst den Unterhalt zu erwerben. Das herkömmliche Betteln untersagte er ihnen; Bettelei sollte ihnen als eine verächtliche Selbsterniedrigung gelten, solange noch Kraft zur Arbeit vorhanden. Die durch die Arbeit seiner Schüler erzielte Vervielfältigung guter Schriften sollte zugleich dem lehrbedürftigen Volke zur Wohlthat werden.

Seitdem Geert Groote mit dem gleichgesinnten Florentius Radewijn

2

zu

gemeinsamen Wirken in Verbindung getreten, gewann die Genossenschaft, die sich um ihn sammelte, gröszeren Umfang, aber auch festeres Gefüge. Damit entstand das erste ‘Fraterhaus’. Seine Mitglieder, ‘die Brüder vom gemeinsamen Leben’,

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führten, ohne durch ein Gelübde gebunden zu

1 So lautet das Urteil des Thomas von Kempen.

2 geb. zu Leerdam 1350; gest. 1400.

3 Sie nannte sich auch ‘Brüder vom guten Willen’, eben weil sie in ihrer Gemeinschaft durch kein Gelübte gebunden waren. Es gab noch andere Namen für sie: ‘Hieronymianer’ nach ihrem Schutzheiligen, dem Kirchenvater Hieronymus; ‘Gregorianer’ nach Papst Gregor dem Groszen (590-604), welcher während des Mittelalters vielfach als Schutzheiliger des Schulwesens verehrt wurde; ‘Kollatienbrüder’ nach ihren religiösen Zusammenkünften (Kollatien).

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sein, ein beschauliches und doch auch werkthätiges Leben, das in all seinen

Äuszerungen von einer ebenso ernsthaften wie prunklosen Frömigkeit durchdrungen war. Und wie sie für sich selbst der Vervollkommnung des Herzens und des Geistes sich dauernd beflissen zeigten, so trugen sie auch für das Volk in unablässigem Bemühen Sorge um die Zucht des Geistes und der Sitte.

Geert Groote erlebte nur die Anfänge seines groszen Werkes, das in der Folge für viele Jahrzehnte Unzähligen die Quelle sittlicher und geistiger Erhebung werden sollte. Im Jahre der Gründung des ersten Fraterhauses wurde Geert Groote als das Opfer einer Seuche dahingerafft, am 20. August 1384, vierundvierzig Jahre alt.

Seitdem fand Florentius Radewyn einen wackeren Mitarbeider an dem trotz seiner Jugend umsichtigen und thatkräftigen Geert Zeebold

1

(1367-1398),dem es vornehmlich nachgerühmt wird, dasz er die in vielen Zweigniederlassungen verbreitete Genossenschaft einheitlich zu gestalten und einheitlich zu erhalten wuszte.

Die Verbreitung der ‘Brüderhäuser’ war eine überraschend schnelle. Fast jede namhafte Stadt Hollands erhielt ihr Bruderhaus.

2

Die Brüderhäuser verbreiteten sich über

1 Nach seiner Vaterstadt ‘Geert (Gerhard) von Zütphen’ genannt.

2 Ein Fraterhaus vereinigte in der Regel 20 Genossen, Geistliche und Laien, welche teils als Mitglieder der Genossenschaft angehörten, teils durch längere Prüfungszeit sich die Mitgliedschaft erwerben wollten. Wohnung, Nahrung, Kleidung wurde aus gemeinsamen Mitteln bestritten. Die Andachtsübungen und die der Erwerbung des Unterhaltes dienenden Arbeiten waren allen gemeinsam. Der Vorsteher des Fraterhauses war der ‘Prior’, auch wohl

‘Rector’, oder ‘Praepositus’ genannt. Andere, dem Prior unterstellte Würdenträger innerhalb einer Genossenschaft waren der ‘Procurator’, der Hausverwalter; der ‘Infirmarius’, Leiter der Krankenpflege; der ‘Hospitarius’, der Herbergsmeister, dem die Aufnahme des Gastbesuches unterstellt war; der ‘Librarius’, der Verwalter der Bücherei; der ‘Scriptuarius’, der Schriftmeister, der die Anfertigung von Bücherabschriften anordnete und überwachte.

Jährliche Zusammenkünfte der Vorsteher der einzelnen Niederlassungen sicherten der weitverzweigten Genossenschaft die Einheitlichkeit. Dem Vorsteher des Fraterhauses zu Deventer wurden von allen anderen Ehrenvorzüge zuerkannt, ohne dasz den Anordnungen desselben verpflichtende Kraft für alle Fraterhäuser beigemessen worden wäre.

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Belgien; sie drangen bis nach Frankreich vor; über ganz Norddeutschland, von der Mosel bis zur Weichsel dehnten sich diese Gründungen aus. An vielen Orten entstanden auch Schwesterhäuser, die ähnliche Ziele verfolgten.

Überall blieben die Brüder des gemeinsamen Lebens ihrer selbst gewählten Aufgabe getreu. Neben der eignen Vervollkommnung suchten sie ‘rein im Wandel und fest im Glauben’ in unablässigem Bemühen durch das belehrende und ermahnende Wort der Predigt wie durch Verbreitung zweckmäsziger Schriften in der Sprache des Landes, dem Volke für sein Leben einen höheren Inhalt und für seine Sitte uns Zucht einen festeren Halt zu geben. Namentlich lieszen sie es sich angelegen sein, Teile der h. Schrift in der Sprache des Volkes, anfänglich durch Abschriften, später durch Druckwerke, zum Besten des Volkes im Volke zu verbreiten. Sehr früh stellten sie so die Buchdruckerkunst in den Dienst der von ihnen erstrebten Volkswohlfahrt.

Aber durch die Erfahrung wurden sie immermehr zu der Erkenntnis hingedrängt, dasz die Jugend der Träger der Geschicke eines Volkes ist, dasz alles Gute, das dem Volke zukommen soll, ihm durch die Schule zuflieszen musz. Ohne jenes unmittelbare Einwirken auf das religiöse und sittliche Leben des Volkes zu vernachlässigen, oder gar auszer acht zu lassen, widmeten sie sich in der Folge immer zielbewuszter und mit stets wachsendem Eifer der Bildung der Jugend.

Dieses ihr Bestreben fand Anregung und Förderung bei dem Bürgertum der Zeit

nach Weise und Art desselben. Das Bürgertum sah sich dank seiner Schaffenskraft

und seiner Schaffenslust allenthalben von behaglichem Wohlstand umgeben. In den

staatlichen Bildungen, denen es angehörte, reifte es zur Selbständigkeit heran. Konnte

es in den vielfach wildbewegten Kämpfen des Tages auch nicht überall den Sieg

erringen, so hatte es doch durch sein Eingreifen in diese Kämpfe seine nachhaltige

Kraft bekundet; es hatte seinen Gegnern Achtung abgenötigt und sich selbst freiere

Beweglichkeit gesichert. Mit dem wirtschaftlichen Erblühen und dem politischen

Erstarken ging Hand in Hand, gefördert und selbst fördernd, das Streben

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nach geistiger Bildung. So finden die Brüder des gemeinsamen Lebens an den Orten ihrer Wirksamkeit vielfach schon Schulen vor, in deren Verband sie dann als willkommene Lehrer eintreten. Anderswo wird es ihnen leicht, mit Hilfe des bildungsbedürftigen und bildungsfrohen Bürgertums neue Schulen zu gründen. All diese Schulen beleben sie mit dem ihnen eigenen Geiste. Das Sondergepräge dieser Schulen kennzeichnet sich in der Gesamtheit der inneren und äuszeren Einrichtungen, in der Auswahl und Behandlung der Lehrstoffe, in den Zielen und der Weise des Unterrichts, in dem Inhalt und den Mitteln der Zucht.

In all den Schulen der Brüder des gemeinsamen Lebens herrscht der Grundsatz Geert Grootes, dasz Erziehung und Unterricht Bildung des Herzens und des Lebens zunächst und zumeist durch das Wort Gottes anzustreben haben; geltend bleibt allen seine Vorschrift, dasz von dem Unterricht der Jugend wie von der Unterweisung des Volkes alles fern zu halten ist, was nicht zum Guten hinführt oder was nicht vom Bösen ablenkt.

Allmählich unterschieden sich die Schulen der Hieronymianer in solche, die der niederen Bildung, und in solche, die der höheren Bildung dienten. Gerade die letzteren kennzeichnen in ihren Besonderheiten die Bestrebungen der Hieronymianer.

Wenn sich die Brüder des gemeinsamen Lebens in ihren Schuldbestrebungen auch von der richtigen Erkenntnis leiten lieszen, dasz der Unterricht auf neue Bahnen geleitet werden müszte, so brachen sie doch nicht mit dem Überlieferten; sonderd und sichtend knüpften sie an das Bestehende an, um Gegebenes in ihrem eigenen Sinne auszubauen. Ihre Schulen berühren sich demgemäsz in mancherlei Hinsicht mit den älteren Schulen des Mittelalters: in der Bevorzugung der religiösen Bildung vor der wissenschaftlichen; in der überwiegenden Bedeutung, die dem lateinischen Unterricht gegeben ist; in der Vorliebe für Übungen in Versemachen, durch welche die Zöglinge zur Gewandtheit und Sicherheit in der Handhabung der lateinischen Sprache geführt werden sollen.

Nach der bisherigen Weise des grammatischen Unterrichtes an den höheren Schulen

wurde die Grammatik um der Grammatik selbst willen betrieben. An der Hand der

den Unterricht

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beherrschenden Lehrbücher sollten die Schüler hingeführt werden zur Erkenntnis von dem Wesen der grammatischen Begriffe und der vielgestaltigen Möglichkeit ihrer Beziehungen zu einander. Das ganze Rüstzeug der Scholastik ward hierzu aufgeboten; selbst ausgeklügelte Spitzfindigkeiten aller Art blieben nicht

ausgeschlossen. Nach einer Reihe von Jahren des grammatischen Studiums wuszte der Schüler freilich das, was er, zumeist wohl ohne eigenes Verständnis, an

philosophischen Darlegungen über die grammatischen Formen und ihre

Wechselbeziehungen erlernt hatte, herzusagen; die grammatischen Formen selbst indes wuszte er in Wort und Schrift weder mit Geläufigkeit noch mit Anmut zu handhaben.

Die Hieronymianer stellten die Grammatik wieder in den Dienst der

Spracherlernung. Sie bekämpften die überlieferten Lehrbücher der Grammatik. Die Lehrbücher, welche sie an deren Stelle setzten, sollten Sprachformen darbieten, um die Gesetze der Sprache erkennen zu lassen; sie sollten Sprachstoffe darbieten, um durch dieselben zur Beherrschung der Sprache zu führen; knapp in der Auswahl des Lernstoffes, sollten sie sich in ihrer Darstellungsweise der Fassungskraft der Schüler anpassen. Das grammatische Studium sollte vereinfacht und die Zeit des

grammatischen Studiums sollte verkürzt werden, um die Schüler möglichst bald zum Lesen lateinischer Schriftwerke zu befähigen.

Den sachlichen Wert der Schriftwerke des Altertums pflegten die Brüder des gemeinsamen Lebens nach den Anschauungen des Christentums zu prüfen und azumessen. Gleichwohl lieszen sie die Schriftwerke der Alten nicht blosz der sprachlichen Übungen wegen lesen, sondern auch ihres sachlichen Inhaltes wegen.

Sie erschlossen ihren Schülern den Bildungsschatz, den jene Werke des Altertums

für alle Zeiten in sich tragen, in weiser Beschränkung, um jede Gefahr für die

Sittlichkeit fern zu halten. Auch war es ihnen bei der Auswahl der Schriftsteller nicht

lediglich um die lateinische Sprache schlechtweg zu thun; sie pflegten an Beispielen

der mustergültigen Sprache die Schüler zur Feinheit und Anmut in der Handhabung

der lateinischen Sprache zu führen. Auch die Werke christlicher Schriftsteller fanden

bei den Hieronymianern Beachtung und Verwendung in der Schule. Und nirgendwo

nordwärts der Alpen hat dann

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die griechische Sprache so früh ihren Einzug in die Schule gehalten als bei den Hieronymianern.

Neben dem Sprachunterrichte räumten sie auch dem Sachunterricht eine wenngleich bescheidene Stelle ein. Die Schüler wurden über die Dinge nicht an den Dingen selbst unterwiesen, sondern an der Hand von sprachlichen Darstellungen über die Dinge.

Die Schulen der Brüder des gemeinsamen Lebens waren in Klassen eingeteilt.

Schon die grosze Menge der Zöglinge, die sich bei einzelnen dieser Schulen einfanden, liesz dies notwendig erscheinen.

1

In den untern Klassen war der Unterricht in sämtlichen zur Behandlung kommenden Unterrichtsgegenständen Klassenlehrern anvertraut. Dieselben wählten sich Zöglinge der oberen Klassen als Helfer beim Unterricht. In den oberen Klassen lagen die verschiedenen Unterrichtsgegenstände in der Hand von Fachlehrern. Der Unterrichtsstoff war in seiner Gesamtheit in Stufen gegliedert unter weiser Berücksichtigung der sich allmählich steigernden

Fassungskraft der Zöglinge und unter umsichtiger Wahrung des inneren Zusammenhanges der einzelnen Unterrichtsgegenstände.

Die Zucht in den Schulen der Hieronymianer war streng und hart; sie stand unter der Herrschaft der Rute. Die Hieronymianer lieszen sich von dem Bestreben leiten, die Eigenartung ihrer Zöglinge genau zu erforschen, um die erziehliche und

unterrichtliche Einwirkung auf dieselben der Besonderheit ihres Wesens anzupassen.

Das Mittel, welches sie zur Beobachtung und Überwachung ihrer Zöglinge anwandten, würde von unserer Zeit nicht gebilligt werden. Durch geheime Aufpasser, welche sie der Mitte der Zöglinge selbst entnahmen, übten sie diese Beobachtung und Überwachung aus. Damit säeten sie Misztrauen und Miszgunst unter die Zöglinge;

damit zogen sie Angeberei und Heuchelei grosz.

Den Lerneifer aller suchten sie anzupornen durch öffentliche Auszeichnungen, die sie den Strebsamen zu teil werden lieszen. Am Jahresschlusse und bei anderen paszlichen Gelegenheiten wurden Bücher als Geschenke unter die Fleiszigen verteilt.

1 So zählte im Anfang des XV. Jahrhunderts die Schule zu Zwolle an 1000 Schüler.

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Damit regten sie den Ehrtrieb der Zöglinge an, ohne der Gefahr zu gedenken, dasz damit der Ehrgeiz derselben allzuleicht in Ehrsucht ausarten könne.

Aus den Schulen der Hieronymianer sind begeisterte Anhänger und hervorragende Träger des Humanismus hervorgegangen. Die Brüder des gemeinsamen Lebens sind für Deutschland nicht die Schöpfer und Erwecker des Humanismus gewesen; wohl aber haben sie als Vorläufer demselben die Wege bereitet. Sie haben nicht die erste Saat des Humanismus ausgestreut, wohl aber haben sie den Boden bereitet für diese erste Aussaat. Ihre Bestrebungen waren verwandt mit denen des Humanismus, ohne die Wurzel zu denselben zu sein. Aus ihrem Wirken ist der Humanismus freilich nicht hervorgegangen; aber ohne ihr Wirken vor den Tagen wie in den Tagen des Humanismus würde derselbe in Deutschland nicht so rasch Verständnis und Pflege gefunden haben.

Unter den vielen rühmlichen Schulen der Brüder des gemeinsamen Lebens hatte lange Zeit hindurch die Schule zu Deventer den gröszten Ruf. Die Schule zu Deventer ward hochbedeutend durch die Lehrer, welche an ihr wirkten; sie ward hochbedeutend durch die stattliche Anzahl wissenschaftlich geschulter Männer, die dort ihren Ausgang nahmen; dieselben trugen in ihrem eignen Wirken die Weise dieser Schule hinaus in die Welt, und die Anregungen dieser Schule führten sie in selbständigem Schaffen zur Entwicklung zum Gedeihen der deutschen Schule und zur Ehre der deutschen Wissenschaft.

Die Schule zu Deventer erhob sich zu ihrer höchsten Blüte unter Alexander Hegius,

1

welcher dieselbe von 1474 bis 1498 leitete. In den Darstellungen der Zeitgenossen wird derselbe als ein ‘gelehrter, heiliger und beredter Mann’, als ein Mann von

‘wunderbar anregender Kraft’ geschildert, der des Lateinischen wie des Griechischen in gleicher Weise mächtig war, ‘der aber aus Verachtung des Ruhmes nichts Groszes ausführte.’ ‘Schrieb er etwas, so that er's, als wär's ein Spiel,

1 Alexander Heek (van Heck), genannt nach seinem Geburtsorte, dem Schulzenhofe Heck im Kreise Ahaus in Westfalen; als Geburtsjahr wird 1433 (von anderen 1420) angegeben; er starb zu Deventer im Jahre 1498.

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kein Ernst, obgleich seine Schriften der Art sind, dasz sie nach dem Urteil der Gelehrten die Unsterblichkeit verdienen.’ Sein Streben, sich und andere zu bilden, war von dem Grundsatze beherrscht: ‘Alle Gelehrsamkeit ist verderblich, die mit Verlust an Frömmigkeit erworben wird.’

Nach dem Tode des Alexander Hegius sank die Schule zu Deventer von ihrer Höhe herab. Der Ruhm, die bedeutendste Schule, im Sinne, der Brüder des

gemeinsamen Lebens zu sein, ging seitdem über auf die Domschule zu Münster, an welcher hervorragende Schüler des Alexander Hegius als Lehrer wirkten.

Ein Zögling der Schule zu Deventer und ein Lehrer an der Domschule zu Münster ist Johannes Murmellius.

II.

Zu Roermond, der schmucken, behäbigen Stadt im Gelderlande, ward Johannes Murmellius im Jahre 1480 als das einzige Kind seiner Eltern geboren. Sein Vater, Dietrich Murmellius, wird als ernst und gottesfürchtig, als ein Mann klaren Verstandes und ruhiger Denkart geschildert. Es konnte sich derselbe wissenschaftlicher Bildung nicht rühmen. Dasz er indes Sinn und Verständnis für wissenschaftliche Bestrebungen, für ihre Bedeutung bei der Geistesbildung des einzelnen wie für ihren Wert im Leben der Menschen hatte, erhellt zur Genüge deraus, dasz er seinem Sohne

wissenschaftliche Ausbildung angedeihen liesz. Wie richtig er hierbei die Eigenart

des Sohnes erkannt hatte, wie sehr er von der Überzeugung durchdrungen war, dasz

sein Sohn Johannes in der Pflege der Wissenschaften das Glück seines Lebens finden

werde, dürfte aus der Thatsache erschlossen werden, dasz er auf dem Sterbebette

noch sich von seinem Sohne das Versprechen geben liesz, der Wissenschaft dauernd

treu zu bleiben. Die Zusage des Sohnes musz um so löblicher erscheinen, als

schwerlich die Lehrer, welche ihn bis dahin zu Roermond unterrichtet hatten, es

gewesen sein können, die durch ihre Kenntnisse oder durch ihre Unterrichtsweise in

ihm die Liebe zur Wissenschaft entzündeten oder ihn in seinem Lerneifer ermunterten

und förderten. Als später Johannes Murmellius als Lehrer der

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Jugend eigene Erfahrungen gesammelt hatte, hat er über diese seine ersten Lehrer das herbe Urteil gefällt, dasz sie des Lateinischen unkundig und im Unterrichten unerfahren gewesen seien, dasz er unter ihrer Leitung lange Zeit nutzlos verbracht habe.

Ein günstiges Geschick führte den Johannes Murmellius vielleicht schon im Jahre 1492 nach Deventer. Es ist nicht bestimmbar, ob er lediglich nach eigenem Ermessen in die Schule zu Deventer eintrat, oder ob seine Verwandten ihn zu diesem Schritte vermocht haben.

Die Schule zu Deventer stand damals dank den Verdiensten des Alexander Hegius auf der Höhe ihres Ruhmes. Um so gröszer der Abstand zwischen dem zum

verknöcherten Formelkram entarteten Unterricht, wie ihn Johannes Murmellius zu Roermond an sich erfahren hatte, und der geisterfüllten und geistbildenden Weise zu Deventer: um so gedeihlicher die Rückwirkung auf den Geistesbildung ersehnenden Murmellius. Hatte die Schule zu Roermond ihm nur schwerfällige Formen des Wissens geboten, welche selbst nie geistiges Leben erwecken konnten, so bot sich ihm zu Deventer in anmutig anregender Form reicher Wissensinhalt, welcher nicht in unerbittlicher Einseitigkeit nach dem Maszstab einer engbegrenzten Berufsbildung ausgewählt und abgemessen war, welcher vielmehr - wenn auch nicht gerade ausgesprochener Maszen - der Menschenbildung diente. Dazu kam nun die besonderartige Anregung, welche in dem Unterrichtsverkehr mit einem so

vorzüglichen Lehrer wie Alexander Hegius lag. Alexander Hegius war eben ‘eine jener geborenen Lehrernaturen, welche unwillkürlich durch Wesen, Erscheinung, Behaben und Leben belehren, bilden und erziehen, welche in den verschiedensten Schülern die geistige und sittliche Kraft wecken und stärken, auf jeden seiner Art gemäsz einwirken und in dieser Thätigkeit ihre volle Befriedigung finden.’

In der Schule zu Deventer wurden die Keime gelegt, bei deren Entfaltung Johannes Murmellius zu einem begeisterten Anhänger der humanistischen Bewegung

heranreifte, welcher mitunter auch als streitbarer Vorkämpfer für den Humanismus

auf den Plan trat. Hier schlosz er als Jüngling Freundschaften, die, gegründet auf

Gleichheit der wissenschaftlichen Schulung und gekittet durch Übereinstimmung

der wissen-

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schaftlichen Überzeugung, dem Manne einen stattlichen Kreis werkthätiger Gesinnungsgenossen sicherten.

Im Jahre 1496 zog Johannes Murmellius zur Hochschule nach Köln. Am 14. April ward er daselbst immatrikuliert. Die Aufnahmegebühren im Gesamtbetrage von sieben Weiszgroschen wurden ihm rücksichtlich seiner Dürftigkeit erlassen. In der Folge trat er in die Burse der Laurentianer ein, welche der Obhut des Arnold von Tongern unterstellt war.

An manchen Hochschulen Deutschlands hatte um die damalige Zeit der Humanismus schon seinen siegreichen Einzug gehalten. Die groszen Lehrer der Scholastik, Albertus Magnus, Thomas van Aquin und Duns Scotus, welche ehedem zu Köln lehrten, hatten dieser Hochschule sowohl für den Lehrinhalt wie für die Lehrweise gewissermaszen ein zu festes Gepräge gegeben, als dasz der Humanismus mit seinen neuen Lehrgegenständen und seiner in Form und Ziel veränderten Lehrweise daselbst leicht und zeitig hätte Eingang finden können. Aus der Reihe der Kölner Gelehrten erwuchsen dem Humanismus und seinen Vertretern ebenso hartnäckige wie kampfesfreudige Gegner. Allein der das wissenschaftliche Leben jener Tage beherrschende Zug erwies sich stärker als die ehrfurchtsvoll gepflegten Überlieferungen aus alter Zeit. So fand denn auch an der Kölner Hochschule der Humanismus Eingang, wenngleich er auch dann noch seine Daseinsberechtigung daselbst zu erweisen und selbst zu erkämpfen hatte.

Zu damaliger Zeit hatten sich an der Hochschule zu Köln etwa 2000 Studenten zusammengefunden; aus allen Gauen Deutschlands, selbst aus Schweden und Dänemark, aus Livland uns Schottland hatten sie sich eingestellt. Dieser Zulauf schon rechtfertigt die Annahme, dasz die Kölner Hochschule, wenn freilich nicht aus eignem Antriebe, sich angeschickt hatte, den Forderungen der wissenschaftlichen Bewegung jener Tage Rechnung zu tragen. Denn dem Drängen der wissensbegierigen Jugend, welche auch damals stets dem Neuen sich zuwandte und welche sich angelockt und gefesselt sah durch die Schönheiten des klassischen Altertums, das ihr der

Humanismus erschlosz, wäre nicht zu widerstehen gewesen.

Selbst ein Gelehrter wie Arnold von Tongern, welcher späterhin wegen seiner

Stellungnahme zu den wissenschaftlichen

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Streitfragen jener Tage von den Anhängern des Neuen unversöhnlich befeindet und schonungslos verschrieen wurde, wird nicht eben grundsätzlich alles und jedes, was der Humanismus an Neuerungen forderte oder anempfahl, zurückgewiesen haben.

Es wäre sonst nicht zu verstehen, dasz der ‘Humanist’ Murmellius in seinen späteren Jahren seine Lehrer an der Hochschule zu Köln und insonderheit gerade diesen Arnold von Tongern ihrer Gelehrsamkeit und Weisheit wegen in gebundener und in ungebundener Rede rühmt und verherrlicht. Es wäre weiterhin unbegreiflich, warum Johannes Murmellius späterhin eine seiner Schriften, in welcher er mit der

Begeisterung und Zuversicht der Überzeugung für die Pflege der Humanitätsstudien eintritt, gerade jenem Arnold von Tongern gewidmet haben sollte.

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Schwerlich werden mithin die Kölner Studienjahre für die humanistische Weiterbildung des Johannes Murmellius ohne Bedeutung gewesen sein. In seinen philosophischen und theologischen Studien machte er erfreuliche Fortschritte: er ward Baccalaureus und später, im Jahre 1500, Licentiat.

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Unmittelbar nachdem er in herkommlich feierlicher Weise mit der Würde eines Licentiaten bekleidet worden, verliesz er die Hochschule zu Köln, um sich als Lehrer eine Lebensstellung zu sichern. Die Unzulänglichkeit seiner Geldmittel wird aller Wahrscheinlichkeit nach für ihn zur Nötigung zu diesem Entschlusse geworden sein.

Er selbst berichtet uns, dasz er unter dem Drucke eines ungünstigen Geschickes sich dahin entschieden

1 Diese Schrift: ‘Didascalici libri duo’ ist 1510 erschienen.

2 Das Baccalaureat war die niedrigste Stufe der akademischen Würden: Baccalaureus, Licentiat, Magister (Doktor). An manchen Universitäten Deutschlands war die Erlangung des Baccalaureats abhängig gemacht von einem zweijährigen Studium, von dem Besuche bestimmter Vorlesungen, von einer besonderen Prüfung und von der Abhaltung von zehn öffentlichen Disputationen. Wann Johannes Murmellius das Baccalaureat erworben, ist nicht festzustellen; indes geschah es wohl nicht vor dem Jahre 1498. Zum Licentiaten wurde er gemäsz der heute noch vorliegenden Promotionsakten am 14. März 1500 befördert. - Die Magisterwürde erlangte Murmellius ebenfalls von der Hochschule zu Köln. Er war mit Rücksicht auf seine persönlichen Verhältnisse von der sonst gebotenen Verpflichtung, zwei Jahre hindurch an der Hochschule Vorlesungen zu halten, entbunden worden. Von Münster aus kam er nach Köln und erlangte dort am 26. März 1504 die Magisterwürde.

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habe, andere zu lehren, wo er es doch vorgezogen hätte, von andern zu lernen, und Sprachstudien zu betreiben, wo er sich doch zu theologischen Studien hingezogen gefühlt hätte.

Von Köln aus begab sich Johannes Murmellius nach Münster. Ob er schon vorher mit Münster Verbindung angeknüpft hatte, ob er dem Rate wohlmeinender Freunde in Köln folgte, ob er lediglich der eigenen Wahl nachging, läszt sich heute nicht bestimmen.

In Münster traf Murmellius ein in weiten Kreisen verbreitetes Streben zur Hebung der Jugendbildung an. Schon im Jahre 1400 war von Deventer aus ein Fraterhaus in Münster gegründet worden. Bei ihrem in gleicher Weise umsichtigen und

unermüdlichen Eifer für Jugenderziehung und Volksbildung werden die Fraterherrn in ihrem hundertjährigen Wirken daselbst erfreuende Ergebnisse gewonnen haben.

Die dem Humanismus verwandten Bestrebungen der Hieronymianer haben dann auch frühzeitig den humanistischen Studien in Münster eine Stätte gesichtert. Um die Wende des Jahrhunderts war in Münster der bedeutsamste Förderer des wissenschaftlichen Lebens im Sinne der Hieronymianer der Domherr Rudolf von Langen (1439-1519). Derselbe liebte es trotz seines hohen Alters durch seine eigene jugendliche Frische jüngere Leute an sich zu ziehen, um ihnen in ihren Studien ein Berater und Förderer zu sein. Sein eigenes reiches Wissen und Können, wie es ihm eine langjährige Erfahrung an die Hand gab, verwandte er stets wohlwollend und bereitwillig zum Nutzen der lernbedürftigen Jugend. Seine stattliche Büchersammlung, die bedeutsame Schätze des Wissens umschlosz, ward seinen Freunden jung und alt eine schier unerschöpfliche Quelle der Belehrung. Seine freigebige Hand ermöglichte manchem, dem Dürftigkeit hemmend entgegentrat, die Fortsetzung der

liebgewonnenen Studien.

Doch nicht in der Förderung des einzelnen in den Wissenschaften erkannte er

seines Lebens höchste Aufgabe. Thatkräftig und zielbewuszt erstrebte er für Münster

eine verbessernde Umgestaltung des höheren Schulwesens im Sinne der neuen

Richtung, welcher er für die Zukunft die Herrschaft beimasz. Und als nach

langjährigem Bemühen alle Schwierigkeiten und Hemmnisse beseitigt waren, als

die seinerseits in Vorschlag gebrachte

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Umgestaltung der Domschule zu Münster verwirklicht werden sollte, da wandte er sich an den zur Zeit berühmtesten Schulmann der Hieronymianer, an Alexander Hegius, um ihn zur Übernahme des Rektorats an der Domschule zu Münster zu bewegen. Doch dieser versagte sich seinen Bitten; er empfahl ihm indes einen seiner fähigsten Schüler, Timann Kemner, für dieses Amt. Im Jahre 1500 wurde dann auch Timann Kemner Rektor an der Domschule zu Münster.

An Rudolf von Langen wandte sich Johannes Murmellius bei seiner Ankunft in Münster. In dem Jünglinge, welcher sich bei seiner Bewerbung um eine Lehrerstelle von dem zuversichtlichen Vertrauen zu der eigenen, freilich kaum erprobten Kraft leiten liesz, erkannte Rudolfs Scharfblick den wissenseifrigen und wissenstüchtigen Gelehrten und den seines Berufes sicheren und in seinem Berufe treuen Bildner der Jugend. Seiner Fürsprache hatte Murmellius die Berufung zum Lehrer an die Domschule zu verdanken. Auch für die Folge blieb Rudolf von Langen dem Johannes Murmellius ein allezeit wohlwollender Helfer und Berater, selbst als späterhin nicht ohne des Murmellius eigenes Verschulden trübe Tage über denselben hereinbrachen.

Die Bücherei des Rudolf von Langen stand dem Murmellius stets offen; vornehmlich ihren Schätzen verdankte er, wie er selbst gesteht, seine vielseitigen, gründlichen Kenntnisse. Und nicht nur der im freundschaftlichen Verkehr mit einem Manne wie Langen gebotenen Anregung, sondern auch der unmittelbaren Belehrung durch Langen muszte sich Murmellius für seine eigene wissenschaftliche Ausbildung wie für seine wissenschaftlichen Arbeiten zu Dank verpflichtet fühlen. ‘Fast alles, was er las und schrieb, geschah nach Langens Rat; nie unterliesz er, über neu zu

beginnende Werke seine Vorschläge, über schon ausgeführte sein Urteil zu vernehmen und zu benutzen. Langen liesz es sich nicht verdrieszen, auch über einzelne

Gegenstände des Versbaues oder der Kritik des Textes alter Autoren mit ihm die genauesten Untersuchungen einzugehen und mit ihm über solche Gegenstände Briefe zu wechseln.’

Auch nach ihrer Umgestaltung behielt die münstersche Domschule in ihrer Verfassung das Gepräge, welche sie als eine kirchliche Gründung kennzeichnete.

Die oberste Leitung der Domschule lag in der Hand des Domkapitels. Dieses betraute

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eines seiner Mitglieder, den Scholastikus, zur Zeit den Domherrn Wennemar von der Horst, mit der Ausübung dieser Aufsicht und Leitung. Auch die Berufung des Rekors war dem Domkapitel anheimgegeben. Dem Rektor blieb, natürlich unter Voraussetzung der Zustimmung des Domkapitels, die Anstellung der anderen Lehrer überlassen.

Durch den Rektor Timann Kemner ward Johannes Murmellius als Konrektor an die Domschule zu Münster berufen. Als solcher übernahm er den Unterricht in der zweiten Klasse derselben. Die Domschule zählte zur Zeit vier Klassen, aufsteigend von Quarta bis Prima; im Jahre 1510 traten zwei neue Klassen hinzu: Sexta und Quinta. Der Unterricht erstreckte sich über Religion, Latein, Philosophie, Poetik, Rhetorik, Dialektik; später, seit dem Jahre 1512, wurde auch das Griechische in den Unterrichtsplan aufgenommen. Auszer Kemner und Murmellius wirkten damals noch zwei andere Lehrer, Johannes Pering und Ludolf Bavink, an der Domschule zu Münster. Der Unterricht war Klassenunterricht. Für den einzelnen Schultag waren sechs Unterrichtsstunden, welche für den Lehrer auszerdem eine entsprechende häusliche Arbeit voraussetzten oder nach sich zogen, aus der Mannigfaltigkeit der dem einzelnen Lehrer anvertrauten Unterrichtsgegenstände erwuchs für Johannes Murmellius gleichwie für seine Genossen im Amte eine mächtige Fülle von Berufsarbeit.

Vornehmlich musz die Schaffenskraft des Murmellius als eine schier

unerschöpfliche und feine Schaffenslust als eine unermüdliche erscheinen. Neben

der Ableistung der Pflichten, die ihm sein Lehramt an der Domschule auferlegte,

fand er noch Musze zu schriftstellerischen Arbeiten, in denen er sich als Gelehrter,

als Schulmann, als Dichter bewährte. So besorgte er Ausgaben älterer und jüngerer

Schriftsteller und begleitete dieselben mit sprachwissenschaftlichen und sachlichen

Erläuterungen; er verfaszte Schulbücher, welche teils dem Unterrichte unmittelbar

zu Grunde gelegt werden sollten und teils dem Lehrer sachliche und methodische

Belehrung über Unterricht und Erziehung darbieten sollten; er veröffentlichte

mancherlei gröszere und kleinere Dichtungen, bald weltlichen bald geistlichen

Inhaltes.

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Aber trotz der hohen Anforderungen, welche in dieser Weise an die Arbeitskraft und die Arbeitsfreude der Lehrer der Domschule gestellt wurden, erlahmte weder ihre Kraft noch minderte sich die Wirksamkeit derselben. Die Domschule zu Münster zeitigte erfreuende Ergebnisse für Schüler wie Lehrer. Der Ruf der Schule nahm zu und verbreitete sich in die Lande; die Zahl der Schüler mehrte sich; auch aus entlegeneren Gegenden, vom Oberrhein und von dem Gestade der Ostsee fanden sich Schüler ein.

In Auswahl und Behandlung der Lehrstoffe stellte sich die Domschule zu Münster auch nach ihrer Neuordnung nicht etwa sofort in einen unvermittelten Gegensatz zu der bisherigen Weise. So wurde der Unterricht in der lateinischen Sprache noch nach der die mittelalterlichen Schulen beherrschenden Grammatik des Alexander Gallus

1

erteilt. Timann Kemner, der Rektor der Schule, hatte selbst eine neue Ausgabe dieses Lehrbuches veranstaltet, nich ohne neben dem herkömmlichen Lobpreis des Werkes selbst auch mit der den Gelehrten jener Zeit geläufigen Selbstgefälligkeit ruhmrednerisch der Vorzüge der von ihm besorgten Ausgabe zu gedenken.

Allmählich indes bahnte sich ein Umschwung an. Lehrbücher, welche eine von der bisherigen Weise abweichende Handhabung des lateinischen Unterrichtes voraussetzten und welche die Verwendung des lateinischen Unterrichtes für die Gesamtbildung der Zöglinge in andere Bahnen lenkten, wurden eingeführt, darunter wohl vornehmlich die von Murmellius selbst verfaszten Schulbücher.

Wie viel von dieser inneren Umgestaltung der Domschule auf die Anregung des Johannes Murmellius zurückzuführen ist, läszt sich nach dem heutigen Stande des Wissens um jene Vorgänge nicht ermessen. Dasz indes Johannes Murmellius für diese Umgestaltung ein Anreger und Förderer, vielleicht gar der Anbahner und Leiter gewesen, läszt sich aus den in seinen Schriften niedergelegten Ansichten erschlieszen.

Im Jahre 1512 gab der Kölner Gelehrte Cäsarius von Heisterbach die Anregung, an der Domschule zu Münster, das

1 Über die Grammatik des Alexander Gallus vergleiche: Handbuch, Kap. 16.

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Griechische als Unterrichtsgegenstand einzuführen. Als die Verwirklichung dieses Planes sich verzögerte, da wandte sich Cäsarius gerade an Johannes Murmellius, bei welchem er neben einem vollen Verständnis für die Berechtigung und die Tragweite dieses Vorhabens auch die thatkräftigste Förderung desselben voraussetzen durfte.

Im Jahre 1508 legte Murmellius seine Lehrerstelle an der Domschule nieder.

Vorgänge wenig erfreulicher Art waren die Veranlassung geworden. Diese

Veranlassung war aus dem persönlichen Verhältnisse zwischen Johannes Murmellius und seinem Rektor Timann Kemner erwachsen. Kemner fand als Leiter der Domschule die Anerkennung seiner Zeitgenossen; es wird ihm im besonderen nachgerühmt, dasz er eine strenge und heilsame Zucht an seiner Anstalt handhabte. Er war in seinem Wandel ein durchaus ehrenwerter Mann; vollauf tadelfrei stand er da. Timann Kemner war indes nicht demütig und bescheiden genug, um sich zur Selbsterkenntnis durchgerungen zu haben. Als Gelehrter und Schulmann überschätzte er sich bei weitem; seinen schriftstellerischen Arbeiten legte er einen Wert bei, welcher denselben nicht gebührte. Und er war dabei dünkelhaft genug, die gleiche Wertschätzung auch von allen andern zu erwarten und selbst zu verlangen. Johannes Murmellius war ihm als Gelehrter und Schulmann überlegen. Die wissenschaftlichen Arbeiten des Murmellius wie die Schulschriften desselben fanden, wie dies die Zahl der Auflagen darthut, einen sich stets erweiternden Freundeskreis. Auch die Dichtungen des Murmellius wurden gerühmt. Als Kenner der lateinischen Sprache und ihrer Schriftwercke aus alter und neuer Zeit stand Murmellius höher da, desgleichen in der Erkenntnis der Bildungsziele und der Bildungsmittel für die Jugend jener Tage.

Bei dem Stolze und der Überhebung, die nun einmal Kemners Wesen kennzeichneten,

muszte sich dieser mit Groll und Bitterkeit erfüllen gegen seinen Untergebenen, der

sich ihm mannigfach überlegen erwies und dessen Überlegenheit von solchen, die

auszerhalb der Schule standen, auch offenkundige Anerkennung gefunden haben

mag; trotz des gemeinsamen Arbeitsfeldes, das sie zur Verständigung hätte führen

müssen, trat Entfremdung ein, in welcher sich Kemner in seinen Gedancken in eine

gewisse Gegensätzlichkeit zu Murmellius hineingelebt haben wird.

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Diese Gegensätzlichkeit wird sich dann der Lage der Verhältnisse nach in mancherlei persönlichen Reibereien kundgethan haben. Murmellius nun hat in den ersten Jahren des Zusammenwirkens nichts gethan, was diesen Gegensatz hätte verschärfen müssen.

Im Gegenteil! Er hat Kemners Ausgabe des Alexander empfehlende Verse

vorangeschickt; er hat eine seiner Hauptschriften: ‘Das Handbuch’ Timann Kemner gewidmet und in der Widmung seiner mit lobenden Worten gedacht. Eine solche zarte Rücksichtnahme war wohl imstande, den vorhandenen Gegensatz zu verdecken;

sie war aber nicht imstande, denselben auszugleichen.

Die Schuld an dem Aufkommen dieses Gegensatzes musz dem Rektor Timann Kemner beigemessen werden. Von der Schuld, diesen Gegensatz zum Bruche getrieben zu haben, kann Murmellius nicht freigesprochen werden.

Im Jahre 1506 verliesz Murmellius infolge einer Seuche, welche in Münster ausgebrochen war, auf einige Zeit die Stadt. Die drei Monate seiner Abwesenheit verbrachte er zu Hamm, woselbst er anfänglich in der Herberge, später bei Hermann Gockelen, dem Pfarrherrn der Hauptkirche daselbst, Wohnung nahm. Durch diesen ward er in einen Kreis von Männern eingeführt - Geistliche, Gelehrte, Schulmänner waren es -, deren wissenschaftliche Regsamkeit ihn anzog. Desgleichen fesselte ihn die zwanglose Heiterkeit ihrer geselligen Zusammenkünfte, bei welchen dem Becher selbst ein häufiger Rundgang nicht verwehrt ward. In dem Verkehr mit diesen Männern, die ihn das Leben auch von seiner heiteren Seite erfahren lieszen, erfrischte sich Murmellius; in dem Umgange mit ihnen, die seinen Wert rückhaltlos anerkannten, wuchs er bei dem gesteigerten Bewusztsein der eigenen Bedeutung zu gröszerer Selbständigkeit heran. Es ist nicht zu ermessen, in wie weit es der ausdrücklichen Anregung dieser seiner neuen Freunde bedurfte, um den Murmellius den

Gelehrtenstolz seines Rektors Kemner in seiner ganzen Dünkelhaftigkeit erkennen zu lassen und um ihn mit nachhaltigem Unwillen zu erfüllen gegen die

Zurücksetzungen und Kränkungen, die ihm aus dieser Überhebung Kemners bisher erwachsen waren.

In diesen Tagen des Aufenthaltes zu Hamm hat Murmellius Gedichte verfaszt, die

er im Jahre 1507 im Druck

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22

erscheinen liesz. Eines von diesen Gedichten nun wendet sich mehr scharf als fein, mehr boshaft als witzig gegen einen Schriftsteller, welcher ohne höheren Beruf lediglich dem Ruhme und dem Gewinn nachjagt; welcher selbst kaum Latein versteht, gleichwohl aber andere im Lateinischen zu unterweisen sich erkühnt; welcher vorgiebt, durch seine Schriften das Lernen zu erleichtern, in der That aber es durch dieselben erschwert; welcher dem Fabeldichter Äsop Veranlassung gegeben haben würde zur Abfassung der Fabel von der Krähe, die sich mit fremden Jedern schmückt.

Jedweder, dem die Verhältnisse an der Domschule bekannt waren, erkannte auch das Urbild dieses von Murmellius entworfenen Bildes eines Schriftstellers; jedweder bezog diese Schilderung auf keinen andern als auf Timann Kemner. Dasz Murmellius selbst diesem Gedichte nicht die Bedeutung gegeben hat, die es thatsächlich erlangt hat; dasz er nicht etwa absichtlich gerade durch dieses Gedicht es zum offenkundigen Bruche mit Timann Kemner treiben wollte, erhellt daraus, dasz er in eine unmittelbar darauf erscheinende Gedichtsammlung ein Lobgedicht auf Kemner aufnahm.

Gleichwohl kam es zum Bruche. Die Einzelheiten dieses Vorganges sind uns unauffindbar.

Murmellius trat aus dem Verbande der Domschule zu Anfang des Jahres 1508 aus. In wie weit er hierin eigner Entschlieszung folgte, in wie weit er einer Nötigung, die von andern ausging, nachgab, läszt sich nicht erkennen. Dasz man ihm nicht Unrecht gab, dasz er darüber insonderheit das öffentliche Vertrauen nicht einbüszte, läszt sich daraus erschlieszen, dasz er unmittelbar darauf als Rektor die Leitung der St. Ludgeri-Schule zu Münster übernahm.

Über die Wirksamkeit des Johannes Murmellius an der Ludgeri-Schule können genauere Nachrichten nicht erbracht werden. Es läszt sich nicht einmal mit Sicherheit ermessen, ob er bis zu seinem Abzuge aus Münster diese Stellung innegehabt hat.

Es liegen nämlich Andeutungen vor, welche der Annahme Raum geben, dasz er um

das Jahr 1512 noch einmal als Lehrer in den Verband der Domschule eingetreten

sei. Es wäre dies immerhin nur dann möglich gewesen, wenn zuvor eine Annäherung

zwischen ihm und Kemner stattgefunden hätte. Nachdem Johannes Murmellius aus

dem Lehrkörper

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der Domschule geschieden, hat er freilich noch das eine und andere Mal in

Streitgedichten seines Widersachers mit Bitterkeit gedacht. Der Urheber einer solchen Annäherung würde dann wohl Rudolf van Langen gewesen sein, dem das Gedeihen der Domschule und das Geschick beider Männer, die ihm nahe standen, in gleicher Weise am Herzen lag. Die Annahme einer solchen Annäherung gewinnt an

Wahrscheinlichkeit durch den Umstand, dasz Timann Kemner auf die Vermittlung des Murmellius hin den Cäsarius von Heisterbach im Jahre 1512 behufs Abhaltung von Vorlesungen über die griechische Sprache nach Münster berief. Murmellius hatte selbst eine Reise nach Köln nicht gescheut, um entgegenstehende Hemmnisse zu beseitigen.

Murmellius war nicht unversöhnlich; er war selbst bereit, seinen Anteil an der Schuld des Zwistes mit Kemner einzugestehen und für sein Unrecht Genugthuung zu leisten. Als er sich im Jahre 1513 anschickte Münster zu verlassen, richtete er an Timann Kemner unter dem 27. März 1513 ein Schreiben, in welchem er denselben um Verzeihung bittet für das Gehässige und Verletzende, was er in den letzten Jahren gegen ihn geschrieben; er hebt hervor, er werde seiner stets ehrenvoll gedenken, wie er auch in einem gerade erscheinenden Schriftwerke

1

seiner rühmende Erwähnung gethan habe. Dieses Entschuldigungsschreiben ist späterhin nach dem Tode des Murmellius als Beilage zu einer seiner Schriften in Abdruck gekommen unter einleitenden Begleitworten, welche das Andenken des Gestorbenen schmälerten, gleichwie sie der Verherrlichung Timann Kemners dienten. Man darf wohl annehmen, dasz der in seinem gekränkten Ehrgeize unversöhnliche Timann Kemner der Urheber dieser Veröffentlichung gewesen ist.

In der Fastenzeit des Jahres 1513 verliesz Johannes Murmellius die Stadt Münster für immer und begab sich, einem an ihn ergangenen Rufe Folge gebend, nach der holländischen Stadt Alkmaar, um daselbst die Leitung der Lateinschule zu

übernehmen. An derselben hatte der Humanismus schon seinen Einzug gehalten mit einem seiner frühesten Vorkämpfer: Antonius Frei (Frye) aus Soest. Auch der unmittelbare

1 Vergl. unten: Pappa, Kap. 2.

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Vorgänger des Murmellius in der Leitung der Anstalt, Bartholomäus aus Köln, war der neuen Richtung zugethan. Unter der Leitung des Bartholomäus aus Köln und des Johannes Murmellius hob sich die Schule zu Alkmaar auf ihren Höhepunkt. Die Zahl der Schüler stieg zuletzt auf 900. Dieser Erfolg ist der Lehrtüchtigkeit des Murmellius zuzuschreiben und dann auch wohl in demselben Grade seiner

Erziehungsweise, deren Grundzüge sich in der von ihm für die Schule zu Alkmaar entworfenen Schulordnung aussprechen.

Hier in Alkmaar gründete sich Johannes Murmellius einen eigenen Hausstand.

Woher die Gattin, welche er daselbst heimführte, stammte, wissen wir nicht.

Vier Jahre lang hatte er zum Segen der Jugend und zur eigenen hohen Genugthuung daselbst gewirkt, da brach im Sommer des Jahres 1517 - am Donnerstage nach Johanni war es - das Unheil über die Stadt und ihre Schule herein. Kriegsscharen aus Gelderland nahmen die Stadt mit stürmender Hand. Plünderung und Verheerung war das Los der Stadt; Gewaltthat und Verjagung war das Geschick ihrer Bürger; auch die Zöglinge der Lateinschule wurden vertrieben. ‘In dreiszig bis vierzig Jahren - so klagten später die Ratsherren der Stadt vor Kaiser Karl V. - werden wir den

unermeszlichen Schaden kaum verwinden können, den unsere Stadt durch die Verjagung der “Klerken” (Lehrer und Schüler) und durch Plünderung und

Brandstiftung hat erleiden müssen.’ Auch Murmellius verlor fast seine ganze Habe.

Flüchtend wandte er sich mit Weib und Kind nach Zwolle. Er ist der letzte Rektor der Schule zu Alkmaar gewesen. In Zwolle hoffte er durch Vermittlung des Rektors Gerhard Listrius eine Lehrerstelle zu erhalten; seine Hoffnung erwies sich eitel. Er knüpfte von hieraus Verhandlungen mit dem Rate der Stadt Wesel an in betreff Übernahme der Rektorstelle an der Stadtschule zu Wesen; die Verhandlungen blieben erfolglos. Schlieszlich wurde ihm das seltene Glück zu teil, an diejenige Schule, welcher er die Grundlage seiner gelehrten Bildung verdankte, als Leiter berufen zu werden. So kam er nach Deventer.

Nachweisbar ist Johannes Murmellius im September des Jahres 1517 Rektor der

Schule zu Deventer gewesen.

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Schon am 2. Oktober desselben Jahres setzte der Tod seinem Leben ein Ziel. Die Lehrer seiner Anstalt trugen ihn zu Grabe. Das junge Weib des Johannes Murmellius und das unmündige Söhnlein desselben blieben in Dürftigkeit zurück.

Unmittelbar nach seinem Tode fand das Gerücht Verbreitung und Glauben, dasz zwei unbekannte Männer, die als Jünger des Humanismus bei Johannes Murmellius Aufnahme gefunden, ihm vergifteten Wein eingeschenkt und dasz er bald darauf verblichen sei. Der Verdacht, dieses Verbrechen angestiftet zu haben, wandte sich auf Gerhard Listrius, den Rektor der Schule zu Zwolle. Dieser soll - so viel scheint fest zu stehen - aus unlauteren Gründen die Anstellung des Murmellius zu Zwolle hintertrieben haben. Murmellius hatte ihn daraufhin in einem Gedichte, ohne freilich seinen Namen zu nennen, mit scharfen Worten angegriffen und ihn schonungslos in seinen Schwächen an der Pranger gestellt.

In Gerichtsakten aus dem Jahre 1559 wird ein Johannes Murmellius aufgeführt, welcher in Lüttich zum Priester geweiht geworden und später als Priester zur neuen Lehre übergetreten war. Derselbe gab sich als ehelichen Sohn des älteren Murmellius aus, ‘welcher ein frommer, weitbekannter Gelehrter gewesen’. Dieser jüngere Murmellius ist späterhin General-Superintendent zu Öhringen in der Grafschaft Hohenlohe geworden. Weitere Kunde über das Geschlecht des Humanisten Johannes Murmellius ist nicht auf uns gekommen.

III.

Von den ersten Jahren seiner Lehrthätigkeit an bis zu den letzten Tagen seines Lebens hat Johannes Murmellius eine ebenso vielseitige wie ergiebige schriftstellerische Thätigkeit entfaltet.

1

Dieses regsame Schaffen war vornehmlich dem

1 Die erste in Vollständigkeit und Genauigkeit dem heutigen Stande der Forschung entsprechende Zusammenstellung der Schriftwerke des Murmellius hat D. Reichling in seinem Buche: ‘Johannes Murmellius. Sein Leben und seine Werke’ von Seite 132-165 gegeben. Es werden daselbst 47 verschiedene Schriftwerke des Murmellius aufgeführt unter Angabe aller nachweisbaren Ausgaben derselben und unter Hervorhebung der

Büchersammlungen, denen diese Werke heute einverleibt sind. - Dem Zwecke des

vorliegenden Werkes entsprechend werden im weiteren Verlauf der Darstellung vernehmlich die pädagogischen Schriften des Murmellius einer eingehenderen Würdigung unterzogen werden.

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26

Berufe und der Wissenschaft gewidmet. Doch huldigte er auch der Muse der Dichtkunst zeitlebens in unvermindertem Schaffensdrange. Neben einer stattlichen Reihe gröszerer und kleinerer Einzeldichtungen hat er in den Jahren 1507 bis 1517 neun Sammlungen von Gedichten veröffentlicht.

1

In seinen Dichtungen besingt Johannes Murmellius Städte, die für sein Leben besondere Bedeutung haben: Roermond, die Vaterstadt;

2

Münster und Alkmaar, die vornehmlichsten Orte seiner Lehrerwirksamkeit. Männer der eignen Zeit, die ihm als Freunde nahestanden, die ihm als Berater und Helfer teuer geworden, die ihm durch Wissen und Können Bewunderung abnötigten, verherrlicht er rühmend im Liede. Gegen diejenigen indes, die er als Gegner seines Werkes und als Widersacher seiner Person erkennt, wendet er sich streitfroh im Kampflied. Er richtet seine Dichtungen an den jugendlichen Erzherzog Karl - den spätern Kaiser Karl V., - von dem Wunsche beseelt, des jungen Fürsten Tugenden zu mehren und seinen Ruhm zu künden. Auch hervorragenden Gestalten vergangener Jahrhunderte, die da die Träger und Leiter des Geisteslebens ihrer Zeit gewesen, weiht er seinen Gesang. In das Gewand der Dichtung kleidet er Betrachtungen ein über das Elend des

menschlichen Lebens, über die Würde der menschlichen Natur, über die Waffen im Kampfe des Geistes, über die Tugend und über den Zweck der Güter auf Erden. Hier schildert er den Krieg mit seinen grausigen Plagen, das Grab der Wohlfahrt des Landes und der Gesittung seiner Bewohner; hier preist er die Armut, die den Menschen zur Genügsamkeit führt und ihn unwandelbares Glück in der

Selbstzufriedenheit finden lehrt; er besingt die Weisheit, die getreue Führerin zu

1 Die Aufschriften dieser Sammlungen sind: ‘Liber eclogarum’ (1507); ‘In Florea B. Virginis serta paean triplex cum nonnullis aliis carminibus’ (1507); ‘Elegiarum moralium libri quattor’ (1507); ‘Epigrammatum liber’ (1508); ‘De magistri et discipulorum officiis epigrammatum liber’ (1510); ‘De hymnis ecclesiasticis libellus’ (1511); ‘Epistolarum molarium liber’ (1513); ‘Carolleia’ (1515); ‘Epigrammata paraenetica’ (1517).

2 s. unten Anhang I.

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unvergänglichem Besitz; er mahnt mit ernstem Wort an den Tod, der dem Sterblichen stündlich sich nahen kann. Mit ermunterndem Wort wendet er sich an die Jugend,

1

auf dasz sie durch Arbeit zum Wissen, durch Zucht zur Sitte sich führen lasse.

Volltönender und weihevolle erkingt seine Weise, wenn er, zumeist in odenartigem Lied, den Preis des Erlösers und der h. Jungfrau

2

ehrfurchtdurchdrungen singt oder heilige Männer und Frauen der Vorzeit in ihrem Werke und Wandel verherrlicht.

Die Dichtungen des Murmellius bewegen sich zumeist in Hexametern oder in Distichen; doch auch kunstreichere Formen, Strophen nach der Weise des Horaz, sind ihm geläufig.

Mit diesem lateinischen Dichtungen des Murmellius hat es gleichwie mit den dichterischen Erzeugnissen der Humanisten fast durchweg eine eigentümliche Bewandtnis. Die Humanisten sind durch das Studium des klassischen Altertums zur Erkenntnis, Durchdringung und Anempfindung der Schönheit der Dichtwerke jener Zeit geführt worden. Die Vorliebe, mit der sie sich in diese Schönheiten versenken, lehrt sie an diesen Kunstwerken auch die Mittel der künstlerischen Darstellung durch die Sprache erfassen. So machen sie sich allgemach die Weise der Darstellung bei den klassischen Dichtern zu eigen, ihre sprachlichen Wendungen, ihre dichterischen Bilder. Es wird ihnen geläufig, die eignen Gedanken und Anschauungen in das dichterische Wort und das dichterische Bild des Altertums einzukleiden. So erscheint dann ihre Dichtung im Gewande des klassischen Altertums. Allein der Inhalt solcher Dichtungen entspricht nicht der glänzenden Auszenseite derselben. Überlieferten, entlehnten, fremden Formen hat der Dichter seine Gedanken und Empfindungen anpassen müssen. Eine innerliche Entfremdung zwischen Form und Inhalt liegt vor, wie überall da, wo der Künstler Form und Inhalt seines Kunstwerkes nicht als etwas untrennbar Zusammengehöriges aus seinem eigenen Innern geschöpft hat. Gegenüber der wissenschaftlich geschulten Abmessung der schönen Form hat der Schwung der Gedanken und die Wärme der Empfindung nicht zur Geltung

1 s. Anhang II. und III.

2 s. Anhang IV.

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28

kommen können. Es ist nicht der Künstler, sondern der Gelehrte gewesen, der diese Dichtungen verfaszt hat.

Ähnlich verhält es sich mit den Dichtungen des Murmellius. Mit Recht wird ihnen Klarheit des Entwurfes, Anmut des Versbaues, Feinheit des Ausdruckes, mit einem Wort: Vollendung der Form nachgerühmt. Als gelehriger Schüler seiner klassischen Lehrer verdient er hohes Lob. Allein es fehlt seinen Dichtungen das eigenartige Gepräge, welches der Künstler seinen Werken auszudrücken versteht und durch welches er seine Werke als Schöpfungen gerade seiner eignen Kunst zu kennzeichnen weisz. Die menschlichen Dinge und die Menschen seiner Zeit betrachtet und beurteilt Murmellius nach der Weise, die er den alten Dichtern abgelauscht hat. So preist er zum Lobe seiner Vaterstand Roermond die Tapferkeit der Bürger derselben;

1

‘mächtig durch die Ehren des Mars und gefürchtet in schimmernden Waffen’ haben dieselben stolze Könige, Herzöge, Grafen niedergeworfen; oft in winziger Schar schlugen sie nieder unzählige Krieger; die Parther, welche die Scharen des Crassus vernichtet, die Griechen, welche die Völkerflut des Xerxes abgewehrt, sind nicht tapferer gewesen als Roermonds streitbare Bürger. Die Üppigkeit Tarents, der Reichtum Milets können Roermond in seiner Genügsamkeit nicht in Schatten stellen.

Da läszt sich der Eindruck kaum abwehren, dasz Murmellius lediglich durch die Nachahmung klassischer Vorbilder zu einer Überschwenglichkeit hingedrängt worden ist, die, wie sie in der gegebenen Wirklichkeit nicht zu kennzeichnen imstande ist.

Solchen Dichtungen des Murmellius fehlt die lebensvolle Frische, wie sie einer unmittelbaren Anschauung, die nicht durch Vorbilder geleitet worden ist, entspringt;

es fehlt ihnen die packende Gewalt innerer Wahrheit.

In seinen Dichtungen hat Murmellius der Echtheit seiner Freundschaft und der Treue seiner Dankbarkeit ein ehrendes Denkmal gesetzt. Die Lebensauffassung, die sich in denselben ausspricht, wird den höchsten sittlichen Anschauungen für das Leben in all seinen Verhältnissen gerecht. In seinen geistlichen

1 s. unten Anhang I.

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Dichtungen spiegelt sich eine vertrauensvolle Hingabe an alles Göttliche und Heilige, wie sie nur einem frommgläubigen, kindlich reinen Herzen eigen ist. Allein seine Dichtungen wenden sich mehr an den Verstand als an das Gemüt; sie belehren statt zu erheben; sie überzeugen statt zu begeistern.

Neben seinen Streitgedichten, welche wegen der Unmittelbarkeit der Rückwirkung der veranlassenden Verhältnisse selbständigeren und echteren Gedankenausdruck zeigen, find dem Murmellius die geistlichen Dichtungen am besten gelungen. Wenn er aber in einer derselben

1

die Jungfrau Maria ‘des heiligen Olymp gewaltige Königin’

(regina sacri potens Olympi) und ‘Mutter des Donnerers’ (parens Tonantis) nennt, wenn er für die alles Irdische überstrahlende Schönheit der Gottesmutter das veranschaulichende Dichterwort hat: ‘alle Nymphen übertrifft sie an Schönheit’

(omnes exsuperans decore nymphas), so erhellt daraus zur Genüge, dasz Murmellius auch in seinen geistlichen Dichtungen als echter Humanist der humanistischen Weise den Zoll zahlt.

Eine Reihe philologischer Werke des Johannes Murmellius ist auf uns gekommen.

Hierzu gehören seine Ausgaben und Erklärungen zu Persius, zu Juvenal, zu den Briefen Ciceros, zu Ciceros Cator major, seine Auslese aus den römischen Dichtern Tibull, Properz, Ovid.

2

Er hat sich nach seiner eigenen Angabe bei diesen

philologischen Arbeiten von dem Streben leiten lassen, ‘die zahlreichen Irrtümer der gewöhnlichen Erklärer aufzudecken und dem Leser zu einem richtigen Verständnis der Schriftsteller zu verhelfen.’ Vor allem hat seine Ausgabe des Persius besondere Anerkennung gefunden und sie verdient dieselbe bis auf den heutigen Tag. Seine lichtvollen, feinsinnigen Bemerkungen gründen sich auf die Beherrschung der lateinischen Sprache und auf das Verständnis des Dichters und seines Werkes. Die Auslese aus Tibull, Properz, Ovid ist weit über die Zeit des Murmellius hinaus ein vielverbreitetes Schulbuch geworden. Die bis zum

1 s. unten Anhang IV.

2 Über die hier und im Folgenden zur Erwähnung kommenden alt- und neulateinischen Dichter und Schriftsteller geben die Anmerkungen zu den in Übersetzung vorgelegten Schriften des Murmellius ausreichenden Aufschlusz.

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Jahre 1789 veranstalteten Ausgaben, 77 an der Zahl, bezeugen seine Trefflichkeit.

Auch christliche Dichter aus den ersten Jahrhunderten der christlichen Zeit, Cyprian, Prudentius, Avitus, haben an ihm einen hingebenden und verständnisvollen Erklärer gefunden. Ferner sind lateinische Schriftwerke, welche jüngerer Zeit angehören, Dichtungen der italienischen Humanisten Antonius Mancinellus, Baptist von Mantua, Angelus Politanus von Murmellius, der die Anregung hierzu seiner eigenen

Lehrthätigkeit entnahm, für die Hand der Schüler mit gleicher Beherrschung des sprachlichen und sachlichen Stoffes und mit gleichem Erfolge für die Sicherung und Vertiefung des Verständnisses erläutert worden. Selbst Werke der Kirchenlehrer hat er in den Bereich seiner philologischen Arbeiten hineingezogen. So hat er einzelne Briefe des hl. Hieronymus herausgegeben und erklärt.

1

Von philosophischen Werken hat Murmellius die Tröstungen der Philosophie von Boethius unter Benutzung von handschriftlichen Aufzeichnungen des Rudolf Agricola herausgegeben.

2

Noch heute wird ihm nachgerühmt, dasz er sich wenn irgendwo so in diesen Erklärungen zu Boethius als ‘scharfsinnigen Kritiker, als gründlichen Kenner des Altertums, als vollendeten Philologen’ zeige. Zudem hat er zwei philosophische Lehrbücher verfaszt, welche beide in der Weise eines Handbuches die Grundzüge der Philosophie zum Gebrauch für Studierende zur Darstellung bringen, das eine

3

in knapperer, übersichtlicherer Form, das andere

4

unter eingehenderer Darlegung des Stoffes.

In besonderen Schulschriften hat Murmellius die Formenlehre der lateinischen Sprache, insonderheit die Deklinationen und Konjugationen behandelt. In diesen Werken fand der Schüler die nach sprachlichen Gesichtspunkten geordnete

Zusammenstellung der Formen in dem ganzen Reichtum der der lateinischen Sprache

1 ‘In epistolam divi Hieronymi ad Niciam commentarioli duo. - Ex epistolis ejusdem selectae orationes.’ (1505) und ‘St. Hieronymi epistola de clericorum officiis cum commentariis’

(1505)

2 ‘Severini Boethii de consolatione philosophiae’ (1511) und ‘Boethii de consolatione philosophiae libri V cum commentariis’ (1514).

3 ‘Aurea bonarum artium praeludia’ (1504).

4 ‘De philosophiae diffinitionibus ac divisionibus tabulae’ (1515)

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eignen Bildungen. Durch die den mustergültigen Schriftstellern des römischen Altertums entnommenen Beispiele, deren zutreffende Auswahl sich der umfassenden Belesenheit des Murmellius gewissermaszen von selbst dargeboten, ward dem Schüler der Beweis erbracht, dasz jene Formen und Bildungen der lebendigen Sprache der Römer angehörten. Andere Schulschriften hatten die Verslehre der Alten zum Gegenstande, sei es um den Schüler die Erscheinungen und Gesetze der Verskunst erkennen zu lassen, so weit dies zur Lesung lateinischer Dichtungen erforderlich war, sei es um den Schüler an der Hand dieser Erkenntnis zur Nachbildung lateinischer Verse zu befähigen.

Die erste grosze pädagogische Schrift des Johannes Murmellius ist das ‘Handbuch für Schüler’ aus dem Jahre 1505. Dasselbe ist eine Art Pflichtenlehre für Schüler, insonderheit für solche, welche der Erziehung seitens der Eltern entwachsen oder entlassen sind. Die Schüler sollen an der Hand desselben in den Stand gesetzt werden, die Pflichten, welche ihnen in Sachen ihrer eigenen Ausbildung obliegen, zu erkennen und zu erfüllen, auf dasz nicht das Erziehungsgebäude, welches die Eltern bis dahin für sie aufgeführt und ausgestattet haben, nunmehr durch die Sorglosigkeit der sich selbst überlassenen Jünglinge in Verfall gerate, verwittere und zusammenstürze, auf dasz nicht die Tugenden, welche kaum ihren Einzug in diese ihnen bereitete

Wohnstätte gehalten, nunmehr entweichen und ihren Platz dauernd dem Laster einräumen.

Es richtet sich das Handbuch indes nicht ausschlieszlich an die Schüler. Es wendet sich namentlich in seinen einleitenden Abschnitten an diejenigen, welche vornehmlich dazu berufen sind, die Erziehung der Jünglinge anzubahnen und zu leiten: an die Eltern. Aus dem Verhältnisse, in welchem die Eltern von Natur aus zu ihren Kindern stehen; aus den Obliegenheiten, die ihnen als Mitgliedern der bürgerlichen

Gemeinschaft erwachsen; aus den hochheiligen Aufgaben, welche Gott gerade den

Eltern zugewiesen hat: wird für die Eltern die unabweisbare Notwendigkeit hergeleitet,

für die Erziehung ihrer Kinder Sorge zu tragen. Diese allgemeine Erziehungspflicht

schlieszt für die Träger derselben auch noch besondere Verpflichtungen in sich

gegenüber den Künsten und Wissenschaften, diesen vornehmlichsten

(31)

32

Mitteln der Bildung, und gegenüber den Lehrern, welche die Handhabung dieser Bildungsmittel beherrschen.

Erziehung und Unterricht sollen aus innern und äuszern Gründen so früh wie möglich beginnen. Der Hauserziehung ist die Schulerziehung vorzuziehen überall da, wo die Schule eine gute genannt werden darf. Die Bildung des einzelnen ist zu einem gewissen Grade abhängig von Umständen, über welche der einzelne nicht Herr ist: von den geistigen und körperlichen Anlagen, von der Gesamtgeartung der Verhältnisse, in die Gottes Ratschlusz ihn gesetzt hat. Wenn nun das Ergebnis der Bildungsarbeit bei den einzelnen auch ein ungleiches sein wird, so ist doch für alle die Bildungspflicht dieselbe. Weder Adel noch Schönheit, weder Reichtum noch Armut, weder Fülle der Begabung noch Beschränktheit der Geisteskraft dürfen den Menschen bestimmen, aus Überhebung oder Verzagtheit sich seiner Bildung ganz und gar zu begeben.

Die Schönheit des Körpers soll nicht durch Gebrechen des Geistes in Schatten gestellt werden. Häszlichkeit und Miszgestalt dagegen werden durch Bildung des Geistes aufgewogen und in Vergessenheit gebracht. Der Arme soll reich werden an Tugenden und Kenntnissen. Auch der schwach Begabte wird beit gutem Willen und mit Gottes und der Heiligen Beistand, der sich seinem vertrauungsvollen Flehen zuwendet, Gräszeres leisten, als er selbst erhofft hat. Die Pflicht des Lernens ist allen gemeinsam. Der fruchtbare Acker, welcher unbebaut bleibt, wird unfruchtbar; der Geist, welcher keine Belehrung findet, bleibt fruchtlos.

Der angeborene Wissenstrieb soll von früh auf genährt und gemehrt werden. Der natürliche Lerneifer wird sich mindern und erkalten, wenn die Einbildungskraft aus Abwege gerät und verderbt wird. Geistiger Trägheit wird dann der Mensch

anheimfallen. Der Bildungstrieb soll beherrscht werden von der Überzeugung, dasz des Menschen Glück sich gründet auf Tugenden und Kenntnisse, deren Krone die Weisheit ist.

Die Lehren der Wissenschaften entgegennehmen, ohne sie zu behalten, ist

fruchtloses Bemühen. Das Gedächtnis bedarf deshalb besonderer Pflege, namentlich

bei denen, die leicht und schnell auffassen, aber gerade wegen der Mühelosigkeit

ihres Auffassens die Vorstellungen weniger verarbeiten und nicht so

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dauerhaft aufnehmen als diejenigen, in deren Geist die Vorstellung mit derselben Mühe, aber auch mit derselben Dauerhaftigkeit Eingang findet, wie das Zeichen, welches dem Felsblock eingegraben wird. Auch Zustände des Gemütes und des Körpers sind von Bedeutung für das Gedächtnis und für die Weise und den Erfolg seiner Arbeit. Hierüber hat der Schüler zweckmäszige Vorschriften zu beherzigen.

Die Arbeit des Geistes ist abhängig von der Gesundheit des Körpers. Die Erhaltung der Gesundheit ist nur in einem gewissen Grade dem fürsorgenden Ermessen des Menschen anheimgegeben. Eine zweckmäszige Lebensweise, vor allem indes Enthaltsamkeit, ist die unerläszliche Grundlage und der beste Schutz der Gesundheit.

Enthaltsamkeit wehrt markverzehrenden Sinnengenusz ab und mehrt dem Körper die Kraft.

Wenn auch besonders edle Naturen sich trotz aller Dürftigkeit und Not des Lebens zum höchsten Gipfel der Weisheit durchgerungen haben, so sind doch gemeiniglich denjenigen, die sich den Studien widmen, äuszere Mittel in bescheidenem Masze unentbehrlich. Derjenige Zögling, welchem sich bei dem Reichtum der Eltern des Lebens äuszere Güter in Fülle darbieten, hat indes zu bedenken, dasz die

Wissenschaften die Genossinnen des Hungrigen und nicht des Gesättigten, des Mäszigen und nicht des Verschwenders sind. Ein anderer, dem der Eltern mühsame Tagesarbeit den Weg zu den Studien bahnt, darf von den durch den Schweisz der Eltern erworbenen Mitteln nur soweit es not thut und nur im Sinne der Eltern Gebrauch machen. Und es ist nicht unmöglich, dasz selbst der völlig Mittellose durch eigne körperliche Arbeit sich die Mittel erwirbt, den Studien obzuliegen.

Bei der Wahl eines Schulhauses soll man sich nicht bestechen lassen durch die Groszartigkeit des Bauwerkes oder durch den künstlerischen Schmuck desselben.

Für die Lage des Schulhauses soll auch nicht die durch landschaftlichen Reiz fesselnde

Umgebung bestimmend sein. Ein einsamer Ort, fern vom Verkehr der Menschen,

begünstigt die Sammlung des Geistes und erschwert den sinnlichen Verlockungen

den Zugang. Ist der Schüler darauf angewiesen, in einer fremden Stadt bei fremden

Leuten Wohnung zu nehmen, so wähle er ein ruhiges Haus, dessen Infassen in der

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