• No results found

„Wer hat dich, du schöner Wald / Aufgebaut so hoch da droben?“. Imagination im deutschen Wald des 19. Jahrhunderts.

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2021

Share "„Wer hat dich, du schöner Wald / Aufgebaut so hoch da droben?“. Imagination im deutschen Wald des 19. Jahrhunderts."

Copied!
74
0
0

Bezig met laden.... (Bekijk nu de volledige tekst)

Hele tekst

(1)

Universiteit van Amsterdam

Faculteit der Geesteswetenschappen Masterarbeit Duitslandstudies Erstbetreuer: Dr. Ansgar Mohnkern Zweitbetreuer: Dr. Hanco Jürgens Eingereicht am 23. Juni 2020.

„Wer hat dich, du schöner Wald,

Aufgebaut so hoch da droben?“

Imagination im deutschen Wald des 19. Jahrhunderts

Lotte Brandjes

Matrikelnummer: 11038853 E-Mail: lotte.brandjes@student.uva.nl

(2)

Inhaltsverzeichnis

Der deutsche Wald – eine Einleitung ... 3

1. Den Wald vor lauter Bäume nicht mehr sehen: Der Wald als Ware in Annette von Droste-Hülshoffs Die Judenbuche. ... 9

2. Die reale Wiederaufforstung des deutschen Waldes ... 14

2.1 Das hölzerne Zeitalter und die Anfänge der Forstwissenschaft ... 14

2.2 Der Nürnberger Reichswald ... 20

2.3 Ostpreußen ... 23

2.4 Das Ende des hölzernen Zeitalters ... 29

3. Die imaginäre Wiederaufforstung des deutschen Waldes ... 31

3.1 Waldeinsamkeit ... 33

3.2 Der große, dunkle Zauberwald ... 41

3.3 Die deutsche Eiche ... 48

Der deutsche Wald – ein Fazit ... 58

Wilde Wälder wachsen lassen: Der deutsche Wald anno 2020. Ein Ausblick. ... 65

Literaturverzeichnis ... 68

Primärliteratur ... 68

Sekundärliteratur ... 70

Internetquellen ... 73

(3)

Der deutsche Wald – eine Einleitung

Wer hat dich, du schöner Wald, Aufgebaut so hoch da droben?1

Wer hat dich, du schöner Wald, Abgeholzt und dann verschoben?2

Seit dem späten 18. Jahrhundert bzw. dem Beginn der Aufklärung und der Industrialisierung lässt sich ein radikaler Wandel der Naturerfahrung des Menschen beobachten.3 In dieser Zeit,

die sich rückblickend vielleicht sogar als Anfang des Anthropozän bezeichnen lässt, tritt der Mensch immer mehr in den Mittelpunkt und entwickelt sich in relativ kurzer Zeit zu einem der wichtigsten Einflüsse auf die natürliche Welt.4 Nicht wie der Zustand der Natur wirklich ist,

sondern wie sie vom Menschen erlebt und benutzt wird, ist in diesem Kontext die Frage.5 Dabei

sind es auch Menschen, die der Natur Geschichte gegeben haben, sowohl im Sinne einer historischen Chronik als auch im Sinne mehrerer Narrative; deswegen wird heutzutage einerseits von der Geschichte der Natur und andererseits von Geschichten über die Natur gesprochen. Der Paradox fällt hier sofort auf. Man muss nämlich beachten, dass Geschichte kein natürliches Phänomen ist: Sie wird immer (re)konstruiert. Geschichte wird von Menschen geschrieben, d. h. in Begrifflichkeiten gefasst, und daher wird die Natur zu einem kulturellen Konstrukt. Und dann ist es natürlich die Frage, wie natürlich Natur in dem Moment noch ist.6

1 Joseph von Eichendorff: Der Jäger Abschied. In: Werner Bergengruen (Hg.): Joseph Freiherr von Eichendorff.

Gedichte – Ahnung und Gegenwart. Roman. Zürich: Manesse 1955. S. 60. V. 1-2. Alle in dieser Arbeit erwähnten Gedichte von Eichendorff stammen aus dieser Ausgabe.

2 Eine schriftliche Erwähnung dieses Sprichworts lässt sich u. a. im Schweizer Satire-Zeitschrift Nebelspalter aus

dem Jahr 1942 aufdecken. Band 68, Heft 14, S. 2.

3 Vgl. dazu Christian Begemann: Erhabene Natur. Zur Übertragung des Begriffs des Erhabenen auf Gegenstände

der äußeren Natur in den deutschen Kunsttheorien des 18. Jahrhunderts. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Vol. 58, No. 1 (1984). S. 74-110, hier S. 76.

4 Der Begriff ‚Anthropozän‘ wurde vor allem seit dem Anfang des 21. Jahrhunderts vom Chemiker Paul J. Crutzen

popularisiert. Jedoch basiert er seinen Begriff vor allem auf dem schon im 19. Jahrhundert vom italienischen Geologen Antonio Stoppani benutzten Begriff „anthropozäne[s] Zeitalter“. Siehe Paul J. Crutzen: Die Geologie der Menschheit (aus dem Englischen von Heinrich Geiselberger). In: Paul J. Crutzen, Michael D. Mastrandrea und Stephen H. Schneider, Mike Davis und Peter Sloterdijk: Das Raumschiff Erde hat keinen Notausgang. Energie und Politik im Anthropozän (aus dem Englischen von Ilse Utz). Berlin: Suhrkamp 2011. S. 7-10, hier S. 7.

5 Vgl. dazu Albrecht Lehmann: Waldbewusstsein. Zur Analyse eines Kulturthemas in der Gegenwart. In:

Forstwissenschaftliches Centralblatt 120 (2001). S. 38-49, hier S. 39.

6 Man muss also im Auge behalten, dass der Naturbegriff immer problematisch und nicht-selbstverständlich

gewesen ist, und dies auch bleiben wird. Dadurch, dass der Mensch die Natur definiert, beschreibt er sie nämlich nicht nur, sondern schreibt in einem gewissen Maß auch vor, wie sie sein sollte. Ebenso bestimmt der Mensch,

(4)

Wichtig ist außerdem das Element der Imagination: Zur Beschreibung der Geschichte stellt sich der Mensch vor, wie die Natur einst gewesen sei. Danach benutzt er dieses Bild von der Vergangenheit auch bei der Orientierung auf die Zukunft. Die Imagination der Geschichte leistet z. B. einen wichtigen Beitrag zur Entstehung, oder vielmehr Konstruktion, verschiedener Nationen.7 So zeigt sich heraus, dass Historisierung öfters Mythologisierung zur Folge hat.

In einem deutschen Kontext gibt es ein bestimmtes Beispiel, bei dem das Element der Imagination bei sowohl Historisierung bzw. Rationalisierung als auch Mythologisierung besonders gut thematisiert werden kann: Der Wald. Einleuchtend dafür sind die oben angeführten Zitate. Das erste umfasst die Anfangsverse von Joseph von Eichendorffs Gedicht

Der Jäger Abschied aus dem Jahr 1810. Im Gedicht verabschiedet sich ein Jäger mit einer

Lobrede vom Wald, da er in die Welt fortzieht. In diesem Text hat der ganze Wald noch eine Sonderstellung, weil er „hoch da droben“ aufgebaut ist. Außerdem wiederholt sich der Vers „Lebe wohl, // Lebe wohl, du schöner Wald!“ mehrmals im Gedicht, womit die Liebe des Jägers für den Wald noch mal betont wird. Das zweite Zitat ist eine ironische Umdichtung jener ersten Verse des Eichendorffschen Gedichts, die – vor allem seit dem Zweiten Weltkrieg – in der deutschsprachigen Gesellschaft weit verbreitet worden ist. Der Wald ist nicht länger „hoch da droben“ aufgebaut, sondern wird „abgeholzt und dann verschoben“; der Wald wird also nicht mehr als Ganzes, als Erholungsort, literarischer Topos oder klimaschützendes Ökosystem geschätzt. Vielmehr hängt sein Wert von seinen Bäumen und, noch spezifischer, von seinem Holz, das als Rohstoff bzw. Energiequelle dem Menschen dient, ab. Die Geschichte des Waldes ist daher unmittelbar mit der Geschichte des Holzes verbunden.8

„Im Wald wohnt die deutsche Seele“: Eine kurze Geschichte des deutschen Waldes9

Obwohl er die letzten drei Jahrhunderte viel zu ertragen hatte, steht im deutschen Kontext vielleicht kein anderes Element der Natur so sehr für die Idee von Natur schlechthin ein wie der Wald. Nicht nur ist ein Drittel Deutschlands heutzutage immer noch von Waldfläche bedeckt und gilt Waldschutz als einer der Schlüsselbegriffe der deutschen Klimadebatten, sondern auch wird der deutsche Wald zu einer der wichtigsten Metaphern für das, was man gewöhnlich als

was zur ‚Natur‘ gehört und was nicht. Alles in allem geht es hier um eine begriffliche und kulturelle Abgrenzung des Natürlichen. Vgl. dazu u. a. das Kapitel „Natur und Kultur“ aus Eva Horns u. Johannes Bergthallers

Anthropozän. Zur Einführung (Hamburg: Junius 2019). S. 59-78.

7 Nationen sind ja auch keine natürlichen Gegebenheiten, sondern von Menschen ausgedachten Konstrukten. 8 Vgl. dazu Joachim Radkau: Holz. Wie ein Naturstoff Geschichte schreibt. München: oekom 2018. S. 14f. 9 In der wissenschaftlichen Literatur ist die Schreibweise vom Begriff ‚deutscher Wald‘ unterschiedlich.

Manchmal wird er kursiv, manchmal zwischen einfachen Anführungszeichen und manchmal ohne irgendeine Betonung geschrieben. In dieser Arbeit wird der Begriff nicht kursiv oder mit Anführungszeichen geschrieben; es sei denn, dass von einem Zitat die Rede ist oder die Apostrophierung betont werden sollte.

(5)

Natur bezeichnet. Zudem gilt er als Symbol der nationalen Identität und als beliebtes Politikum.10

Die Wurzeln des Mythos des deutschen Waldes liegen im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, wenn Romantiker so wie Ludwig Tieck und Joseph von Eichendorff über Waldeinsamkeit und Patrioten so wie Theodor Körner und Ernst Moritz Arndt über deutsche Eichen schwärmen. In dieser Zeit wird der Wald „zum Gesamtsymbol für Natur“11 und zum

mentalen Zufluchtsort, in den die Deutschen gehen können, um dem Alltag zu entfliehen. Jedoch enthält der Waldmythos auch eine negative Konnotation: Der Ludwig Tieck zugeschriebene Neologismus Waldeinsamkeit beschreibt den bedrohlichen Zustand, in dem sich der Mensch befindet, wenn er im Wald herumwandert: Der Wald ist so groß und dunkel und der Mensch so alleine, dass der Aufenthalt im Wald gefährlich und sogar tödlich werden kann. Waldeinsamkeit wird damit zum „trügerischen Idyll“12, das beim Topos von „Waldangst“, d. h.

der Angst, alleine im dunklen Wald zu wandern und sich zu verirren, anschließt.13 Jedoch wird

Tiecks Wortprägung später von anderen Autoren vor allem in positivem Sinne benutzt, wodurch die Idee des Waldes als idyllischen Zufluchtsorts verstärkt wird. Eine andere Entwicklung, bei der der Wald als Kulturmuster aufgewertet und mythologisiert wird, ist die Tatsache, dass das Natursymbol Wald während der Spätromantik auch zu einem Nationalsymbol wird. Damit wird dem Wald nicht nur eine Funktion als Identitätsträger, sondern auch als Ausgrenzungsmechanismus zugeschrieben. 14 So verachtet der Kulturhistoriker und

Volkskundler Wilhelm Heinrich Riehl die Engländer und Franzosen, weil sie, im Gegensatz zu den Deutschen, „gar keinen ächten [sic] Wald mehr haben“ und daher „halbwegs ausgelebt[…]“ wirken.15 Dagegen behauptet Riehl über die Deutschen: „Wir Deutschen sind von alters her ein

Waldvolk gewesen und in unserem innersten Wesen bis heute geblieben.“16

Auffallend ist, dass das romantische und nationalistische Ideal des deutschen Waldes gerade in einer Zeit verbreitet wird, in der jenes Bild in Wirklichkeit zunehmend schwindet. Am Anfang der Industrialisierung werden nämlich immer mehr Wälder gerodet (Holz ist zu

10 Vgl. dazu Lehmann: Waldbewusstsein, S. 47. Siehe auch Gernot Böhme: Natürlich Natur. Über Natur im

Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992. S. 56.

11 Vgl. dazu Lehmann: Waldbewusstsein, S. 43. Sehe auch Johannes Zechner: Der deutsche Wald. Eine

Ideengeschichte. Darmstadt: WBG 2016. S. 13.

12 Zechner: Der deutsche Wald, S. 41.

13 Dieser Topos ist übrigens nicht neu für die Romantik. Man findet ihn schon seit dem Mittelalter in der Literatur.

Vgl. dazu Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 8. Auflage. Bern: Francke 1973. S. 366.

14 Vgl. dazu Lehmann: Waldbewusstsein, S. 47.

15 Wilhelm Heinrich Riehl: Land und Leute. In: Ders.: Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer

deutschen Social-Politik, 1851–1869. Bd. 1 [1854]. Stuttgart: J. G. Cotta 1861. URL: https://www.projekt-gutenberg.org/riehl/landleut/chap004.html.

16 Wilhelm Heinrich Riehl: Uns ruft der Wald. In: Schutzgemeinschaft Deutscher Wald (Hg.): Uns ruft der Wald.

(6)

dieser Zeit der wichtigste Brennstoff) und diese Ressourcenknappheit sorgt dafür, dass schon im Laufe des 18. Jahrhunderts vor einer Holznot gewarnt wird.17 So schreibt der deutsche

Forstpublizist Christian Peter Laurop 1798: „Holzmangel! Holztheurung [sic]! ist die allgemeine Klage in fast allen großen und kleinen Staaten von Deutschland.“18 Und deswegen

findet, neben der imaginären und ästhetischen Wiederaufforstung in der deutschen Literatur und Malerei, eine reale Wiederaufforstung im deutschsprachigen Raum statt: Die Reduktion vom Wald zu einer bloßen Holzproduktionsmaschine prägt nämlich den Aufgang der deutschen Forstwissenschaft. In anderen Worten: Dadurch, dass die Wirtschaft in den Wald gelangt und ihn zerstört, sucht auch die Wissenschaft einen Weg in den Wald, und zwar um ihn nachhaltiger bewirtschaften zu können. So schreibt Heinrich Cotta, der als einer der Gründerväter der modernen Forstwirt- und -wissenschaft gilt, in seinem 1817 zum ersten Mal veröffentlichten Werk Anweisung zum Waldbau:

Wenn die Menschen Deutschland verließen, so würde dieses nach 100 Jahren ganz mit Holz bewachsen sein. […] Kehrten aber nachher die Menschen wieder zurück und machten sie wieder so große Anforderungen an Holz, Waldstreu und Viehweide, wie gegenwärtig, so würden die Wälder bei der besten Forstwirtschaft allemals nicht bloß kleiner, sondern auch unfruchtbarer werden. Die Wälder bilden sich und bestehen also da am besten, wo es gar keine Menschen und folglich auch gar keine Forstwissenschaft gibt; und diejenigen haben demnach vollkommen recht, welche sagen: Sonst hatten wir keine Forstwirtschaft und Holz genug, jetzt haben wir die Wissenschaft, aber kein Holz. […] Diese Wissenschaft ist nun ein Kind des Mangels und diese ist folglich sein gewöhnlicher Begleiter.19

Cotta weist also daraufhin, dass die Disziplin der Forstwissenschaft aus purer Not entstanden ist: Man braucht in kurzer Zeit so viel Holz, dass sich die Wälder davon nicht erholen können und daraus folglich ein Holzmangel entsteht. Die Lösung, d. i. einen nachhaltigen Umgang mit dem Wald, verbreitet Cotta übrigens nicht nur in schriftlicher Form. Einen ersten praktischen Schritt hat er zur Zeit der Erstveröffentlichung schon mehr als 20 Jahren vorher gemacht: 1794 hat er in Zillbach (Thüringen) die erste deutsche forstliche „Anstalt zur Bildung angehender Forstmänner und Jäger“ gegründet.20

Jedoch kann die aufkommende Forstwissenschaft einen moralischen und physischen Tiefpunkt des deutschen Waldes im 20. Jahrhundert nicht verhindern, als er während des Zweiten Weltkrieges zu ideologischen und industriellen Zwecken ausgenutzt wird. Nach dem

17 Joachim Radkau: Holzverknappung und Krisenbewußtsein im 18. Jahrhundert. In: Geschichte und Gesellschaft.

9. Jahrgang, Heft 4 (1983). S. 513-543, hier S. 530f.

18 Christian Peter Laurop: Freimüthige Gedanken über den Holzmangel in Schleswig u. Holstein u. die Mittel, ihm

abzuhelfen. Altona: Hammerich 1798. S. 3. Zitiert nach Radkau: Holzverknappung und Krisenbewußtsein im 18. Jahrhundert, S. 530f.

19 Heinrich Cotta: Anweisung zum Waldbau. Vierte verbesserte Auflage. Dresden u. Leipzig: Arnoldische

Buchhandlung 1828. S. III-IV.

20 B. Bendix (Hg.): Forstliches Cotta-Album. Nachdruck der Ausgabe von 1844. Kessel: Verlag Kessel 2014. S.

(7)

Krieg verliert der Wald zwar seinen nationalsozialistischen Unterton, aber nicht seine Bedeutung für die Nation, und das Waldbewusstsein der Deutschen nimmt stets zu, während sich der Zustand der Wälder jedoch nicht verbessert. Etwa 35 Jahre nach Kriegsende kommt der Notschrei: Es gehe den deutschen Wäldern seit dem Ende der 1970er Jahre so schlecht, dass man sogar von „Waldsterben“ spricht.21 Die Debatte um den vom Absterben bedrohten Wald

wird zu einem der wichtigsten Umweltthemen in deutschsprachigen Ländern und hat wesentliche gesellschaftliche und politische Folgen. So habe die Partei der Grünen ihren Aufstieg in der deutschen Politik u. a. der Waldsterbensdebatte Ende der 1970er und Anfang der 1980er zu verdanken. Heutzutage hat sich das Blatt noch nicht gewendet. Im Gegenteil: Wegen zunehmenden Klimawandels hat der Wald immer mehr zu ertragen. Daher gibt es neue Notschreie: „Der Wald braucht Hilfe!“ ist im April 2019 die Schlagzeile eines Artikels der Süddeutschen Zeitung.22 Die Frankfurter Allgemeine Zeitung spricht ein halbes Jahr vorher

vom „Patient Wald“.23 Das Thema ist also immer noch sehr präsent in der deutschen

Gesellschaft.

Aufbau der Arbeit

Die vorliegende Arbeit geht zurück zu den Ursprüngen des ambivalenten Waldverständnisses der Deutschen im 19. Jahrhundert, um erstens die Beziehung zwischen Waldfaszination und Waldfrevel aufzudecken und zweitens das Element der Imagination bzw. Konstruktion der Geschichte, das sowohl der Faszination als auch der Frevel zugrunde liegt, weiter zu analysieren. Als Ausgangspunkt der Analyse dienen drei Beobachtungen, die beim Lesen von Annette von Droste-Hülshoffs Novelle Die Judenbuche (1842) gemacht wurden und im nächsten Kapitel weiter erklärt werden:

1. Der Wald verschwindet zunehmend seit der Mitte des 18. Jahrhunderts.

21 Vgl. dazu Joachim Radkau: Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte. München: Beck 2011. S. 235f. Der

Begriff wird zum ersten Mal im November 1981 in einer Ausgabe vom Spiegel erwähnt. Später geht der Spiegel übrigens noch weiter: In der Ausgabe vom 14.2.1983 wird von einem „ökologischen Hiroshima“ und einem „ökologischen Holocaust“ gesprochen (S. 72 bzw. 74). Zitiert nach Roland Schäfer und Birgit Metzger: Was macht eigentlich das Waldsterben? In: Patrick Masius, Ole Sparenberg und Jana Sprenger (Hg.): Umweltgeschichte und Umweltzukunft. Zur gesellschaftlichen Relevanz einer jungen Disziplin. Göttingen: Universitätsverlag 2009. S. 201-227, hier S. 201.

22 Marlene Weiß: Der Wald braucht Hilfe. In: Süddeutsche Zeitung 24.4.2019.

URL: https://www.sueddeutsche.de/politik/duerre-der-wald-braucht-hilfe-1.4419626.

23 Anne-Christin Sievers: Patient Wald. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 19.10.2018. URL:

(8)

2. Der Grund dafür ist die nicht-nachhaltige Forstwirtschaft: Holzfrevel sorgt dafür, dass sich der Wald nicht genug erholen kann und deswegen immer mehr Waldflächen verschwinden.

3. Als Reaktion auf diese vernichtende Art von Forstwirtschaft entsteht die Forstwissenschaft, die sich damit beschäftigt, Wälder auf nachhaltige Weise zu bewirtschaften.

Jene drei Beobachtungen aus einer Geschichte über den Wald werden anschließend im zweiten Teil dieser Arbeit in Bezug zu der Geschichte des Waldes weiter ausgearbeitet, und zwar anhand konkreter Beispiele: Der Nürnberger Reichswald und die Gegend Ostpreußen. Im Mittelpunkt steht vor allem die Frage, inwiefern und wie das Element der Imagination bei der realen Wiederaufforstungspraxis in jenen zwei verschiedenen Gebieten, das eine von Ursprung waldreich, das andere waldarm, eine Rolle spielt.

Im zweiten Teil der Analyse wird näher auf die literarische Wiederaufforstung des deutschen Waldes eingegangen, um zu entdecken, welche Quellen der realen Wiederaufforstung jenes Waldes zugrunde liegen.24 Anhand drei verschiedener Motive –

Waldeinsamkeit, der Zauberwald und die deutsche Eiche – wird gezeigt, wie sich verschiedene Autoren aus dem 19. Jahrhundert mit ihren Geschichten einen Wald vorstellen, den es zu dieser Zeit in Wirklichkeit gar nicht mehr gibt – und vielleicht sogar nie gegeben hat. Mithilfe dieser Vorstellungen wird nicht nur die deutsche Nation gegründet, sondern auch der Mythos ‚Deutscher Wald‘ erfunden, der bis ins 20. Jahrhundert und auch heutzutage noch einen prominenten Platz im deutschen Kulturbewusstsein hat. Daran anschließend wird nach dem Fazit die kritische Frage aufgeworfen, ob und wie lange jener Mythos heutzutage, in einer neuen Krisenzeit, noch imstande gehalten werden kann, und vor allem: sollte.

24 Man geht nämlich davon aus, dass die Waldvorstellungen der Romantiker und Nationalisten die „forstpolitischen

(9)

1. Den Wald vor lauter Bäume nicht mehr sehen: Der Wald als

Ware in Annette von Droste-Hülshoffs Die Judenbuche.

Annette von Droste-Hülshoff veröffentlicht Die Judenbuche zum ersten Mal 1842 im

Cotta’schen Morgenblatt für gebildete Leser.25 Die Novelle ist eine Kriminalgeschichte, die auf

wahren Begebenheiten basiert.26 Sie handelt vom Leben Friedrich Mergels, der in der Mitte des

18. Jahrhunderts aufwächst

im Dorfe B., das, so schlecht gebaut und rauchig es sein mag, doch das Auge jedes Reisenden fesselt durch die überaus malerische Schönheit seiner Lage in der grünen Waldschlucht eines bedeutenden und geschichtlich merkwürdigen Gebirges. […] Seine Lage inmitten tiefer und stolzer Waldeinsamkeit mochte schon früh den angeborenen Starrsinn der Gemüter nähren; (JB 3f.)27

1. Holzfrevel

Die beschriebene Waldschlucht ist also vor allem wegen seiner „malerische[n] Schönheit“ und „stolzer“ (d. h. positiv konnotierten) Waldeinsamkeit bekannt. Jedoch stellt sich später heraus, dass diese Ruhe nur Schein ist: „Holz- und Jagdfrevel waren an der Tagesordnung.“ (JB 4) Auffallend ist hier vor allem, dass der Begriff Holzfrevel – und nicht Waldfrevel – benutzt wird. Hier lässt sich eine erste Beobachtung machen, und zwar, dass der Wald seit dem Ende des 18. Jahrhunderts bloß noch als Holzquelle oder Ware betrachtet wird und keinen (romantischen) Eigenwert mehr hat: Es geht nicht um den Wald selbst, sondern um das Produkt, das der Wald liefert. Diese Idee bestätigen auch die nächsten Zeilen:

Da jedoch große und ergiebige Waldungen den Hauptreichtum des Landes ausmachten, ward allerdings scharf über die Forsten gewacht, aber weniger auf gesetzlichem Wege, als in stets neuen Versuchen, Gewalt und List mit gleichen Waffen zu überbieten. (ebd.)

Der Wert des Waldes liegt für die Einheimischen offensichtlich darin, dass sein Holz dem Land Geld und damit Reichtum besorgt.28

25 Herbert Kraft: Annette von Droste-Hülshoff. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1994. S. 96. Der vollständige Titel

der Novelle läutet: Die Judenbuche. Ein Sittengemälde aus dem gebirgichten [sic] Westfalen. Die in dieser Arbeit benutzte Aufgabe ist die von Reclam (Stuttgart 1975). Nachweis des Werkes zukünftig immer im Fließtext mit der Abkürzung JB und Seitenzahl.

26 Von Droste-Hülshoff kennt die Geschichte noch aus ihrer Kindheit, die sie zeitweise bei ihren Großeltern in

Bökendorf (Nordrhein-Westfalen, Teutoburger Wald) verbracht hat. Neben den Erzählungen ihres Großvaters lässt sich auch der Bericht ihres Onkels, August von Haxthausen, den er 1818 unter dem Namen Geschichte eines

Algierer-Sklaven in der Göttinger Zeitschrift Wünschelruthe veröffentlicht hat, als Inspiration für die Novelle

bezeichnen. Siehe dafür auch Walter Huge (Hg.): Annette von Droste-Hülshoff – Die Judenbuche. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart: Reclam 1979. S. 32 u. 44.

27 Es handelt sich hier wohl um das Dorf Bellersen. Siehe Huge: Die Judenbuche, S. 7.

28 Die Erzählerin hat es vorher gut formuliert: Die „malerische Schönheit“ und „Waldeinsamkeit“ fesseln ja auch

(10)

2. Forstwissenschaft

Die Erzählerin schreibt dann auch, dass es sich um „Forsten“ bzw. künstlich bewirtschaftete Wälder handelt: Wenn sie genug Geld einbringen wollen, müssen die Wälder offensichtlich aufgeforstet werden. Dies ist auch der Grund, dass „alles umher von Förstern wimmelte“ (JB 5). Hier lässt sich die zweite Beobachtung, auf die sich diese Arbeit stützt, finden: Nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Wissenschaft findet einen Weg in den Wald und hier kann man sogar von einem Kausalzusammenhang sprechen: Weil der Wald eine so wichtige Einkommensquelle bildet, muss er nachhaltig bewirtschaftet werden können, und dazu werden Forstbeamten beauftragt.

Dass der Holzfrevel immer mehr zunimmt, erfährt auch Friedrich Mergel selbst, als er älter wird. Sein Vater stirbt als Friedrich neun Jahre alt ist und weil seine Mutter nicht mehr für ihn sorgen kann, wird er mit zwölf Jahren von seinem Onkel Simon Semmler als Knecht angestellt. Die Beiden gehen nachts fort zum nächsten Dorf Brede, in dem Simon wohnt. Dafür gehen sie durch den dunklen Wald, was Friedrich Angst macht:

Es kam ihm vor, als ob alles sich bewegte und die Bäume in den einzelnen Mondstrahlen bald zusammen, bald voneinander schwankten. Baumwurzeln und schlüpfrige Stellen, wo sich das Wegwasser gesammelt, machten seinen Schritt unsicher; er war einige Male nahe daran, zu fallen. (JB 16)

Die Waldeinsamkeit, die Friedrich hier erfährt, ist negativ konnotiert: Er fürchtet sich vor den schwankenden Bäumen und dem holprigen Weg. Dann erreichen die Beiden aber einen Schlag und die Dunkelheit löst sich auf:

Jetzt schien sich in einiger Entfernung das Dunkel zu brechen, und bald traten beide in eine ziemlich große Lichtung. Der Mond schien klar hinein und zeigte, daß hier noch vor kurzem die Axt unbarmherzig gewütet hatte. Überall ragten Baumstümpfe hervor, manche mehrere Fuß über der Erde, wie sie gerade in der Eile am bequemsten zu durchschneiden gewesen waren; (JB 16)

Diese Lichtung nimmt Friedrich das Gefühl und die Angst der Waldeinsamkeit. Und das ist nicht nur der Fall, weil er sich besser orientieren kann, sondern auch, weil es überhaupt keinen Wald mehr gibt: Friedrich und sein Onkel finden sich nämlich plötzlich inmitten eines ‚Tatorts‘, wo wahrscheinlich vor Kurzem Holzfrevler zahllose Bäume gefällt haben. In der Eile hat man jedoch nicht alle mitnehmen können, „denn eine Buche lag quer über dem Pfad, in vollem Laube, ihre Zweige hoch über sich streckend und im Nachtwinde mit den noch frischen Blättern zitternd.“ (ebd.) Es scheint fast, als ob ein Mensch gestorben ist: Die Buche ist „in vollem Laube“, d. h. buchstäblich in der Blüte ihres Lebens, gefällt worden und die hoch über ihr gestreckten Zweige und die zitternden, frischen Blättern symbolisieren ihr letztes Gliederzucken. Es steht jetzt nur noch eine einzige Eiche auf dem Schlag:

(11)

In der Mitte der Lichtung stand eine alte Eiche, mehr breit als hoch; ein blasser Strahl, der durch die Zweige auf ihren Stamm fiel, zeigte, daß er hohl sei, was ihn wahrscheinlich vor der allgemeinen Zerstörung geschützt hatte. (ebd.)

Auch dies beweist, dass der Wald nur als Holzquelle geschätzt wird: Die Eiche wurde nicht gefällt, weil sie hohl ist und deshalb nicht viel Geld einbringen würde. Obwohl ihre ‚Schwäche‘ die Eiche vor der Vernichtung geschützt hat, markiert sie ebenfalls definitiv das Ende des Hochwaldes, weil sie als einziger Baum noch auf dem Schlag steht.29

Friedrich arbeitet viele Jahre bei seinem Onkel, zusammen mit einem Jungen namens Johannes Niemand. Wenn Friedrich achtzehn Jahre alt ist, wird die Gegend noch mal wegen zunehmenden Holzfrevels erschüttert:

Um diese Zeit wurden die schlummernden Gesetze doch einigermaßen aufgerüttelt durch eine Bande von Holzfrevlern, die unter dem Namen der Blaukittel alle ihre Vorgänger so weit an List und Frechheit übertraf, daß es dem Langmütigsten zuviel werden mußte. […] Ihre Benennung erhielten sie von der ganz gleichförmigen Tracht, durch die sie das Erkennen erschwerten, wenn etwa ein Förster noch einzelne Nachzügler im Dickicht verschwinden sah. Sie verheerten alles wie die Wanderraupe, ganze Waldstrecken wurden in einer Nacht gefällt und auf der Stelle fortgeschafft, so daß man am andern Morgen nichts fand als Späne und wüste Haufen von Topholz […].“ (JB 23)

Die Existenz der Bande der Blaukittel zeigt, dass der Wald jetzt auf systematische Weise gerodet wird. Ihr zerstörerisches Verhalten wird mit dem der Wanderraupe verglichen: Die Blaukittel hinterlassen offensichtlich eine ebenso große Spur der Vernichtung. Dieser Vergleich impliziert außerdem, dass es sich bei den Blaukitteln um einen natürlichen Prozess (so wie auch bei Wanderraupen der Fall ist) handelt, der gleichfalls nicht gestoppt werden kann.30 Die Blaukittel

lassen sich auf jeden Fall nicht von den Förstern ergreifen:

Der Schaden in den Forsten war indes allzu groß, deshalb wurden die Maßregeln dagegen auf eine bisher unerhörte Weise gesteigert; Tag und Nacht wurde patrouilliert, Ackerknechte, Hausbediente mit Gewehren versehen und den Forstbeamten zugesellt. Dennoch war der Erfolg nur gering, und die Wächter hatten oft kaum das Ende des Forstes verlassen, wenn die Blaukittel schon zum andern einzogen. Das währte länger als ein volles Jahr, Wächter und Blaukittel, Blaukittel und Wächter, wie Sonne und Mond, immer abwechseln im Besitz des Terrains und nie zusammentreffend. (JB 24)

Obwohl der Kampf um den Wald zwischen Förstern und Blaukitteln fortdauert, beruhigt sich die Situation doch einigermaßen, und auch Friedrich achtet nicht mehr auf den „dumpfe[n], krachende[n] Schall“, der von Zeit zu Zeit aus dem Wald dringt (JB 24f.): Dieser scheint inzwischen zum Alltag zu gehören. Eines Nachts denken die Förster, unter der Führung von

29 Der Hochwald, auch „Plenterwald“ (Radkau: Holz, S. 46) genannt, gilt als unordentlicher Wald mit ‚uralten‘

Laubbäumen, der nicht zur kommerziellen Nutzung bewirtschaftet wird – im Gegensatz zu einem Forst, also. Vgl. dazu auch Karl Hasel und Ekkehard Schwartz: Forstgeschichte. Ein Grundriß für Studium und Praxis. Hamburg: Parey 1985.

30 Dies passt zur Idee des Anthropozän, nämlich, dass der Mensch im Mittelpunkt der Welt steht und es deshalb

normal oder sogar notwendig bzw. natürlich ist, dass sie Bäume fällen bzw. eine bestimmte Macht über die Natur haben.

(12)

Oberförster Brandis, die Blaukitteln ertappen zu können, aber sie kommen wieder zu spät und die Schäden sind erheblich: „Alles sei vorüber gewesen, kein Laut mehr im Walde, von zwanzig gefällten Stämmen noch acht vorhanden, die übrigen bereits fortgeschafft.“ (JB 32) Außerdem wird Brandis tot am Rande des Waldes aufgefunden, „die Stirn von einer Axt gespalten.“ (JB 32) Alle Förster und Bauern werden daraufhin befragt, aber keiner gibt zu, etwas gemerkt zu haben. Auch Friedrich muss zum Gericht, weil er die Förster in jener Nacht noch gesprochen hat, aber seine Aussage bringt die Ermittler auch nicht weiter. Alle vermuten, die Blaukittel seien für den Mord verantwortlich, aber der Beweis wird nie gefunden. Dann mischt sich die Erzählerin in die Erzählung ein:

Denjenigen, die vielleicht auf den Ausgang dieser Begebenheit gespannt sind, muß ich sagen, daß diese Geschichte nie aufgeklärt wurde, obwohl noch viele dafür geschah und diesem Verhöre mehrere folgten. Den Blaukitteln schien durch das Aufsehen, das der Vorgang gemacht, und die darauf folgenden geschärften Maßregeln der Mut genommen; sie waren von nun an wie verschwunden, und obgleich späterhin noch mancher Holzfrevler erwischt wurde, fand man doch nie Anlaß, ihn der berüchtigten Bande zuzuschreiben. (JB 34)

Mit dem Verschwinden der Blaukittel ist die Holzfrevel-Geschichte also zu Ende, aber es folgt noch die Geschichte der Judenbuche. Vier Jahre nach dem Tod vom Oberförster Brandis wird der Jude Aaron tot bei einer Buche aufgefunden. Friedrich wird sofort verdächtigt, weil er einst einen Streit mit Aaron hatte. Daraufhin verschwindet er mit seinem Freund Johannes Niemand wie vom Erdboden und die Buche wird unter Schutz gestellt: „Der Handel ward geschlossen und allen Förstern streng eingeschärft, die Judenbuche auf keine Weise zu schädigen.“ (JB 47) In die Buche wird ein hebräischer Text eingehauen, aber es bleibt noch unklar, was er bedeutet.

28 Jahre später, an Weihnachten 1788, taucht ein Fremder im Dorf auf, der sich als Johannes Niemand ausgibt. Er behauptet, dass er Friedrich Mergel schon seit Langem nicht mehr gesehen hat, und dass Friedrich damals „wegen Holzgeschichten“ (JB 53) fliehen wollte. Johannes lässt sich im Dorf nieder, doch verschwindet nach einiger Zeit wieder. Erst zwei Wochen später wird er von dem jungen Förster Brandis tot im Wald aufgefunden, und zwar aufgehängt an der Judenbuche, die jetzt alleine auf dem Schlag steht. Erst wenn man die Leiche besser betrachtet, sieht man, wer es wirklich ist: Friedrich Mergel. Und mit dem letzten Kommentar der Erzählerin wird so auch Aarons Mord gelöst:

Dies hat sich nach allen Hauptumständen wirklich so begeben im September des Jahrs 1789. – Die hebräische Schrift an dem Baume heißt: „Wenn du dich diesem Orte nahest, so wird es dir ergehen, wie du mir getan hast.“ (JB 59)

(13)

3. Waldrodung

Aus dem Schluss der Erzählung ergibt sich die dritte und letzte Beobachtung, die als Grundlage dieser Arbeit dient: Man erfährt, wie der Wald innerhalb von etwa 50 Jahren fast komplett verschwindet. Im Jahr 1738, als Friedrich geboren wird, wird die Gegend noch als „grüne[…] Waldschlucht“ (JB 3) bezeichnet, in Friedrichs Kindheit roden die Blaukittel sehr viele Bäume, und am Ende der Erzählung im Jahre 1789 steht „[r]ings umher kein Baum außer der Judenbuche.“ (JB 58) Dies ist die Folge der zerstörenden Waldwirtschaft (symbolisiert von den Blaukitteln), und obwohl die Forstwissenschaft den Wald auch erreicht hat, kann sie den Kampf nicht gewinnen (symbolisiert von Brandis und seinem Tod): Der Wald bleibt eine Ware, ein verhandelbares Kapital.

(14)

2. Die reale Wiederaufforstung des deutschen Waldes

2.1 Das hölzerne Zeitalter und die Anfänge der Forstwissenschaft

Die reale Wiederaufforstung der Wälder im deutschsprachigen Raum gehört zum Kern der Geschichte des deutschen Waldes. Mit der Wiederaufforstungspraxis wird nämlich Geschichte

geschrieben: Man lässt der Natur nicht ihren Lauf, sondern pflanzt aktiv Bäume nach und

versucht damit nicht nur die Geschichte, d. h. in diesem Kontext die Urwälder, zu rekonstruieren, sondern konstruiert bzw. beeinflusst sie auch. Dabei ist es noch mal wichtig, zu betonen, dass die Urwälder auch aus einer zumindest teilweise imaginierten bzw. konstruierten Vergangenheit stammen.31 Und ebenso wichtig: Wenn man von realer Wiederaufforstung

spricht, geht es übrigens nicht unbedingt um die Geschichte des Waldes; vielmehr tritt das Holz, aus dem der Eigenwert des Waldes im Kontext der realen Wiederaufforstung vor allem abgeleitet wird, in den Vordergrund. So definiert der Forstwissenschaftler Friedrich von Burgsdorf den Begriff ‚Wald‘ 1788 als „eine ganze dem Holzwuchs gewidmete Erdfläche“.32

Diese Definition beweist, dass es am Ende des 18. Jahrhunderts nicht so sehr wichtig ist, dass aus mehreren nachgepflanzten Bäumen ein Wald oder Forst entsteht. Viel wichtiger ist das Wachstum von Holz. Die Definition impliziert auch, dass nicht nur die schon mit Bäumen versehenen Flächen als ‚Wald‘ gelten; auch Flächen, die zur Wiederaufforstung und Holzproduktion vorgesehen sind, gehören dazu. Hier geht es deshalb wieder um Imagination: Flächen, auf denen noch kein einziger Baum steht, werden als waldreich visualisiert.

Joachim Radkau nennt mehrere Gründe dafür, dass nicht so sehr der Wald, sondern vielmehr das Holz im Mittelpunkt steht und Holz „zu einem historischen Thema eigener Art und zu einer Determinante der Geschichte“ wird. Laut ihm geschieht das

zum einen dadurch, dass wichtige und begehrte Holzarten knapper und umkämpfter werden und die Verfügung über bestimmte Holzressourcen zu einem Trumpf im Konkurrenzkampf wird; zum anderen dort, wo die technische Entwicklung an die Grenzen der natürlichen Eigenschaften des Holzes gerät; und zum Dritten durch eine besondere kulturelle Hochschätzung oder auch Abwertung des Holzes. Vor allem dann, wenn diese drei Bedingungen zusammenkommen, wird das Holz gleichsam zum Hauptakteur dramatischer Geschichten.33

31 Ein Urwald ist ein ursprünglicher, nicht von Menschen kultivierter Wald. Schon daher lässt sich die

Wiederaufforstungspraxis als problematisch bezeichnen: Rekonstruktion heißt nämlich immer Kultivierung.

32 Hansjörg Küster: Geschichte des Waldes. Von der Urzeit bis zur Gegenwart. München: C. H. Beck 1998. S. 188. 33 Radkau: Holz, S. 34.

(15)

Schon seit Urzeiten lebt die Erdbevölkerung in einem ‚hölzernen Zeitalter‘.34 Radkau betont

„die hölzerne Grundlage der Menschheitsgeschichte“: „Am Holz hängt eine ganze Kultur der Arbeit, von der Altsteinzeit bis in die Moderne.“35 Man benutzt es zum Überleben (in der

Altsteinzeit waren es noch Wurfspeere, im 18. Jahrhundert sind es z. B. Sägemühlen) und wird demzufolge vom Holz abhängig. So ist 1789 in Johann Georg Krünitz’ Oeconomische

Encyclopädie zu lesen: „Kein Teil unserer Grundstücke gewähret einen längern [sic], ja ich

möchte sagen, einen so unaufhörlichen und mit der Weltdauer gleich laufenden Nutzen, da, was wir heute schlagen, in 15, 30, 60, 80, 100 Jahren und oft noch eher, noch vermehrter und besser wieder da ist als Holz“.36 Die ‚dramatischen Geschichten‘, von denen Radkau spricht, entstehen

dann, wenn diese Grundlage zu wackeln beginnt, d. h. wenn die Holzressourcen knapper werden und ihr Nutzen gefährdet wird.

Im deutschsprachigen Raum wird Holz für viele Zwecke benutzt, u. a. als Brennstoff (denke an Köhlerei und Glasbläserei), Baumaterial (Fachwerkbau) oder internationale Handelsware: Schon im 16. Jahrhundert erlebt z. B. die Flößerei einen Aufschwung; Länder wie England und die Niederlande brauchen immer mehr Holz für den Schiffbau und daraufhin wird z. B. der Schwarzwald völlig auf die Flößerei eingerichtet: Es werden Nadelbäume nachgepflanzt und Flüsse und Bäche flößbar gemacht.37 Den Höhepunkt des

„Holländer-Holzhandels“ erreicht die Flößerei im 18. Jahrhundert: Etwa die Hälfte des ungeheuren Holzbedarfs der Niederländer wird in dieser Zeit aus dem Schwarzwald über den Rhein gedeckt.38 Die größten deutschen Holzverbraucher haben übrigens wenig mit Fernhandel zu

tun: Die Köhlerei steht an der Spitze der Waldgewerbe, danach kommen die Metall- und Salzproduktion und die Glasmacherei, die nicht nur Holz, sondern vor allem Holzkohle

34 Der Begriff ‚hölzernes Zeitalter‘ stammt ursprünglich vom deutschen Soziologen und Volkswirt Werner Sombart

(1863-1941). Er betrachtet die gesamte vormoderne Zeit als ‚hölzernes Zeitalter‘. Der Niedergang jenes Zeitalters liegt laut Sombart im 18. Jahrhundert, als die Holzverknappung zunimmt und man auf andere Energieressourcen zugreift. Joachim Radkau ist damit nicht einverstanden: Er betrachtet die frühe Industrialisierung gerade als Höhepunkt des hölzernen Zeitalters. Siehe dafür Joachim Radkau: Technik in Deutschland. Vom 18. Jahrhundert bis heute. Frankfurt/New York: Campus 2008 [1989]. S. 73ff.

35 Radkau, Holz, S. 19.

36 Johann Georg Krünitz: Oeconomische Encyclopädie. 242 Bände, hier Bd. 24. Brunn: J. G. Traßler 1789. S. 796.

Zitiert nach Radkau: Holz, S. 136.

37 Siehe u. a. Küster: Geschichte des Waldes, S. 143ff. und Radkau: Holz, S. 106ff. und 133f. Einen interessanten

literarischen Einblick in die Gewerbe im Schwarzwald bietet der Romantiker Wilhelm Hauff mit seinem 1827 veröffentlichten Märchen Das kalte Herz (Stuttgart: Reclam 1970). Im Mittelpunkt jener Geschichte steht der arme „Köhler-Munk-Peter“ (KH 5), der in einem geteilten Schwarzwald wohnt: Auf der einen Seite wohnen Glasmacher und „auf der andern Seite des Waldes wohnt ein Teil desselben Stammes, aber ihre Arbeiten haben ihnen andere Sitten und Gewohnheiten gegeben, als den Glasmachern. Sie handeln mit ihrem Wald; sie fällen und behauen ihre Tannen, flözen [sic] sie durch die Nagold in den Neckar, und von dem obern [sic] Neckar den Rhein hinab, bis weit hinein nach Holland, und am Meer kennt man die Schwarzwälder und ihre langen Flöße;“ (KH 4).

38 Dietrich Ebeling: Organisationsformen des Holländerholzhandels im Schwarzwald während des 17. und 18.

Jahrhunderts. In: Hans-Walter Keweloh (Hg.): Auf den Spuren der Flößer. Wirtschafts- und Sozialgeschichte eines Gewerbes. Stuttgart: Theiss 1988. S. 81-99, hier S. 87.

(16)

braucht.39 Durch die zunehmende Nutzung erscheint Holz immer mehr auf der politischen

Tagesordnung: In Sachsen und Thüringen werden Flößerei und Trift z. B. von Landesherren beansprucht.40 Regierungen verschiedener Fürsten- und Herzogtümer versuchen schon seit dem

15. Jahrhundert anhand zahlloser Forstordnungen ihre Macht zu verstärken. So entstehen große Konflikte zwischen Regierungen und Bauern um die Frage, wem der Wald gehört und wem damit die Nutzungsrechte zukommen: Sie gilt sogar als einer der Hauptgründe für einen Bauernaufstand in Ostpreußen im Jahre 1440.41

Allerdings ist es nicht nur eine Eigentumsfrage, die Regierungen anhand Forstordnungen versuchen zu klären. Die hohe Zahl der Forstordnungen macht auch den Eindruck, dass sich Regierungen um den Wald, der immer mehr ausgenutzt wird, kümmern. Dabei werden ihre Interessen allerdings nicht durch Nachhaltigkeit, sondern vor allem durch wirtschaftliches Wachstum geprägt.42 Forstordnungen werden vor allem verfasst, um eine

Holznot vorzugeben: „Nicht selten bedeutete der Hinweis auf drohende Holzverknappung lediglich, daß man Holz zu einem knappen Gut machen wollte, um die fürstlichen Kassen zu füllen.“43 Diese vorgetäuschte Holznot sorgt unter der Bevölkerung nur für mehr Angst, die

schon im 16. Jahrhundert als „unheimliche[s] Gespenst“ beschrieben wird.44 Es entsteht sogar

ein neues Literaturgenre: Die sogenannte Holzsparliteratur, mit der Schriftsteller Menschen vor zukünftiger Holznot warnen und sie auf Holzsparkünste, wie z. B. einen holzsparenden Stubenofen, aufmerksam machen wollen.45 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts schwillt

jenes Genre an und werden die Warnungen heftiger: So steht 1790 in einer Schrift, dass „Holzverschwendung und Holzdiebstähle“ immer schlimmer werden, und, „wenn man in Erwägung zieht, daß bereits gegenwärtig diese Waldverwüstungen mit offenbaren Vergewaltigungen verknüpft sind, künftig unfehlbar mit Blutvergießen sich endigen werden“.46

39 Vgl. dazu Küster: Geschichte des Waldes, S. 159. Mehr zur Köhlerei siehe Heinrich Rubner: Waldgewerbe und

Agrarlandschaft im Spätmittelalter und im 19. und 20. Jahrhundert. In: Hermann Kellenbenz (Hg.): Agrarisches Nebengewerbe und Formen der Reagrarisierung im späten Mittelalter und 19./20. Jahrhundert. Forschungen zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Bd. 21. Stuttgart: Lucius & Lucius 1975. S. 97-108, hier S. 98.

40 Heinz Geistefeldt: Untersuchungen zur Geschichte der Flößerei und Flößereiverwaltung in Kursachsen.

Forstwissenschaftliche Dissertation. Eberswalde 1963. S. 8ff. Zitiert nach Radkau: Holz, S. 108.

41 Friedrich Mager: Der Wald in Altpreussen als Wirtschaftsraum. 2. Bände. Köln/Graz: Böhlau 1960. Hier Bd. 1,

S. 197. Zitiert nach Radkau: Holz, S. 59.

42 Vgl. dazu Radkau: Holz, S. 97.

43 Radkau: Holzverknappung und Krisenbewußtsein, S. 515f. Radkau bezieht sich auf Max Endres: Die

Waldbenutzung vom 13. bis Ende des 18. Jahrhunderts – Ein Beitrag zur Geschichte der Forstpolitik. Tübingen: Laupp 1888. S. 147.

44 Vgl. dazu Heinrich Ritter von Srbik: Studien zur Geschichte des österreichischen Salzwesens. Forschungen zur

inneren Geschichte Österreichs. Innsbruck: Wagner 1917. S. 64.

45 Vgl. dazu Radkau: Holzverknappung und Krisenbewusstsein, S. 519.

46 Wilhelm Gottfried von Moser: Forst-Archiv. Zur Erweiterung der Forst- und Jagdwissenschaft und der Forst-

(17)

Wenn man bedenkt, dass Holznot zu dieser Zeit überhaupt „kein neues Phänomen“47 bildet,

wirkt die unruhige und sogar gefährliche Atmosphäre unbegründet. Schon im Mittelalter wurde deutlich, dass der Wald keine unerschöpfliche Quelle ist. Der große Unterschied zu dieser Zeit ist jedoch, dass man sich spätestens seit den 1780er Jahren in einer Umbruchszeit befindet: Überall setzt sich die industrielle Revolution durch, und zwar in einem so hohen Tempo, dass tatsächlich relativ mehr Bäume gefällt werden und sich die Holzpreise laut einem bayerischen Bericht von 1790 „fast von Viertelstunde zu Viertelstunde“ ändern.48 Das macht die Angst

verständlicher. Bäume werden außerdem mit lautem Krach gefällt, während ihr Wuchs geräuschlos stattfindet: Die Rodung wird dadurch viel mehr wahrgenommen. Allerdings ist die Entwaldung nicht als katastrophal zu bezeichnen.49 Die zugenommene Angst deutet daraufhin,

dass die Holzverknappung dem Umbruch in ein Industriezeitalter nicht zugrunde liegt; „Sie wurde als akute Krise erst empfunden, als man die Industrialisierung bereits in der Phantasie antizipierte.“50 Es geht hier also wieder um Imagination: Nicht die Tatsache, sondern die

Zukunftsvorstellung einer industriellen Zeit, in der Holzressourcen unumkehrbar ausgeschöpft würden, sorgt für ein Krisenbewusstsein. Jene Angst macht die Menschen also wahnsinnig.

Schon im frühen 19. Jahrhundert ändert sich jedoch die Situation. Dies liegt erstens daran, dass immer mehr Menschen einsehen, dass Holzmangel vor allem von Regierungen verordnet wird und deswegen nicht unbedingt der Realität entspricht.

„Eine Streitschrift von 1802 bemerkte, es sei „bekannter als bekannt, daß fast in allen teutschen Provinzen seit einigen Jahren Holzsperrungen angelegt werden.“; letztlich seien es diese Handelsbarrieren, die den mancherorts beklagten Holzmangel verschuldeten.“51

Außerdem sieht man ein, dass der erlebte Holzmangel nicht so sehr einem schlechten Zustand des Waldes, sondern vielmehr einer ineffizienten Waldwirtschaft zuzuschreiben ist. Es geht hier also nicht so sehr um eine ökologische, sondern vielmehr um eine institutionelle Krise.52 Weil

sich die Menschen der Rolle des Staates bewusst werden, verschwinden die Sorgen vor Holznot im frühen 19. Jahrhundert schnell, sogar „ohne dass sich die Situation der Holzversorgung

47 Radkau: Holz, S. 148.

48 Zitiert nach Josef Köstler: Geschichte des Waldes in Altbayern. München: Beck 1934. S. 65.

49 Es ist z. B. Joachim Radkau, der den bedrohten Zustand des Waldes „eher behauptet als bewiesen“ sieht.

Jonathan Sperber: Angenommene, vorgetäuschte und eigentliche Normenkonflikte bei der Waldnutzung im 19. Jahrhundert. In: Historische Zeitschrift 290/3 (2010). S. 681-702, hier S. 683. Auch Heinrich Rubner bestätigt, dass es dem Wald um 1800 (im Vergleich mit anderen Ländern) nicht so schlecht geht, wie in der Holzsparliteratur behauptet wird. Er hat berechnet, dass den Deutschen etwa dreimal so viel Holz pro Kopf zur Verfügung steht wie den Franzosen. Siehe dazu Heinrich Rubner: Forstgeschichte im Zeitalter der industriellen Revolution. Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 8. Berlin: Duncker & Humblot 1967. S. 105.

50 Radkau: Holzverknappung und Krisenbewußtsein, S. 536.

51 Radkau: Holz, S. 140. Die Streitschrift ist folgende: August Carl Alexander von Zanthier: Freymüthige

Gedanken über Holzmangel, Holzpreise, Holzersparniß und Holzanbau von A-Z. Göttingen: Dietrich 1802.

(18)

durchgreifend verbessert hätte.“53 Aber im Hintergrund sind die Grundlagen für eine

nachhaltigere Waldbewirtschaftung zu dieser Zeit schon längst gelegt worden: Seit 1757, „das Jahr, in welchem die Forstwirtschaft in Deutschland die Kinderschuhe ablegte und als selbstständiger Zweig der Staatswirtschaft in Erscheinung trat“, beschäftigen sich immer mehr Regierungen damit, eine nachhaltigere Waldbewirtschaftung zu verwirklichen. 54 Sie

orientieren sich an den Lehren von u. a. Hans Carl von Carlowitz (1645-1714) und Heinrich Cotta (1763-1844). Der Begriff der ‚Nachhaltigkeit‘ in Forstlehren stammt z. B. ursprünglich von H. C. von Carlowitz, und H. Cotta hat die erste forstwissenschaftliche Lehranstalt gegründet.55 Ihre Handbücher verursachen um 1800 eine ökologische Forstreform, die vor

allem vom Staat aus geregelt wird. Jene Reform sorgt u. a. dafür, dass nicht länger Laubbäume (u. a. Eiche, Buche, Linde), sondern Nadelbäume (u. a. Kiefer, Fichte, Lärche, Tanne) nachgepflanzt werden. Dies wird als „der umstrittenste Vorgang der neueren Forstgeschichte“ bezeichnet.56 Die Eiche und Buche werden nämlich als „lebende Bäume“ betrachtet, außerdem

hat die Eiche eine symbolische Funktion als nationalen Freiheitsbaum.57 Demgegenüber gelten

Nadelbäume als „schädliche Bäume“, weil sie als viel weniger schön als z. B. Eichen betrachtet werden. Außerdem wachsen sie von Natur aus gar nicht im deutschsprachigen Raum.58

Ursprünglich gibt es dort vor allem Laubwälder – „überließe man die Natur sich selbst, wäre ein Großteil Deutschlands von Buchen- oder Buchenmischwald bedeckt.“59 Wenn jedoch das

Holz im Laufe des 18. Jahrhunderts immer knapper wird, sieht man sich gezwungen, auf Nadelholzsaat überzugehen. Nadelbäume sind nämlich weicher und weniger dicht als Laubbäume, was dafür sorgt, dass Erstere einfacher zu verarbeiten und transportieren sind. Für die Flößerei gilt zum Beispiel, dass sich Eichen- und Buchenholz nur auf einer Unterlage von Nadelholzstämmen flößen lässt – Eichen und Buchen sind viel dichter und würden daher schneller sinken.

Man könnte folgern, dass die Gründe für Wiederaufforstung im frühen 19. Jahrhundert auf den ersten Blick vor allem mit wirtschaftlichem Wachstum und demzufolge auch

53 Ebd., S. 154.

54 Heinrich Rubner: Forstgeschichte, S. 65.

55 Zu Von Carlowitz siehe Wiebke Peters: Nachhaltigkeit als Grundsatz der Forstwissenschaft. Ihre Verankerung

in der Gesetzgebung und ihre Bedeutung in der Praxis. Dissertation der Universität Hamburg 1984. S. 261.

56 Radkau: Holz, S. 40. 57 Mehr dazu in Kapitel 3.3.

58 Herbert Hesmer und F. G. Schroeder: Waldzusammensetzung und Waldbehandlung im niedersächsischen

Tiefland westlich der Weser und in der Münsterschen Bucht bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Decheniana Beiheft 11. Bonn: Naturhistorischer Verein 1963. S. 225.

(19)

zunehmend mit Nachhaltigkeit zu tun haben.60 Doch gibt es im 19. Jahrhundert auch

erwähnenswerte Unterschiede zwischen verschiedenen Regionen. So wird „die obrigkeitliche Forstaufsicht als Notwendigkeit für den Waldschutz gerechtfertigt“: Es geht hier also um eigene Interessen – eine Legitimierung der staatlichen Macht –, so wie es auch schon bei den Forstordnungen ab dem 16. Jahrhundert der Fall war.61 Im Folgenden werden zwei Regionen

miteinander verglichen: Auf der einen Seite steht der Nürnberger Reichswald, der als ältester deutscher Forst in die Geschichte eingegangen ist. Diese waldreiche Gegend steht um die Jahrhundertwende kurz unter preußischer Führung (1792-1806), gehört aber ab 1806 zum Königreich Bayern. Auf der anderen Seite steht das von Ursprung waldarme Ostpreußen, in dem die reale Wiederaufforstung nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische und nationalistische Motive hat.

60 Es muss betont werden, dass sowohl wirtschaftliches Wachstum als auch Nachhaltigkeit das Element der

Imagination beinhalten: „Was wirtschaftlich rational war, hing wesentlich an den Vorstellungen [Betonung LB], die man sich über künftiges wirtschaftliches Wachstum machte“, so Joachim Radkau (Technik in Deutschland, S. 81). Dasselbe gilt für Nachhaltigkeit: Forstwissenschaftler stellen sich in ihren Theorien einen Wald vor, den die Menschheit dauerhaft benutzen kann – und dabei werden sogar Wälder imaginiert, die es eigentlich nie gegeben hat: Es werden Flächen mit Nadelbäumen aufgeforstet, auf denen natürlicherweise nur Laubbäume wachsen.

(20)

2.2 Der Nürnberger Reichswald

Im Nürnberger Reichswald stehen vor allem wirtschaftliche Motive für eine Wiederaufforstung im Vordergrund. Jener Wald gilt als „ältester Forst unter den deutschen Wäldern“.62 Bereits

1368 wird hier vom Ratsherr und privaten Unternehmer Peter Stromer eine neue Technik der Nadelholzsaat entdeckt. Die Stadt Nürnberg wächst in dieser Zeit rasch, was dazu führt, dass der Wald dementsprechend ausgenutzt wird. Und weil Nadelbäume zwar nicht so schnell wie die Stadt selbst, sondern schneller als Laubbäume wachsen, versucht Stromer, künstlich Kiefernsaat „auf verödetem Waldland“ auszusetzen. Mit Erfolg: „So wandelte sich bis zum Ausgang des Mittelalters der Reichswald vom laubholzreichen Mischwald zum ersten ertragreichen Kunstforst, der allein in der Lage war, den gewaltigen Holzbedarf der großen Stadt ihrer Bürger und ländlichen Untertanen ausreichend zu decken.“63 Später breitet sich

dieses „Tannensäen“ vom Reichswald in den deutschen Sprachraum aus, da Experten aus Nürnberg geholt werden.64 Sie lehren Landesregierungen notwendige Einzelheiten, nicht nur

der Nadelholzsaat, sondern auch des Waldschutzes. Zur Überwachung der Forsten werden immer mehr Forstbedienstete (auch Forestarii genannt) angestellt, die die Regeln aus den Forstordnungen durchsetzen und damit Nachhaltigkeit fördern. Schon im Hochmittelalter wird die Kontrolle über den Nürnberger Reichswald also „zum Politikum ersten Ranges.“65

Die Nadelholzsaat wird über die Jahrhunderte weiterentwickelt. Dabei werden nicht nur Kiefern, sondern auch Fichten nachgepflanzt. Am Ende des 18. Jahrhunderts wird sogar eine Forstverbesserungskommission angestellt, um den Wald zu schützen und aufzuforsten. 1799 ist in einem Bericht jener Kommission zu lesen, dass nur 20% der Bäume im Sebalder Wald (ein Teil des Reichswaldes) 60 bis 70 Jahre alt sind – „sonst prägen 20 bis 40-jährige Kiefern das Bild der Forste.“66 Dies beweist, dass eine ständige Waldverjüngung im Nürnberger Reichswald

vorherrscht, die ursprünglich der Erfindung Peters Stromers zu verdanken ist. Die Ausgangslage ins 19. Jahrhundert unterscheidet sich hiermit wesentlich von jener der meisten deutschen Wälder, in denen die Nadelholzsaat gerade erst angefangen hat. Jedoch gibt es keine ständige Blüte: U. a. wegen Erbförsterei, der hohen Zahl der Forstberechtigten und Streunutzung von Seiten der Bauern gehen große Waldflächen verloren. Auch als das

62 Gerhard Brunner: Die Flächenentwicklung des Nürnberger Reichswaldes von 1830 bis 2000. In: Mitteilungen

der Fränkischen Geographischen Gesellschaft Bd. 53/54 (2006/2007). S. 123-152, hier S. 123.

63 Ebd., S. 126. Vgl. dazu auch Radkau: Holz, S. 100.

64 Rubner: Forstgeschichte, S. 32. Siehe auch Küster: Geschichte des Waldes, S. 131. 65 Radkau: Holz, S. 56.

66 Zitiert nach Brunner: Die Flächenentwicklung des Nürnberger Reichswaldes, S. 127. Um 1800 beträgt die

Gesamtfläche des Nürnberger Reichswaldes etwa 32000 ha (ebd., S. 125). Zum Vergleich: 1815 beträgt die gesamte Waldfläche der Länder im Deutschen Bund etwa 13,5 Mio. ha. Siehe dafür Rubner: Forstgeschichte, S. 105.

(21)

Königreich Bayern den Reichswald 1806 offiziell von Preußen übernimmt und es die exklusiven Nutzungsrechte erwirbt, verschwindet immer mehr Wald. Die Bayern halten auch nicht viel von den Holznotalarmen. So beschreibt 1804 der bayerische Forstreformer Joseph Hazzi als „fürchterliche[n] Lärm“ von „Forstscharlatane[n]“.67 Ein Alarm sei also übertrieben,

jedoch sieht die bayerische Regierung ein, dass der Umgang mit dem Wald nachhaltiger werden könnte – und sollte. Daraufhin gelingt es der Staatsforstverwaltung bis 1819, die Brennholzrechte „zwischen 30 und 50% zu verringern.“68 Allerdings ist immer noch von einer

„dreifachen Übernutzung“ des Reichswaldes die Rede.69

In den folgenden Jahrzehnten bleibt die bayerische Regierung damit beschäftigt, den Zustand des Waldes zu verbessern. Im Mai 1834, nach einer Sitzung der Zweiten Kammer, wird folgender Bericht im Landtags-Kurier geschrieben:

[…] Der Minister der Finanzen zeigt aber, wie sehr man Ursache habe, auf Waldkultur zu sehen. Hätte man im Reichswald von Nürnberg so fortgemacht, wie früher, so wäre in 40 Jahren kein Baum mehr gestanden; es wurde aber nicht gewaltsam verfahren; allein es gebe Leute, die von Beschränkung nichts wissen wollten. Der Bauer sehe es aber jetzt selbst sein, daß man für ihn sorge; es ist auch jetzt das Quantum schon wieder erhöht worden, und wird es künftig nach dem Zustand der Wälder noch mehr. […] Es liegt dem Ministerium am Herzen, daß für die Bedürfnisse des Landes und Waldes gesorgt werde. Auf einer Seite von Nürnberg werde auch schon das ganze Quantum geleistet. Verkauft aber werde kein Holz dort.70

Die Tatsache, dass der Minister der Finanzen auf den Wert einer Waldkultur hinweist, betont die wirtschaftlichen Gründe hinter der Wiederaufforstungspraxis des Königreichs. Er behauptet nämlich, dass noch mehr Waldflächen verschwinden würden, wenn man „wie früher“ weitermachen würde. Damit hat er wahrscheinlich u. a. die Brennholz- und Streunutzung vor Augen: Seit dem 17. Jahrhundert benutzen Bauern Waldstreu bei der Stallhaltung ihres Viehbestands, was „zu einer extremen Verarmung der Böden“ führt.71 Die bayerische

Regierung versucht darum, anhand eines Holzquantums, die Waldnutzung zu diesen Zwecken einzuschränken. Das Quantum sollte dafür sorgen, dass eine bestimmte Zahl Holzklafter dem Staat überliefert wird.72 Daraufhin verteilt der Staat die eingenommenen Holzklafter unter der

67 Zitiert nach Radkau: Die Ära der Ökologie, S. 41.

68 Gerhard Brunner: Die aktuelle Vegetation des Nürnberger Reichswaldes. Untersuchungen zur

Pflanzensoziologie und Phytodiversität als Grundlage für den Naturschutz. Dissertation der Universität Erlangen-Nürnberg 2005. S. 37.

69 Georg Sperber: Die Reichswälder bei Nürnberg. Aus der Geschichte des ältesten Kunstforstes. Mitteilungen aus

der Staatsforstverwaltung Bayerns (Heft 37). München: Spindler 1968. Zitiert nach Brunner: Die aktuelle Vegetation des Nürnberger Reichswaldes, S. 37.

70 Landtags-Kurier No. 76 vom 15. Mai 1834. In: H. D. Stellwag (Hg.): Landtags-Kurier der Ständeversammlung

des Königreichs Bayern im Jahre 1834. München: George Jaquet 1834. S. 307.

71 Brunner: Die Flächenentwicklung des Nürnberger Reichswaldes, S. 128.

72 Ein Klafter Holz entsprach etwa 3 Raummeter / 6 Fuß. Die Länge eines Klafters war übrigens ortsabhängig: In

(22)

Bevölkerung der Stadt Nürnberg. Laut dem Minister wird das Quantum noch erhöht werden, wahrscheinlich weil die Stadtbevölkerung zunimmt. Wenn man den „Zustand der Wälder“ betrachtet, dürfte nicht noch mehr Holz als Streu oder Brennstoff von den Bauern verschwendet werden: Der Minister schätzt den Zustand der Forste offensichtlich als schlecht ein. An letzter Stelle fügt er noch hinzu, dass „schon das ganze Quantum“ auf einer Seite Nürnbergs erreicht wird; dort findet anscheinend aber auch kein Holzhandel statt.

Trotz der Bemühungen des bayerischen Staates kann das Blatt nicht mehr gewendet werden. Bis 1900 gehen etwa 680 ha Waldfläche verloren; jährlich werden etwa 7 ha gerodet.73

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist dies vor allem der Industrialisierung zu verdanken: Die Einwohnerzahl Nürnbergs wird vervielfacht, wodurch der Flächen- und Holzbedarf der Stadt wächst und auch viel Waldfläche zugrunde geht. Jedoch gibt es einen noch viel schädlicheren Einfluss auf den Waldzustand, und zwar natürlicher Art: In den Jahren zwischen 1836-1840 sorgen Kieferneulen, Spanner und Spinner für einen Waldverlust von etwa 5000 Hektar. Zwischen 1892 und 1896 fällt noch mal ein Drittel der Bäume dem Kiefernspanner zum Opfer: Betroffen sind etwa 9600 ha.74

Zimmentirungslexikon für alle Handels- und Gewerbsleute nach den österreichischen Zimmentirungsschriften. Wien: Anton Strauß 1824. S. 108.

73 Zitiert nach Brunner: Die aktuelle Vegetation des Nürnberger Reichswaldes, S. 43.

74 Ebd., S. 38. Es scheint hier übrigens fast, als ob die Natur die Nürnberger bestraft: Wenn Menschen Nadelbäume

in einer vom Ursprung her überwiegend mit Laubbäumen versehenen Gegend pflanzen und damit der Natur aktiv entgegenwirken, könnte ihnen nur ein missliches Schicksal bevorstehen. Vgl. dazu Radkau: Holz, S. 100.

(23)

2.3 Ostpreußen

Um 1800 verfügt der preußische Staat über „etwa 1,6 Mio. ha bei einer Gesamtwaldfläche von etwa 5 Mio. ha“ im deutschsprachigen Raum – mehr als 30 Prozent des Waldes gehört also Preußen.75 Ostpreußen ist ursprünglich eine relativ waldarme Gegend: Es überwiegen

„schlechte Waldorte, auf denen weniger als 200 fm/ha“ wachsen.76 Jedoch ist hier laut dem

preußischen Forstlehrer Wilhelm Pfeil auch nicht von akuter Holznot die Rede, genauso wie in Bayern Joseph Hazzi behauptet hat. Pfeil schreibt, das „sich immer mehr und mehr nahende Ungeheuer der schrecklichsten Holznot“ sei bloß „ein Schreckbild, womit uns manche Forstmänner und andere Schriftsteller einschüchtern wollen, wie Afrikaner mit dem Mumbo Tumbo ihre Weiber.“77 Die Regierung bemüht sich allerdings sehr darum, eine effektivere und

vor allem nachhaltigere Organisation der Waldwirtschaft zustande zu bringen, und Gebiete wie Ostpreußen aufzuforsten. Dieses Streben äußerte schon Friedrich der Große in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, nach der Instruktion seines Vaters, Friedrich Wilhelm der Erste. Nach dem Siebenjährigen Krieg (1756-1753) ist es dann auch Preußen, das „mit Aufforstung und Reorganisation des Forstwesens“ vorangeht.78 Die Regierung lässt sich im späten 17.

Jahrhundert u. a. von Heinrich Cotta, der die Staatsaufsicht über den Wald fördert, inspirieren. Cottas Ansatz bleibt jedoch liberal: Er spricht von „staatlicher Forstverfassung“ und will Privatwaldbesitzer nicht so sehr Regeln aufbürden, sondern vielmehr „erzieherisch […] lenken.“ 79 Deswegen wird 1811 Georg Ludwig Hartig, ein anderer bedeutender

Forstwissenschaftler, zum „Chef der preußischen Forstverwaltung“ berufen. Er hält mehr von ‚staatlicher Forstdirektion‘. Durch seine Regeln bekommt die Aufforstungsbewegung einen spezifisch „preußischen Zug; dem Wald [wird] gleichsam militärische Disziplin verordnet.“80

Und für die Forstdirektion braucht man gut ausgebildete Forstbeamten: Deswegen entstehen immer mehr forstliche Ausbildungen.81

In Ostpreußen hat man, ebenso wie im Nürnberger Reichswald, nutzungsbedingte bzw. wirtschaftliche Gründe für die Aufforstung der Wälder: „In Ostpreußen wurde der Export- von Bau- und Nutzholz, das „Budenwerk“, im 16. Jahrhundert schon im großen Stil betrieben. Für die brandenburgisch-preußischen Herrscher gab dieser Handel im 17. Jahrhundert einen ersten

75 Rubner: Forstgeschichte, S. 142.

76 Ebd., S. 67. Zum Vergleich: Waldreiche Gegenden so wie der Schwarzwald und Nürnberger Reichswald hatten

Bestände bis über 600 fm/ha. Im Süden ist also vor allem von Wiederaufforstung, im Norden und Osten des Deutschen Reiches von Aufforstung die Rede.

77 Zitiert nach Radkau: Die Ära der Ökologie, S. 41. 78 Radkau: Holz, S. 141.

79 Rubner: Forstgeschichte, S. 122. 80 Radkau: Holz, S. 141.

(24)

Anstoß zur Forstpolitik.“82 Der Unterschied zum Nürnberger Reichswald ist also, dass es in

Ostpreußen vor allem um Export, und im Reichswald um die Holzversorgung für die Stadt selbst geht. Ostpreußen ist in dieser Zeit im Vergleich zu der Großstadt Nürnberg eine sehr dünnbevölkerte Gegend, dementsprechend braucht die Bevölkerung auch weniger Holz Außerdem interessieren sich die preußischen Herrscher einfach viel weniger für die Bauern als der bayerische Staat. So nennt „ein ostpreußischer Oberforstmeister […] 1773 die Bauern die „Blutegel der Forsten“, da sie bedenkenlos Brennholz schlügen und Köhlerei und Teerbrennerei betrieben.“83 Diese Ansicht hat desaströse Folgen für jene Bauern. So schreibt Wilhelm Pfeil

1834: „In Ostpreußen sind Hunderttausende von Morgen, den Privaten als Entschädigung ihrer Berechtigungen in Staatsforsten überlassen, beinahe ohne Ausnahme zerstört […].“84

Ein anderer Unterschied zum Nürnberger Reichswald ist, dass in Ostpreußen vor allem Fichten aufgeforstet werden. Dies liegt erstens daran, dass es in kleinen Teilen Ostpreußens schon „natürliche Fichtenvorkommen“ gibt: Die Forsten sind also ‚natürlicher‘ als die im Nürnberger Reichswald.85 Andere Gründe für die Fichtenausbringung in Ostpreußen sind

folgende:

Zum einen sind Fichten raschwüchsige Bäume, die schnell eine möglichst große Menge an hochwertigem Holz hervorzubringen versprachen, das man wirtschaftlich nutzen konnte. Zum anderen konnte Nadelholz gut in Flößen transportiert werden, und man erwartete, daß die Fichte auch auf ungünstigen Böden gut wachsen würde.86

Hier wird noch mal betont, dass die Gründe vor allem wirtschaftlicher Art sind: Fichten wachsen schneller und lassen sich im Vergleich zu Laubbäumen einfacher flößen.87

Forstwissenschaftler Max Endres erklärt in seinem 1922 veröffentlichten Handbuch der

Forstpolitik die Zunahme der Fichtenforsten. In der Zeit zwischen 1793 und 1813 wird in

Preußen insgesamt 24200 ha Waldfläche mit Fichten begründet. Bis 1853 wird jene Fläche bis etwa 115700 ha verfünffacht – dies hat allerdings nicht nur mit Aufforstung zu tun: Preußen gewinnt in dieser Zeit immer mehr Grundgebiet (und daher auch immer mehr schon bestehende Waldflächen), z. B. nach dem Wiener Kongress im Jahre 1815. Zwischen 1853 und 1873 nehmen die Fichtenforste bis 202700 ha zu, und bis 1893 noch mal zu 230900 ha, was vor allem der aktiven Fichtenaufforstung zu verdanken ist.88

82 Radkau: Holz, S. 71.

83 Mager: Der Wald in Altpreussen als Wirtschaftsraum. Bd. 2, S. 239. Zitiert nach Radkau: Holz, S. 62.

84 Zitiert nach Thorsten Franz: Geschichte der deutschen Forstverwaltung. Wiesbaden: Springer 2020. S. 185.

Siehe auch Hasel/Schwartz: Forstgeschichte, S. 128.

85 Küster: Geschichte des Waldes, S. 189. 86 Küster: Geschichte des Waldes, S. 188.

87 Mehr zu den „teils technische[n], teils finanzielle[n]“ Gründen siehe Max Endres: Handbuch der Forstpolitik.

Mit besonderer Berücksichtigung der Gesetzgebung und Statistik. Zweite, neubearbeitete Auflage. Berlin: Springer 1922. S. 27f.

(25)

Obwohl die Fichtenaufforstung zu Beginn des 19. Jahrhunderts eher „zögerlich“ beginnt, setzt sie sich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts „planmäßig“ durch.89 Dies kommt auch

dadurch, dass Friedrich der Große

eine enge Verbindung zwischen Forst- und Militärdienst [schuf]: Die Angehörigen des von ihm aufgestellten Feldjägerkorps, das bis 1919 bestand, hatten nach ihrem Ausscheiden aus dem Militär Anspruch auf eine Stelle in der Forstverwaltung.90

Dadurch, dass Friedrich der Große sowohl den Militär- als auch den Forstdienst in Verbindung mit der Idee der deutschen Nation stellt, wird die ganze Wiederaufforstungspraxis „nicht nur eine Frage der natürlichen Ressourcen, sondern auch kultureller Traditionen.“91 Im Laufe des

19. Jahrhunderts wird im ganzen Deutschen Bund, aber vor allem in Preußen, die Aufforstung immer mehr als „nationale Aufgabe“ verstanden. Da in Preußen vor allem die Fichte aufgeforstet wird, wird sie „zum »Preußenbaum«, und die Fichtenaufforstungen, säuberlich in Reih‘ und Glied durchgeführt, hat man immer wieder mit in exakter Marschordnung auftretenden militärischen Verbänden verglichen.“92

Während einer Reise durch Ostpreußen habe Friedrich der Große außerdem die Idee geäußert, die Gegend zur „Holzkammer Preußens“ zu entwickeln.93 Die preußische Regierung

ist sehr damit beschäftigt, Wälder in Ostpreußen aufzuforsten und der zugrunde liegende Wunsch ist der nach Herrschaft über die Natur.94 Es wird nämlich eine Landschaft aufgebaut,

die es natürlicherweise nicht in Ostpreußen gibt – und es ist also nicht so sehr von Rekonstruktion, sondern vielmehr von Konstruktion, und wiederum von Imagination die Rede. Preußische Förster behaupten, die Deutschen alleine kennen die Technik zur Umgestaltung und Verwaltung der Landschaft, und legitimieren damit ihre Herrschaft.95 Es sind also nicht so sehr

die wirtschaftlichen Gründe, die in diesem Gebiet am meisten auffallen: Ostpreußen unterscheidet sich vor allem wegen Umweltchauvinismus, oder „environmental chauvinism“, von anderen Gegenden im deutschsprachigen Raum.96 Dabei sind sich die preußischen

Herrscher darüber bewusst, dass Herrschaft über die Landschaft bzw. die äußere Natur Hand in

89 Vgl. dazu auch Herbert Liedtke: Die Landschaften Ostpreußens. Namen und Abgrenzungen naturgeographischer

und historischer Landschaften in Ostpreußen und angrenzenden Gebieten. Leipzig: Leibniz-Institut für Länderkunde 2011. S. 46.

90 Radkau: Holz, S. 176f. 91 Ebd., S. 32.

92 Küster: Geschichte des Waldes, S. 183 u. 189.

93 Zitiert nach Menno Aden: Reichsstraße 1. Eydtkuhnen – Küstrin – Aachen. S. 40. URL:

http://www.dresaden.de/B--Ungedruckte-Arbeiten/II_-Geschichte-und-Politik/Reichstrasse-1.pdf. Siehe auch Jeffrey K. Wilson: Environmental Chauvinism in the Prussian East: Forestry as a Civilizing Mission on the Ethnic Frontier, 1871-1914. In: Central European History No. 41 (2008). S. 27-70, hier S. 36.

94 Wilson: Environmental Chauvinism, S. 30.

95 „The long-term project to reform the landscape […] became a justification for German rule.“ Siehe Wilson:

Environmental Chauvinism, S. 30 u. 38.

96 Der von Ursprung englische Begriff stammt von Jeffrey K. Wilson. Er behauptet, dass sich der deutsche

Referenties

GERELATEERDE DOCUMENTEN

B In Deutschland wird auch sehr sachlich über den Wald diskutiert. C Manche halten so viel Aufregung um den deutschen Wald für

75. 40 II 2 EGBGB-E soll für das Recht des Unlauteren Wettbewerbs jetzt ohnehin eine Sonderanknüpfung an den maßgeblichen Markt geschaffen werden.. einen beleidigenden Brief

Dies erlaubt es, Romane, die formal in der Zukunft situiert sind, aber bei denen diese Zukunft nur verlängerte Gegenwart ist und vom Leser also nicht als zukünftig

Die 1907 von Albert Einstein aufgestellte Relativitätstheorie ist eine „Theorie, nach der Raum, Zeit und Masse vom Bewegungszustand des Beobachters abhängig und deshalb relative

- wenn der Bewerber sich in mindestens zehnjähriger Tätigkeit als Mitarbeiter eines Wirtschaftsprüfers, einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, eines genos­

Da­ mit ist die inländische Einkommen (Körperschaft-)steuer abgegolten5), sofern die Beteiligung nicht zum Betriebsvermögen einer inländischen Betriebstätte des

Uitgangspunten voor de BIA zijn: het potentiële aantal patiënten dat voor behandeling met het geneesmiddel in aanmerking komt, de apotheekinkoopprijs (AIP), de dosering van

Lees ook reacties die geplaatst worden onder de video’s van YouTubers om een idee te krijgen wat voor type Het vroeg in het proces betrekken van een ‘influencer/marketingbureau’ is