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Deutsche, sprecht/ Mit Deutschen!

1

Die Kulturpolitik der DDR in der Zeitspanne zwischen 1954 und 1958

Lieke Huits s1458493 Masterscriptie LDD999M20

Prof. Dr. Wara Wende P.O.H. Groenewold 2. Fassung

25.1.2009

1 Die Zeilen stammen aus einem kurzen Gedicht Johannes R. Bechers, „Ende“, das 1952 in Glück der Ferne -

(2)

Inhaltsangabe

Einleitung 2

1. Die SED und ihre kulturpolitischen Ideen 5

1.1. Der Kommunismus und die SED-Parteistruktur 5

1.2. Die kulturpolitischen Ideen der SED-Parteileitung 17

2. Die Vorgeschichte der Errichtung eines Kulturministeriums in der DDR 37

3. Johannes R. Becher als Dichter und Kulturminister 50

3.1. Die Entwicklung Johannes R. Bechers als Dichter zwischen 1911 und 1958 51

3.2. Die kulturpolitischen Ideen Johannes R. Bechers 72 4. Der Einfluss des kulturpolitischen Diskurses und der gesellschaftlichen Entwicklungen zwischen 1954 und 1958 auf die Kulturpolitik 80 4.1. Die Periode 1954-1956 80

4.2. Die Periode ab Ende des Jahres 1956 101

4.3. Leistungen Johannes R. Bechers im Kulturbereich 107

Schlussfolgerung 111

Bibliographie 120

(3)

Einleitung

Die zufällige Begebenheit, dass ich in Leipzig in der Johannes R. Becherstraße gewohnt habe, hat mich dazu angeregt, diese Arbeit zu schreiben. Wenn man dann am Anfang der dritten Strophe des Gedichts Wunsch eines Dichters von Johannes R. Becher auf die Zeilen „Mein Name ist aber auch ganz und gar ungeeignet/ Für Strassen und Plätze:/“2 stößt, ist es nicht schwer, dies als seinen persönlichen Standpunkt aufzufassen. Es würde schön zu der Geschichte passen. Ein Gedicht ist aber kein Tagebucheintrag oder Brief.

Am Ende des Bandes liest man, dass aus einem Brief vom Juni 1951 hervorgeht, dass „[e]r selbst […] Ehrungen seiner Person nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber[stand], wie […] seine Freude über einen nach ihm benannten Platz in der kleinen Gemeinde Mirow bei Neustrelitz beweis[t].“3

In dieser Arbeit werden mehrmals Gedichtfragmente aufgenommen. Bei der Interpretation dieser Fragmente muss also ein wenig zurückhaltend verfahren werden, obwohl es natürlich möglich ist, Vermutungen aufzustellen.

Der Dichter und Politiker Johannes R. Becher (1891-1958), seit 1919 Mitglied der KPD,4 war zwischen 1954 und 1958 der erste Kulturminister in der DDR. Die Periode 1954-1958 liegt zwischen dem Arbeiteraufstand 1953 und dem Mauerbau 1961. 1954 war auch erst fünf Jahre nach der DDR-Gründung 1949. Interessant ist es, zu untersuchen, warum das Kulturministerium

gegründet wurde und welche kulturpolitischen Ideen Johannes R. Becher als Minister zu verwirklichen versuchte.

Was gerade dieses Thema interessant macht, ist die Tatsache, dass es sich auf der Schnittstelle von Politik und Kunst befindet. Wenn man die Kulturpolitik einer bestimmten Periode untersucht, wirft sich immer die Frage auf, wie Kunst und Politik sich zueinander verhielten. Diese Frage wird in dieser Arbeit unter anderem mittels der Erforschung des

kulturpolitischen Diskurses der Periode 1954-1958 in der DDR zu beantworten versucht. Sowohl Meinungen von Politikern, in diesem Fall der SED5-Führung, als auch Stellungnahmen von Künstlern und Intellektuellen werden vorgestellt.

Ziel dieser Untersuchung ist es, herauszufinden, in wieweit die Kulturpolitik Johannes R. Bechers in der Periode 1954-1958 die Kulturszene in der DDR beeinflusst hat. Die Hauptfrage

2 Becher, Johannes Robert (1972). „Gedichte 1949-1958.“ In: Johannes R. Becher. Band 6. Hrsg. vom

Johannes-R.-Becher-Archiv der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin. A.a.O. 538. Wann er das Gedicht verfasste, ist nicht bekannt, denn es wurde erstmals 1972 in diesem Band veröffentlicht. Vergleiche dazu: Ebenda. 644.

3

Ebenda. 651.

(4)

lautet: In wieweit hat die Kulturpolitik Johannes R. Bechers in der Periode 1954-1958 die

Kulturszene in der DDR beeinflusst?

Die Subfragen sind:

1. Wie kann man die SED ideologisch und organisatorisch charakterisieren?

2. Wie sahen die kulturpolitischen Ideen der SED-Parteileitung in der Periode 1954-1958 aus? Welche Funktion maß sie der Kunst in der Gesellschaft bei?

3. Warum schlug Johannes R. Becher 1953 vor, in der DDR ein Kulturministerium zu errichten? Welche Ereignisse gingen daran vorab?

4. Wie entwickelte Becher sich in der Periode 1911-1958 als Dichter? 5. Wie kann man die kulturpolitischen Ideen Bechers charakterisieren?

6. In wieweit war die Kulturpolitik Bechers Abbild des kulturpolitischen Diskurses in der Periode 1954-1958? Und wie stark wurde die Kulturpolitik in dieser Periode von gesellschaftlichen Ereignissen mitbestimmt?

Im ersten Kapitel wird der politische und gesellschaftliche Kontext dargestellt. Es werden die Weltanschauung und Parteistruktur der SED und ihre kulturpolitischen Ideen in der Periode 1954-1958 behandelt. Informationen über die SED-Parteistruktur wurden vor allem einem Werk Heike Amos aus dem Jahre 2003 entnommen.6 Die kulturpolitischen Ideen der SED-Führung werden nur sehr global behandelt. Auf Theorien einzelner Personen, wie Georg Lukács, kann nicht detailliert eingegangen werden.7

Im zweiten Kapitel, in dem die Vorgeschichte der Gründung des Kulturministeriums Thema ist, wird der Behandlung des Arbeiteraufstands viel Platz eingeräumt, weil dieses Ereignis auch nach 1953 nachwirkte. Er kann teilweise die Haltung der SED-Parteileitung, des

Kulturministers Johannes R. Becher und der Intelligenz in der DDR erklären.

Das dritte Kapitel geht auf die Entwicklung Johannes R. Bechers als Dichter und seine kulturpolitischen Ideen ein. Man könnte behaupten, seine dichterische Arbeit hatte wenig mit seiner kulturpolitischen Arbeit zu tun. Es scheint jedoch sinnvoll, sie einzubeziehen. Erstens überschneiden die beiden Arbeitsfelder sich, was zu einer wechselseitigen Beeinflussung geführt haben kann. Zweitens könnte er in seiner Dichtung seine kulturpolitischen Ideen reflektiert haben. Drittens ist es interessant herauszufinden, in wieweit seine dichterische Identität und seine Identität als Kulturminister sich voneinander unterschieden.

6

Amos, Heike (2003). „Politik und Organisation der SED-Zentrale 1949-1963. Struktur und Arbeitsweise von Politbüro, Sekretariat, Zentralkomitee und ZK-Apparat.“ In: Diktatur und Widerstand. Hrsg. von Prof. Dr. Manfred Wilke. Münster/Hamburg/London: Lit Verlag.

7 Die literaturtheoretischen Ideen Georg Lukács spielten in der Periode 1949-1956 bei der Herausbildung einer

sozialistisch realistischen DDR-Literatur eine wichtige Rolle. Vergleiche dazu: Schlenker, Wolfram (1977).

(5)

Im letzten Kapitel werden der kulturpolitische Diskurs und die wichtigsten

gesellschaftlichen Ereignisse in der Periode 1954-1958 dargestellt. Es wird herauszufinden versucht, in wieweit die Kulturpolitik Bechers die Ideen der DDR-Intelligenz widerspiegelte und wie stark sie von den gesellschaftlichen Entwicklungen in der Periode 1954-1958 mitbestimmt wurde. Die Ideen der DDR-Intelligenz lassen sich am besten in Zusammenhang mit bestimmten Ereignissen, vor allem von der SED-Führung und dem Kulturministerium veranstalteten

Tagungen, zeigen. Aus Raumgründen kann auf die konkrete Ausarbeitung des Ziels Bechers, einen Dialog zwischen Künstlern und Intellektuellen aus der DDR und Bundesrepublik aufzubauen, nicht detailliert eingegangen werden.

Der Literaturwissenschaftler Hans Mayer hat sich in den fünfziger Jahren und auch noch danach8 oft kritisch über die kulturpolitischen Ideen der SED-Führung ausgelassen und war Mitglied der Opposition des Dritten Weges. Darauf wird in Kapitel 4 eingegangen. Auch hat er sich eine Meinung über die Kulturpolitik Johannes R. Bechers gebildet. Es ist deshalb interessant, seine Auffassungen etwas ausführlicher zu behandeln.

Das Leben Johannes R. Bechers und die Periode 1954-1958 in der DDR sind schon mehrfach erforscht worden. Es konnte für diese Arbeit demzufolge auf viel Literatur, darunter zwei Biographien, zurückgegriffen werden.9 Wichtige Differenzen zwischen den verschiedenen Werken konnten nicht entdeckt werden. Aussagen bestimmter Autoren wurden oft von anderen bestätigt.

Unter anderem Jens-Fietje Dwars, Alexander Behrens und Hans Mayer haben sich mit der Frage, aus welchen Gründen Johannes R. Becher sich dem Sozialismus zuwandte,

auseinandergesetzt. In dieser Arbeit wird darauf in Kapitel 3.1 eingegangen.

Im Anhang sind Porträts einiger wichtigen Personen aus dem kulturpolitischen Diskurs der Periode aufgenommen.

8 Vergleiche dazu zum Beispiel: Mayer, Hans (1991). Der Turm von Babel. Erinnerung an eine Deutsche

Demokratische Republik. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

9

Vergleiche dazu: Behrens, Alexander (2003). Johannes R. Becher. Eine politische Biographie. Köln/Weimar/Wien: Böhlau und Dwars, Jens-Fietje (1998). Abgrund des Widerspruchs. Das Leben des

(6)

1. Die SED und ihre kulturpolitischen Ideen

In diesem Kapitel wird versucht, den politischen Kontext, in dem Johannes R. Becher als Kulturminister arbeitete, wiederzugeben. Die SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) besaß in der DDR die politische Macht. Im Folgenden wird deshalb auf die Parteistruktur und die Ideen dieser Partei einzugehen sein. Bevor auf die kulturpolitischen Ideen der SED-Parteileitung eingegangen wird, werden zuerst der Kommunismus und die SED-Parteistruktur kurz erläutert.

1.1. Der Kommunismus und die SED-Parteistruktur

Der Kommunismus

Die KPD (Kommunistische Partei Deutschlands) und SED glaubten, wie die KPdSU

(Kommunistische Partei der Sowjetunion), an den Kommunismus. Mit „Kommunismus“ können eine Zielsetzung, eine Lehre von Gründen, Motiven, Mitteln und Wegen der Erfüllung dieser Zielsetzung und eine zentralisierte Organisation gemeint sein.10 Kommunismus als Zielsetzung kann man als „eine auf dem Weg über revolutionäre Neuerungen herbeigeführte innere

Befriedigung und Harmonisierung der in Unausgeglichenheiten, Willkürakten, einseitigen

Bereicherungen, Entrechtungen und Knechtungen sich ergehenden oder befangenen bürgerlichen Gesellschaft“11 definieren. Die Mittel und Wege zur Erreichung dieses Ziels sind die Aufhebung des Privateigentums und „freie[…] Assoziation der Menschen zum Zweck gemeinsamer und koordinierter Arbeit in Landwirtschaft, Gewerbe und Industrie.“12 Dies würde zu einer gleichartigen Befriedigung der Bedürfnisse und dem Verschwinden materieller Not führen. Konkurrenz, Differenzierung und Herrschaft würden dann nicht mehr notwendig sein und sich auflösen.

Annahmen, die hier von Anhängern der kommunistischen Weltanschauung gemacht werden, sind, dass es technischen und wissenschaftlichen Forschritt gibt und dass durch eine gleichartige Befriedigung der Bedürfnisse Konkurrenz, Differenzierung und Herrschaft verschwinden.13 Ohne technischen und wissenschaftlichen Fortschritt ist die gleichartige Befriedigung der Bedürfnisse unmöglich.

10 (1976). „Kommunismus“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 4: I-K. Hrsg. von Joachim

Ritter und Karlfried Gründer. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. 902.

11 Ebenda. 899. 12

Ebenda.

13 Ebenda. Vergleiche auch: Mommsen, Wolfgang, J. (1994). Bürgerliche Kultur und künstlerische Avantgarde.

(7)

Anhänger des Kommunismus versuchten eine klassenlose Gemeinschaft14 zu erreichen, in der es nur noch Gemeineigentum gab. Der Wert „Gleichheit“ war ihnen wichtig. Herrschaft von Menschen über Menschen sollte aufgehoben werden. Alle Produktionsmittel und Produkte im Land sollten auf den Staat übergehen, wonach die Arbeiterschaft, die in der Gesellschaft quantitativ stark vertreten war, die Macht von der Bourgeoisie übernehmen und die

Produktionsmittel zu öffentlichem Eigentum machen sollte. Eine „Diktatur des Proletariats“15 wurde angestrebt. Dies war nach Karl Marx eine Übergangsphase. Die Endphase des

Kommunismus war seiner Ansicht nach eine zentral gelenkte Wirtschaft. Dies wirft die Frage auf, in wieweit eine zentral gelenkte Wirtschaft mit der Idee der freien Assoziation der Menschen zu vereinigen ist. Eine Diskussion darüber, in der auch anarchistische Positionen eingenommen wurden, entstand. Diese Diskussion führte in Deutschland zur Spaltung der Arbeiterbewegung, worauf im Folgenden eingegangen wird.

Die private Aneignung des Kapitals im Kapitalismus wurde kritisiert, weil in diesem System die Produktionsmittel nur der Bourgeoisie zugänglich waren, was zur Ausbeutung und Verarmung der Arbeiterschaft, auch Proletariat genannt, führte. Die Arbeiterschaft war sozial und ökonomisch von den Besitzern des Kapitals abhängig geworden. Arbeit wurde als Folge der privaten Aneignung des Kapitals wie ein Produkt verhandelt. Der Preis dieses Produkts, der Lohn, lag Karl Marx zufolge aber weit unter dem Preis, der für die von den Arbeitern produzierten Waren bezahlt wurde. Die Arbeiterschaft konnte die Produkte demzufolge nicht kaufen, die Kapitalbesitzer dagegen wurden immer reicher.16 Der Kapitalismus würde auch der Bourgeoisie Schwierigkeiten bereiten, denn sie musste immer mehr produzieren und innovieren, damit sie der starken Konkurrenz standhalten konnte. Außerdem wurden ihre Absatzmöglichkeiten immer geringer, weil das Proletariat die Produkte nicht kaufen konnte.17

Die Entwicklung kommunistischer Ideen kam um 1800, in der Periode des französischen Frühsozialismus, im Gang und war mit der sich im Entstehen befindenden Industriearbeit

14 „Gemeinschaft steht für die traditionell organisierte und organisch gewachsene Gruppe, die durch unmittelbare und

jeweils persönliche Beziehungen ihrer Mitglieder zusammengehalten wird, während Gesellschaft gleichbedeutend ist mit den modernen Formen des Soziallebens, die durch Anonymität der zwischenmenschlichen Beziehungen bestimmt sind.“ In: Erbe, Günter (1992). „Sozialismus als Gemeinschaft? Die kulturkonservativen Eliten in der Ex-DDR.“ In:

Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 6: 565. Die moderne Gesellschaft wird als anonym bezeichnet, weil sie immer stärker zu einer Massengesellschaft wurde. Vergleiche dazu: (2006). „Gemeinschaft“. In: Das Politlexikon. Hrsg. von Klaus Schubert und Martina Klein. Bonn: Dietz. http://www.bpb.de/wissen/H75VXG.html. 24.10.2008.

15 (2006). „Deutsche Demokratische Republik (DDR)“. In: Das Politlexikon. Hrsg. von Klaus Schubert und Martina

Klein. A.a.O.

16

(1976). „Kommunismus“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. A.a.O. 901-902 und 904-905.

17 Weymann, Ansgar (2000). „Sozialer Wandel, Modernisierung und Generationen.“ In: Die Generation der Wende.

Berufs- und Lebensverläufe im sozialen Wandel. Hrsg. von Reinhold Sackmann, Ansgar Weymann und Matthias Wingens. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. 21-22. Vergleiche auch: (2002). „proletariaat“. In: Microsoft Encarta

Encyclopedia. Microsoft Corporation/Het Spectrum und (2006). „Kommunismus“ und „Sozialismus“. In: Das

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verbunden. In Deutschland kam der Kommunismus erst in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, als sich Deutschland rasch, aber im Vergleich zu anderen europäischen Ländern verspätet, industrialisierte, auf. Eine Industriearbeiterschaft bildete sich heraus und Merkmale der Klassenspaltung wurden sichtbar.18 Seitdem waren vor allem deutsche Philosophen bei der Weiterentwicklung der kommunistischen Ideen einflussreich. Bei den breiten Massen bekannt wurden die kommunistischen Ideen durch den „wissenschaftlichen Sozialismus“ Friedrich Engels und Lorenz Steins. Friedrich Engels erhob „den Sieg des Sozialismus über den Kapitalismus gleichsam zu einem Naturgesetz ähnlich der Evolutionstheorie Charles Darwin […].“19 Die

Begriffe „Sozialismus“ und „Kommunismus“ werden oft synonym verwendet, in diesem Fall wird mit Sozialismus aber eine Idealvorstellung oder Theorie und mit Kommunismus die in der Praxis realisierte Idealvorstellung bezeichnet.

„Der Begriff ‚Sozialismus’ gehört ebenso wie der auf ihn bezogene Begriff ‚Sozialist’ in die Kategorie zukunftorientierter Bewegungsbegriffe. Sein Inhalt ist von Anfang an durch theoretische Entwürfe bestimmt, die in die Zukunft weisen und nicht auf eine historische Realität bezogen sind.“20

Eine Arbeiterbewegung entstand, die die Ausbeutung und Verarmung der Arbeiterschaft kritisierte und nicht nur Theorien aufstellte, sondern vor allem praktische Anliegen durchsetzte. Die meisten Anhänger der Arbeiterbewegung glaubten nicht an die Unabwendbarkeit der Revolution des Proletariats. Aus dieser Bewegung gingen Gewerkschaften und die SPD (Sozialdemokratische Partei Deutschlands) hervor.

Um 1900 wurde es immer klarer, dass die SPD und die Gewerkschaften sich vom Kommunismus unterschieden. Die SPD und die Gewerkschaften strebten eine schrittweise Veränderung an. Über Gesetzgebung wollten sie eine bessere Gesellschaft erreichen.21 Anhänger des Kommunismus wollten eine Revolution, während der die Kommunisten die Macht ergreifen sollten. Eine diktatorische Staatsführung in der Anfangsphase wurde nicht ausgeschlossen, weil politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Reformen durchgeführt werden sollten. Ohne

18 (1976). „Kommunismus“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried

Gründer. A.a.O. 899-901.

19

Mommsen, Wolfgang, J. (1994). Bürgerliche Kultur und künstlerische Avantgarde. A.a.O. 13. Vergleiche auch: (1976). „Kommunismus“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. A.a.O. 900 und (1984). „Sozialismus“. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur

politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Band 5 Pro-Soz. Hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck. Stuttgart: Ernst Klett Verlag. 949.

20

(1984). „Sozialismus“. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck. A.a.O. 923. Vergleiche auch Seite 963 und (1976). „Kommunismus“. In: Historisches Wörterbuch der

Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. A.a.O. 903.

21 (1976). „Kommunismus“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried

Gründer. A.a.O. 903-905. Vergleiche auch: (2006). „Sozialismus“. In: Das Politlexikon. Hrsg. von Klaus Schubert und Martina Klein. A.a.O. und Nielsen, Helge (2002). „Der Bürgerliche Realismus“. In: Geschichte der deutschen

(9)

Zwangsmaßnahmen könnte der Kapitalismus, den Kommunisten zufolge, nicht von einer neuen Ordnung abgelöst werden.

Nach der russischen Revolution 1917, der nicht von Revolutionen in Westeuropa gefolgt wurde,22 spaltete sich die deutsche Arbeiterbewegung in einen sozialdemokratischen und einen marxistisch-leninistischen Teil. Der sozialdemokratische Teil strebte einen demokratischen Wohlfahrtsstaat an, der marxistisch-leninistische einen kommunistischen Staat wie die

Sowjetunion, in der die Produktionsmittel verstaatlicht waren und alle gesellschaftlichen Bereiche vom Staat gelenkt wurden.23

Die DDR

Deutschland wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in vier Besatzungszonen aufgeteilt, die

amerikanische, englische, französische und sowjetische. Die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) war das Grundgebiet der späteren DDR.24 Am 8. April 1949 entstand, nach dem Beitritt

Frankreichs zur amerikanisch-englischen Bizone, die Trizone in Westdeutschland, was die Gründung der Bundesrepublik am 23. Mai 1949 einleitete. In der zweiten Hälfte Septembers desselben Jahres fanden in Moskau geheime Beratungen zwischen Mitgliedern des Politbüros der KPdSU und führenden SED-Politkern statt. Das Resultat dieser Beratungen war die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik, der DDR, am 7. Oktober 1949.25

Welche Ereignisse zur Entscheidung, die DDR zu gründen, am stärksten beigetragen haben, wird kontrovers diskutiert. Nicht wenige Historiker vertreten die These, die Sowjetunion hatte keine klaren Zukunftspläne für die SBZ. Die Besatzung wurde als ein Zwischenstadium gesehen, nicht als eine dauerhafte Lösung. Die Sowjetunion rechnete damit, sich mit den anderen drei Besatzungsmächten Deutschlands, England, den Vereinten Staaten und Frankreich, über die Errichtung eines neutralen Gesamtdeutschlands einigen zu können. Ein Gesamtdeutschland würde der Sowjetunion den Zugang zu dem Ruhrgebiet ermöglichen.

Der 1947 eingesetzte Kalte Krieg zwischen den Vereinten Staaten und der Sowjetunion machte eine gesamtdeutsche Lösung aber immer unwahrscheinlicher. Der sowjetische

22

Dies erwartet man, wenn man an den wissenschaftlichen Sozialismus Friedrich Engels und Lorenz Steins glaubt.

23 (2006). „Sozialismus“. In: Das Politlexikon. Hrsg. von Klaus Schubert und Martina Klein. A.a.O. Vergleiche auch:

(1976). „Kommunismus“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. A.a.O. 906.

24 (2006). „Deutsche Demokratische Republik (DDR)“. In: Das Politlexikon. Hrsg. von Klaus Schubert und Martina

Klein. A.a.O.

25 Ihme-Tuchel, Beate (2007). Die DDR. Darmstadt: WBG. 11. Vergleiche auch: Görtemaker, Manfred (2004). Kleine

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Einflussbereich und der Westen standen einander zunehmend feindlich gegenüber.26 Die

Westmächte kritisierten unter anderem die sozialistischen Ideen der Sowjetunion. Sie wollten kein Gesamtdeutschland mehr, weil sich alle Besatzungsmächte Deutschlands, einschließlich der Sowjetunion, an dessen Gründung beteiligen würden. Die Westmächte hegten schon 1948 Pläne zur Gründung eines eigenen Staates. Die Sowjetunion fing daraufhin an, ihren Einflussbereich, wozu auch die SBZ gehörte, vom Westen abzugrenzen. Dies könnte man als einen Schritt in Richtung DDR-Gründung auffassen. Die DDR-Gründung war also auch eine Reaktion auf die Gründung der Bundesrepublik. Die Sowjetunion sah sich also mehr oder weniger wegen des Kalten Krieges dazu gezwungen. Die Hoffnung auf ein vereintes, neutrales Deutschland blieb bei der Sowjetunion und SED aber bis Mitte der fünfziger Jahre bestehen, unter anderem auch deshalb, weil die Bundesrepublik ein vereintes Deutschland als Ziel in ihrer Verfassung aufgenommen hatte.

Andere Historiker, zum Beispiel Norman M. Naimark, Wilfriede Otto und Gerhard Wettig, sind der Auffassung, die Sowjetunion sah die Besatzung, obwohl sie ein vereintes, sozialistisches Deutschland erzielte, als etwas Permanentes. Sie baute zum Beispiel zusammen mit der KPD und später der SED eine umfangreiche Polizeistruktur in der SBZ und der DDR auf. Beides war gleichwichtig, weil unklar war, wie die Zukunft aussehen würde. Stalin wollte die SBZ, und wenn möglich ganz Deutschland, seinem Einflussbereich einverleiben.27

Wilfried Loth ist aber der Ansicht, Stalin strebte eine parlamentarische, antifaschistische Demokratie für ganz Deutschland an. Er bildet mit dieser These eher eine Ausnahme.28 Für seine These spricht, dass Stalin bis Anfang 1949 die Gründung der Bundesprepublik zu verhindern versuchte und erst im Herbst 1949 die Gründung der DDR als Möglichkeit akzeptierte. Aus den so genannten Stalin-Noten aus dem Jahre 1952 geht aber hervor, dass Stalin kein Gesamtdeutschland wollte und froh war, dass der Westen als Erster die Bundesrepublik gründete, damit die

Sowjetunion nicht für die deutsche Teilung verantwortlich gemacht werden könnte. Stalin hatte Angst, dass in einem vereinten Deutschland ein Expansionsdrang in Richtung Osten aufkommen würde.

26

Nielsen, Helge und Annelise Ballegaard Petersen (2002). „Die deutsche Literatur 1945-2000.“ In: Geschichte

der deutschen Literatur 2. Hrsg. von Bengt Algot Sørensen. A.a.O. 271-272.

27

Vergleiche dazu: Naimark, Norman, M. (1999). Die Russen in Deutschland. Die Sowjetische Besatzungszone

1945 bis 1949. Berlin: Propyläen Verlag. 18-19, Otto, Wilfriede (1996). „Gemeinsamkeiten und Unterschiede oppositioneller Handlungen in der SED bis zur Entmachtung der Staatspartei. Forschungsergebnisse und Probleme.“ In: Diktaturen in Europa im 20. Jahrhundert - der Fall DDR. Hrsg. von Heiner Timmermann. Berlin: Duncker & Humblot. 437-448 und Wettig, Gerhard (1999). Bereitschaft zu Einheit in Freiheit? Die

Sowjetische Deutschland-Politik 1945-1955. München: Olzog. 76 und 295-297.

28 Ihme-Tuchel, Beate (2007). Die DDR. A.a.O. 11-16. Vergleiche auch: Loth, Wilfried (1996). Stalins

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Der DDR-Gründung gingen eine Boden-, Schul- und Justizreform voraus. Auch war ein Prozess der Verstaatlichung der Industrie eingeleitet worden. Für die Industrieproduktion wurden nach sowjetischem Vorbild Fünfjahrespläne aufgestellt. Die Schwerindustrie wurde gegenüber der Konsumgüterindustrie bevorzugt, was in der DDR langfristig zu Problemen führte. Die

Bodenreform beinhaltete, dass Großgrundbesitzer, Mittel- und Kleinbauern enteignet und dazu gezwungen wurden, in landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPG) einzutreten. Dies waren die ersten Schritte der „Stalinisierung“, deren Höhepunkt in den ost- und südeuropäischen Ostblockländern einschließlich der DDR zwischen 1948 und 1952 datiert wird.29 Davor machte die SED eine marxistisch-leninistische Phase durch. In dieser Phase versuchte die SED politische Macht zu erhalten. Diese Macht versuchte sie unter Verweis auf unter anderem den

Antifaschismus zu legitimieren. In der Periode der Stalinisierung versuchte die SED ihre Macht zu verfestigen.

Weitere Schritte im Stalinisierungsprozess waren der Zusammenschluss der KPD und SPD zur SED am 21. April 194630 und „die Ausschaltung aller nicht kommunistischen Parteien“.31 Die SED hatte nicht die Alleinherrschaft. Acht der vierzehn Minister der Regierung stammten nicht aus der SED. Die aktive Bekämpfung nicht kommunistischer Parteien kam 1949 im Gang. Sie war Folge einer Änderung des Parteiprogramms der SED im Januar 1949, die unter anderem die Einführung des „demokratischen Zentralismus“ umfasste. Darauf wird später eingegangen.

Die sofort nach der DDR-Gründung von der provisorischen Volkskammer in Kraft gesetzte Verfassung hatte viele Übereinstimmungen mit der Weimarer Reichsverfassung von 1919. Über die Hälfte der Artikel der DDR-Verfassung stammte aus dieser Verfassung. Die DDR-Verfassung enthielt weder einen Führungsanspruch der SED noch ein Bekenntnis zum Kommunismus.

Opposition gegen die Regierung, zum Beispiel in Form von Streiks, war erlaubt.32 Wegen Artikel 6 der Verfassung, der Kontrolle und Zensur von der DDR-Führung ermöglichte, war Opposition aber gleichwohl sehr schwierig. „Wer abweichende Meinungen äußerte oder bestehende Institutionen kritisierte, konnte "wegen Boykotthetze gegen demokratische

Einrichtungen und Organisationen" hart bestraft werden.“33 Es gab „nur wenig individuellen und

29

Ihme-Tuchel, Beate (2007). Die DDR. A.a.O. 16 und 20. Vergleiche auch: (2006). „Deutsche Demokratische Republik (DDR)“. In: Das Politlexikon. Hrsg. von Klaus Schubert und Martina Klein. A.a.O.

30 Large, David Clay (2002). Berlin. Biographie einer Stadt. München: C.H. Beck. 372. Dieser Zusammenschluss kam

nach sowjetischem Druck zustande. Die SPD hatte ihre Selbständigkeit behalten wollen. Vergleiche dazu: (2006). „Deutsche Demokratische Republik (DDR)“ und „Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED)“. In: Das

Politlexikon. Hrsg. von Klaus Schubert und Martina Klein. A.a.O.

31 Ihme-Tuchel, Beate (2007). Die DDR. A.a.O. 20. 32 Ebenda. 11.

33

Kleßmann, Christoph. (1997). “Aufbau eines sozialistischen Staates.“ In: Informationen zur politischen Bildung.

(12)

privaten Gestaltungsraum.“34 Die stalinistische Variante des Kommunismus wurde in der DDR immer wichtiger, was statt zu Macht für die Arbeiterschaft zu einer Diktatur, wo Menschen verfolgt und unterdrückt wurden, führte.

Am 10. Oktober 1949 hörte die SMAD (Sowjetische Militäradministration Deutschlands) zu existieren auf. Sie wurde von der SKK (Sowjetische Kontrollkommission) abgelöst. Die DDR wurde seitdem nicht mehr von der Sowjetunion besetzt, blieb aber auf vielen Gebieten, auch auf politischem, von ihr abhängig. Ohne Unterstützung der Sowjetunion war es für die SED-Führung schwierig, ihre Macht zu sichern, weil die deutsche Bevölkerung mehrheitlich nicht von den politischen Zielen der SED-Führung überzeugt war und die Macht der SED-Entscheidungsträger nicht das Ergebnis freier und geheimer Wahlen war. Die SED-Parteileitung versuchte den Westen glauben zu lassen, dass sie unabhängig politische Entscheidungen traf.

Die DDR wurde von der Bundesrepublik, sowie von anderen westlichen Ländern, sofort nach ihrer Gründung völkerrechtlich nicht anerkannt. Die weltweite Anerkennung gab es erst Anfang der siebziger Jahre, in einer Phase der Entspannung während der Periode des Kalten Krieges.

Zum Selbstbild der SED gehörte der Bezug auf sozialistische Ideen, genauso wie das Betonen einer antifaschistischen Tradition. Diese antifaschistische Tradition war ökonomisch definiert. Der Faschismus wurde von der SED-Führung als die „offen terroristische[…] Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen und am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“ betrachtet.35 Mit „Elemente des Finanzkapitals“ sind unter anderem Bankiers und zum Beispiel Anleger gemeint. Wertvermehrung anders als durch Arbeit wurde von der SED misstraut. Ein permanentes Interesse der Stichwortgeber im Diskurs der SED war es, sich vom Faschismus zu distanzieren. Mittels dieser Distanzierung konnten sie die DDR legitimieren.

Den Antifaschismus kann man als einen „Gründungsmythos“36 der DDR betrachten. Dieser Mythos betonte unter anderem den Widerstand gegen den Faschismus von Sozialisten vor und im Zweiten Weltkrieg. Er trug kurz nach der DDR-Gründung zu einer positiven Beurteilung der DDR im Ausland und unter Kritikern bei. Wichtig ist aber zu betonen, dass die DDR unter anderem als Folge der Stalinisierung in der Periode 1948-1952 eine Diktatur wurde. Es stellt sich auch die Frage, ob in der DDR die faschistische Vergangenheit in allen Bereichen der Gesellschaft

34

(2006). „Deutsche Demokratische Republik (DDR)“. In: Das Politlexikon. Hrsg. von Klaus Schubert und Martina Klein. A.a.O.

35 Ihme-Tuchel, Beate (2007). Die DDR. A.a.O. 12, 17-19 und 21-22.

36 “Gründungsmythen” sind “Herkunfts- und Zukunftserzählungen, die ‚Bedeutungsinvestitionen’ in die Gegenwart

tätigen und so für das politische Selbstverständnis einer Gemeinschaft von großer Relevanz sind“. Vergleiche dazu: Ihme-Tuchel, Beate (2007). Die DDR. A.a.O. 19 und Münkler, Herfried (1998). „Antifaschismus und

antifaschistischer Widerstand als politischer Gründungsmythos der DDR.“ In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Band

(13)

aufgearbeitet wurde. Die DDR-Bevölkerung war mehrheitlich bereit, sich mit dem

Gründungsmythos der DDR zu identifizieren. Ein großer Teil hatte im Zweiten Weltkrieg negative Erfahrungen mit dem Faschismus gemacht. Andere waren NSDAP-Mitglied oder Mitläufer

gewesen und griffen den Gründungsmythos der DDR als Möglichkeit auf, ihr Schuldgefühl zu reduzieren oder zu verdrängen.37

Als Illustration der ökonomisch definierten Sicht der SED-Führung auf den Begriff „Faschismus“ kann ein Fragment aus dem in der DDR publizierten Werk Auf dem Wege zu einer

neuen Kultur. Der Kulturbund in den Jahren 1945-1949 von Karl-Heinz Schulmeister dienen. Über die Wohnung Johannes R. Bechers 1945 in der Cäcilienallee 14-16 in Ost-Berlin wird folgendes ausgesagt. „Dieses Haus hatte einst einem millionenschweren Bankier gehört. Hier wurde Hitler durch Göring den deutschen Finanz- und Industrieherren vorgestellt. Hier wurde der Pakt der Industriekönige mit dem Faschismus vorbereitet.“38

Der Antifaschismus spielte auch in dem 1945 gegründeten „Kulturbund zur

demokratischen Erneuerung Deutschlands“ eine wichtige Rolle. Johannes R. Becher war Präsident des Kulturbundes. Der Kulturbund versuchte anfangs eine Organisation für ganz Deutschland zu sein, musste sich aber ab 1947, als er in den westlichen Zonen Deutschlands „wegen

kommunistischer Tendenzen“39 verboten wurde, auf Ostdeutschland beschränken.

Vom 4. bis zum 8. Oktober 1947 fand in Berlin der erste und einzige gesamtdeutsche Schriftstellerkongress statt. Einer der Veranstalter war der Kulturbund.40 Ostdeutsche Schriftsteller betonten die gesellschaftliche und politische Aufgabe der Literatur, westdeutsche Schriftsteller verteidigten die ästhetische und individuelle Freiheit des Schriftstellers und befürworteten deshalb eine Kunst, die sich nicht zum Ziel setzte, eine bestimmte Weltanschauung zu vertreten. Man kann aber nicht behaupten, alle ostdeutschen Mitglieder des Kulturbundes waren mit der politischen Aufgabe der Kunst, worauf in Kapitel 1.2 eingegangen wird, einverstanden, denn „die

Demokratisierung aller politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Gebiete“ war ein anderes wichtiges Ziel des Kulturbundes.41 Die ostdeutschen Künstler und Intellektuelle mussten sich aber den autoritär durchgesetzten kulturpolitischen Ideen der SED unterordnen.42 Der Einfluss der SED

37

Ihme-Tuchel, Beate (2007). Die DDR. A.a.O. 18-19 und 21-22. Vergleiche auch: Wolfrum, Edgar. (2001).

Geschichte als Waffe. Vom Kaiserreich bis zur Wiedervereinigung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. 117-119.

38

Schulmeister, Karl Heinz (1977). Auf dem Wege zu einer neuen Kultur. Der Kulturbund in den Jahren 1945-1949. Berlin: Dietz. 42.

39

Nielsen, Helge und Annelise Ballegaard Petersen (2002). „Die deutsche Literatur 1945-2000.“ In: Geschichte der

deutschen Literatur 2. Hrsg. von Bengt Algot Sørensen. A.a.O. 274.

40 Jäger, Manfred (1982). Kultur und Politik in der DDR. A.a.O. 12 und 14. Vergleiche auch: Schulmeister,

Karl-Heinz (1977). Auf dem Wege zu einer neuen Kultur. A.a.O. 270.

41 Nielsen, Helge und Annelise Ballegaard Petersen (2002). „Die deutsche Literatur 1945-2000.“ In: Geschichte der

deutschen Literatur 2. Hrsg. von Bengt Algot Sørensen. A.a.O. 273-274.

42 Barck, Simone (1997). „Kultur im Wiederaufbau (Teil 2). Bildung und Kultur in der DDR.“ In: Informationen zur

(14)

auf die Arbeit des Kulturbundes wurde seit Anfang des Kalten Krieges und vor allem nach der DDR-Gründung 1949 immer stärker. 1958 wurde er in „Deutscher Kulturbund“ umbenannt und im gleichen Jahr trat Becher als Präsident zurück.43

Der Kommunismus in der DDR

In der DDR wurde statt des Begriffs „Kommunismus“ der Begriff „Sozialismus“ verwendet. Der Sozialismus wurde, wie im Vorigen behandelt, als theoretische Vorstufe des Kommunismus betrachtet. Erst als die Idealvorstellung in der Praxis umgesetzt worden war, konnte der Begriff „Kommunismus“ verwendet werden. Bis zum Mauerbau 1961 wurde von der SED-Führung von dem „Aufbau der Grundlagen des Sozialismus“ gesprochen. Darüber, wie die Idealvorstellung des Kommunismus auszusehen hatte, wurde bis 1961 also noch diskutiert. Zwischen 1961 und 1976 war von dem „umfassenden Aufbau[…] des Sozialismus“ die Rede, ab 1976 wurde von „der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft“ gesprochen. Es war immer nur von Zukunftsvisionen, abstrakten Plänen, die Rede. Die Bezeichnungen ließen bestimmte

Erwartungshaltungen entstehen, die aber im Laufe der Zeit korrigiert werden mussten, weil die Erwartungen nicht erfüllt wurden. Dies führte dazu, dass man sich darauf einzustellen begann, dass mit großen Veränderungen des Gesellschaftssystems nicht mehr zu rechnen war.44

Die SED-Parteistruktur

Wilhelm Pieck wurde am 11. Oktober 1949 zum ersten Präsidenten der DDR ernannt. Er behielt dieses Amt bis zu seinem Tod am 7. September 1960.45 Die Mitglieder des Politbüros des Zentralkomitees (ZK) der SED46 waren die Entscheidungsträger im Staat. Die ungefähr zwanzig Mitglieder des jede Woche tagenden Politbüros wurden vom ZK, der politischen Elite der DDR, gewählt. Parteibeschlüsse wurden von den Mitgliedern des Sekretariats des ZKs kontrolliert und durchgeführt. Auch die Sekretäre wurden vom ZK ernannt. Das ZK wählte außerdem den Generalsekretär des ZKs, der die Sitzungen des Politbüros vorbereitete und leitete.47 Zwischen

Bonn: bpb. http://www.bpb.de/publikationen/3Y4REV,0,0,Kultur_im_Wiederaufbau_%28Teil_2%29.html. 16.10.2008.

43

Schulmeister, Karl-Heinz (1977). Auf dem Wege zu einer neuen Kultur. A.a.O. 51. Vergleiche auch: Behrens, Alexander (2003). Johannes R. Becher. A.a.O. 245, 252 und 300, Large, David Clay (2002). Berlin. A.a.O. 367 und Wende-Hohenberger, Waltraud (1990). Ein neuer Anfang? A.a.O. 64.

44

(1984). „Sozialismus“. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck. A.a.O. 991.

45 http://www.dhm.de/lemo/html/biografien/PieckWilhelm/index.html. 28.8.2008. 46 ZK der SED wird im Folgenden als ZK wiedergegeben.

47 Kleßmann, Christoph. (1997). “Aufbau eines sozialistischen Staates.“ In: Informationen zur politischen Bildung.

(15)

Januar 1949 und Mai 1971 war dies Walter Ulbricht.48 Auf Bezirks- und Kreisebene war die SED ähnlich strukturiert. Auch in Industriebetrieben, Massenorganisationen und staatlichen

Einrichtungen war die SED vertreten. Sie hatte in allen gesellschaftlichen Bereichen einen großen Einfluss.49

Das Prinzip des demokratischen Zentralismus

Wie vorher genannt, lag der Höhepunkt der Stalinisierungsphase in der DDR zwischen 1948 und 1952. Ab September 1948 wurde das sowjetische Modell des Sozialismus in der DDR in die Praxis umgesetzt.50 Mit „Stalinismus“ ist unter anderem „die Einparteien-Herrschaft bei Ausschaltung jeder innerparteilichen Demokratie, die willkürliche Machtausübung durch bürokratisch und zentralistisch organisierte Apparate [und] die Unterdrückung jeder freien Diskussion in Staat und Gesellschaft durch […] Zensur“51 gemeint. In der DDR war auch ein Stalin-Kult, der Dezember 1949, zum 70. Geburtstag Stalins, seinen Höhepunkt erreichte, Teil der Stalinisierungsphase: „Stalin avancierte zum Lehrmeister in allen Lebensfragen. Er wurde als „genialer Theoretiker“, „gelehrter Historiker“, „bester Freund der Deutschen“, „Friedensstifter“ und „weiser Stratege“ gewürdigt.“52 Der Stalin-Kult schwächte sich nach Stalins Tod März 1953 ab.

Auf der ersten Parteikonferenz der SED vom 25. bis 28. Januar 1949 wurden die Parteistruktur und das Parteiprogramm der SED geändert, viele Änderungen waren 1948 aber schon inoffiziell durchgeführt worden. Das neue Parteiprogramm der SED kann man als Abschluss der Stalinisierung innerhalb des Parteiapparates der SED betrachten.53 Die SED sollte ab diesem Zeitpunkt die Arbeiterklasse sowohl vertreten als auch führen. Außerdem wurde das leninistische Prinzip des „demokratischen Zentralismus“ eingeführt. Dies beinhaltete, dass die SED-Mitglieder die Entscheidungsträger wählen durften, es aber einen hierarchischen Aufbau der Partei gab. Die Beschlüsse der höheren Ebenen waren gegenüber den unteren absolut verbindlich.54 Man konnte nach einer politisch-ideologischen Prüfung Mitglied der SED werden, sollte sich aber den vom Politbüro des ZKs gefassten Parteibeschlüssen unterordnen. Auch wurden die wichtigsten Entscheidungsträger nicht von unteren Gremien, sondern vom ZK gewählt. Es war also eher von

48

Ihme-Tuchel, Beate (2007). Die DDR. A.a.O. 11 und 62.

49 „Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED)“. In: Das Politlexikon. Hrsg. von Klaus Schubert und Martina

Klein. A.a.O.

50

Ihme-Tuchel, Beate (2007). Die DDR. A.a.O. 20.

51 Kleßmann, Christoph. (1997). “Aufbau eines sozialistischen Staates.“ In: Informationen zur politischen Bildung.

A.a.O.

52 Ihme-Tuchel, Beate (2007). Die DDR. A.a.O. 21. 53

Ebenda. 20.

54 „Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED)“. In: Das Politlexikon. Hrsg. von Klaus Schubert und Martina

(16)

Zentralismus als von „demokratischem Zentralismus“ die Rede.55 Der Begriff „demokratischer Zentralismus“ ist widersprüchlich, denn Demokratie setzt einen nicht-hierarchischen Aufbau des politischen Systems voraus und kann daher nicht logisch mit Zentralismus verbunden werden.

Es galt ein Fraktionsverbot. Dies beinhaltete, dass die Ideen der Stichwortgeber im Diskurs der SED von allen SED-Mitgliedern geteilt werden mussten. Andere Auffassungen, zum Beispiel über die Einführung des Sozialismus in der DDR, waren innerhalb der SED nicht erlaubt. Man konnte schon 1948 nicht mehr von einer innerparteilichen Demokratie innerhalb der SED sprechen.56 Die SED-Führung kontrollierte darüber hinaus die politischen Ideen aller anderen politischen und gesellschaftlichen Organisationen in der DDR.

Einparteien-Herrschaft

Man kann seit dem Anfang der Stalinisierungsphase von einer Einparteien-Herrschaft sprechen, weil 1948 die Sozialdemokraten in der SED die Macht verloren und alle politischen Parteien gleichgeschaltet wurden. Bis 1948 hatte innerhalb der Gremien der SED ein Gleichgewicht zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten existiert. 1948 wurde der Artikel, in dem dies festgeschrieben war, aufgehoben. Darüber hinaus wurde 1950 und 1951 eine

Parteisäuberungsaktion durchgeführt, die zur Verfolgung und Ausschließung von ungefähr 150 000 SED-Mitgliedern, vor allem Sozialdemokraten, ehemaligen Westemigranten und

heimgekehrten Kriegsgefangenen aus dem Westen, führte.57 Die SED bestimmte, wer Parteiführer der anderen politischen Parteien wurden und führte auch hier Mitglieder-Ausschließungsaktionen durch. Die anderen politischen Parteien waren die Christlich-Demokratische Union Deutschlands (CDU), die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDPD), die National-Demokratische Partei Deutschlands (NDPD) und die Demokratische Bauernpartei Deutschlands (DBD).

Die Volkskammer

Die alle vier Jahre von den DDR-Bürgern über Einheitslisten58 gewählte Volkskammer, das Parlament der DDR, in dem die Abgeordneten der unterschiedlichen Parteien vertreten waren, wird in wissenschaftlicher Literatur kaum erwähnt. Dies lässt vermuten, dass sie wenig Macht und

55

Kleßmann, Christoph. (1997). “Aufbau eines sozialistischen Staates.“ In: Informationen zur politischen Bildung. A.a.O.

56

Ihme-Tuchel, Beate (2007). Die DDR. A.a.O. 20.

57

Ebenda. 21.

58 Eine Einheitsliste war ein Vorschlag der zu wählenden Personen aller Parteien. Man konnte diesem Vorschlag nur

zu- oder abstimmen. Von freien und geheimen Wahlen war nicht die Rede, denn viele Bürger wählten offen und die Zustimmung der Einheitslisten lag immer bei über 90 Prozent. Vergleiche dazu: http://www.dhm.de/

lemo/html/teilung/JahreDesAufbausInOstUndWest/SEDStaat/volkskammerBody.html. 28.8.2008,

(17)

wenig Einfluss hatte. In einer auf Niederländisch übersetzten DDR-Publikation aus dem Jahre 1988 liest man aber, dass sie das höchste Machtsorgan der DDR war: „De Volkskamer neemt als hoogste machtsorgaan van de staat met het vijfjarenplan voor de ekonomische en maatschappelijke ontwikkeling en de jaarlijkse ekonomische plannen ook de taken met betrekking tot de

ontwikkeling van het materieel en kultureel levenspeil aan.“59 In der Praxis besaß die

Volkskammer jedoch kaum Befugnisse. Sie wählte lediglich den Ministerrat, der freilich dem Politbüro untergeordnet war. Walter Ulbricht hatte einigen Mitgliedern des Sekretariats des ZKs am 11. Oktober 1949 den Auftrag erteilt, Richtlinien dafür aufzustellen, in welchem Maß die Volkskammer, die Minister, die Ministerien, das Politbüro und das Sekretariat sich am politischen Entscheidungsprozess beteiligen dürften. Am 17. Oktober 1949 wurden die Richtlinien fertig gestellt. „Die Anwendung dieser Vorschriften degradierte die DDR-Volkskammer, die Regierung und ihre Ministerien unverhohlen zu bloßen Ausführungsorganen der SED-Spitze.“60 Nur das Politbüro und Sekretariat behielten ihre Mitbestimmungsmöglichkeiten.

Das Sekretariat ernannte zum Beispiel die etwa dreißig Mitglieder der seit September 1953 bestehenden ZK-Abteilung Kunst, Literatur und kulturelle Massenarbeit. Diese Abteilung war für ästhetische und ideologische Fragen in der Kunst zuständig und kontrollierte und instruierte unter anderem das Kulturministerium, die Deutsche Akademie der Künste,61 die Kunsthochschulen, den Schriftstellerverband,62 den Kulturbund und die Wochenzeitung Sonntag.63 Der Kulturbund besaß einen eigenen Verlag, „Aufbau“. Die Wochenzeitung für Kultur, Politik und Unterhaltung,

Sonntag, wurde seit Juli 1946 von diesem Verlag herausgegeben.64

59

(1988). Kunst en kultuur in de DDR. Hrsg. von Panorama DDR/Persbureau voor het buitenland. Berlin/Dresden: Zeit im Bild. 15-16.

60 Amos, Heike (2003). „Politik und Organisation der SED-Zentrale 1949-1963. Struktur und Arbeitsweise von

Politbüro, Sekretariat, Zentralkomitee und ZK-Apparat.“ In: Diktatur und Widerstand. Hrsg. von Prof. Dr. Manfred Wilke. A.a.O. 109.

61 Die seit 1696 bestehende Akademie der Künste wurde nach dem Zweiten Weltkrieg sowohl in Ost-, im Jahre 1950,

als in West-Berlin, im Jahre 1954, neu gegründet. Im Ostteil der Stadt hieß sie „Deutsche Akademie der Künste“, im Westteil „Akademie der Künste“. Zwischen 1953 und 1956 war Johannes R. Becher Präsident der Deutschen Akademie der Künste. Oktober 1993 wurden diebeiden Akademien wiedervereinigt. Vergleiche dazu: http://www.adk.de/de/orientierung/hanseatenweg/. 8.8.2008 und (2000). „Becher, Johannes R. (Robert)“. In:

Enzyklopädie der DDR. Personen, Institutionen und Strukturen in Politik, Wirtschaft, Justiz, Wissenschaft und Kultur.

Berlin: Directmedia. 10683.

62

Der „Deutsche Schriftstellerverband“ der DDR existierte zwischen 1950 und 1973. Danach änderte er seinen Namen in „Schrifstellerverband der DDR (SSV)“. Was in dem Schriftstellerverband beschlossen wurde, war vorher von der SED-Parteileitung genehmigt worden. Als Mitglied des Schriftstellerverbandes durfte man sich „Schriftsteller“ nennen und genoss man bestimmte Vorteile, wie die Möglichkeit an Ferienreisen und Reisen in den Westen teilzunehmen. Vergleiche dazu: www2.tu-berlin.de/presse/tui/96apr/ssv.htm. 8.8.2008.

63 Amos, Heike (2003). „Politik und Organisation der SED-Zentrale 1949-1963. Struktur und Arbeitsweise von

Politbüro, Sekretariat, Zentralkomitee und ZK-Apparat.“ In: Diktatur und Widerstand. Hrsg. von Prof. Dr. Manfred Wilke. A.a.O. 382-383 und 385.

64

(18)

Die Volkskammer, die Regierung und die Ministerien konnten zwar Beschlüsse

vorbereiten, diese mussten aber von dem Politbüro und dem Sekretariat, deren Mitglieder vom ZK ernannt worden waren, genehmigt werden.65 Auch der Kulturminister musste sich also den

Wünschen des Politbüros und des Sekretariats anpassen. Man kann somit von einer

„willkürliche[n] Machtausübung durch bürokratisch und zentralistisch organisierte Apparate“66 sprechen. Innerhalb der SED herrschte viel Misstrauen. Johannes R. Becher setzte zum Beispiel wenig Vertrauen in seine Mitarbeiter im Ministerium und das Politbüro misstraute dem ZK.67

1.2. Die kulturpolitischen Ideen der SED-Parteileitung Orientierung an die Sowjetunion

Die Kulturpolitik war in der SBZ vor und kurz nach der Gründung der DDR relativ liberal, unter anderem weil in Berlin lange Zeit mit den anderen Besatzungsmächten zusammengearbeitet wurde. Künstlern und Intellektuellen wurde bei dem Wiederaufbau nach dem Krieg von der sowjetischen Führung eine wichtige Rolle beigemessen. Sie wurden materiell privilegiert und genossen viel künstlerische Freiheit.68

Ein Grund dafür, dass Künstler und Intellektuelle sich dazu entschieden, ihren Wohnsitz in die SBZ oder DDR zu verlegen, war, dass sie dem Antifaschismus der SED-Parteileitung positiv gegenüberstanden. Andere lobten das liberale Klima. Der Literaturwissenschaftler Hans Mayer (1907-2001) beurteilte die Literaturszene in der SBZ und in der frühen DDR als liberaler als die der Bundesrepublik. Er nannte die SBZ „ein[en] Staat der Schriftsteller.“ In der Bundesrepublik hatten Politiker seiner Ansicht nach Angst vor Außenseitern und Querdenkern unter den Künstlern und Intellektuellen. Schriftsteller besetzten in den fünfziger Jahren keine Stellen im Parlament oder in der Regierung der Bundesrepublik.69 In der DDR wurde im Kontrast hierzu ein Dichter, nämlich Johannes R. Becher, Kulturminister.

Eine Änderung trat Anfang der fünfziger Jahre ein, als die SED-Parteileitung sich als Folge der Stalinisierung stark an die Kulturpolitik der Sowjetunion orientierte. Die SED-Kulturpolitik

65

Amos, Heike (2003). „Politik und Organisation der SED-Zentrale 1949-1963. Struktur und Arbeitsweise von Politbüro, Sekretariat, Zentralkomitee und ZK-Apparat.“ In: Diktatur und Widerstand. Hrsg. von Prof. Dr. Manfred Wilke. A.a.O. 110. Vergleiche auch: http://www.dhm.de/lemo/html/teilung/JahreDesAufbausInOstUndWest/ SEDStaat/volkskammerBody.html. 28.8.2008.

66

Kleßmann, Christoph. (1997). “Aufbau eines sozialistischen Staates.“ In: Informationen zur politischen Bildung. A.a.O.

67 Dwars, Jens-Fietje (1998). Abgrund des Widerspruchs. A.a.O. 762.

68 Mayer, Hans (1976). „DDR 1956: Tauwetter, das keines war.“ In: Frankfurter Hefte 11 (31): 16. Vergleiche auch:

Ihme-Tuchel, Beate (2007). Die DDR. A.a.O. 20.

69 Ihme-Tuchel, Beate (2007). Die DDR. A.a.O. 21-22. Vergleiche auch: Mayer, Hans (1991). Der Turm von Babel.

(19)

glich der Kulturpolitik der KPdSU.70 Wie in der Sowjetunion wurden auch in der DDR

„Formalismus,71 Kosmopolitismus (also Weltoffenheit auch in westlicher Richtung), bürgerlicher Liberalismus und Pazifismus“ vom Staat bekämpft.72

Künstler und Intellektuelle genossen zwar nach wie vor materielle Privilegien, diese waren aber mit der Aufgabe, sozialistisch realistische Kunst, die eine ideale sozialistische Gesellschaft zeigte, zu schaffen, verbunden. Der Sozialistische Realismus wird später in diesem Kapitel behandelt. Künstler und Intellektuelle hatten keine uneingeschränkte künstlerische Freiheit mehr und liefen, unter anderem als Folge der Gründung staatlicher Kontrollinstanzen, worauf im Folgenden eingegangen wird, die Gefahr öffentlich verurteilt zu werden, zum Beispiel weil der Weltanschauung der SED in ihren Werken nicht genug Platz eingeräumt wurde.73 Sie sollten die Arbeiter zu mehr Produktion bewegen und die sozialistische Gesellschaftsform propagieren. Die SED-Führung glaubte daran, dass Kunst, Literatur und Vorträge von Künstlern und Intellektuellen Menschen in ihrem Un- und Unterbewussten verändern könnten.74

In der wissenschaftlichen Literatur besteht Einigkeit darüber, dass „Ideologien“75 an der Herausbildung einer persönlichen Identität beteiligt sind. Dies ist kein von dem Individuum bewusst erlebter Vorgang.76

Ob man auch von einer kollektiven Identität einer Gesellschaft sprechen kann, ist umstritten. Dem französischen Historiker Pierre Nora zufolge stehen Menschen in der heutigen Gesellschaft nicht mehr stark mit der Vergangenheit in Verbindung. Es wird zwar mittels Ritualen, Bildern, Texten und Monumenten, die er „Erinnerungsorte“77 nennt, auf die Vergangenheit Bezug

70 Jäger, Manfred (1982). Kultur und Politik in der DDR. Ein historischer Abriss. Köln: Edition Deutschland Archiv.

65.

71

Unter „Formalismus“ wurde in der DDR moderne und experimentelle Kunst, die sich nicht mit dem Aufbau des Sozialismus befasste, verstanden. Vergleiche dazu: Nielsen, Helge und Annelise Ballegaard Petersen (2002). „Die deutsche Literatur 1945-2000.“ In: Geschichte der deutschen Literatur 2. Hrsg. von Bengt Algot Sørensen. A.a.O. 300-301.

72

Jäger, Manfred (1982). Kultur und Politik in der DDR. A.a.O. 65.

73 Mayer, Hans (1976). „DDR 1956: Tauwetter, das keines war.“ In: Frankfurter Hefte 11 (31): 17.

74 Jäger, Manfred (1982). Kultur und Politik in der DDR. A.a.O. 67, 71 und 74. Vergleiche auch: Ernst, Anna-Sabine

(1993). „Erbe und Hypothek. (Alltags-)kulturelle Leitbilder in der SBZ/DDR 1945-1961.“ In: Kultur und Kulturträger

in der DDR. Hrsg. von Wolfdietrich Kopelke. A.a.O. 16-17 und 31, Becher, Johannes Robert (1972). „Verteidigung der Poesie. Vom Neuen in der Literatur.“ In: Johannes R. Becher. Gesammelte Werke. Band 13. Bemühungen I.

Verteidigung der Poesie. Poetische Konfession. Hrsg. vom Johannes-R.-Becher-Archiv der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin. Berlin/Weimar: Aufbau-Verlag. 34 und Emmerich, Wolfgang (1997). Kleine Literaturgeschichte

der DDR. Erweiterte Neuausgabe. Leipzig: Gustav Kiepenheuer Verlag. 115.

75

Louis Althusser zufolge kann man unter Ideologien unter anderem „Bilder, Repräsentationen, aber auch Rituale, Gewohnheiten oder regelmäßige Verhaltensweisen“ verstehen. Vergleiche dazu: Winter, Rainer (2003). “Kultursoziologie.” In: Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen - Ansätze - Perspektiven. Hrsg. von Ansgar Nünning und Vera Nünning. Stuttgart/Weimar: Metzler. 212 und Althusser, Louis (1976). „Idéologie et appareils idéologiques d’Etat.» In: Positions (1964-1975). Paris: Ed. Sociales. 79-137.

76 Winter, Rainer (2003). “Kultursoziologie.” In: Konzepte der Kulturwissenschaften. Hrsg. von Ansgar Nünning

und Vera Nünning. A.a.O. 212. Vergleiche auch: Althusser, Louis (1976). „Idéologie et appareils idéologiques d’Etat.» In: Positions (1964-1975). A.a.O. 79-137.

77 Pierre Nora ist vor allem mit seinem siebenbändigen Werk Les lieux de mémoire, das er zwischen 1984 und

(20)

genommen, die sind aber von Menschen gemacht und daher nicht organisch oder evolutionär entstanden. Auch bildet sich, wenn man die Erinnerungsorte zusammenfügt, nicht automatisch ein zusammenhängendes Ganze heraus. Jeder kann, indem er bestimmte Erinnerungsorte selektiert, seine eigene Identität bilden. Eine kollektive Identität kann so nicht entstehen.78

Ob dies auch schon in der fünfziger Jahren in der DDR galt, ist nicht deutlich. Dafür spricht, dass die SED-Führung bewusst und künstlich eine kollektive Identität entstehen zu lassen versuchte. Sie glaubte offensichtlich nicht daran, dass die sich natürlich herausbilden würde. Außerdem existierten in der DDR mehrere Generationen, die alle eine eigene Identität hatten. Dies war unter anderem Folge der Wahl bestimmter Erinnerungsorte. Auf die zwei ältesten DDR-Generationen wird in Kapitel 4 eingegangen.

Ulrich Kull war 1979 der Ansicht, dass das, was Pierre Nora Erinnerungsorte nennt, eine Kultur gestaltet, diese Kultur imstande hält und mit bestimmt, wie sie sich in der Zukunft

weiterentwickeln wird.79 Er benutzte statt „Erinnerungsorte“ den Begriff „Handlungsmuster“. Er war also in Gegensatz zu Pierre Nora der Ansicht, weil er an eine einheitliche kulturelle Identität einer Gesellschaft glaubte, dass jede Gesellschaft eine kollektive Identität besitzt.

1955 wurde die DDR zum souveränen Staat erklärt und befasste die Sowjetunion sich nicht mehr mit innenpolitischen Angelegenheiten der DDR. Die DDR orientierte sich aber weiterhin, auch auf innenpolitischem Gebiet, an der Politik der KPdSU in der Sowjetunion.80

Kontrollinstanzen

Anfang der fünfziger Jahre führte die DDR-Führung Kontrollinstanzen ein, unter anderem im Kulturbereich.81 Die von dem Literaturwissenschaftler und -kritiker Wilhelm Girnus82 geführte staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten, auch Staatliche Kunstkommission genannt, und das von Fritz Apelt geleitete Amt für Literatur- und Verlagswesen waren die bekanntesten.83 Wilhelm Girnus kritisierte moderne und experimentelle Kunst und sah einen deutlichen Unterschied zwischen sozialistischer, fortschrittlicher Kunst auf der einen und bürgerlicher,

78

Erll, Astrid (2003). „Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen.“ In: Konzepte der

Kulturwissenschaften. Hrsg. von Ansgar Nünning und Vera Nünning. A.a.O. 166-167.

79 Posner, Roland (2003). „Kultursemiotik.“ In: Konzepte der Kulturwissenschaften. Hrsg. von Ansgar Nünning

und Vera Nünning. A.a.O. 64-65. Vergleiche auch: Kull, Ulrich (1979). Evolution des Menschen. Biologische,

soziale und kulturelle Evolution. Stuttgart: Metzler.

80 Kleßmann, Christoph. (1997). “Aufbau eines sozialistischen Staates.“ In: Informationen zur politischen Bildung.

A.a.O. Vergleiche auch: Ihme-Tuchel, Beate (2007). Die DDR. A.a.O. 4.

81 Behrens, Alexander (2003). Johannes R. Becher. A.a.O. 272. 82

http://www.adk.de/de/archiv/archivbestand/literatur/index.htm?hg=literatur&we_objectID=292. 3.9.2008.

83 Mayer, Hans (1976). „DDR 1956: Tauwetter, das keines war.“ In: Frankfurter Hefte 11 (31): 18. Vergleiche auch:

(21)

dekadenter Kunst auf der anderen Seite. Er war, was seine Ansichten über Kunst anbetraf, weniger liberal als Johannes R. Becher.84

Das Amt für Literatur- und Verlagswesen verbot in den fünfziger Jahren den Druck von Theatertexten des Berliner Ensembles, der Theatergruppe Bertolt Brechts, für das mobile Theater. Das mobile Theater war eine Theaterform, die an die Agitproptruppen der zwanziger Jahre

anknüpfte.85 Das Verbot hatte wahrscheinlich weniger mit den Agitproptruppen,86 als mit dem epischen Theater Brechts zu tun. Bertolt Brecht versuchte mittels seiner Theaterstücken Menschen zum Nachdenken anzuregen. Das epische Theater Brechts setzte sich nicht nur zum Ziel, die Zuschauer zu unterhalten und ihren Beifall zu erhalten. Es ging ihm auch nicht darum, eine ideale Gesellschaft abzubilden. Wenn man Menschen stimulierte, selbst nachzudenken, würden sie vielleicht eine eigene Zukunftsvision entwickeln können. Brechts experimentelles, nicht

mimetisches Theater widersprach dem Konzept des Sozialistischen Realismus, das unter anderem beinhaltete, dass eine kommunistische Zukunftsvision dem Publikum vorgestellt werden sollte. Auf den Sozialistischen Realismus wird später in diesem Kapitel eingegangen.

Theaterstücke, die dem Konzept des Sozialistischen Realismus entsprachen, handelten vom Kampf beim Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft. Zwei Seiten, eine sozialistische und eine andere, standen einander gegenüber. Bertolt Brecht kritisierte dieses Theater, weil die Zuschauer nicht dazu angeregt wurden, über das Gesehene, die eigenen Ideen und die Gesellschaft zu

reflektieren. Die sozialistische Seite bekam in diesen Theaterstücken, Brecht zufolge, im Vergleich zu der anderen Seite zu viel Spielraum, seinen Standpunkt zu begründen. Dass die sozialistische Seite gewinnen würde, wurde schon vorausgedeutet. Für das Publikum gab es demzufolge eigentlich keinen Kampf. Es schien eine natürliche Begebenheit zu sein, dass die sozialistische Seite gewinnen würde. Bertolt Brecht zufolge konnte man Menschen wirkungsvoller für die

kommunistische Weltanschauung gewinnen, wenn man ihnen das Gefühl vermittelte, dass wirklich für ein Ideal gekämpft werden musste, nicht nur auf der Bühne, sondern auch in der Realität.87

Bertolt Brecht konnte seine Theaterstücke nur in seinem eigenen „Theater am

Schiffbauerdamm“ in Ost-Berlin aufführen, weil die SED die Aufführung in DDR-Theatern nicht erlaubte.88 Hans Mayer, seit 1948 Professor an der Universität Leipzig im Fachbereich der

84

Mayer, Hans (1991). Der Turm von Babel. A.a.O. 59.

85 Jäger, Manfred (1982). Kultur und Politik in der DDR. A.a.O. 75.

86 Der Begriff “Agitprop” stammt aus der Sowjetunion und bezeichnet agitatorische Propaganda für den Aufbau einer

sozialistischen Gesellschaft. Vergleiche dazu: (2002). „Agitprop.“ In: Microsoft Encarta Encyclopedia. A.a.O.

87

Jäger, Manfred (1982). Kultur und Politik in der DDR. A.a.O. 75-76. Vergleiche auch: Emmerich, Wolfgang (1997).

Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe. Leipzig: Gustav Kiepenheuer Verlag. 117.

(22)

Literaturwissenschaften,89 stand dem epischen Theater Bertolt Brechts in seinem am 2. Dezember 1956 in der Wochenzeitung Sonntag publizierten Artikel, Zur Gegenwartslage unserer Literatur, positiv gegenüber.90

Das öffentliche Kritisieren der kulturpolitischen Ideen der SED-Führung war, weil es diese kulturellen Kontrollinstanzen und außerdem die sowjetische und deutsche Geheimpolizei und das Ministerium für Staatssicherheit gab, gefährlich.91

Dekadente Kunst

Die Kunst der Moderne wurde von der SED-Führung „dekadent“ genannt und kritisiert.92 Im Folgenden wird zuerst kurz dargestellt, was man unter „Kunst der Moderne“ verstehen kann. Danach wird auf die Kritisierung dieser Kunst von der SED-Führung eingegangen.

Der Expressionismus (1910-1923)93 war in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts die bekannteste Strömung der Moderne in Deutschland. Allen Strömungen der Moderne

gemeinsam war die Kritik an den gesellschaftlichen Ordnungsmustern, wozu auch die herrschenden künstlerischen Strömungen, wie Neoklassik und Neoromantik, gehörten. Die chaotische Umwelt war, Künstlern der Moderne zufolge, nicht mehr mit den alten

Ordnungsmustern zu erfassen.

Das Chaos war unter anderem Folge der Modernisierung und Industrialisierung der Gesellschaft. Die Subjektivität und Fragmentiertheit des Wahrnehmens und demzufolge auch des Wissens wurde von Künstlern der Moderne betont. Was man wahrnimmt, ist von dem Standpunkt, der Umgebung und zum Beispiel der Vorgeschichte des Individuums abhängig. Man nimmt immer nur Fragmente, nie ein kohärentes Ganzes, wahr. Es gibt also mehrere Wirklichkeiten, die auch nicht-realistisch, zum Beispiel eher traumartig, sein können. Das Chaos und die Existenz mehrerer subjektiver Wirklichkeiten können bei Menschen Gefühle von Verwirrung, Verunsicherung und Entfremdung hervorrufen. Die eigene Identität und die Umwelt sind nicht mehr klar zu definieren und voneinander abzugrenzen.94

89 Ebel, Martin (2001). “Eine seismographische Empfindsamkeit. Schriftsteller, Germanist, unorthodoxer Marxist,

«Deutscher auf Widerruf»: Zum Tod von Hans Mayer.“ In: Basler Zeitung. 21.5.2001. http://www.hagalil.com/archiv/ 2001/05/mayer.htm. 10.8.2008.

90

Jäger, Manfred (1982). Kultur und Politik in der DDR. A.a.O. 79.

91 Mayer, Hans (1976). „DDR 1956: Tauwetter, das keines war.“ In: Frankfurter Hefte 11 (31): 17. 92

Wende-Hohenberger, Waltraud (1990). Ein neuer Anfang? A.a.O. 96-97. Vergleiche auch: Sørensen, Bengt Algot (2003). „Deutsche Romantik“. In: Geschichte der deutschen Literatur 1. Hrsg. von Bengt Algot Sørensen. A.a.O. 290.

93 Im Expressionismus wird versucht, „die emotionelle […] Erfahrung der Wirklichkeit“ und „das Wesen von

Menschen und Dingen, das in der Realität unter der äußeren Schale verborgen ist“, abzubilden. Vergleiche dazu: Rathke, Ewald (1971). Expressionismus. München: Schuler Verlagsgesellschaft. 10. Ich habe diese Definition des Expressionismus meiner Hausarbeit zum Thema „Kulturbund“ entnommen.

94 Ballegaard Petersen, Annelise (2002). „Die deutsche Literatur 1910-1945. Strömungen der ersten

(23)

Karl Marx definierte Entfremdung als den Verlust menschlicher Würde. Dies war seiner Ansicht nach unter anderem Folge der Fabrikarbeit und also der technischen Entwicklung.

Arbeiter, die vorher meistens landwirtschaftlich tätig gewesen waren, wurden in den Fabriken Teil einer Masse von Arbeitern, produzierten nur einen kleinen Teil eines Endprodukts und sahen sich in eine unnatürliche, künstliche Umgebung versetzt. Später wurde der Begriff „Entfremdung“ auch auf produzierte Massenware für den privaten Konsum bezogen. Der Konsum dieser Massenware würde zu einer Uniformierung der Gesellschaft führen. Jeder konsumierte das Gleiche. Auch der Kommunismus ging davon aus, dass die Entfremdung der Arbeiter Folge der technischen

Entwicklung war. Die Technik an sich wurde nicht kritisiert, nur dass die Bourgeoisie sie für die Erweiterung ihrer Macht einsetzte. Dies würde auf Kosten der Arbeiterschaft gehen. Diese Idee wurde bereits in Zusammenhang mit dem Kommunismus behandelt.

Ob man die Technik als Ursache der Entfremdung bestimmen kann, wird von Petran Kockelkoren, Inhaber des Lehrstuhls Kunst und Technologie der Abteilung Philosophie an der Universiteit van Twente in den Niederlanden, in Frage gestellt. Er glaubt daran, dass Technik neue Wahrnehmungsmöglichkeiten bietet. Kurz nach der Einführung einer neuen Technik kann dies zu dem Gefühl, nicht mehr das Zentrum der Welt zu sein, führen. Als man nur einen kleinen Teil der Welt, zum Beispiel das eigene Dorf, kannte, konnte man für sich die Idee, das Zentrum der Welt zu sein, noch aufrechterhalten. Neue Techniken, zum Beispiel auf dem Gebiet des Verkehrs oder der Kommunikation erweitern aber wortwörtlich das Weltbild.95

Orientierungsverluste, Vereinsamung, Isolation, Angst vor der zunehmenden Geschwindigkeit des Verkehrs und des Lebens im Allgemeinen und eine Zunahme der

Komplexität können die als negativ erfahrenen Folgen sein. Künstler der Moderne machten oft „die Großstadt“ zum Thema ihrer Werke. Einerseits weil sie von der Industrialisierung und Modernisierung, die hier deutlich sichtbar waren, beeindruckt waren, andrerseits weil sie die Großstadt mit Orientierungsverlusten, Vereinsamung, Isolation, Angst und Komplexität

verbanden. Man war noch nicht imstande, die vielen neuen Eindrücke zu verarbeiten.96 Dies war ein wichtiger Unterschied zu den Ideen Karl Marx, der die in seinen Augen unmenschliche Behandlung der Arbeiterschaft kritisierte. Künstler der Moderne fokussierten auf das Individuum, das neue Erfahrungen in einer sich rasch industrialisierenden und modernisierenden Gesellschaft noch nicht verarbeiten konnte.97

95 Kockelkoren, Petran (2003). Techniek: kunst, kermis en theater. Rotterdam: NAi Uitgevers. 8-14 und 34. 96 Vergleiche dazu: Wende, Waltraud (1999). „Einleitung. „Augen der Großstadt“- die Großstadt als

Wahrnehmungsraum der Moderne.“ In: Großstadtlyrik. Hrsg. von Waltraud Wende. Stuttgart: Reklam. 5-37.

97 Ballegaard Petersen, Annelise (2002). „Die deutsche Literatur 1910-1945. Strömungen der ersten

(24)

Eine positive Folge von Industrialisierung und Modernisierung ist, dass man sieht, dass man mehrere Standorte einnehmen kann, wodurch man eine andere, ungewohnte Sicht erhält. Die technische Entwicklung kann auf diese Weise einen Prozess, in dem sich der Mensch in Gedanken vorzustellen lernt, wie die Welt von für ihn noch unbekannten Standorten aus, zum Beispiel aus hoher Höhe, aussieht, unterstützen. Man verliert nicht seine Identität, muss sie nur neu definieren. Dies ist gut möglich, weil man über mehr Informationen über seine Umwelt verfügt. Die Technik wird Teil des Alltags.98

Nicht nur von Künstlern, sondern auch in der Sprache, Wissenschaft und zum Beispiel Psychologie wurden in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts negative Erfahrungen mit Modernisierung und Industrialisierung gemacht. Zur Illustration können die Relativitätstheorie Albert Einsteins, die Sprachkrisen Wittgensteins und von Hofmannsthals, und die Folgen der Entdeckung des Unbewussten von Sigmund Freud dienen.

Die 1907 von Albert Einstein aufgestellte Relativitätstheorie ist eine „Theorie, nach der Raum, Zeit und Masse vom Bewegungszustand des Beobachters abhängig und deshalb relative Größen sind.“99 Dies führt unter anderem dazu, dass nur Messungen überprüfbar sind, die Welt an sich aber nicht objektiv zu erfahren ist. Eine absolute Wahrheit kann demzufolge nicht

existieren.100

Die Sprachkrise Wittgensteins wurde von den Ergebnissen sprachlogischer

Untersuchungen hervorgerufen. Die Ergebnisse waren, dass die Bedeutung eines Wortes nichts absolut Feststehendes ist, sondern von der Sprachsituation, wozu unter anderem der

Gesprächspartner zu rechnen ist, abhängt. Nicht nur der Sprecher oder Verfasser eines Textes, sondern auch der Hörer oder Leser ist an der Konstituierung von Bedeutung beteiligt. Das, was der Sprecher oder Verfasser eines Textes mit einem bestimmten Wort meint, kann von dem Hörer oder Leser anders interpretiert werden. Ferdinand de Saussure wies außerdem darauf hin, dass zwischen dem Wort und seiner Bedeutung kein logischer Zusammenhang existiert. Das Wort und seine Bedeutung sind einander willkürlich zugeordnet.101

Auch die Gesellschaft wirkt auf die Bedeutung eines Wortes ein. Die Bedeutung eines Wortes kann man als Ergebnis einer gesellschaftlichen Übereinkunft betrachten. Wenn sich die gesellschaftliche Situation ändert, können sich auch die Bedeutungen einzelner Wörter ändern. In

98

Kockelkoren, Petran (2003). Techniek: kunst, kermis en theater. A.a.O. 8-14 und 34.

99 (2003). Duden. Deutsches Universalwörterbuch. Mannheim/ Leipzig/ Wien/ Zürich: Dudenverlag. 1300

100 (1992). „Relativitätstheorie“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 8: R-Sc. Hrsg. von Joachim Ritter

und Karlfried Gründer. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. 626.

101

Wucherpfennig, Wolf (1996). Geschichte der deutschen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart.

Stuttgart/München/Düsseldorf/Leipzig: Ernst Klett Verlag. 282. Vergleiche auch: (1973). „Experiment und Pop“. In:

Referenties

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