• No results found

Johan Huizinga, Verzamelde werken. Deel 4. Cultuurgeschiedenis 2 · dbnl

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2021

Share "Johan Huizinga, Verzamelde werken. Deel 4. Cultuurgeschiedenis 2 · dbnl"

Copied!
565
0
0

Bezig met laden.... (Bekijk nu de volledige tekst)

Hele tekst

(1)

Cultuurgeschiedenis 2

Johan Huizinga

Editie L. Brummel

bron

Johan Huizinga,Verzamelde werken. Deel 4. Cultuurgeschiedenis 2 (ed. L. Brummel). H.D. Tjeenk Willink & Zoon, Haarlem 1949

Zie voor verantwoording: https://www.dbnl.org/tekst/huiz003verz05_01/colofon.php

Let op: werken die korter dan 140 jaar geleden verschenen zijn, kunnen auteursrechtelijk beschermd zijn.

(2)

t.o.p. 313 Jacob de Gheyn de Tweede, Tycho

Brahe

(3)

Middeleeuwen

vervolg

(4)

Über die Verknüpfung des Poetischen mit dem Theologischen bei Alanus de Insulis

*

Für jede Dichtung ernstlich religiösen Inhaltes, welche poetische Gestaltungen, die nicht unmittelbar in der betreffenden Glaubenslehre fundiert sind, mit den

Grundsätzen dieser Lehre verbindet, erhebt sich die Frage: wie haben sich im Geiste des Dichters diese poetischen Figuren, Bilder und Visionen zu den rein philosophisch oder theologisch bewussten Überzeugungen verhalten? Fasst man leztere als feststehend und gegeben auf, welcher Ideenwert bleibt dann für den poetischen Bestandteil übrig, der sich meistens nicht vollständig aus dem Ganzen der Dichtung loslösen lässt? Und falls der Zusammenhang beider Elemente organisch scheint, wie ist er dann beschaffen?

Ganz dringend werden diese Fragen, wenn es sich um einen

mittelalterlich-christlichen Dichter handelt, wie Alanus de Insulis, den bedeutenden Vertreter der lateinischen Poesie des zwölften Jahrhunderts, der zugleich ein bedeutender Theologe aus der Zeit vor der vollen Entfaltung der Scholastik war. Er hat in seinen beiden berühmten Dichtungen,Liber de planctu Naturae und

Anticlaudianus, den poetischen Vorstellungsschatz, den er, wie zu erwarten ist, gänzlich der literarischen Tradition der Spät-antike verdankt, mit besonderer Lebendigkeit und Prägnanz gehandhabt.

Man hat sich im Allgemeinen damit begnügt, die reiche Bilderwelt des Dichters, soweit sie sich den Formen seiner unverdächtigen Rechtgläubigkeit nicht direkt einfügte, bloss als Literatur zu betrachten, als etwas von seiner religiösen Auffassung im Grunde Geschiedenes und für diese Unverbindliches1. So einfach liegt unseres Erachtens die Sache nicht. Die saubere Trennung zwischen dem Dichter und dem Kirchenlehrer, welche sich schon im Werke nicht durchführen lässt, hat sicher auch im Leben nicht bestanden.

Wenn es sich somit um einen Versuch handelt, sich von der persönlichen Geistesart eines mittelalterlichen Menschen eine Vorstellung zu schaffen, so ist doch diese Aufgabe nicht eigentlich psychologisch. Nur auf die richtige Auffassung eines konkreten Geistesinhalts kommt

* Mededeelingen der Koninklijke Akademie van Wetenschappen, afdeeling Letterkunde, deel 74, serie B, no. 6, p. 89-198. N.V. Noord-Hollandsche Uitg.-Mij., Amsterdam 1932.

1 Nur M. de Wulf,Histoire de la Philosophie médiévale, p. 243 gibt sich deutlich Rechenschaft davon, dass hier eine Frage vorliegt. Vgl. unten p. 335.

(5)

es an. Es liegt auf der Hand, dass eine solche Untersuchung nicht auf scharfe Begriffsbestimmungen hinauslaufen kann. Vielleicht wird im Folgenden lediglich klargelegt, dass eben eine Frage vorliegt, welche ungelöst bleiben muss. Der Reingewinn wäre also nur eine Warnung, nicht allzu scharf begrifflich bestimmen zu wollen, wo das ästhetische Bedürfnis sich in die Vorstellungen des Glaubens hineinmischt.

I.Die Figur des Alanus und seine Werke

Es wäre für unsere Fragestellung wichtig, wenn man sich von der Person des Alanus überhaupt, von seinem Leben und Wirken, eine einigermassen klare Vorstellung machen könnte. Leider erlaubt dies die höchst spärliche Überlieferung nicht. Die Dürftigkeit zuverlässiger Daten für sein Leben steht in einem auffallenden Gegensatz zu dem grossen Ruhm, der demMagister Alanus schon bei seinen Lebzeiten zuteil wurde, und bis am Ende des Mittelalters erhalten blieb. AlsAlanus Magnus und Doctor Universalis war er bald weltberühmt und zur Legende geworden. Weder seine Herkunft, noch die Zeit seines Lebens, ja nicht einmal die Trennung seiner Person von anderen Schriftstellern desselben Namens stand mehr fest. Schon im Jahre 1482 haben die Autoritäten in Citeaux, als sie ihm ein neues Grabmal und eine neue Grabschrift setzten, sich in Bezug auf seine Lebenszeit um ein ganzes Jahrhundert geirrt, indem sie ihn 1294 sterben liessen. Schon damals hat man ihm deutsche Herkunft zugeschrieben, während doch Johannes de Garlandia noch gewusst hatte, dass er aus Flandern stammte, und Otto von St. Blasien und Alberich von Trois-Fontaines, wann er gelebt hatte. Es steht heute durchaus fest, dass er um 1128 in Lille, von dem er den Namen trägt1, geboren sein muss, und dass das Französische seine Muttersprache war2. Auch sein Todesjahr 1202

1 Lille, lat. Insulae, niederl. Rijsel = ter IJsele.

2 Die kritische Sichtung der sehr verworrenen älteren Berichte unternahm zuerst Dom Brial, Histoire littéraire de la France, t. XVI, p. 396; später Hauréau, in Mémoires de l' Académie des inscriptions et belles-lettres, t. XXXII, 1886, p. 1-27. Vgl. S.M. Deutsch in Herzogs Realencycl. d. Prot. Kirche3I, 283 f.; Jacquin inDictionnaire d'histoire et de géogr. ecclés.

I, 1912, 1299; M. Manitius,Gesch. der lat. Literatur des Mittelalters, t. III, 1931, p. 794-804.

- Ausgabe der Werke: Migne t. 210. Das älteste Zeugnis über Alanus gibt um 1216 Johannes de Garlandia:Flandria quem genuit vates studiosus Alanus etc. Lille war bekanntlich nie niederdeutsches Sprachgebiet; dasGermanus oder Teutonicus späterer Berichte ist unhaltbar.

Über seine Muttersprache Regula 25 (Migne 210, 633 B):omnipotens quod melius in Gallico exprimi potest li tut pussant, vgl. ib. 50. 642 D. - Das Grabmal wird beschrieben und abgebildet inHistoire de l' Académie des inscriptions et belles-lettres, t. IX, 1736, p. 229 (auch Migne 210, 40-42).

(6)

ist gesichert. Von seiner Lebensgeschichte sind die Lehrtätigkeit in Paris, ein längerer Aufenthalt in Montpellier, die Anwesenheit auf dem Laterankonzil 1179, und das Lebensende in Citeaux nicht zu bezweifeln. Man hat ihn bald nach seinem Tode mit wenigstens zwei anderen Schriftstellern des Namens Alanus vermengt. Unter den ihm zugeschriebenen Schriften ist die endgültige Trennung des Authentischen vom Verdächtigen oder Falschen noch nicht vollzogen.

Sein hoher Ruhm wird ausser durch seine Beinamen durch die Stelle bezeugt, die eine Miniatur aus dem Jahre 1418 (erwähnt von M. Grabmann1) ihm neben Thomas von Aquino als Vertreter der Theologie einräumt, und nicht zuletzt durch die Legendenbildung, die schon im XIII. Jahrhundert sein Bild umrankt hatte. Dem Magister Alanus gilt ursprünglich die schöne Legende von dem grossen Theologen, der, während er an einem Fluss oder am Meer spaziert und eine Erklärung der Trinität, die er versprochen hat, meditiert, einem Knaben begegnet, der in ein kleines Loch mit einer Nussschale oder einem Löffel Wasser schöpft, und auf die Frage, was er damit vorhabe, antwortet: ‘Eher werde ich diesen Fluss in dieses Loch ausschöpfen, als dass du in einer Predigt die Dreieinigkeit erklären kannst’2. - In der Überlieferung wird dieser Begebenheit unmittelbar eine zweite beigefügt: Alanus geht ganz verwirrt nach Hause, und wie er am nächsten Tage vor der übergrossen Schar steht, die sich versammelt hat, um seine Predigt zu hören, spricht er bloss die Worte:Sufficiat vobis vidisse Alanum, und steigt von der Kanzel herab.

Vor dem 1482 errichteten Grabmal in Citeaux befand sich noch

1 Die Geschichte der scholastischen Methode, II, 1911, S. 470.

2 Später meistens auf den hl. Augustinus bezogen, und öfters in der Kunst wiedergegeben, u.a. von Michael Pacher, Rubens usw. - Hauréau l.c. p. 2 notiert die Legende, in Bezug auf Alanus, schon aus zwei Pariser Handschriften des XIII. Jahrhunderts. Ich sehe keinen hinreichenden Grund, in den Wortensufficiat vidisse einen Anklang an Vergil, Ecl. VI, 24:

satis est potuisse videri zu finden. Eine Erzählung vom Streit des Alanus mit den Ketzern vor dem Papste, wo jene ausrufen: Du bist entweder Alanus oder der Teufel! findet man bei Hauréau l.c. p. 5 oder Migne 210, 15. Die Verbindung der beiden Episoden der erstgenannten Erzählung ist wahrscheinlich sekundär; es handelt sich um eine Legende und eine Anekdote.

Um den Zusammenhang herzustellen, hat die von Hauréau wiedergegebene Quelle den Zusatz: ...vidisse Alanum de Parabolis, also ‘nur den Alanus von den Sprichwörtern, nicht den grossen Theologen’, was aber die Pointe verdirbt. Gerson, Sermo de sanctissima Trinitate, Opera III. 1593, erzählt die Anekdote ohne die Legende, fügt aber zur Erklärung hinzu: ‘Et ceci dit, ou pour ce qu'il ne sceut lors aultre chose dire, pour punicion de ce qu'il cuydoit trop par aventure parler de cette matiere, ou se feust pour monstrer qu'il devoit souffire au peuple de croire simplement ce qu'il creoit luy, qui estoit ung tel clerc: car à ung chascun maistre on doit croire en son mestier.’

(7)

im XVIII. Jahrhundert im Boden eine einfache Grabplatte mit der älteren Inschrift:

Alanum brevis hora brevi tumulo sepelivit Qui duo, qui septem, qui totum scibile scivit.

Wichtiger als diese Zeugnisse einer staunenden Bewunderung durch die Nachwelt ist uns ein Zeugnis, - das einzige, kann man sagen -, das Alanus selbst über seine Person hinterlassen hat. Zu seinen beglaubigten Schriften gehört das Gedicht, das in den Ausgaben die Überschrift trägtLiber Parabolarum oder Doctrinale minus, und das in 321 Distichen eine Anzahl von sprichwörtlichen Redensartens aufzählt und ausführt. Hier heisst es im vierten Abschnitt1:

Simpliciter caecus prohibetur ducere caecum, Ne caecus caecum ducat in antra suum.

Sed tamen insanum prohibere nequimus Alanum Quin dubio caecos ducere calle velit.

Non queritur quod turpe pedes offendat eundo, Sed quod tam pauci nocte sequuntur eum.

Miror et admiror quod iter ducis arripit ille, Quem constat nunquam scisse vel isse viam.

Ein Geist, der mit solcher Selbstironie von seinem Lebenswerk reden konnte, ist jedenfalls wert, etwas näher auf seinen allgemeinen Gehalt hin geprüft zu werden2.

Eine Nachprüfung der Ergebnisse in Bezug auf die Unterscheidung des Echten und Unechten in den Alanus zugeschriebenen Schriften kommt hier nicht in Betracht.

Das Wichtigste ist durch die Untersuchungen von Hauréau, Bäumker, Baumgartner und Grabmann gesichert, und bei Manitius zusammengestellt3. Es genügt, neben den

1 Migne 210, 589 B. Es ist für die Authentizität dieser Schrift, wie für das Ansehen, das sie genoss, nicht ohne Bedeutung, dass es in der oben mitgeteilten Erzählung hiess:sufficiat vidisse Alanum de Parabolis.

2 Sollte man versucht sein, die Verse für ein Einschiebsel eines Spötters zu halten, so genügt der besondere Bau des Werkes, dies zu widerlegen. Im ersten Abschnitt werden sämtliche Sprichwörter in einem Distichon behandelt, im zweiten in zwei usw., sodass also der achtzeilige Passus hier geradezu gefordert wird.

3 Hauréau l.c.; Cl. Bäumker,Handschriftliches zu den Werken des Alanus, Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft, VI, 1893, S. 167, 416, VII, 1894, S. 169; M. Baumgartner, Die Philosophie des Alanus de Insulis, im Zusammenhange mit den Anschauungen des 12.

Jahrhunderts dargestellt, Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters, II, no. 4, 1896; M. Grabmann,Die Geschichte der scholastischen Methode, II, 1911, S. 452 ff.; Manitius l.c., S. 794-804.

(8)

beiden Dichtungen, die für uns im Vordergrund stehen, auf die Hauptwerke theologischen oder moralischen Inhalts hinzuweisen. Von den letztern erwähnten wir schon dieParabolae. Salimbene zitiert einen Spruch daraus1. -De fide catholica contra haereticos libri IV2hängt mit dem Aufenthalt des Alanus in Südfrankreich zusammen. Das erste Buch richtet sich gegen die Albigenser, das zweite gegen die Waldenser, das dritte gegen die Juden, das vierte gegen diepagani, womit die Mohammedaner gemeint sind. Das Werk ist einem Grafen von Montpellier gewidmet.

-De regulis sanctae theologiae3enthält in drei Büchern 125 Grundsätze der Theologie. - Die in zahlreichen Handschriften unter den verschiedensten Titeln verbreitetenDistinctiones dictionum theologicarum4sind ein alphabetisch geordnetes Lexikon biblischer Wörter und Ausdrücke, in ihrer wörtlichen und allegorischen Bedeutung. Ein TraktatDe arte catholicae fidei5, von Baumgartner, M. de Wulf und Cl. Bäumker dem Alanus zugeschrieben, wird ihm von anderen, wie Hauréau, und in einer eingehenden Nachprüfung von M. Grabmann, abgesprochen.

Neben den genannten Werken kommen noch in Betracht dieElucidatio in cantica canticorum, ein Liber sententiarum und die Summa de arte praedicatoria6, sowie zwei kleinere strophische Gedichte7von denen das eine zum Inhalt hat, wie die Menschwerdung Christi gegen alle Regeln der siebenArtes liberales verstosse, das andere die Hinfälligkeit des menschlichen Lebens warnend darstellt. Die Autorschaft des Alanus wird für alle diese Schriften kaum bezweifelt. Ein kleiner TraktatDe vitiis et virtutibus, in einer Pariser Handschrift überliefert, wird schon von Otto von St.

Blasien als Werk des Alanus erwähnt8, und hier im Anhang herausgegeben.

Die zwei grösseren Dichtungen des Alanus,De planctu Naturae und

Anticlaudianus, wurden noch von Baumgartner, wohl wegen ihres halb weltlichen Charakters, in Bezug auf ihre Abfassungszeit allen theologischen Schriften des Meisters vorangestellt9. Diese Frage der Reihenfolge ist für unser Thema von Bedeutung. Sicher ist zunächst, dass dasDe planctu Naturae bedeutend früher anzusetzen ist als derAnticlaudianus. Im letztern Werke nimmt der Dichter sein altes Thema

1 Cap. I dist. 20. Migne col. 583,M.G. SS, XXXII, 271, 11. Unmittelbar darauf zitiert Salimbene ein Verspaar ausDe Planctu Naturae, Wright II, p. 474, M. 456 B.

2 Migne 210, col. 305.

3 ib. 617.

4 Migne 210, 687. Das Werk wird u.a. auch wohlSumma quot modis genannt, siehe Grabmann l.c. p. 4662.

5 ib. 593.

6 ib. 51, 221, 109.

7 ib. 579.

8 Chronik 1194, M.G. SS 20, 326, 17.

9 Baumgartner l.c. p. 4.

(9)

von der Klage der Natur in veränderter Gestalt wieder auf. Er schreibe, sagt er,ne meus sermo contraheret de curae raritate rubiginem, und in Versmass übergehend:

Auctoris mendico stylum, phalerasque poetae, Ne mea segnitie Clio dejecta senescat;

Ne jaceat calamus, scabra rubigine torpens.

Scribendi novitate vetus juvenescere charta Gaudet, et antiquas cupiens exire latebras Ridet, et in tenui modulatur arundine musa.1

Die Anhäufung von Altersworten verrät an sich schon einen älteren Schriftsteller.

Nun liegt zwischenDe planctu Naturae und dem Anticlaudianus die Alexandreis von Walter von Chatillon2. Man nimmt allgemein an, dass dieser das Motiv der klagenden Natur, im zehnten Buch vs 1-167, mit welchem der Tod Alexanders eingeleitet wird, bei Alanus gefunden habe3. Anderseits enthält derAnticlaudianus eine boshafte Anspielung auf Walters Gedicht, der mit Maevius gemeint ist:

Maevius in coelos audens os ponere mutum Gesta ducis Macedum tenebrosi carminis umbra Pingere dum tentat, in primo limine fessus Haeret, et ignavam queritur torpescere musam.4

Walters Gedicht, von dem dieser sagt, er habe fünf Jahre daran gearbeitet, war 1182 fertig, und erblickte 1184 die Öffentlichkeit. Auch wenn man schliesst, die Anspielung des Alanus beweise eben

1 Anticl., Praefatio, M. 210, 448 B C, Wright II 272.

2 Vgl. Ch.M. Hutchings,L'Anticlaudianus d'Alain de Lille, Etude chronologique, Romania t. 50, 1924, p. 1-13; Manitius l.c. p. 797, 920 ff.. H. Christensen,Das Alexanderlied Walters von Chatillon 1905, hat die Beziehungen zwischen letzterem und Alanus kaum berührt.

3 Ganz bewiesen ist dies nicht. Walter konnte das Motiv der klagenden Natur auch direkt dem Claudianus selbst entnommen haben, der es inde Raptu Proserpinae III, 33 sq. anwendet.

Eher wohl fand er es bei Bernardus Silvestris, der auch das unmittelbare Vorbild des A. war.

F. Pfister,Neue Jahrbücher f.d. klass. Altertum, 27, 1911, p. 520 ff., hat gemeint, die Reihe der höllischen Laster bei Walter l.c. auf denAnticlaudianus zurückführen zu können. Die Darstellung ist aber viel näher mit der Behandlung der Sünden inDe planctu Naturae verwandt, und hat keine engeren Beziehungen zu dem späteren Gedicht des A., als aus den

gemeinschaftlichen Vorbildern Prudentius und Claudianus zu erklären wären.

4 Anticl. I c. 5, M. 492 A. Walter soll geantwortet haben: Maevius immerito te iudice vocor, Alane: judice me Bavius diceris et merito,Histoire littéraire XVI, 408.

(10)

nur eine Bekanntschaft mit derAlexandreis in unfertiger Gestalt, und wenn man die sonstigen Anspielungen auf Begebenheiten nach 1181, die C.M. Hutchings in dem selben Passus findet, für unbewiesen hält, kommt die Abfassungszeit des

Anticlaudianus doch jedenfalls nicht viel vor 1180 zu liegen1. Das heisst also in die Zeit, als Alanus seine Tätigkeit als berühmter Lehrer schon hinter sich hatte, in die Zeit auch, in der seine wichtigsten theologischen Traktate verfasst sein müssen.

DerLiber Distinctionum ist dem Abte Ermengald von St. Gilles (1179-1195) gewidmet2.De fide contra haereticos nimmt Bezug auf die Beschlüsse des Laterankonzils von 11793. Fest steht also die Tatsache, dass der Dichter des Anticlaudianus nicht ein noch halb weltlich gesinnter junger Magister gewesen ist, sondern der bewährte Theologe, der sich mitten in seiner ernsteren Arbeit noch einmal der Dichtkunst zuwendet.

II. Alanus als Scholastiker

Über die theologische und philosophische Bedeutung des Alanus gehen die Meinungen auseinander. Das ist begreiflich, weil seine geistige Figur schwer zu erfassen ist. Sie ermangelt der Einheitlichkeit. Alanus ist eklektisch und synkretistisch;

man wirft ihm Widersprüche zwischen mystischer Einkleidung und rationaler Tendenz seiner Gedanken vor, sowie Inkonsequenz seiner Psychologie. Baumgartner urteilt ziemlich streng über ihn. Er spricht ihm die Kraft des produktiven Schaffens eines Gilbert, Abaelard, Hugo von St. Viktor, die Gabe des spekulativen Denkens eines Bernhard von Chartres, Wilhelm von Conches ab. ‘Er nimmt von allen Richtungen und huldigt keiner ausschliesslich.’ Seine Philosophie trete uns nicht als ein geschlossenes, konsequent durchgeführtes System entgegen, sie sei vielmehr eine Art Überschau, die Zusammenfassung eines Materiales von Jahrhunderten, ein seltsam gemischtes Gemenge, kurz ein Mosaikbild. ‘Alanus erscheint als ein durch und durch receptiver ...Geist, der mehr die Gedanken anderer auf sich wirken lässt, als eine selbständige Lösung anstrebt.’ In der dichterischen Verarbeitung, wie auch der geschickten dialektischen Verwertung eines vorge-

1 Terminus ante ist der demAnticlaudianus nachtgebildete Architrenius des Johannes de Auville, von 1184.

2 Die Legende lässt Alanus seinen Abt Peter von Citeaux nach dem Laterankonzil begleiten.

Falls jener sich schon vor 1179 ins Kloster zurückgezogen hatte, müsste derAnticlaudianus in Citeaux geschrieben sein, was doch kaum glaublich ist.

3 Nicht auch dieRegulae Theologicae, wie Hutchings l.c. p. 4 sagt.

(11)

fundenen Stoffes sieht Baumgartner das Hauptverdienst des Alanus1.

Wesentlich günstiger beurteilt ihn Grabmann, der ihn einen vielseitig gebildeten Autor nennt, ‘der die Erfahrungen der praktischen Theologie mit einem achtenswerten Mass spekulativer Denkkraft in sich eint, der in der nüchternen Ausdrucksweise streng wissenschaftlicher Gedankengänge sich ebenso wie in phantasievoller Darstellungsform heimisch fühlt’. Namentlich denRegulae de sacra theologia erkennt Grabmann eine nicht geringe Bedeutung zu, inhaltlich wie methodisch. Er findet darin ‘jenes Ringen und Streben nach einer geschlossenen Theologie’, das für die Zeitwende um 1200 charakteristisch ist2. Die Stellung des Alanus zu platonischen und aristotelischen Einflüssen wird später zur Sprache kommen. Etwas Originelles und Überraschendes in seinem Ausdruck ist ihm jedenfalls eigen. So sagt er zum Beispiel, in der SchriftDe fide catholica contra haereticos, von der ‘auctoritas’, sie habe eine wächserne Nase, die in verschiedenem Sinn gedreht werden könne, weshalb es nötig sei, eine Wahrheit nicht bloss mit ‘auctoritates’ sondern auch mit

‘rationes’ zu begründen3.

Alanus bleibt bis auf weiteres der erste, bei dem der berühmte Satz:Deus est sphaera intelligibilis cuius centrum ubique circumferentia nusquam in seinem vollen Wortlaut zu finden ist4. Gerade in jüngster Zeit ist die Weise, wie dieser Ausspruch im späteren Mittelalter und im Zeitalter der Renaissance weitergegeben worden ist, bis ihn Pascal der Neuzeit übermitteln sollte, Gegenstand mehrfacher Erörterung gewesen5. Man findet das Wort im dreizehnten Jahrhundert zuerst imLiber XXIV philosophorum6, zusammen mit jenem anderen, das bei Alanus an derselben Stelle vorkommt:Deus est monas, monadem gignens, in se suum reflectens ardorem7. Darauf kommt es vor bei Alexander Halensis, Bartholomaeus Anglicus, Vincenz von Beauvais, Bonaventura

1 L.c. p. 6-8. Diesem Urteil hat sich, mit einiger Übertreibung, M. Gothein,Archiv f.

Religionswissenschaft, IX, 1906, p. 345 angeschlossen.

2 M. Grabmann,Geschichte der scholastischen Methode, II, p. 452 ff..

3 Migne 210, 333.

4 Theologicae regulae 7, Migne 210, 627 A.

5 Abel Lefranc,Grands écrivains français de la Renaissance, 1914, p. 170-181, gab darüber eine längere Ausführung, Cl. Bäumker berührt die Frage inStudien und Charakteristiken z.

Gesch. der Philosophie usw. 1928 (der betreffende Aufsatz erschien zuerst 1913); neuerdings E. Jovy,Etudes pascaliennes VII, 1930, Clouzot in Lefranc's Ausgabe von Rabelais, t. V, 1931, p. 106, Sneyders de Vogel inNeophilologus XVI, p. 246, XVII, p. 211, De la Perrière, Revue des études rabelaisiennes, III, 304, IV, 264, 404.

6 Herausgegeben von Cl. Bäumker, zuerst 1913, erweitert 1928 inStudien und Charakteristiken z. Gesch. der Philosophie, p. 194: Das pseudo-hermetische ‘Buch der vierundzwanzig Meister’.

7 Ibid. regula 3, 624 C, auch in Contra haereticos III C. 4, 405 D.

(12)

und Thomas von Aquino, während Jean de Meung es im Ros enroman

wiederzugeben versucht. Im vierzehnten Jahrhundert haben es Meister Eckhart und Seuse, im fünfzehnten Gerson, Nikolaus von Cusa und Marsilius Ficinus. Im sechzehnten wird es aufgenommen von Symphorien Champier, Marguerite de Navarre und Rabelais, schliesslich gelangt es durch Mlle de Gournay zu Pascal.

Als ursprüngliche Autorität gilt für die Scholastiker entweder Hermes Trismegistus oder Empedokles; tatsächlich ist im griechischen und lateinischen Altertum wohl die Vergleichung der Gottheit mit einer Kugel, nicht aber die Ausführung des Gedankens bezeugt. Es wäre also immerhin möglich, dass diese von Alanus stammte, der sich für diese Regel nicht ausdrücklich auf einen Meister beruft1. Wahrscheinlicher aber ist es, dass er den Ausspruch irgendeiner neupythagoräisch gefärbten Quelle entlieh. Jedenfalls ist es Alanus gewesen, aus dem die späteren Autoren ihn gekannt haben; auf Alanus berufen sich sowohl Thomas wie Albertus Magnus2.

Trotz der nachhaltigen Wirkung, welche die Schriften des Alanus zweifellos auf die Späteren ausgeübt haben, hat Baumgartner darin gewiss recht, dass wir ihn im Ganzen als Abschliesser einer Epoche zu betrachten haben. Die ganze Figur, jedenfalls des Dichters, aber auch des Theologen und Philosophen, hat in ihrer schimmernden, unfesten Gestalt etwas prae-scholastisches3. Es ist Geist des unruhig und leidenschaftlich suchenden zwölften Jahrhunderts, der aus den Schriften des Alanus spricht. In den oben schon zitierten Worten, mit

1 Wohl aber für die dritte Regel, inContra haer. III c. 405 D angeführt mit ‘Unde et philosophus ait’. Vgl. Baumgartner l.c. p. 119-120, Bäumker l.c. p. 202.

2 Vincenz von Beauvais,Spec. Hist. II, 1, Spec. Nat. I, 4, nennt als seine Quelle Helinand, bei dem das Wort aber nicht überliefert ist. Helinand, etwas jünger als Alanus, war dessen Landsmann und Ordensbruder, er könnte es diesem entlehnt haben. Sneyders de Vogel will als unmittelbare Quelle für Bonaventura und Thomas Bartholomäus Anglicus gelten lassen (der den Spruch anführtde Prop. rerum I 16) von welchem er irrtümlicherweise sagt, Bonav.

und Thomas hätten ihn in Paris persönlich gekannt. Thomas,Quaestiones disputatae de veritate 9, 2 art. 3. obiect. 11 sagt ausdrücklich: ut Alanus exponit. Schon Albertus Magnus hat gewusst, dass Trismegistus ein fiktiver Autor war, und nennt die Stelle in denMaximae (=Regulae) theologicae des A.; vgl. Bäumker l.c. p. 201. Alanus hat ‘sphaera intelligibilis’, derLiber XXIV philos. hat ‘infinita’, Barth Angl. ‘intellectualis’. Diese verschiedenen Lesarten pflanzen sich bei den späteren fort, und geben den Weg der Entlehnung an. Aus der Ausgabe des Bonaventura, Venedig 1494 (1504), dringt ‘inintelligibilis’ ein. Seit Cusa und Ficinus findet sich ‘circulus’ statt ‘sphaera’, letztere hat ‘spiritualis’. Jean de Meung ist wohl eher Alanus gefolgt als Bonaventura, wie Sneyders de Vogel meint.

3 In einer Reihe von drei im März 1930 in der Sorbonne gehaltenen Vorlesungen, aus denen diese Studie herausgewachsen ist, habe ich Alanus den Figuren des Abaelard und Johann von Salisbury unter dem Titel ‘Trois esprits prégothiques’ an die Seite gestellt.

(13)

denen er sich selbst zeichnete:ille quem constat nunquam scisse vel isse viam, ist für das Verständnis seiner Person Wichtiges enthalten.

III.De planctu Naturae und Anticlaudianus

Als Dichter zweier berühmten Werke, von denen das eine ganz in Versmass gehalten, das andere mit Versen vermischt ist, schliesst Alanus de Insulis die stattliche Reihe der lateinischen Poeten des zwölften Jahrhunderts ab, in der ihm Baldrich von Bourgueil, Hildebert von Lavardin, Marbod von Rennes, Johann von Salisbury, Walter von Chatillon, und, nach seiner Bedeutung nicht der letzte, der Archipoeta, vorangegangen sind. Sie alle sind ja Abschliesser und kaum Erneuerer zu nennen. Ihre klassizistische Form mag sie äusserlich den späteren Humanisten verwandt erscheinen lassen; ihr wesentlich praegotisches Wesen springt ins Auge, sobald man ihrer Dichtungsart die geschlossene Form des dreizehnten Jahrhunderts, - zum Beispiel dasDies irae oder die Hymnen des Thomas von Aquino -,

gegenüberhält. Unter jenen Dichtern des zwölften Jahrhunderts steht Alanus nicht an erster Stelle. Mit Hildebert oder Walter hält er, in Bezug auf die poetische Qualität, den Vergleich nicht aus. Doch hat er durch seine Dichtungen länger und tiefer auf die Nachwelt gewirkt als jene. Nicht in dem Sinn, dass seine Form weiter gepflegt worden wäre, sondern weil sein Stoff und seine Darstellung in zwei der

allerwichtigsten Dichtungen des späteren Mittelalters Aufnahme und Weiterbildung fanden: imRoman de la Rose und in der Divina Commedia.

Der hohe Ruhm desAnticlaudianus muss sich schon bei Lebzeiten des Alanus durchgesetzt haben. Bald nach seinem Tode, im Anfang des dreizehnten

Jahrhunderts, wird das Gedicht von bedeutenden Theologen der Zeit kommentiert.

Die Glosse von Wilhelm von Auxerre muss schon um 1210 entstanden sein, die von Radulfus von Longchamp um 1216. Letzterer nennt sich Schüler des Alanus, aus Montpellier; er gibt eigentlich viel mehr als bloss einen Kommentar zum Gedicht, nämlich eine komplete Wissenschaftslehre. Offenbar dient ihm derAnticlaudianus eigentlich als Lockmittel für den Leser. Auch von Robert von Sorbon ist eine Glosse zum Gedicht bekannt1.

1 Alle drei unediert und in Handschriften der Pariser Nationalbibliothek erhalten (lat. 8299, 8083, 8301, 8300). Eine eingehende Würdigung des Traktats des Radulfus gibt Grabmann l.c. p.

48-54. Vgl. Manitius l.c. p. 800, und R. Bossuat in denMélanges Alfred Jeanroy, Paris, E.

Droz, 1928, p. 265.

(14)

Weiter gibt es noch zwei Übersetzungen in französische Verse1, und schliesslich der merkwürdigeLudus super Anticlaudianum von dem Kanoniker Adam de la Bassée aus Lille2. Vor 1285 geschrieben, stellt das Spiel zugleich eine

Zusammenfassung und eine Erweiterung des originalen Gedichtes dar, vor allem aber eine Modernisierung im Geschmack des dreizehnten Jahrhunderts. Statt der klassizistischen Form in Hexametern erscheint der Stoff hier in der vierzeiligen durchgereimten Vagantenstrophe, abwechselnd mit geistlichen Liedern. Der musikalische Wert des Werkes ist durchaus nicht an letzter Stelle zu betonen. Vieles darin ist übrigens nicht demAnticlaudianus, sondern dem De Planctu entlehnt. Die beiden Dichtungen des Alanus bildeten überhaupt sozusagen ein literarisches Doppelgestirn. Ein szenisches Spiel zur Aufführung ist derLudus nicht; die Strophen werden nicht von handelnden Personen gesprochen. Der Meinung des

Herausgebers, dass das Werk in der erneuerten Form gewonnen habe, möchte ich kaum zustimmen3.

Zur Zeit als der Kanoniker von Lille seine sonderbare Bearbeitung des

Anticlaudianus verfasste, hatte der Roman de la Rose schon wichtige Bestandteile aus der Dichtung des Alanus aufgenommen und weitergebildet. Denn schon der Teil des Guillaume de Lorris scheint einige Bekanntschaft mit den Figuren des Alanus zu verraten. Bedeutender aber ist die Art, wie Jean de Meung den

Phantasiegehalt der beiden Dichtungen ausgebeutet, und pervertiert hat4. Hier hat Alanus, zweifellos nicht im Sinne seines frommen Zwecks, die weiteste und nachhaltigste Wirkung seines dichterischen Talentes gefunden. Dieser literarische Zusammenhang war schon dem Mittelalter bekannt. Gerson sagt in seinemTraictié contre le Roumant de la Rose5: ‘Vray est que ceste fiction poetique fut

corrumpuement estraite du grant Alain, en son livre qu'il faitDe la Plainte Nature, car aussi trés grant partie de tout ce que fait nostre fol amoureux n'est presque fors translacion des diz d'autrui... Je reviens a Alain et di que par personnage quelconque il ne parla onques en telle maniere. A tart l'eust fait. Tant seulement il mauldit et repreuve les vices contre Nature, et a bon droit...’.

1 Bossuat ib.

2 Adam de la Bassée, Ludus super Anticlaudianum, d'après le manuscrit.. à.. Lille, publié.. par M. l'Abbé Paul Bayart, Tourcoing, 1930.

3 Bayart p. XXXIII nennt es ‘plus vivant, plus réaliste... certainement plus agréable à lire’.

4 Siehe unten p. 72/3, wo auf diese Beziehungen näher eingegangen wird.

5 Herausgegeben von E. Langlois, Romania XLV, 1918, p. 43; in lateinischer Übersetzung in Gerson'sOpera ed. Ellies Dupin, III p. 293.

(15)

Weniger augenfällig als der Einfluss des Alanus auf denRoman de la Rose ist derjenige auf dieDivina Commedia. Dennoch ist auch dieser von Eugène Bossard wohl überzeugend nachgewiesen worden1. Es handelt sich hier hauptsächlich um das Motiv der Begleitung auf der Himmelsreise, bei der in den höheren Regionen die Theologia die Rolle der Ratio übernimmt, so wie Beatrice Vergil ablöst.

DerLiber de planctu Naturae2besteht zum weitaus grössten Teil aus Prosa: nur etwa ein Fünftel sind Verse. Diese aus Prosa und Poesie gemischte Form war dem Autor sowohl aus dem Trost der Philosophie des Boethius wie auch aus seinem unmittelbaren VorbildDe mundi universitate von Bernhard Silvestris geläufig.

Dennoch ist es nicht unwahrscheinlich, dass Alanus zu dieser Form kam, indem er früher von ihm verfasste Gedichte einem neuen Zweck dienstbar machte und seinem Prosatraktat einfügte. Dafür sprechen folgende Gründe. Die Gedichte zeigen selbständigen Charakter, und scheinen bisweilen etwas lose in den Zusammenhang eingefügt3. Ihre Tendenz wirkt öfters um einige Grade weltlicher als diejenige des Traktates selbst. Dies gilt vor allem für die poetische Beschreibung der Liebe, in 35 Distichen, welche die Natur als Antwort auf die sechste Frage des Alanus gibt4:

Pax odio, fraudique fides, spes juncta timori Est amor et mistus cum ratione furor...

Die Natur hat selbst dieses Gedicht hinterher zu entschuldigen; sie nennt es eine theatralis oratio joculatoriis evagata lasciviis, welche der puerilitas des Alanus als Speise dargeboten werde; nun aber solle eine reifere Rede zum Gegenstand der Unterhaltung zurückkehren, u.s.w..

Endlich wird durch diese Annahme eine Diskrepanz erklärlich, welche man meistens wenig beachtet hat.De planctu Naturae wird fast immer als eine Schrift gegen die Sodomie bezeichnet. Tatsächlich hebt das Werk mit einer metrischen Klage über dieses Laster an, wie sie in der lateinischen Literatur des zwölften Jahrhunderts nicht

1 Alani de Insulis Anticlaudianus cum Divina Dantis Alighieri Comoedia collatus. Thèse de Poitiers, Angers, 1885. Über die zahlreichen speziellen Beziehungen in Ausdruck und Gedanken, die Bossard zwischen Dante und Alanus annimmt, möchten wir hier das Urteil offen lassen.

2 Migne 210, 431-482, Wright,The Anglo-latin satirical poets... of the twelfth century, II p.

429-525.

3 M. 210, 460, 465.

4 M. 210, 455-456.

(16)

selten ist1. Diese Verteidigungen der natürlichen Liebe sind in der Regel jeder religiösen oder christlich-moralischen Inspiration bar. Das gilt auch vom

Anfangsgedicht desDe planctu Naturae. Gleich nachher aber erweitert sich das Thema zu einer Allegorie über Sünden und Tugenden im allgemeinen, wenn auch die Frage der erlaubten und unerlaubten Liebe im Vordergrunde bleibt. Der Übergang von den geradezu obszönen Anfangsstrophen zur Erscheinung derNatura ist ebenso matt wie unbeholfen und plötzlich. Die Annahme, ein älteres Gedicht sei hier, obwohl es eigentlich nicht ganz passte, doch als brauchbarer Ausgangspunkt benützt worden, könnte hier manches begreiflicher machen2.

Die Prosabeschreibung der Natur, ihres Diadems, ihres Kleides, auf dem die ganze Tierwelt abgebildet ist, ihres Wagens und Gespanns, ist in einem Stil verfasst, auf dessen ausserordentliche Buntheit und schimmernde Pracht wir später

zurückkommen werden. In einer langen Unterhaltung mit dem Dichter über Gott und Welt, beklagt sich Natur, dass von allen Geschöpfen nur der Mensch ihren Geboten widerstrebe. Nach einer Beschreibung sämtlicher Hauptsünden erscheint Hymenaeus mit vier Tugenden. Er wird von Natura mit einem Brief zu Genius geschickt. Dieser kommt, und vollzieht die Exkommunikation, nicht bloss der Verächter der Venus legitima, sondern aller Sünder überhaupt. Es wird unnötig sein, jedesmal darauf hinzuweisen, wie Jean de Meung diese Motive verwendet, und ihre Tendenz umgebogen hat.

DassDe planctu Naturae bedeutend älter sein muss als der Anticlaudianus geht nicht bloss hervor aus der oben erwähnten Tatsache, dass Walter von Chatillon dem ersteren Werk einiges entlehnte, während derAnticlaudianus die Bekanntschaft mit derAlexandreis voraussetzt, sondern auch aus dem ganzen Verhältnis der beiden Werke des Alanus untereinander. Das grosse GedichtAnticlaudianus mutet an wie eine Wiederaufnahme des früheren Themas in erweiterter Gestalt.De planctu Naturae war doch eigentlich ein Torso geblieben. Der Bannspruch des Genius bildete kaum einen befriedigenden Schluss. Der spezielle Ausgangspunkt der Klage über das eine widernatürliche

1 Vor allem das StreitgedichtGanymed und Helena, herausgegeben von Wattenbach Zschr.

f. deutsches Altertum XVIII, 124 ff.; vgl. F. von Bezold, Das Fortleben der antiken Götter im mittelalterlichen Humanismus, Bonn u. Leipzig, 1922, p. 58, 101.

2 Bei der Beantwortung der fünften Frage des A. sagt Natura (M.C. 452 D) sie wolle nicht länger, wie vorher, mit direkten Worten reden, oderprofanis verborum novitatibus profanare profana, sondern fortanpudenda aureis pudicorum verborum phaleris inaurare etc..

(17)

Laster war im Laufe des Gedichts schon halb aufgegeben worden. Ausserdem gab ihm die nicht ganz tadellose Harmonie des Prosatextes mit den eingestreuten Versen etwas unbefriedigendes.

Zum negativenDe Planctu wollte der Dichter jetzt das positive, und episch vollkommen durchdachte Gegenstück geben. Wieder sollte es sich handeln um Natura unter den Tugenden und Lastern. Die Natur hat, wegen der

überhandnehmenden Sittenverderbnis beschlossen, einen vollkommenen Menschen hervorzubringen, der diesem Unheil in der Welt Einhalt gebieten soll. Sie beruft die Tugenden in ihren Palast, um sich mit ihnen zu beraten. Weil aber die Natur nur den körperlichen Menschen darstellen kann, nicht aber die Seele, wird Prudentia in den Himmel geschickt, um von Gott eine passende Seele zu erbitten. Die sieben freien Künste bauen einen Wagen für Prudentia, dessen Rosse die fünf Sinne sind.

Ratio wird Wagenlenker. Oberhalb der Sphäre der Planeten angelangt, können die Pferde nicht weiter. Theologia erscheint und bietet sich als Führerin an; Ratio und der Wagen werden zurückgelassen, ausser dem zweiten Pferd Gehör, das Prudentia jetzt besteigt. Folgt die weitere Himmelsreise und Himmelsschau. Die Bitte wird von Gott gewährt, Prudentia kehrt mit der reinen Seele zurück. Dann wird der

vollkommene Mensch geformt. Die Tugenden schenken ihm ihre Gaben. Als nun aber dieser Mensch, mit alle Herrlichkeiten ausgerüstet, sich anschickt, die

verdorbene Welt wieder gut zu machen, fürchtet sich die Hölle. Alecto ruft die Mächte des Bösen auf, und beschliesst den Krieg. Der gerechte Mensch mit den Tugenden siegt. Ein goldenes Zeitalter bricht an.

Anticlaudianus heisst bekanntlich das Gedicht als Gegenstück zu Claudians In Rufinum libri II. Die Beziehung ist eigentlich eine ziemlich lose. In Claudians Gedicht ruft Alecto die Geister des Verderbens auf, um den Frieden zu vernichten. Megaera aber bringt, statt einen allgemeinen Krieg zu wagen, einfach den Ausbund alles Lasters, Rufinus (den Feind Stilicho's) an den kaiserlichen Hof, und hat dann das Spiel gewonnen. In diesem satirischen Moment und diesem Parteistandpunkt lag die ganze Begründung der Allegorie Claudians. Ganz anders das Gedicht des Alanus. Der Gegensatz, welcher den TitelAnticlaudianus rechtfertigt, besteht nur in der Gegenüberstellung eines vollkommen guten Menschen zum vollkommen schlechten. Sonst haben beide Werke nur die Figur der Alecto und ihr Heer von Lastern gemein.Anticlaudianus ist eigentlich Alanus selber, nicht der Wider-

(18)

sacher, nur der Nachfolger in entgegengesetztem Sinne Claudians; der vollständige Titel des Werkes scheintAnticlaudianus de Antirufino gewesen zu sein1.

Stofflich zeigt Alanus mehr Entlehnungen oder Nachahmungen nach Martianus Capella, Boethius, Prudentius und seinem unmittelbaren Vorgänger Bernardus Silvestris, als nach Claudian. Das Thema der Himmelsreise war allgemein geläufig.

Von direkt entlehnten poetischen Stellen überwiegen die aus Vergil bei weitem;

Bossard zählt deren 37 auf, gegen nur 12 aus Claudian2.

Die Verwendung heidnisch-klassischer Formeln, wiecives superi oder proceres Tonantis für die Engel, numen Olympi für Heiligkeit3, hat bei einem Autor des zwölften Jahrhunderts bekanntlich nichts Auffallendes. Fand er dochTonans für Gott in seinen Mustern Boethius und Martianus Capella. Besonders naïv ist diese

Verquickung von heidnischer Mythologie mit christlichen Vorstellungen in L. VI cap.

7, wo Gott zu Prudentia sagt: wenn ich die Frevel der Menschheit nach Verdienst ahnden wollte, würde ich eine neue Sintflut schicken können, in der das ganze menschliche Geschlecht unterginge -

nec viveret alter

Deucalion, alterque Noe conduceret arcam4.

Obwohl die Prosodie des Alanus begreiflicherweise nicht makellos ist, und er sich im Gebrauch bestimmter Wendungen gerne einige Kunstgriffe erlaubt, die eine strenge klassische Verslehre verpönt hätte5,

1 Manitius l.c. p. 797b.

2 L.c. p. 109 sq.

3 L. V c. 7. M. 210, 537 A, D.

4 M. 210, 547 C. Die Nebeneinanderstellung von Noah und Deucalion auch in der Messiade des sogenannten Eupolemius (Anfang XII. Jh.) l. II 74, ed. M. Manitius,Romanische Forschungen VI, 1891, p. 509. Die antiken Fabeln werden hier konsequent mit den biblischen Berichten verbunden, aber in ganz christlichem Sinne, insoweit stets die ersteren aus den letzteren hervorgegangen sein sollen. Manitius,Lat. Lit. des M.A. III p. 799, findet überhaupt imAnticlaudianus vieles, was an das Gedicht des Eupolemius erinnert.

5 Beides behandelt Bossard l.c. p. 64 sq. Zu bemerken ist besonders die Vorliebe des Alanus, kurze Sylben in der Zäsur als lange zu behandeln. Griechische Namen bisweilen mit falscher Quantität, wie Phronesis (für Prudentia). Alanus gebraucht keine leoninischen Hexameter, die Hildebert und Marbod so häufig verwenden. Im Gegensatz zu Walter von Chatillon und Johannes de Auvilla lässt Alanus fast nie einen auslautenden Vokal oder ein -um mit dem folgenden vokalischen Anlaut zusammenfliessen. Dieser Umstand genügt, um ihm den Schluss des Epilogs (bei Migne col. 575-576) abzusprechen, weil diese Verse von der Elision oder Verschleifung einen übermässigen Gebrauch machen. Schon Wright hat sie nur als Fussnote aufgenommen, weil er sie nicht in den Handschriften fand. DerAnticlaudianus schliesst also richtig mit dem Vers

Supplantare novas, saltem post fata silebit.

Unter den Alanus zugeschriebenen Werken findet sich einDe Ratione Metrorum et Syllabarum, welches nicht erhalten scheint.

(19)

liest sich seine Poesie im allgemeinen angenehm und leicht, der Satzbau ist durchgehend klar, die Betonung des Wichtigen im Ausdruck des Gedankens auffallend richtig. Sogar die eben erwähntennugae poeticae, wie die Anhäufung von Wörtern gleicher Funktion im Satze, die Anaphora, die Wiederholung des Subjektes1, haben bisweilen einen gewissen ornamentalen Wert, wodurch sie im stark malerischen, allegorischen Gebilde nicht als Fehler wirken.

IV.Alanus als Dichter

Die dichterische Qualität des Alanus wird, wie ja überhaupt ein philosophisches Lehrgedicht in allegorischer Form für unsere ästhetische Würdigung einen schweren Stand hat, leicht allzu niedrig eingeschätzt. So noch neuerdings von Manitius2, in dessen wertvoller Zusammenfassung des philologischen Materials man als

ästhetisches Urteil bloss findet, die Darstellung des A. leide ‘an ausserordentlichem Wortschwall und rhetorischem Schwulst’, er habe verstanden, ‘die philosophischen Studien für seine Schriftstellerei nutzbar zu machen’, und bediene sich bisweilen üblicher Phrasen. Damit ist aber das Wesentliche über diesen Dichter kaum gesagt.

Man kann

1 Beispiele:

a1.

Scire modos, causas, rationes, semina, formas...

(I c. 9, 496 B)

Quomodo compositum simplex, coeleste caducum, Diversum fit idem, gravidum leve, mobile certum, Obscurum lucens, pretiosum vile, iocosum Flebile, perpetuum mortale, volubile flexum (I c. 10, 498 A B)

a2.

Quos ligat assensus discors, discordia concors, Pax inimica, fides phantastica, falsus amoris Nexus, amicitia fallax, umbratile foedus.

(V. c. 6, 535 B) b.

Sic myrti praesunt lauris, oleaster olivis, Sic saliunca rosis, vilis sic alga hyacinthis;

Sic ovis a capra mendicat velleris usum; etc. etc.

(II c. 1, 499 A) c.

Sol novus in terris oriatur, cujus in ortu Sol vetus occasus proprios lugere putetur...

Solis in occasum sol alter proferat ortum.

(II c. 1, 499 D)

2 L.c. p. 794 ff.. Der gemässigten und besonnenen Wertung Bossards, l.c. p. 67-70, kann man sich ohne Vorbehalt anschliessen.

(20)

ohne weiteres zugeben, dass er einerseits weit unter dem älteren Hildebert und anderseits unter seinem Zeitgenossen und Landsmann Walter1, den er ja offenbar beneidete, gestanden hat. Auch braucht man nicht alle seine poetischen

Unzulänglichkeiten aus der Gattung seiner Gedichte zu erklären. Aber die obligaten Nachteile dieser Gattung liegen auf der Hand. Die allegorische Beschreibung personifizierter Tugenden erspart uns nichts; die auftretenden Figuren werden mit der äussersten Vollständigkeit beschrieben; besonders ein Palast oder ein Kleid bietet zur Ausmalung der darauf abgebildeten Gegenstände einen geradezu unbeschränkten Raum. Alle Einzelheiten dieser Bilder werden womöglich aufgezählt, wenn auch diese übermässige Ausführlichkeit mehr noch für den Prosatext desDe Planctu als für den fortlaufend im Hexametern gedichteten Anticlaudianus zutrifft.

Schwung und Spannung bleiben bei dieser Form notwendigerweise aus. Wir sind mit demAnticlaudianus ebenso weit von Dante entfernt wie von Vergil. Wer sich aber von diesem Grundfehler der Gattung nicht stören lässt, findet bei Alanus einen erstaunlichen Reichtum des Ausdrucks; er bewegt sich stets um einige wenige Konzeptionen; immer neue Fazetten derselben Idee werden dem Leser zugekehrt;

somit ist der rhetorische Fehler der Anhäufung von Synonymen oder synonymischen Wendungen gewissermassen im Aufbau des Gedichtes begründet. Das Bild ist bei Alanus meistens sehr prägnant und nie sinnleer, vielfach überraschend und treffend erfunden. Die malerische Qualität der Poesie des Alanus ist geradezu eine hohe zu nennen; er schildert ausführlich, aber sehr gut. Die Farbe seiner Verse ist ungleich bunter und reicher als zum Beispiel bei Hildebert und Marbod. Diese Farbe ist dem Glanz des gleichzeitigen Glasfensters nahe verwandt. Die poetische Vision ist spontan und lebendig. Kurz gesagt, die Allegorie selbst ist in den Dichtungen des Alanus so lebendig, als es diese spätantike und immer etwas ältliche Gattung überhaupt zu sein vermag.

Um die dichterische Kraft des Alanus sprechen zu lassen, mögen noch einige Proben seiner Ausdrucksart folgen.

Aus der Anrufung der Natur inDe Planctu2eine Strophe, die man doch nicht mit der Bezeichnung Wortschwall wird abtun wollen:

1 Aus Lille wie Alanus.

2 M. 210, 447.Miles, militare für die Sterne bei Alanus öfters, (vgl. ib. 448 D: Stellae... militant, Anticl. II c. 3. 500 D; contraque planeta militet adverso motu...) stammt aus dem

Sprachgebrauch der Astrologie.

(21)

Quae polum stellis variis inauras, Aetheris nostri solium serenans Siderum gemmis, varioque coelum

Milite complens.

In der Prosabeschreibung des Kleides der Natur1wird in der Aufzählung der Tierwelt sozusagen der ganzePhysiologus wiedergegeben, in einer epigrammatischen Kürze, die des Humors nicht entbehrt:Illic elephas monstruosa corporis quantitate progressus in aera, os sibi a natura conditum multiplici fenore duplicabat... Illic canis autem phantasticis vexando vulneribus aera dentium importunitate mordebat... Illic caper lana vestitus sophistica2nares fastidire quadriduano videbatur odore... etc..

Eine starke Visualität spricht aus Wendungen wie diese:In praefata autem virginis (=Naturae) adventu, quasi suas renovando naturas, omnia solemnizare crederes elementa.3

Ein Spiel mit sich aufhebenden Negationen beschreibt das Zaudern und sich Sträuben der Prudentia, als sie zur Botin erwählt wird4:

Cogitur, illa negat, meruitque negatio cogi Fluctuat haec, se nolle negat, nec velle fatetur:

Inter utrumque volat, nec vult, et nolle veretur.

Die immer wiederkehrende Figur der sich aufhebenden Gegensätze, wie in der poetischen Beschreibung des Cupido inDe Planctu, der Fortuna oder der Teufel imAnticlaudianus5, beruht doch am Ende, als Neigung zum Oxymoron, wohl auf etwas Tieferem im Geiste des Alanus als auf bloss rhetorischem Rezept.

Von sprachlichen Kunstmitteln, die er gerne anwendet, sei noch das Wortspiel erwähnt, wie es schon in der französischen Literatur des dreizehnten Jahrhunderts beliebt ist, um später gegen Ende des fünfzehnten allgemein zu werden. Zum Beispiel:

Poenitet me tot venustatum praerogativis hominum plerumque privilegiasse naturas, qui decoris decus abusione dedecorant, qui formae formositatem venerea deformitate deformant,... qui Florae florem in vitia efflorando deflorant6.

Alanus bildet gerne Verba aus klassischen Namen, wieneronizans, das vom Panther gesagt wird,philomenat, von der Leier, oder tiresiatus,

1 De Planctu M. 210, 436 ss..

2 Anspielung auf die bekannte RedeweiseLana caprina.

3 De Planctu, M. 210, 440 A.

4 Anticl. II c. 4, 501 D.

5 M. 210, 445, 525 A, 559.

6 M. 210, 449 D.

(22)

von der widernatürlichen Liebe, als Anspielung auf die Fabel von Tiresias, in der er in ein Weib verwandelt wird1.

Zum Beweis, dass Alanus trotz der Künstlichkeit, der Buntheit und Überladung seiner Sprache, doch wirklich ein Dichter heissen muss, sei hier noch eine längere Stelle angeführt. Es ist die, wo der Dichter, als Theologia im Begriff steht, die Führung der Prudentia von Ratio zu übernehmen, die Gottheit anfleht, ihm zur Behandlung des höheren Stoffes auch die höhere Inspiration zu gewähren2. Diese Verse entsprechen ihrer Funktion im Gedichte nach also denjenigen alsParadiso I, wo Dante die Hilfe Apollo's anruft.

Hactenus insonuit tenui mea Musa susurro, Hactenus in fragili lusit mea pagina versu, Phoebaea resonante chely; sed parva resignans, Majorem nunc tendo lyram, totumque poetam Deponens, usurpo mihi nova verba prophetae.

Coelesti Musae terrenus cedet Apollo, Musa Jovi, verbisque poli parentia cedent Verba soli, tellusque locum concedet Olympo.

Carminis huius ero calamus, non scriba vel auctor, Aes resonans, reticens scriptoris charta, canentis Fistula, sculptoris scalprum, vel musa loquentis, Spina rosam gestans, calamus nova mella propinans, Nox aliunde nitens, luteum vas nectare manans.

Summe parens, aeterne Deus, vivensque potestas, Unica forma boni, recti via, limes honesti,

Fons vitae, sol iustitiae, pietatis asylum, Principium finisque, modus, mensura, sigillum Rerum, causa manens, ratio, noys alma, sophia Vera, dies verus, lux nescia noctis, origo Summa, decor mundi perfectus, vita perennis3, Nata regens, ventura serens, nascentia servans, Omnia sub numero claudens, sub pondere sistens Singula, sub stabili mensura cuncta coercens,

1 438 B, 477 C, 449 D. Über die Sprache des Alanus vergleiche man Bossard l.c. p. 62 sq..

2 Anticl. V c. 5, M. 210, 534-535, Wright p. 355.

3 Wright nimmt diese Verszeile in doppelter Fassung auf, und liest:

.... origo

Lucis, summa boni, perfectus, vita perennis Summa, decor mundi perfectus, vita perennis.

(23)

Qui rerum species, et mundi sensilis umbram Ducis ab exemplo mundi mentalis, eumdem Exterius pingens terrestris imagine formae;

Qui veterem massam de vultus sorde querentem Investis meliore toga, formaeque sigillo

Signans, excludis nexu mediante tumultum;

Efficiens causa, dum rem producis ad esse;

Formalis, dum pingis eam; finalis, in esse Dum rem conservans, certo sub fine coarctas.

Tu mihi praeradia divina luce, meamque Plenius irrorans divino nectare mentem,

Complue, terge notas animi, tenebrasque recidens Discute, meque tuae lucis splendore serena.

Tu repara calamum, purga rubigine linguam, Da blaeso1tua verba loqui, mutoque loquelam Praebe, da fontem sitienti, dirige callem Erranti, duc nauta ratem, portumque timenti Dona, coelesti perflans mea carbasa vento.

Um der lateinischen Dichtung des zwölften Jahrhunderts im allgemeinen gerecht zu werden, muss man sich dessen bewusst sein, was ich die ästhetische Konjunktur des Zeitalters nennen möchte. Diese Geister des prägotischen Jahrhunderts leben sozusagen noch in einer künstlerisch fast bildlosen Welt. Erst das nächste

Jahrhundert sollte die reiche Blüte bildlicher Darstellung in Skulptur, in Wand-, Glas- und Buchmalerei zeitigen, welche den Vorstellungen des Glaubens, der Natur und des irdischen Lebens plastischen Ausdruck verliehen hat. Auch dann noch blieb, im Leben des Einzelnen, das materielle, sichtbare Bild selten, dadurch aber ungemein wirkungsvoll. Man fand es in und an den Kirchen, sonst kaum irgendwo. Selbst die Miniaturen waren ja nur in reichen Klöstern oder an Fürstenhöfen wenigen

zugänglich. Bei all seiner Lust an der sichtbaren Wiedergabe einer äusseren Wirklichkeit oder an der Verbildlichung einer Idee, bleibt das ganze Mittelalter, auch noch das spätere, in denkbar schärfstem Gegensatz zu unserer Zeit, wo die sinn- und zwecklose tägliche Überhäufung mit trivialen Abbildungen den Geist für die Wirkung jeder plastischen Gestaltung, sei es Linie, oder Farbe, Bildform oder Bildsinn, ganz abgestumpft hat.

1 So Wright. M.: Da, quaeso, tua verba loqui.

(24)

Im zwölften Jahrhundert beschränkte sich der sichtbare Bilderschatz für die meisten noch fast ganz auf die Ornamentierung von Kapitellen und Evangeliarien, auf die Figuren in Geweben oder Schmiedearbeiten, auf das Schnitzwerk an Dachsparren und Schiffen. Langsam überwand die aufblühende Kultur des christlichen

Abendlandes das künstlerische Erbe ihrer unmittelbaren Vergangenheit

irisch-skandinavischer und orientalisch-byzantinischer Tradition. Der heilige Bernhard, der die monströs verschlungenen und lächerlichen Formen der ornamentalen Kirchenkunst tadelt, ist symbolisch für den Umschwung der Zeit. Das alte Bild genügt dem neuen Geist nicht mehr.

In seinem heissen Bedürfnis nach bunten Bildern sucht dieser Geist Ersatz für den Mangel am plastisch Dargestellten in einem wahren Kultus der literarischen Verbildlichung. Das Wort, als Ausdrucksmittel des Geschauten und zu Schauenden, ist noch ungemein geschmeidiger und williger als irgend ein Medium des

künstlerischen Schaffens. Die Phantasie lebt noch vom Worte; die literarische Darstellung einer erschauten Wirklichkeit überwiegt noch bei weitem diejenige der bildenden Kunst. Im schriftlichen Ausdruck hatte ja der Geist die ungebrochene Tradition von Jahrhunderten klassischer und biblischer Rede. Jenes vortrefflich an Antike und Christentum geschulte Denken, jene raffinierte literarische Gewandtheit eines Abaelard, eines Johann von Salisbury, die frei über die Schätze einer hohen und alten Kultur verfügten, scheinen uns in seltsamen Widerspruch, oder doch Distanz, zur anscheinend archaïschen und hieratischen Kunst, welche erst das Ende ihres Jahrhunderts hervorbringt. Dass wir modernen Visualisten, delatinisiert und zum Teil dechristianisiert, mit empfindlicherer Bewunderung das älteste Portal oder die Glasfenster von Chartres ansehen, als wir denPolicraticus lesen, hat hier nichts zu sagen.

Eines sollte man bei dieser Vergleichung der kulturellen Funktion des Sehens und des Denkens einer Periode nicht vergessen: eine bildlose Welt heisst nicht eine farblose Welt. Der äussere Anblick der Kulturwelt des zwölften Jahrhunderts muss polychrom genug gewesen sein. Die fröhliche und lebendige Skala von Blau, Grün, Weiss, Rot, die bis in die neueste Zeit sich in Bauerngegenden behauptet hat, bot sich ohne Zweifel überall dem mittelalterlichen Auge dar. Für die Gebildeten hat es in Geweben, Edelsteinen, Metall und Elfenbein immer eine Übung des Farbensinnes gegeben. Gerade in dieser Zeit

Referenties

GERELATEERDE DOCUMENTEN

Indien er sedert de wet van 1876 weinig stemmen meer zijn gehoord tegen het curatorenstelsel, zoodat men het zelfs zonder noemenswaarde tegenspraak heeft kunnen navolgen bij

Gegeven als feitelijk bestaande toestand, dat de Rijksarchitecten in de eerste plaats de hoofden zijn van uitgebreide bouwkundige bureaux, en gegeven de niet zoo groote beteekenis,

Toen alle jongens er waren, begon achter op de bovenkerkvloer, in de felste aflichting der waterklare hoog-vensters, tegen het groote altaar op, de mis van den direkteur, het

Goud in haar eigen afglans staat de maan, En gaat over in haar wijkenden gloed, En de nacht, diep blauw, rijst haar tegemoet, En doet zijn diep blauw in haar overgaan.. En 't

En toen zij opstond, stond ik ook naast haar - Nog fonkelde zij voor mij van heur haar En van haar oogen - lei ze nog haar hoofd Dicht aan het mijne en ik zag gedoofd Worden haar

Wanneer nu een kunstenaar, in de oude maatschappij geboren en opgevoed, door de een of andere oorzaak begint te bespeuren dat hij verzwakt - immers het kan zijn, en het is ook

En één verhief zich met een wit gelaat En eischte alles, en zijn oogen drongen Bij de vergad'ring in: zij konden niet Anders dan alles eischen, want zij waren Niets, niets, niets,

Zooals in het Hoofd van den Kunstenaar, Na langen strijd van bittre donkerheid, Alles klaar wordt, de Maatschappij één Beeld Van Schoonheid in het klaar stralend Heelal, Door het