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Sterbehilfe in Deutschland

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Academic year: 2021

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- ein sensibles Thema –

Sterbehilfe: “absichtliche Herbeiführung des Todes bei unheilbar Kranken durch Medikamente od. durch Abbruch der Behandlung.”

Masterscriptie Duitslandstudies Rijksuniversiteit Groningen Code: LDD999M20

Dozent: Dr. P.O.H. Groenewold Autorin: Ellen Schaafsma

Studentnummer: 1465007 Bezettingslaan 186

9728 EM Groningen

e.schaafsma@student.rug.nl | eschaafsma@hotmail.com +31(0)613845404

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Sterbehilfe in Deutschland: ein sensibles Thema | 2

Sterbehilfe in Deutschland

- ein sensibles Thema –

von

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Sterbehilfe in Deutschland: ein sensibles Thema | 3

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Sterbehilfe in Deutschland: ein sensibles Thema | 4

Inhaltsverzeichnis

1. Vorwort 6 2. Sterbehilfe erklärt 9 2.1. Zu Beginn 9 2.2. Sterbehilfe definiert 9

2.2.1. Sterbehilfe und Euthanasie: Bedeutungsunterschiede 9

2.2.2. Aktive Sterbehilfe 10

2.2.3. Passive Sterbehilfe 11

2.2.4. Indirekte Sterbehilfe 11

2.2.5. Assistierter Suizid 12

3. Eine tragische Geschichte 13

3.1. Zu Beginn 13

3.2. Ein historisches Trauma: Aktion T4 13

3.2.1. Die Pläne 13

3.2.2. Die Organisation 14

3.2.3. Die Exekution 15

3.3. Die "Kindereuthanasie" 17

3.4. Die Ansicht der Deutschen zu "Euthanasie" zur Zeit des Zweiten

Weltkrieges 18

3.5. Die Folgeerscheinungen der "Euthanasie": die "Endlösung" 20

4. Eine ethische Frage 21

4.1. Zu Beginn 21

4.2. Die aktuelle deutsche Sterbehilfedebatte 21 4.2.1. Die Sterbehilfediskussion entbrennt wieder: der 66.

(5)

Sterbehilfe in Deutschland: ein sensibles Thema | 5 4.2.2. Ein strittiges Problem: Roger Kusch 22 4.2.3. Eine revolutionäre Reform: der Fall Erika Küllmer 22

4.3. Gemischte Gefühle 24

4.3.1. Die Statistiken 24

4.3.2. Die Kirche in Deutschland und ihre Mitglieder 24

4.3.3. Generationsunterschiede 31

4.3.4. Der Osten und der Westen: unterschiedliche

Anschauungen 33

4.3.5. Die Politik 34

4.3.6. Die Ärzte 40

5. Die niederländische Sterbehilfepolitik: ein Muster für Deutschland? 43

5.1. Zu Beginn 43

5.2. Das niederländische Sterbehilfegesetz: die Kernpunkte 43 5.3. Deutschland und die Niederlande: unterschiedliche Gesellschaften 45 5.3.1. Die Bürde des Zweiten Weltkrieges 45 5.3.2. Die Säkularisierung in den Niederlanden 46

6. Fazit 48

(6)

Sterbehilfe in Deutschland: ein sensibles Thema | 6

1. Vorwort

Im Jahre 2005 wurde in Amerika eine heftige Diskussion über das Schicksal einer Frau geführt. Diese Frau war die 41-jährige Terri Schiavo. Sie lag nach einem Herzanfall schon fünfzehn Jahre im Koma. Ihre Ärzte mutmaßten, dass sie diesen Herzanfall infolge der Essstörung Bulimie erlitten hatte. Nach dieser Herzattacke vegetierte sie vor sich hin ohne Aussicht auf Verbesserung. Ihr Ehemann wollte sie von ihrer Qual erlösen, weil er der Meinung war, ihr Leben war sinnlos geworden und sie verdiente es mit Würde zu sterben. Er behauptete, dass sie vor ihrem Herzanfall zu ihm gesagt hatte, nie als eine Art

Treibhauspflänzchen leben zu wollen. Der Richter beschloss, ihre Sonde entfernen zu lassen. Die Eltern von Schiavo fochten die Entscheidung des Gerichts aber an, weil sie der Auffassung waren, dass ihre Tochter ihrem Leben aus religiöser Überzeugung – Schiavo war katholisch - kein Ende setzen wollte. Dem Ehemann wurde schließlich recht gegeben. Terri Schiavo starb dreizehn Tage, nachdem ihre Sonde entfernt worden war.

Das oben stehende Ereignis ist nur ein Beispiel der Kontroverse um Sterbehilfe, aber es ist vielleicht eines der bekanntesten. Diskussionen über die Zulässigkeit der Sterbehilfe werden heute weltweit überall geführt. Die Vergreisung der Gesellschaft wird seit einigen Jahren ständig größer. In den westeuropäischen Ländern hat man hiermit am meisten zu

kämpfen. Es ist deswegen denn auch nicht so verwunderlich, dass vor allem in diesen Ländern seit einigen Jahren eine Belebung der Sterbehilfedebatte stattfindet, denn immer mehr Menschen wünschen sich ein "würdiges Lebensende".

In dieser Arbeit steht die deutsche Sterbehilfedebatte im Mittelpunkt. Sterbehilfe ist auch in Deutschland ein aktuelles, aber sensibles Thema, vor allem aus historischer Sicht. Zur Zeit des Zweiten Weltkrieges wurde ein "Euthanasieprogramm" eingeführt, das zum Ziel hatte, sowohl geistig als körperlich behinderte Menschen und Psychiatrie-Patienten zu ermorden. Dieses Programm wurde unter dem berüchtigten und gehassten Namen Aktion T4

bekannt und sollte die Entwicklung der deutschen Bevölkerung zu einer reinen germanischen Rasse beschleunigen. Mehr als 100.000 Menschen fielen dieser

(7)

Sterbehilfe in Deutschland: ein sensibles Thema | 7 Dass Sterbehilfe noch immer ein aktuelles Thema in Deutschland ist, beweist das Urteil des Bundesgerichtshofs im Juni 2010, in dem das Sterbehilfegesetz ergänzt wurde und Sterbehilfe hierdurch in manchen Fällen unter bestimmten Bedingungen erlaubt ist. Die Meinungen zu diesem Urteil sind aber geteilt. Befürworter und Gegner der Sterbehilfe gibt es seit der Entstehung dieser Frage.

Kernpunkt dieser Arbeit ist denn auch der Widerwillen, den ein erheblicher Teil der deutschen Bevölkerung bei Sterbehilfe empfindet. Die Masterthese beziehungsweise die zentralen Fragen dieser Arbeit lautet/lauten:

Warum ist Sterbehilfe in Deutschland noch immer ein sensibles Thema? Was sind die Ursachen für das Fehlen einer einheitlichen deutschen

Sterbehilfepolitik? Könnten die Niederlande beim Zustandekommen so einer Politik für die Deutschen als Vorbild dienen?

Die Antwort auf die Masterthese wird am Ende gegeben. Jedes Kapitel wird diese Fragen teilweise beantworten, sodass am Ende in der Schlussfolgerung eine vollständige Antwort gegeben werden kann.

(8)
(9)

Sterbehilfe in Deutschland: ein sensibles Thema | 9

2. Sterbehilfe erklärt

2.1. Zu Beginn

Sterbehilfe, was ist das denn überhaupt? In diesem Kapitel wird die Bedeutung dieses Begriffs nachgeprüft. Wie kann man Sterbehilfe genau definieren und gibt es eigentlich schon einen wesentlichen inhaltlichen Unterschied zwischen den Begriffen "Sterbehilfe" und "Euthanasie", oder gibt es für die Deutschen nur eine Verschiedenheit aus

gefühlsmäßiger Sicht? Nachdem der Inhalt des Wortes "Sterbehilfe" mit einer Definition erläutert ist, folgt ein Aufriss der unterschiedlichen Arten von Sterbehilfe. Hier wird dem Leser eine Vorstellung dieser Erscheinungsformen in Bezug auf die Sterbehilfe gegeben. Dabei soll man sowohl einen Unterschied machen zwischen aktiver und passiver

Sterbehilfe als auch zwischen direkter und indirekter Sterbehilfe. Diese unterschiedlichen Erscheinungsformen kommen in den nächsten Kapiteln wieder an die Reihe. Dieses Kapitel bildet also die Grundlage für ein gutes Verständnis der deutschen Sterbehilfeproblematik.

2.2. Sterbehilfe definiert

2.2.1. Sterbehilfe und Euthanasie: Bedeutungsunterschiede

Wenn man sich das deutsche Universalwörterbuch Duden anschaut, findet man unter dem Begriff "Sterbehilfe" einen Verweis auf das Wort "Euthanasie". Daraus geht hervor, dass beide Wörter teilweise gleichbedeutend sind. Die Begriffe "Euthanasie" und "Sterbehilfe" werden im Duden folgendermaßen definiert:

“absichtliche Herbeiführung des Todes bei unheilbar Kranken durch Medikamente od. durch Abbruch der Behandlung.”1

Der Begriff "Euthanasie" hat daneben aber auch noch zwei andere Bedeutungen, die er nicht mit dem Wort "Sterbehilfe" teilt. Die erste Definition lautet:

(10)

Sterbehilfe in Deutschland: ein sensibles Thema | 10 Dieser Inhalt bringt aber keine Probleme mit sich. Es ist gerade die zweite Bedeutung, die ein unangenehmes Gefühl bei den Deutschen hervorruft. Die zweite Definition des Begriffs "Euthanasie" heißt:

“nationalsoz. verhüll.) systematische Ermordung psychisch kranker und behinderter Menschen.”3

Vor allem die zweite Definition muss man hier beachten. Hieraus kann man schließen, dass die Bedeutung des Begriffs "Euthanasie" ein gewisses Gefühl des Unbehagens bei den Deutschen hervorrufen kann. Dieses Wort erinnert sie nämlich noch regelmäßig an das "Euthanasieprogramm" der Nazis, das während des Zweiten Weltkrieges unter dem bekannten und häufig gehassten Namen Aktion T4 eingeführt wurde. Dieser Aktion wird übrigens im nächsten Kapitel ausführlich Aufmerksamkeit geschenkt. Euthanasie wird deshalb noch immer mit dem Mord an psychisch kranken und behinderten Menschen assoziiert. Bei dem Begriff "Sterbehilfe" wird aber eher an die Beendigung des Lebens eines unerträglich und unnötig leidenden Patienten gedacht. Die Bedeutungen beider Begriffe unterscheiden sich insbesondere darin, dass es sich bei Sterbehilfe um einen freiwilligen Austritt aus dem Leben handelt – der Patient hat hier deutlich selber um die Beendigung seines Lebens gebeten -, während die Nazis sich überhaupt nicht um den Willen des Patienten kümmerten, wodurch Tausende von Menschen ungewollt umgebracht wurden. Deswegen reden die Deutschen noch immer von "Sterbehilfe" und nicht von "Euthanasie".

2.2.2. Aktive Sterbehilfe

Wenn man sich mit dem Thema Sterbehilfe befasst, muss man drei verschiedene Formen unterscheiden, nämlich aktive, passive und indirekte Sterbehilfe. Bei aktiver Sterbehilfe bekommt der Patient ein tödlich wirkendes Mittel – meistens eine tödliche Spritze -, worauf der Tod unvermeidlich eintritt. Dieses tödliche Mittel wird dem Patienten verabreicht, das heißt, er nimmt dieses Mittel nicht selbst ein. Eine direkte, aktive Sterbehilfe ist im Moment in Deutschland strafbar. Eine Person, die sich an dieser direkten, aktiven Sterbehilfe beteiligt, kann zu fünf Jahren Freiheitsstrafe wegen Totschlags verurteilt werden.4

3

Kunkel-Razum 2007, 1516

4

(11)

Sterbehilfe in Deutschland: ein sensibles Thema | 11 2.2.3. Passive Sterbehilfe

Bei aktiver Sterbehilfe wird also etwas verabreicht, zum Beispiel eine Spritze, das direkt zum Tode führt. Bei passiver Sterbehilfe oder Sterbenlassen wird willentlich etwas nicht

verabreicht. Lebensverlängernde Maßnahmen werden unterlassen oder abgebrochen. Medikamente werden einem Patienten nicht mehr gegeben und die Beatmung wird beendet. Hier wird also im Gegensatz zu aktiver Sterbehilfe etwas unterlassen, wodurch der Patient letztendlich stirbt. Diese Maßnahmen werden unterlassen oder abgebrochen, wenn Behandlung einer Krankheit nicht mehr indiziert ist. Die Behandelung einer

Krankheit kann aber auch auf Verlangen des Patienten beendet werden. Passive Sterbehilfe ist in Deutschland erlaubt.5

2.2.4. Indirekte Sterbehilfe

Unter indirekter Sterbehilfe versteht man das Verabreichen von Medikamenten, die die Schmerzen lindern. Als Folge dieser Medikamente tritt der Tod aber auch schneller ein. Diese Medikamente werden vor allem bei Krebskranken angewandt. Medikamente, wie Morphin mildern zwar den Schmerzen dieser unheilbar Kranken, aber haben als

Nebeneffekt, dass diese Patienten schneller sterben. Die Qualität des Lebens verbessert sich also auf Kosten der Lebensdauer. Die allgemeine Haltung hierzu ist aber, dass die Vorteile die Nachteile aufwiegen. Diese Form der Sterbehilfe wird deshalb in Deutschland nicht unter Strafe gestellt. Ein Arzt macht sich also keiner strafbaren Handlung schuldig, wenn er seinem schwerkranken Patienten diese Medikamente verabreicht. Schlimmer noch, ein deutscher Arzt kann sogar bestraft werden, wenn er sich weigert, einem unheilbar Kranken diese Medikamente zu verabreichen, weil er nicht will, dass der Patient vorzeitig stirbt. Der Arzt kann dann wegen unterlassener Hilfeleistung oder Körperschaden verfolgt werden. Diese Form der indirekten Sterbehilfe wird auch schon indirekte aktive Sterbehilfe, terminale Sedierung oder palliative Sedierung genannt.6

5

http://www.sterbehilfe-info.de/sterbehilfe-was-bedeuten-die-begriffe-eigentlich/

6

(12)

Sterbehilfe in Deutschland: ein sensibles Thema | 12 2.2.5. Assistierter Suizid

Assistierter Suizid oder “Beihilfe zum Freitod” ist auch eine Form der Sterbehilfe. Er fällt aber weder in den Bereich der aktiven noch unter die Kategorie der passiven Sterbehilfe. Es wird hier nichts verabreicht und auch nichts unterlassen. Bei assistiertem Suizid wird dem

Patienten bei seiner verlangten Selbsttötung geholfen. Das Mittel, das dieser Patient

bekommt und das letztlich zum Tod führt, nimmt er selbst ein. Dieses Mittel wird aber nicht, wie bei aktiver Sterbehilfe der Fall ist, einem Patienten vom behandelnden Arzt verabreicht, sondern wird dem Patienten “"nur" zur Verfügung gestellt”7. Selbstmord wird in

(13)

Sterbehilfe in Deutschland: ein sensibles Thema | 13

3. Eine tragische Geschichte

3.1. Zu Beginn

Während des Zweiten Weltkrieges wurden die unheilbar Kranken oder die

“Ballastexistenzen”9, wie diese Menschen respektlos genannt wurden – sie kosteten den Staat ja nur Geld und waren meistens nicht arbeitsfähig – in "Tötungsanstalten"

transportiert, in denen sie den "Gnadentod" bekamen. Die Art und Weise, wie diese Menschen starben, durch Gas, war menschenunwürdig. Dieser Vorgang wurde von den Nazis als "Euthanasie" bezeichnet. Heute wird hierüber selbstverständlich noch immer mit Empörung gesprochen. Dieses "Euthanasieprogramm", das unter dem verrufenen Namen Aktion T4 bekannt wurde, ist denn auch ein dunkles Kapitel in der deutschen Geschichte. Dieses Kapitel wird unter anderem einen Aufriss der erschütternden Ereignisse während dieser Aktion geben. Auch wird aber die "Kindereuthanasie" besprochen, die vielleicht weniger bekannt ist, aber genauso grausam. Dieses Kapitel erklärt eigentlich schon teilweise, weshalb so viele Deutsche unüberwindliche Einwände gegen Sterbehilfe vorbringen.

3.2. Ein historisches Trauma: Aktion T4

3.2.1. Die Pläne

Schon im Jahre 1935 – vier Jahre bevor der Zweite Weltkrieg ausbrach - wurde in Deutschland zum ersten Mal über "Euthanasie" gesprochen und zwar während des nationalsozialistischen Parteitages der Freiheit, der von 10. bis zum 16. September in Nürnberg stattfand. Der damalige Reichsärzteführer Dr. Wagner verkündete während dieser Konferenz in seiner Rede die nazistische Ansicht, dass die Annahme, dass alle

Menschen gleich sind eine überholte Anschauung ist. Die Idee der Gleichheit würde sogar verwerflich sein. Wagner behauptete, dass Psychiatrie-Patienten – die sogenannten

Geisteskranken - den deutschen Staat jährlich eine Menge Geld kosten und gesunde Menschen benachteiligten. Auch Hitler war dieser Ansicht. Heimlich wurde versucht, eine Lösung für dieses sogenannte "Problem" zu finden.

9

(14)

Sterbehilfe in Deutschland: ein sensibles Thema | 14 Die beabsichtigten Maßnahmen gegen die Geisteskranken wurden in einem Erlass festgelegt, der erst Anfang Oktober 1939 in Kraft trat. Dieser berüchtigte Erlass war kein wirkliches Gesetz, aber wurde schon als solches betrachtet. Über dessen Inhalt und Formulierung wurde heftig diskutiert. Letztendlich entschloss man sich, dass nicht nur die Geisteskranken mittels "Euthanasie" getötet werden durften. Alle unheilbar Kranken, sowohl geistig als körperlich, konnten wenn nötig zum "Gnadentod" – ein Euphemismus für

Euthanasie – verurteilt werden. Die Nazis sprechen hier über "Euthanasie", aber tatsächlich ist hiervon gar keine Rede, weil weder der kranke Patient noch die Familie dieses Patienten Zustimmung zu seinem Tod erteilt hatte. Der Terminus "Massenmord" ist im Licht der künftigen Ereignisse eine mehr geeignete Bezeichnung für Aktion T4, das Programm der Nazis.10

3.2.2. Die Organisation

Die Nazi-Ärzte wurden über den Erlass und dessen Nutzen unterrichtet. Die Maßnahmen, die ergriffen wurden, mussten Ärzte in einer Heil-und Pflegeanstalt mehr Zeit für andere Patienten geben und außerdem konnten die Anstalten auf diese Weise zu anderen Zwecken verwendet werden. Versprochen wurde diesen Ärzten, dass sie nie wegen ihrer Taten verfolgt würden. Nur ein Arzt weigerte sich, an diesen Plänen mitzuwirken.

Im Herbst des Jahres 1939 wurde mit Aktion T4, dem "Euthanasieprogramm" der Nazis, angefangen. Dieses Programm leitet seinen Namen von der Straße ab, in der die

Organisation, die mit der Ausführung der "Euthanasie" beauftragt war, ihren Sitz hatte, nämlich Tiergartenstrasse 4 in Berlin. Es ist auffallend, dass Hitler hinsichtlich Aktion T4 nicht als Staatschef, sondern als eine Art "Vater" des deutschen Volkes fungierte und damit die völlige Verantwortung für den Erlass und die daraus erwachsende "Euthanasie" auf sich nahm.

Die Tötung so vieler behinderter Erwachsener erforderte eine große Anstrengung. Die Kanzlei des Führers, das Privatsekretariat Hitlers, war mit der Ausführung der

vorbereitenden Arbeit beauftragt. Auch musste das Innenministerium von den Plänen in Kenntnis gesetzt werden, denn die Volksgesundheitabteilung fiel unter dessen Bereich und die Mitarbeit dieser Abteilung war erfordert. Wie bereits erwähnt wurde, mussten die richtigen Nazi-Ärzte für das Programm gewählt werden und über den Erlass und die dazugehörige Aktion unterrichtet werden. Beamte wurden mit der Verwaltungsarbeit und

10

(15)

Sterbehilfe in Deutschland: ein sensibles Thema | 15 den Finanzen belastet. Zum Aufgabenpaket eines Beamten gehörte aber auch der

Transport der "Euthanasieopfer" und das Schreiben von "Trostbriefen", was an sich schon eine ganz heuchlerische Sache war. Alles in allem war die Organisation dieser Aktion ein bürokratisches Unterfangen und außerdem war von Offenheit keine Rede.

Vetternwirtschaft spielte eine dominierende Rolle beim Einstellen von Personal und fast alle an der Aktion beteiligten Ärzte wurden aus der SS rekrutiert. Ein erheblicher Anteil des Personals arbeitete unter Tarnnamen, um seinen Nazi-Hintergrund zu verbergen.11

3.2.3 Die Exekution

Nachdem die letzten Vorbereitungen getroffen waren, startete Aktion T4. Es musste aber sofort eine wichtige Frage gelöst werden. Sie betraf die Art und Weise, wie die Patienten umgebracht würden. Der berüchtigte Arzt "Dr. W." untersuchte die Wirkung verschiedener tödlicher Stoffe, wie Skopolamin, Morphin, Cyanwasserstoff und Kohlenmonoxid. Er

entschied sich schließlich für Kohlenmonoxid, weil dieser Stoff am meisten für eine Großaktion geeignet war. Schloss Grafeneck in Baden-Württemberg wurde die erste deutsche "Tötungsanstalt". In diesem Schloss befand sich ursprünglich einst ein

Invalidenheim, das aber zugunsten der Aktion T4 geräumt wurde. Im Januar 1940 war Schloss Grafeneck als "Tötungsanstalt" gebrauchsfertig. Bald darauf wurden noch vier andere "Tötungsanstalten" geöffnet. Über diese "Anstalten" durfte man aber nicht frei im Gespräch sein. In Telefongesprächen und im Briefverkehr wurde deshalb eine

Geheimschrift eingesetzt.

Alle administrativen Angelegenheiten wurden sorgfältig geregelt. Die Formulare, die zur Registrierung der unterschiedlichen Patienten in Heil- und Pflegeanstalten ausgefüllt

werden mussten, wurden so abgefasst, dass die Absicht dieser Registrierung – die Selektion dieser Patienten zugunsten des "Euthanasieprogramms" – nie zum Ausdruck kam. Die Bereitschaftsärzte dieser Anstalten waren dadurch der Ansicht, es werde auf Basis der Arbeitsfähigkeit der Patienten eine Auswahl gemacht. Bei der Ausfüllung dieser Formulare mussten aber nicht nur die Patienten angegeben werden, die an einer geistigen oder körperlichen Krankheit, wie Schizophrenie oder Schwachsinn litten, sondern auch die sogenannten "Langverwahrten", das heißt Patienten, die sich länger als fünf Jahre in einer Heil- und Pflegeanstalt befanden, Kriminelle und Patienten, die nicht die deutsche

Staatsangehörigkeit besaßen oder nicht deutschen oder artverwandten Blutes waren –

11

(16)

Sterbehilfe in Deutschland: ein sensibles Thema | 16 hauptsächlich Juden, aber auch Zigeuner und Neger - sollten ausdrücklich erwähnt

werden. Diese Daten zeigen, dass die Registrierung der Patienten wenig mit "Euthanasie" oder dem "Gnadentod" für unheilbar Kranke zu tun hatte – Juden sind ja nicht unheilbar krank -.

Wie schon gesagt wurde, bewirkten die "Euthanasiepläne" auf die Dauer einen Leerstand verschiedener Heil- und Pflegeanstalten. Diese ehemaligen Anstalten und die

dazugehörigen Ärzte wurden hinfort zugunsten der Kriegsführung eingesetzt – eine Heil- und Pflegeanstalt wurde fortan zum Beispiel ein Krankenhaus für verwundete Soldaten der deutschen Armee -.

Die gewissenlose Art und Weise, wie danach über das Schicksal eines Patienten beschlossen wurde, war erschütternd. Die "Gutachter" beschlossen anhand von Formularen zur Registrierung der Patienten über Leben und Tod. Auf dieses Formular wurde dann ein Symbol geschrieben, das – oder + sein konnte. Diese Symbole bedeuteten "Leben" beziehungsweise "("Gnaden")Tod". "Leben" hieß weiterleben in einer Heil- und Pflegeanstalt, während "("Gnaden")Tod" Deportation in eine der unterschiedlichen

"Euthanasieanstalten" bezeichnete. Innerhalb von nicht mehr als drei Tagen wurden mehr als 300 Patienten nach "Beurteilung" dieser Formulare zum Tode verurteilt. Der Entschluss, einen Patienten mittels "Euthanasie" zu töten, wurde innerhalb von nur ein paar Minuten gefasst. Das Leben eines Menschen war im Dritten Reich also nicht viel wert.

Für Patienten, die zum Tode verurteilt waren, gab es sehr wenig Hoffnung. Nur die

"Zwischenanstalten", zu denen die Patienten von den Heil- und Pflegeantalten transportiert wurden, boten dem Menschen eine geringfügige Möglichkeit, dem Tode zu entkommen. Danach wurden alle übrigen Patienten unmittelbar in die Gaskammern geschickt und dort mithilfe von Kohlenmonoxid getötet. Die Körper wurden darauf verbrennt, ohne vorher zu konstatieren, dass die Menschen wirklich gestorben waren.

Die "Trostbriefe" sollten die Familie des Verstorbenen danach über dessen Tod unterrichten. Als Todesursache wurde in den Briefen immer eine natürliche Todesursache, wie eine Hirnschwellung angegeben. Der Körper des Verstorbenen wurde der Familie

selbstverständlich wegen der Einäscherung, die schon stattgefunden hatte, nicht zur Verfügung gestellt. Hierfür bedacht man aber eine List. In den "Trostbriefen" wurde die Gefahr vor Infektionskrankheiten als Grund für diesen Beschluss angeführt. Diese Briefe führten aber zu Spekulationen über den wirklichen Hergang innerhalb dieser Anstalten, weil die Erkrankungen, an denen die Patienten angeblich gestorben waren, ihnen

(17)

Sterbehilfe in Deutschland: ein sensibles Thema | 17 nämlich unmöglich gelitten haben. Dies schürte den Argwohn der Familie. Der

nachstehende kurze Brief ist ein Vorbild so eines Trostbriefes. Dieser Brief sollte als Beispiel eines "geeigneten Trostbriefes" dienen. Auf die Leerstellen konnte jeder willkürliche Name einer Frau ausgefüllt werden.

Landespflegeanstalt Grafeneck Münsingen, den 6. Aug. 1940 Frau B…..Sch…..,Z….

Sehr geehrte Frau Sch.!

Es tut uns aufrichtig leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihre Tochter F….Sch…, die am 26. Juli 1940 im Rahmen von Massnahmen des

Reichsverteidigungskommissars in die hiesige Anstalt verlegt werden musste, hier am. 5 August 1940 plötzlich und unerwartet an einer Hirnschwellung verstorben ist. Bei der schweren geistigen Erkrankung bedeutete für die Verstorbene das Leben eine Qual. So müssen Sie ihren Tod als Erlösung auffassen. Da in der hiesigen Anstalt z. Z. Seuchengefahr herrscht, ordnete die Polizeibehörde sofortige Einäscherung des Leichnams an. Wir bitten um Mitteilung, an welchen Friedhof wir die Übersendung der Urne mit den sterblichen Überresten der Heimgegangenen durch die Polizeibehörde veranlassen sollen… Etwaige Anfragen bitten wir schriftlich hierher zu richten, da Besuche hier gegenwärtig aus seuchenpolizeilichen Gründen verboten sind…

Gez.: Dr. Koller.12 Auch hier wird vorgeschützt, dass die Tochter dieser Mutter an einer Hirnschwellung gestorben ist. Man spricht hier sogar von einer Erlösung, weil diese Frau das Leben angeblich nicht mehr verkraftete. Tausende von Müttern bekamen während des Zweiten Weltkrieges diese Briefe.13

3.3. Die "Kindereuthanasie"

Schon vor der Entstehung des Erlasses, der "Euthanasie" für unheilbar kranke Erwachsene ermöglichte, war "Kindereuthanasie" schon erlaubt. Der Reichsausschuss zur

wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingtem Leiden war verantwortlich für die Tötung zahlreicher behinderter Kinder in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg und während der Ära des Dritten Reiches. Er war zum Teil der Anlass für Aktion T4. Die

"Maßnahmen" des Reichsausschusses sollten den behinderten Kindern angeblich unnötiges schweres Leiden während ihres Lebens ersparen. In der Anfangsphase wurden nur

Neugeborene und junge Kinder bis zum Alter von zwei Jahren getötet. Am Ende erlitten

12

Menges 1972, 16 ff.

13

(18)

Sterbehilfe in Deutschland: ein sensibles Thema | 18 aber auch ältere Kinder und sogar Erwachsene dasselbe Schicksal. Außerdem wurden nicht nur geistig und körperlich behinderte Kinder, wie Kinder mit Down-Syndrom, umgebracht, sondern auch jüdische und halbjüdische Kinder. Wenn das Schicksal eines Kindes einmal feststand, wurde das Kind zu der "Kinderfachabteilung" einer Anstalt transportiert. Da schlief es innerhalb von drei Tagen ein als Folge einer Überdosis Medikamente.14

3.4. Die Ansicht der Deutschen zu "Euthanasie" zur Zeit des Zweiten Weltkrieges

Ein erheblicher Teil der Deutschen vermutete schon während des Zweiten Weltkrieges, dass die Nazis "Euthanasie" durchführten. Heute wird die "Euthanasie" der Nazis

verabscheut und von den Deutschen als unmenschliche Tat betrachtet. Im nächsten Kapitel wird verdeutlicht, dass die heutige deutsche Gesellschaft noch immer Probleme mit der menschenunwürdigen Form der Euthanasie oder Sterbehilfe hat, wie sie heute

bezeichnet wird. Fast unwillkürlich geht man davon aus, dass die Deutschen zur Zeit des Zweiten Weltkrieges unsere Anschauung zu "Euthanasie" teilten. Was war während des Zweiten Weltkrieges aber die Haltung der Deutschen zu "Euthanasie"? Könnte es sein, dass die Deutschen damals der "Euthanasie" gar nicht so negativ gegenüberstanden?

Schon im Jahre 1920 wurde eine Umfrage veranstaltet, die zum Ziel hatte, zu

untersuchen, welcher Meinung die Eltern eines schwachsinnigen Kindes, das in einer Heil- und Pflegeanstalt wohnt, zu "Euthanasie" sind. Die Eltern wurden gebeten, vier Fragen hierzu zu beantworten. Es ging dabei um die folgenden Fragen:

1. Würden Sie auf jeden Fall in eine schmerzlose Abkürzung des Lebens Ihres Kindes einwilligen, nachdem durch Sachverständige festgestellt ist, dass es unheilbar blöd ist?

2. Würden Sie diese Einwilligung nur für den Fall geben, dass Sie sich nicht mehr um Ihr Kind kümmern können z.B. für den Fall Ihres Ablebens?

3. Würden Sie die Einwilligung nur geben, wenn das Kind an heftigen körperlichen oder seelischen Schmerzen leidet?

4. Wie stellt sich Ihre Frau zu den Fragen 1 bis 3?15

14

Menges 1972, 10 ff.

15

(19)

Sterbehilfe in Deutschland: ein sensibles Thema | 19 Es wurden insgesamt 200 Eltern befragt. Nach dieser kurzen Umfrage hat sich erwiesen, dass sogar 73 Prozent dieser Eltern hinter dieser Art von "Euthanasie" stand, was bedeutete, dass 119 Eltern die Fragen mit "ja" beantwortet hatten. Es ist staunenswert, dass ein

erheblicher Teil der Eltern dieser behinderten Kinder nur wenige Probleme mit diesen bedenklichen Praktiken hatten. Ein großer Teil dieser Eltern setzte aber hinzu, dass sie selber nicht über das Schicksal ihres Kindes entscheiden konnten, aber dass sie den Rat des Arztes befolgten. Die Haltung dieser Eltern zu ihren schwachsinnigen Kindern war in dieser Zeit leider nicht einzigartig. Die Familie eines erwachsenen Geisteskranken handelte genauso wie diese Eltern. Es war damals zwar die Rede von Unruhe in der deutschen Gesellschaft, aber dieser Unruhe lagen oft nur egoistische Motive zugrunde. Man fürchtete nämlich, selber Opfer der "Euthanasie" zu werden.

Trotzdem gab es auch noch wenige Eltern, die den Tod ihres Sohnes oder ihrer Tochter nicht ohne Weiteres akzeptierten. Sie ließen sich nicht mit einem zusammenhanglosen "Trostbrief" über den angeblichen Tod ihres Kindes abwimmeln. Diese Eltern übten deswegen auf eine bescheidene Weise Kritik an der Handlungsweise der Nazis. Sie schrieben Briefe, in denen sie um Aufschluss bezüglich der tatsächlichen Todesursache ihres Kindes baten. Mit diesen Briefen erreichten die Eltern aber nichts. Sie wurden von den Nazis nur als lästig erfahren und konnten den Verfasser dieser Briefe sogar gefährden. Es geschah regelmäßig, dass Familienmitglieder schriftlich unter Druck gesetzt wurden, aufzuhören nach einer Erklärung für den Tod ihres Sohnes zu fragen. Im nachfolgenden Teil eines Briefes wird der Vater eines ermordeten Jungen bedroht.16

Herr Fr. H., Philologe i.R.

Die Art und der Ton Ihres Schreibens vom 5.6.1944 geben mir Veranlassung, psychiatrische Erwägungen über Sie anzustellen. Ich kann daher nicht

umhin, Ihnen mitzuteilen, dass ich, falls Sie uns weiter mit Ihren Briefen belästigen, gezwungen bin, Sie durch den Amtsarzt untersuchen zu lassen. Letzten Endes haben Sie es mit einer öffentlichen Dienststelle zu tun, die Sie nicht nach Ihrem belieben angehen können.

(20)

Sterbehilfe in Deutschland: ein sensibles Thema | 20 3.5. Die Folgeerscheinungen der "Euthanasie": die "Endlösung"

Am Ende kann die Schlussfolgerung gezogen werden, dass Aktion T4 und die "Endlösung" – die endgültige "Lösung" der Judenfrage - miteinander in Zusammenhang stehen. Man kann sagen, dass Aktion T4 eigentlich den Weg für die "Endlösung" geebnet hat. Im

August 1941 wurde Aktion T4 ein Ende gesetzt. Kurz darauf wurden aber schon die ersten Vernichtungslager in Polen eröffnet. Diejenigen, die sich der "Euthanasie" in Deutschland schuldig gemacht hatten, wurden jetzt nach Polen geschickt, um da unter der Leitung der SS in den Todeslagern zu arbeiten. In den Vernichtungslagern Sobibor und Belzec

arbeiteten sogar fast ausnahmslos Mitarbeiter der Aktion T4.18

(21)

Sterbehilfe in Deutschland: ein sensibles Thema | 21

4. Eine ethische Frage

4.1. Zu Beginn

Das Thema Sterbehilfe stößt in Deutschland noch immer auf großen Widerstand. Diesem Widerwillen liegen verschiedene Ursachen zugrunde. Die bedenklichen

"Sterbehilfepraktiken", die während des Zweiten Weltkrieges unter dem Namen Aktion T4 bekannt wurden, sind nur ein wichtiger historischer Grund zum Protest. In der Debatte rund um das Thema Sterbehilfe spielt daneben unter anderem auch der Glaube eine bestimmende Rolle. Dieses Kapitel fängt an mit einem kurzen Aufriss der aktuellen deutschen Sterbehilfedebatte. Anhand dieses Abrisses gewinnt man einen Eindruck der heutigen erhitzten Diskussion, die über dieses Thema geführt wird. Anschließend an diesen einführenden Paragraphen werden in dem nächsten Paragraphen die unterschiedlichen Auffassungen hinsichtlich der Sterbehilfe in Deutschland gründlich unter die Lupe

genommen, aus historischer Perspektive betrachtet und analysiert.

4.2. Die aktuelle deutsche Sterbehilfedebatte

4.2.1. Die Sterbehilfediskussion entbrennt wieder: der 66. Deutsche Juristentag

Nach langjähriger Stille stand die Sterbehilfe in Deutschland im Jahre 2006 wieder zur Diskussion, als Prof. Dr. Torsten Verrel eine Bedeutungserweiterung des Begriffs "Sterbehilfe" befürwortete. Weiter wollte er die deutsche Sterbehilfe gesetzlich regeln, damit Verwirrung diesbezüglich künftighin vermieden werden könnte. Während des 66. Deutschen

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Sterbehilfe in Deutschland: ein sensibles Thema | 22 Nachhinein wurde viel Kritik an den Vorschlägen der Juristen geübt. Erst vier Jahre später würde es wirklich zu einer gesetzlichen Regelung in Bezug auf diese Form der Sterbehilfe kommen. Über das Zustandekommen dieser Regelung wird in dem Paragraphen Eine revolutionäre Reform: der Fall Erika Küllmer noch ausführlich berichtet.19

4.2.2. Ein strittiges Problem: Roger Kusch

Im Jahre 2008 wurde ein großes Trara um eine Initiative des Hernn Roger Kusch gemacht. Roger Kusch ist ein ehemaliger Justizsenator, Ex-CDU-Mitglied und Jurist, der sich seit Jahren als "Sterbehelfer" profiliert. Er ist ein überzeugter Verteidiger des

Selbstbestimmungsrechts. Er ist der Ansicht, dass jeder Mensch selbst bestimmen darf, wie er sein Leben beendet. Kusch spricht selber von “Autonomie am Lebensende”20. Sein Verein, Dr. Roger Kusch Sterbehilfe e.V., erregte großes Aufsehen, als er sich mit der

Entwicklung einer Selbsttötungs-Maschine befasste. Derjenige, der einen Todeswunsch hat, braucht nur auf den roten Knopf zu drücken, der den Prozess des Sterbens mittels zwei Giftspritzen unmittelbar und unumkehrbar in Gang setzt. Es waren aber die Kosten dieser "Beihilfe zum Suizid", die in Deutschland einen Sturm der Entrüstung veranlassten. Es stand Kusch nämlich frei, bis zu 8.000 Euro für seine Hilfe zu fragen. Die Gegner dieser Form der Sterbehilfe waren der Meinung, Kusch oder “Dr. Tod”21, wie er auch regelmäßig scherzend genannt wird, würde die Sterbehilfe mit seinem “Tod auf Bestellung”22 für seinen eigenen Gewinn ausnutzen. Indem er wirbt, kommerzialisiert er die Sterbehilfe. Am Ende wurde er beschuldigt, nur auf seinen eigen Vorteil bedacht zu sein. Die Kontroverse um Roger Kusch‟ bedenkliche Praktiken bewirkte nicht nur eine Belebung der deutschen diskussion über die Grenzen der Sterbehilfe, sondern rückte sie zugleich auch gut sechzig Jahre nach Aktion T4 wieder in ein schlechtes Licht.23

4.2.3. Eine revolutionäre Reform: der Fall Erika Küllmer

(23)

Sterbehilfe in Deutschland: ein sensibles Thema | 23 aber nur mit ausdrücklichem Einverständnis des Patienten. Dies hört sich an, als ob die Regeln in Deutschland, was die Sterbehilfe betrifft, eindeutig sind.

Trotzdem gibt es noch immer wenige Grauzonen in der deutschen Gesetzgebung. Ein Beispiel zur Illustration. In einem Krankenhaus liegt eine Frau schon fünf Jahre im Koma. Sie wird künstlich ernährt ohne Aussicht auf Verbesserung ihrer Lebensumstände. Vor ihrem Koma hat sie sich mit Nachdruck gegen eine künstliche Ernährung ausgesprochen. Ihre Tochter entschloss sich darauf auf Anraten ihres Anwalts, den Nahrungsschlauch durchzuschneiden, worauf die Frau eine Magensonde bekam. Innerhalb von vierzehn Tagen starb sie letztendlich eines natürlichen Todes. Der Anwalt der Tochter wurde dann wegen versuchten Totschlags angeklagt und zu einer Freiheitsstrafe von neun Montaten verurteilt. Die Begründung, die hierfür angeführt wurde, war, dass er sich einer direkten aktiven Sterbehilfe schuldig gemacht habe. Der Nahrungsschlauch wurde ja

durchgeschnitten und dies ist eine aktive Verrichtung. Streng genommen könnte diese Handlung aber auch in die Kategorie der passiven Sterbehilfe fallen, weil

lebensverlängernde Maßnahmen unterlassen wurden. Überdies wurde nichts verabreicht, wie eine Giftspritze. Trotzdem behauptete der Ankläger, es handelte sich hier um eine direkte aktive Sterbehilfe, die strafbare Form der Sterbehilfe. Am 25. Juni 2010 sprach der Bundesgerichtshof das endgültige Urteil, das auf Freispruch lautete. Der Richter

untermauerte seinen Grundsatzurteil darauf mit den folgenden Worten: “Wenn Kranke sich den Tod wünschen, darf ihre Behandlung nicht nur unterlassen, sondern nun auch aktiv abgebrochen werden. Dieses Tun ist nicht strafbar.”24 Patienten müssen diesen Wunsch aber schon in einer Verfügung festgelegt haben. Diese Verfügung “rechtfertigte nicht nur den Behandlungsabbruch durch bloßes Unterlassen weiterer Ernährung, sondern auch ein aktives Tun, das der Beendigung oder Verhinderung einer von ihr nicht oder nicht mehr gewollten Behandlung diente”.25 Diese Form des vermeintlichen aktiven Tuns fällt künftig nicht mehr unter die direkte aktive Sterbehilfe, sondern sie gehört zu der passiven Sterbehilfe, weil es sich hier um einen “Behandlungsabbruch”26 handelt. Damit wurde den Grauzonen im Bereich der deutschen Sterbehilfe ein vorläufiges Ende gesetzt.27

(24)

Sterbehilfe in Deutschland: ein sensibles Thema | 24 4.3. Gemischte Gefühle

4.3.1. Die Statistiken

Im Jahre 2008 wurde eine groß angelegte Untersuchung unter der deutschen

Bevölkerung in Bezug auf die Sterbehilfe durchgeführt, in der sie ihre Meinung zu diesem Thema äußern durften. Bei dieser Untersuchung wurde zwischen passiver und aktiver Sterbehilfe unterschieden.

Passive Sterbehilfe ist die Form der Sterbehilfe, die in Deutschland unter strengen Bedingungen erlaubt ist. Aus der vorgenannten Untersuchung stellt sich heraus, dass 72 Prozent - eine deutliche Mehrheit - der Deutschen für diese Form der Sterbehilfe sind, 11 Prozent sind aber dagegen und 17 Prozent der Deutschen sind unentschieden. Aktive Sterbehilfe, die Form der Sterbehilfe, die in Deutschland verboten ist, stößt auf mehr Widerstand. Trotzdem hat sich gezeigt, dass eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung aktiver Sterbehilfe positiv gegenübersteht. 58 Prozent der Deutschen haben gesagt, dass sie keine Probleme mit dieser Form der Sterbehilfe haben. 19 Prozent der Deutschen sind aktiver Sterbehilfe abgeneigt, während 23 Prozent sich noch ein Urteil bilden müssen. Trotz der großen Zahl der Befürworter der Sterbehilfe in Deutschland steht sie noch immer zur Debatte. Die Gegner der Sterbehilfe machen noch immer leidenschaftliche Versuche, der deutschen Sterbehilfepolitik Steine in den Weg zu legen. Jede gesellschaftliche Gruppe hat übrigens ihre eigenen Beweggründe für Proteste. Die nächsten Paragraphen beleuchten die auseinandergehenden Standpunkte verschiedener deutscher Gruppen und

Einrichtungen hinsichtlich der Sterbehilfe. Zugleich wird analysiert, wie sie überhaupt zu dieser Meinung gekommen sind.28

4.3.2. Die Kirche in Deutschland und ihre Mitglieder

Gut zwei Drittel der Deutschen bekennen sich zu einem Glauben. Fast 31 Prozent der deutschen Bevölkerung sind katholisch. Die deutschen Katholiken wohnen zum größten Teil in West- und Süddeutschland. 30,2 Prozent der Deutschen sind evangelisch (in den Niederlanden ist diese Richtung mit der protestantischen Kirche vergleichbar). Diese

Gruppe findet man vor allem im Norden Deutschlands. Sowohl die katholische als auch die evangelische Kirche lehnt eine aktive Sterbehilfe dezidiert ab. Die katholische und die

28

(25)

Sterbehilfe in Deutschland: ein sensibles Thema | 25 evangelische Kirche in Deutschland liegen aber im Bereich der Sterbehilfe auch regelmäßig nicht auf der gleichen Wellenlänge. Das nächste Beispiel zeigt, dass die evangelische Kirche eine etwas liberalere Haltung hinsichtlich der Sterbehilfe einnimmt als die katholische Kirche. Kurz nach dem Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs kam der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Präses Nikolaus Schneider, mit einer

aufsehenerregenden Reaktion auf den Beschluss, die gesetzlichen Bestimmungen bezüglich passiver Sterbehilfe zu lockern. Der Präses betrachtete die Ergänzung des

Sterbehilfegesetzes sonderbarerweise als eine positive Entwicklung. Zur Begründung dieses Standpunkts führte er den Fall von Erika Küllmer an:

Im konkreten Fall habe [Erika Küllmer] deutlich gemacht, dass sie keine lebensverlängernden Maßnahmen wünsche. Ihre Kinder hätten dafür gekämpft, diesen Wunsch der Patientin durchzusetzen. "Wir begrüßen, dass künftig in ähnlichen Fällen auch der Wille des jeweiligen Betroffenen in die Tat umgesetzt wird" […]. Nun hätten alle Beteiligten Rechtssicherheit. [Es gebe] "keine Verpflichtung des Menschen zur Lebensverlängerung um jeden Preis und auch kein ethisches Gebot, die therapeutischen

Möglichkeiten der Medizin bis zum Letzten auszuschöpfen" […]. Einen

Menschen sterben lassen sei bei vorher verfügtem Patientenwillen "nicht nur gerechtfertigt, sondern geboten".29

Die oben stehende Erklärung des Präses muss als eine erneuernde Sicht der evangelischen Kirche aufgefasst werden. Trotzdem betonte Schneider auch mit Nachdruck, dass die evangelische Kirche eine aktive Sterbehilfe – wie zuvor - noch immer mit aller

Entschiedenheit ablehnt. Die Kirche befürwortet zwar eine selbstbestimmte Vorsorge eines unheilbar Kranken, aber ist auch der Meinung, dass diese Selbstbestimmung nicht

unbegrenzt sein darf. Die EKD vertritt den Standpunkt, dass eine Bitte eines Patienten um aktive Sterbehilfe nie genehmigt werden darf. “Die gezielte Tötung eines Menschen in der letzten Lebensphase [ist] aus christlicher Sicht ethisch nicht vertretbar, auch wenn sie auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin erfolgt”30, so die EKD in einer Presseerklärung. In dem unten stehenden Zitat erklärt Landesbischof Christoph Kähler, weshalb die EKD gegen eine aktive Sterbehilfe ist.

Nach christlichem Verständnis liegen Leben und Sterben der Menschen in Gottes Hand. Deshalb sei das Abwarten des Todes die angemessene Haltung im Blick auf das – eigene und fremde – Sterben. „Das heißt nicht, dass Menschen im Blick auf den Tod nicht handeln dürften“, erklärt Kähler.

29

http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/0,1518,703058,00.html

30

(26)

Sterbehilfe in Deutschland: ein sensibles Thema | 26 „Es zeichnet den Menschen aus, dass er auch dazu bestimmt ist, sein Sterben

zu bedenken und zu gestalten.“31

Aus diesen Worten kann man entnehmen, dass die EKD der Ansicht ist, dass Sterbehilfe nur gestattet ist, unter der Bedingung, dass der Tod schon unmittelbar bevorsteht. Sie meint, dass diese Bedingung bei indirekter und passiver Sterbehilfe auch tatsächlich erfüllt ist. Im Falle passiver Sterbehilfe stirbt der unheilbar kranke Patient, weil ärztliche Hilfe

unterlassen wurde. Diese Hilfe würde das Leben des Schwerstkranken nur verlängern und der Tod, der schon bevorsteht, verschieben. Ohne diese Hilfe würde der Patient schon früher eines natürlichen Todes gestorben sein. Bei aktiver Sterbehilfe ist von einem natürlichen Tod aber überhaupt keine Rede. Der Sterbeprozess hat bei diesen Patienten noch nicht angefangen und sie würden nur sterben, wenn ihnen ein tödlich wirkendes Mittel - beispielsweise eine tödliche Spritze - verabreicht würde. Der Sterbemoment liegt hier also nicht mehr in Gottes Hand, sondern wird von den kranken Patienten selber bestimmt. Darüber hinaus behauptet die Kirche, die meisten unheilbar kranken Menschen hätten keinen Tötungswunsch, wenn es eine gute Alternative zum Sterben gäbe. “Oft wird ein Tötungswunsch schwerstkranker und sterbender Menschen aus der Verzweiflung geboren”32, erklärt der Ratsvorsitzende der EKD. Der EKD zufolge wäre eine Legalisierung der aktiven Sterbehilfe in Deutschland denn auch eine “Bankrotterklärung an die

Menschlichkeit”33.

Die EKD lehnt aber nicht nur eine aktive Sterbehilfe dezidiert ab, sondern auch eine Lockerung der gesellschaftlichen Konventionen und gesetzlichen Regelungen in Bezug auf Beihilfe zur Selbsttötung. Sie steht einer ärztlichen Mitwirkung bei Selbsttötung denn auch negativ gegenüber. Die EKD verurteilt die Gründung unterschiedlicher Organisationen, die Beihilfe zum Suizid leisten, stark, weil “im Vordergrund des Handelns solcher

Organisationen […] nicht ein Beratungsangebot mit lebensbejahenden Perspektiven [steht], sondern allein die rasche und sichere Abwicklung des gefassten

Selbsttötungsentschlusses”34, sagt der Ratsvorsitzende der EKD. Die Kirche warnt vor einer Kommerzialisierung der Sterbehilfe, weil sie zu einer Zunahme der Anzahl der

(27)

Sterbehilfe in Deutschland: ein sensibles Thema | 27 Möglichkeit, ihr Leben zu beenden, sondern auch depressiven und altersdementen

Menschen. Depressive Menschen haben aber noch Aussicht auf Besserung ihrer Krankheit und bei altersdementen Menschen steht der Tod nicht unmittelbar bevor. Die Kirche ist der Meinung, dass diejenigen, die Beihilfe zum Suizid leisten, respektlos mit dem Leben eines Menschen umgehen.

Die EKD lehnt also sowohl eine aktive Sterbehilfe als auch die Beihilfe zum Suizid ab. Sie hat ihre eigene Alternative zu diesen Formen der Sterbehilfe. Die Kirche sieht eine gute Sterbebegleitung als eine angemessene Lösung für das Sterbehilfeproblem. Sowohl die Linderung von Verzweiflung und Einsamkeit als auch das Mildern von Schmerzen mithilfe der Palliativmedizin fällt in den Bereich dieser Sterbebegleitung. Hospize spielen eine wichtige Rolle im Prozess der Sterbebegleitung. Ein Hospiz ist eine spezielle

Pflegeeinrichtung, die sterbende Menschen mittels Palliativpflege versorgt. Hospize sorgen dabei für Schmerzfreiheit und Lebensqualität statt Lebensquantität. Um einem unheilbar kranken Patienten eine so hoch mögliche Lebensqualität garantieren zu können, ist es wichtig, dass den Wünschen dieses Patienten hinsichtlich der restlichen Zeit seines Lebens nachgekommen werden. Die EKD ist deswegen ein Befürworter der Patientenverfügung, in der die Wünsche eines Patienten festgelegt sind.35

Die katholische Kirche teilt die positive Haltung der evangelischen Kirche hinsichtlich des Grundsatzurteils des Bundesgerichtshofs, die Regeln der passiven Sterbehilfe zu lockern, absolut nicht. In einer Reaktion hat sie gesagt, dass sie “Grundbedenken”36 gegen dieses Grundsatzurteil hat. Die katholische Kirche behauptet, der Beschluss des

Bundesgerichtshofs wird den Grauzonen im Bereich der deutschen Sterbehilfe kein Ende setzen, sondern er wird die Trennungslinie zwischen passiver und aktiver Sterbehilfe nur verunklaren. Sie hält eine klare Unterscheidung zwischen passiver und aktiver Sterbehilfe für äußerst wichtig. “Sie ist eine unentbehrliche ethische Entscheidungshilfe und scheint uns in dem Urteil nicht genügend berücksichtigt zu sein”37, sagen die Bischöfe in einer ersten Erklärung. Die katholische Kirche erwartet, dass diese undeutliche Unterscheidung zu sensiblen ethischen Problemen führen wird.

(28)

Sterbehilfe in Deutschland: ein sensibles Thema | 28 Leben einen Sinn hat. Kein einzelnes Leben darf als wertlos empfunden werden

ungeachtet des Stadiums, in dem die Krankheit des unheilbar kranken Patienten sich befindet. Eine aktive Sterbehilfe ist der katholischen Kirche zufolge weder ethisch noch rechtlich zu verantworten. Sie ist ethisch auch dann zu missbilligen, wenn der sterbende Patient selber andeutet, nicht mehr leben zu wollen, weil das Leben ihm zur Last

geworden ist. In dem nachstehenden Zitat erklärt Weihbischof Anton Losinger nicht nur, weshalb die katholische Kirche einer aktiven Sterbehilfe negativ gegenübersteht, sondern auch was für sie eine gute Alternative zu dieser Form der Sterbehilfe ist.

[Wir] habe[n] Verständnis für die Menschen, die in der Situation großer Schmerzen den Sterbewunsch äußern. Dass ein Mensch sterben darf, und nicht mit allen technischen Mitteln in seiner Sterbephase am Leben erhalten werden muss, war immer Lehre der Kirche. Aber aus der christlichen Ethik heraus gibt es keinen Fall, bei dem das Leben durch die Hand eines Dritten aktiv beendet werden darf. Deshalb fordern wir andere Ansätze:

Zum einen den Ausbau der Palliativmedizin und der entsprechenden Ausbildung der Ärzte. Zum anderen, neben der spirituellen Begleitung, das Hospiz. Unsere Aufgabe ist es, die scheinbar hoffnungslose Situation eines Menschen in der Sterbephase aufzulösen, zu begleiten und den Druck von ihm zu nehmen.39

Die katholische Kirche plädiert also ebenso wie die EKD für eine intensive Sterbebegleitung in einem Hospiz. Die katholische Kirche ist der Ansicht, dass man in einem Hospiz auf eine ehrliche und glaubwürdige Weise mit der Begrenztheit des menschlichen Lebens umgeht. Da nur wenige Menschen, die austherapiert sind und nicht lange mehr zu leben haben, in einem Hospiz begleitet werden, hält die katholische Kirche eine bessere Vernetzung

zwischen Palliativmedizin, Hospizen und Hausärzten für notwendig. Hinsichtlich assistierten Suizids sind die katholische Kirche und die EKD übrigens völlig derselben Meinung. Auch die katholische Kirche verwirft diese Form der Sterbehilfe.

Die katholische Kirche verbietet also aktive Sterbehilfe, aber gestattet indirekte und passive Sterbehilfe. In Bezug auf passive Sterbehilfe hat es ihr zufolge keinen Sinn, das Leben von Menschen im hohen Alter künstlich zu verlängern, wenn der Körper dieser Menschen völlig erschöpft ist und die biologischen Funktionen allmählich verlöschen. Wenn diese Umstände eintreten, darf der Arzt die Behandlung einstellen. Es gibt aber auch Situationen, in denen die katholische Kirche eine passive Sterbehilfe ablehnt. Patienten, die im

Wachkoma liegen oder altersdement sind, sind zwar mehrfach schwerstbehindert, aber sie sind keine Sterbenden. Ihnen darf man keine Sterbehilfe leisten, weil die katholische Kirche

39

(29)

Sterbehilfe in Deutschland: ein sensibles Thema | 29 behauptet, dass diese Form der Sterbehilfe schon nicht mehr in den Bereich der passiven Sterbehilfe fällt, sondern in den Bereich der aktiven Sterbehilfe. Die katholische Kirche erlaubt auch eine indirekte Sterbehilfe. Sie geht davon aus, dass schmerzstillende Mittel das Leben eines unheilbar kranken Patienten nur noch selten bedrohen. Falls ein

schmerzlinderndes Mittel aber schon eine Lebensverkürzung zur Folge hat, darf der

behandelnde Arzt diese Palliativmedizin nur dann geben, “[w]enn andere Mittel fehlen und dadurch den gegebenen Umständen entsprechend die Erfüllung der übrigen religiösen und moralischen Pflicht in keiner Weise verhindert wird”40.41

Während des Zweiten Weltkrieges war die Haltung der katholischen Kirche dem Dritten Reich gegenüber umstritten und nach dem Krieg wurde sie heftig kritisiert. Hinsichtlich der "Euthanasie" der Nazis gab es aber den klaren Konsens, dass Aktion T4 in seiner Ganzheit verwerflich war. Der katholischen Kirche zufolge soll jede Form der Sterbehilfe aber

verboten werden, weil der Mensch nicht das Recht hat, seinem Leben ein Ende zu setzen. Dieses Recht ist nur Gott vorbehalten.

Auch die katholische Kirche in Deutschland agitierte gegen die "Euthanasiepläne" der nationalsozialistischen Regierung. Die Kirche fürchtete, der Wahlspruch der

Nationalsozialisten, “Gut ist, was nützlich ist”42, würde für Zwecke hinsichtlich der "Euthanasiepolitik" ausgenutzt. Der Münchner Kardinal Faulhaber teilte das allgemeine Gefühl, das innerhalb der katholischen Kirche herrschte, dieser Wahlspruch würde zu einer massenhaften Vernichtung aller unheilbar Kranken führen. In dem nachstehenden Zitat bringt er diese Angst auf treffende Weise zum Ausdruck:

Da könnte ein Fanatiker auf den Wahn kommen, Enteignung des

Kirchengutes, Meineid und Mord, „dienten dem Wohl des Volkes‟ und seien deshalb sittlich erlaubt.

Es könnte ein Arzt auf den Gedanken kommen, die schmerzlose Tötung der sicher unheilbar Kranken, auch der unheilbar Geisteskranken, die

sogenannte Euthanasie, erspare dem Staat grosse Fürsorgelasten und diene deshalb dem Wohle des Volkes.43

(30)

Sterbehilfe in Deutschland: ein sensibles Thema | 30 Leider stellt es sich jetzt heraus, dass Kardinal Faulhaber über prophetische Gaben verfügte. Nur fünf Jahre später – schon im Jahre 1934 hat der Münchner Kardinal seine bangen Vorgefühle kenntlich gemacht – startete Aktion T4 .

Auch der Bischof von Münster, Clemens August von Galen, lehnte sich erfolgreich gegen die "Euthanasiepolitik" der Nazis auf. Er hatte Angst vor einer Zunahme der Anzahl

Euthanasiefälle" infolge einer Erweiterung des Begriffs “unproduktive[…] Menschen”44. Seine Angstgefühle illustrierte er mit dem folgenden Zukunftsbild:

Wenn man den Grundsatz aufstellt und anwendet, dass man den

„unproduktiven Menschen‟ töten darf, dann wehe uns allen, wenn wir alt und altersschwach werden! Wenn man die „unproduktiven Menschen‟ töten darf dann wehe den Invaliden, die im Produktionsprozesse ihre Kraft, ihre gesunden Knochen eingesetzt, geopfert und eingebüsst haben!

Wenn man die „unproduktiven Menschen‟ gewaltsam beseitigen darf, dann wehe unseren braven Soldaten, die als Schwerkriegsverletzte, als Krüppel, als Invaliden in die Heimat zurückkehren.45

Der Bischof behauptet hier, dass mancher Gefahr läuft, der "Euthanasiepolitik" der Nazis zum Opfer zu fallen. Er sagt voraus, dass nicht nur die Geisteskranken in Zukunft als "unproduktive Menschen" abgestempelt werden, sondern alle Menschen, die keine nützliche Arbeit (mehr) für das Dritte Reich verrichten können. Aus seiner Sicht konnten sogar verwundete Soldaten, die während des Zweiten Weltkrieges für Deutschland gekämpft hatten, um ihr Leben fürchten, weil sie plötzlich - zumindest laut der

Nationalsozialisten - "unproduktiv" und daher nutzlos geworden sind. Das Zukunftsbild des Bischofs bewirkte einen Sturm der Entrüstung innerhalb der deutschen Bevölkerung. Die Proteste des Bischofs sind ein unmittelbarer Anlass gewesen für den Entschluss, Aktion T4 im August 1941 schließlich ein Ende zu setzen.46

Aus der vorgenannten Untersuchung stellt sich heraus, dass die Mitglieder der

katholischen und der evangelischen Kirche die negative Haltung beider Kirchen in Bezug auf die aktive Form der Sterbehilfe nicht unbesehen übernommen haben. Die nächste Graphik47 zeigt ihre Einstellung hinsichtlich dieses ethischen Problems.

(31)

Sterbehilfe in Deutschland: ein sensibles Thema | 31

Die Hälfte der Katholiken und sogar 56% der Protestanten steht einer aktiven Sterbehilfe positiv gegenüber. Dieser Anteil liegt zwar unter dem nationalen Durchschnitt – der, wie gesagt, 58% ist – aber ist ohnehin beachtlich hoch, wenn man in Augenschein nimmt, dass die Auffassungen der Kirche deren Mitglieder im Allgemeinen stark beeinflusst. Trotzdem ist ungefähr die Hälfte der Katholiken und Protestanten der Überzeugung, dass das Leben eines unheilbar kranken Menschen unmittelbar beendet werden darf, wenn das Leiden für ihn unerträglich geworden ist. Diese Katholiken und Protestanten sind der Meinung, dass Schwerkranke selber entscheiden dürfen, wenn das Leben sinnlos geworden ist. Ihnen zufolge darf diesem sinnlosen Leben ein direktes Ende gesetzt werden.

4.3.3. Generationsunterschiede

(32)

Sterbehilfe in Deutschland: ein sensibles Thema | 32 unterlassen oder eingestellt werden - prozentual wächst, in dem Maße, wie das Alter der Deutschen zunimmt. 63 Prozent der 16-29-Jährigen sind für diese Form der Sterbehilfe, während 76 Prozent der Deutschen, die in die Altersgruppe ab 60 Jahre fallen, passiver Sterbehilfe positiv gegenüberstehen. Das ist eine beträchtliche Steigerung von 13 Prozent. Eine Erklärung für diesen Unterschied könnte sein, dass Menschen, die über 60 Jahre alt sind, mehr über den Tod und das Ende ihres Lebens nachdenken. Sie haben manchmal wegen ihres Alters schon Beschwerden und wünschen sich einen schmerzlosen Tod. Sie möchten mit Würde sterben.

Schauen wir uns die aktive Sterbehilfe an, dann sehen wir da einen ganz anderen Trend. Die Zahl der Befürworter der 16-29-Jährigen ist mit 63 Prozent gleich geblieben, aber bei den anderen Altersklassen geht der Prozentsatz derjenigen, die aktiver Sterbehilfe

zustimmen zurück. "Nur" 51 Prozent derjenigen über 60 Jahre alt sind Befürworter einer aktiven Sterbehilfe. Etwa ein Drittel der Älteren, die für die passive Form der Sterbehilfe sind, sind einer aktiven Sterbehilfe also abgeneigt. Außerdem fällt ins Auge, dass verhältnismäßig mehr jüngere als ältere Deutsche für eine aktive Sterbehilfe sind, während bei der passiven Sterbehilfe die Älteren noch am positivsten waren. Hierfür gibt es mehrere Gründe. Die zwei wichtigsten Gründe sind die Säkularisierung und Aktion T4.

Die Entkirchlichung, die heute im Westen Europas und damit auch in Deutschland stattfindet, ist vor allem bei den jüngeren Deutschen spürbar. Die älteren Deutschen sind aber noch überwiegend religiös. Sowohl die katholische als auch die evangelische Kirche äußern sich sehr abfällig über eine aktive Sterbehilfe. Die Versuche der Kirchen, diesen Mitgliedern die Überzeugung aufzuzwingen, dass eine aktive Sterbehilfe verwerflich sei, haben sich als äußerst erfolgreich erwiesen.

65 Jahre nach Aktion T4 haben diejenigen, die den Zweiten Weltkrieg durchgemacht haben, die Untaten, die in dieser Periode begangen wurden, noch nicht vergessen. Die "Euthanasiepolitik" der Nationalsozialisten, der mehr als 100.000 Menschen letztlich zum Opfer fielen, bewirkte, als diese Kriegsverbrechen ans Licht kamen, eine Welle der Empörung in der deutschen Gesellschaft. Die Art und Weise, wie die unheilbar Kranken umgebracht wurden, wurde als aktive Sterbehilfe betrachtet, weil die Opfer durch ein "aktives Tun" – direkt umgebracht wurden. Aktive Sterbehilfe erweckt heute in der deutschen Gesellschaft bei den Älteren deswegen noch immer allerlei negative

(33)

Sterbehilfe in Deutschland: ein sensibles Thema | 33 gibt es diesen schlechten Beigeschmack in Hinsicht auf die aktive Sterbehilfe in viel

geringerem Maße.48

4.3.4. Der Osten und der Westen: unterschiedliche Anschauungen

Nach dem Fall der Mauer sind Ost- und Westdeutschland wieder miteinander vereinigt. Dieser geografischen Wiedervereinigung zum Trotz, spürt man noch immer

gesellschaftliche und kulturelle Unterschiede zwischen den "Ossis" und den "Wessis". Die "Ossis" und die "Wessis" haben verschiedene Anschauungen zu unterschiedlichen Themen. Hinsichtlich der Sterbehilfe sind sie sich auch nicht einig. Im Jahre 1973 - vor fast 40 Jahren - wurden die "Wessis" nach ihrer Meinung in Bezug auf die Sterbehilfe gefragt. 28 Jahre später wurden sie hierzu nochmals befragt. Man hat sich aber entschlossen, die

Untersuchung in größerem Maßstab durchführen zu lassen. Dies hieß, dass die

Auffassungen der "Ossis" in Bezug auf die Sterbehilfe bei der zweiten Umfrage, die im Jahre 2001 – elf Jahre nach der Wiedervereinigung - auch berücksichtigt wurden. Das unten stehende Bild49 zeigt die Ergebnisse dieser Untersuchung.

(34)

Sterbehilfe in Deutschland: ein sensibles Thema | 34 Der Fragestellung kann man entnehmen, dass die Umfrage nicht von Sterbehilfe im

Allgemeinen handelt, sondern nur von der aktiven Form der Sterbehilfe. Es wird eine Situation beschrieben, in der etwas direkt verabreicht wird – hier eine tödliche Spritze. Aus den vorliegenden Daten lässt sich dann folgern, dass die Stellungnahme der

westdeutschen Bevölkerung zu aktiver Sterbehilfe sich innerhalb von 28 Jahren nur in geringem Maße geändert hat. Man kann hier von einer bescheidenen Verschiebung sprechen. Der 11% Zuwachs, den es gibt, ist hauptsächlich auf das Lebensalter

zurückzuführen. Die Kriegsgeneration - die Generation, die den Zweiten Weltkrieg erfahren hat - ist innerhalb von diesen 28 Jahren erheblich kleiner geworden. Es war eben diese Generation, die infolge des Zweiten Weltkrieges und Aktion T4 große Bedenken gegen die aktive Form der Sterbehilfe hegte. Indem die Kriegsgeneration immerzu kleiner wird und letztlich verschwindet, verringert sich die Zahl der Gegner sich infolgedessen nach und nach. Diese Entwicklung erklärt die allmählich wachsende Anzahl der Befürworter der aktiven Sterbehilfe im Westen Deutschlands.

In dem Paragraphen, der von der Kirche handelt, hat sich schon herausgestellt, dass die Bevölkerung Westdeutschlands überwiegend katholisch ist. Die katholische Kirche ist - wie schon eher klargemacht wurde - dezidiert gegen sowohl die aktive als auch die passive Form der Sterbehilfe. Die Grafik zeigt, dass der Osten Deutschlands der aktiven Sterbehilfe beachtlich positiver gegenübersteht als der Westen. Eine Erklärung hierfür liegt ziemlich nahe. Mehr als die Hälfte der Ostdeutschen bekennt sich nicht zu einem Glauben. Die ehemalige DDR war ein kommunistischer Staat, der den Atheismus propagierte. Atheisten haben beträchtlich weniger Probleme mit aktiver Sterbehilfe als Protestanten und im Besonderen Katholiken.50

4.3.5. Die Politik

Die politischen Parteien in Deutschland diskutieren schon längere Zeit über die

Sterbehilfefrage, aber sie haben bis heute noch keine Übereinstimmung zu diesem Thema erzielt. Dafür gehen die Meinungen dieser Parteien einfach zu stark auseinander. In diesem Paragraphen kommen die Standpunkte verschiedener deutscher politischer Parteien an die Reihe.

Die Unionsparteien CDU und CSU sind absolut gegen eine aktive Sterbehilfe. Eine Erklärung für diese Haltung liegt ziemlich nahe. Beide Parteien sind christlich. Wie schon

50

(35)

Sterbehilfe in Deutschland: ein sensibles Thema | 35 eher angegeben wurde, sind sowohl die katholische Kirche als auch die evangelische Kirche einer aktiven Sterbehilfe abgeneigt. Die CSU hat zudem ihre Wurzeln in dem konservativen und katholischen Bundesland Bayern. Es ist deswegen nahezu eine Selbstverständlichkeit, dass sie Bedenken gegen eine aktive Sterbehilfe hegt. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel der CDU hat im Jahre 2008 nachdrücklich

hervorgehoben, dass sie heftig gegen jede Form der aktiven Sterbehilfe ist. Dies machte sie aber erst kenntlich, nachdem Roger Kusch, auch "Dr. Tod" genannt, mit seinem "Tod auf Bestellung" Schlagzeilen machte. Die negative Berichterstattung über Roger Kusch‟ bedenkliche Sterbehilfepraktiken wurde von Merkel politisch schlau ausgeschlachtet. Sie fasste die Gelegenheit beim Schopf, nochmals zu betonen, dass eine aktive Sterbehilfe unethisch ist. Merkel zufolge ist eine aktive Sterbehilfe in Deutschland aber nicht nur verboten, weil sie unmoralisch sei, sondern auch wegen der Gefahr für eine

Kommerzialisierung der Sterbehilfe, wie bei Roger Kusch der Fall war. Im Besonderen aktive Sterbehilfe kann nach Merkel leicht zu kommerziellen Zwecken ausgenutzt werden.51 Genauso wie die CDU/CSU, versucht auch die SPD der Kommerzialisierung der

deutschen Sterbehilfe Zügel anzulegen. Im Moment arbeitet sie an einem Gesetzentwurf, der die Werbung für Sterbehilfe verbieten muss. Die SPD hat eine andere Anschauung hinsichtlich der Zulässigkeit der Sterbehilfe als die CDU/CSU. Das Problem ist aber, dass die Meinungen innerhalb der Partei hinsichtlich der Politik, die von der SPD in Bezug auf die Sterbehilfe geführt werden muss, geteilt sind. Schon im Jahre 2004 befasste

SPD-Bundestagsabgeordneter Rolf Stöckel sich mit der Möglichkeit einer Patientenverfügung. Dies war sechs Jahre vor dem Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs. Stöckel griff der Entscheidung des Bundesgerichtshofs also deutlich vor. Er plädierte schon früh für eine gesetzliche Regelung in Bezug auf die Sterbehilfe. Stöckel arbeitete diesen Gesetzentwurf aus und brachte ihn darauf ein. Der Vorschlag befürwortete das Selbstbestimmungsrecht eines Patienten. Damals entschied der behandelnde Arzt noch über das Schicksal eines Schwerkranken, wenn dieser nicht mehr in der Lage war, diese Entscheidung selber zu treffen. Stöckel schlug jetzt vor, den Willen eines Patienten, der an einer unheilbaren Krankheit litt, immer in einer Verfügung aufzuzeichnen. Auf diese Weise könnte der Schwerkranke immer selber beschließen, was am Ende mit ihm passieren würde. Stöckel betonte aber mit Nachdruck, es gehe hierbei ausschließlich um die passive Sterbehilfe. Die Vorlage hatte aber nicht den gewünschten Effekt. Sie rief eine Welle der Empörung bei der CDU/CSU hervor. Sogar innerhalb der SPD – wohlgemerkt seine eigene Partei – äußerten

51

(36)

Sterbehilfe in Deutschland: ein sensibles Thema | 36 einige Politiker sich negativ zu dem Vorschlag Stöckels. Manche waren der Ansicht, dass seine Vorlage unklar war und Parallelen aufweist mit der Sterbehilfepolitik in den

Niederlanden – in dem nächsten Kapitel wird die niederländische Sterbehilfepolitik ausführlicher an die Reihe kommen --, die auch eine aktive Sterbehilfe gestattet. Die Behauptung Stöckels, sowohl seine eigene Partei als auch die FDP und die Grünen unterstützten seinen Vorschlag, stimmte nicht mit der Wirklichkeit überein. Letztendlich wurde die Vorlage Stöckels deswegen zurückgenommen.

Eine zögernde Haltung in Bezug auf die Sterbehilfe, wie im oben stehenden Beispiel der Fall ist, ist der SPD übrigens nicht fremd. Auch Brigitte Zypries, die Justizministerin der SPD zur Zeit Gerhard Schröders, bracht einen Gesetzentwurf ein. Dieser Entwurf stimmte großenteils mit dem Antrag Stöckels überein. Auch Zypries plädierte für eine Aufwertung der Patientenverfügung. Sie war der Meinung, dass eine Patientenverfügung immer verbindlich sein sollte. Außerdem sollte diese Verfügung auch gelten, wenn die Wünsche eines unheilbar Kranken nur mündlich geäußert wurden. Der Wille eines Schwerkranken sollte ihr zufolge nicht mehr unbedingt schriftlich festgelegt werden. Dieser Gesetzentwurf wurde zwei Mal von Zypries beantragt. Er wurde aber auch ebenfalls zwei Mal wieder von ihr zurückgenommen, weil die anderen Parteien große Bedenken gegen den

Gesetzentwurf hegten. Auch innerhalb ihrer eigenen Partei gab es unüberwindliche Einwände in Bezug auf ihre Vorlage. Am Ende waren die Meinungsverschiedenheiten, die die unterschiedlichen Politiker hinsichtlich der Sterbehilfe untereinander hatten, dafür verantwortlich, dass nur wenige Anträge zur Reform der Sterbehilfe auch tatsächlich angenommen wurden.52

Die FDP nimmt, ganz anders als die konservative CDU/CSU, was die Sterbehilfe anbetrifft, aus politischer Sicht eine ziemlich progressive Haltung ein. Beide Parteien sind zwar völlig der Meinung, dass organsierte Sterbehilfe verboten werden soll, aber sonst bevorzugen die zwei Parteien eine ganz unterschiedliche Sterbehilfepolitik. In dem unten stehenden Zitat geht der Justizminister der FDP Ulrich Goll ins Gericht mit seiner Amtskollegin der CSU, Beate Merk:

Über die Gemeinsamkeit bei der Ablehnung der Sterbehilfeorganisationen hinaus gibt es zwischen meiner bayerischen Amtskollegin Beate Merk und mir durchaus unterschiedliche Perspektiven auf die Sterbehilfe, die aber für dieses gemeinsame Vorhaben irrelevant sind. Ich will in keiner Wiese daran rütteln, dass Angehörige oder Freunde straffrei bleiben, wenn sie

Sterbewilligen aus altruistischen Motiven zur Seite stehen. Ziel unserer

52

(37)

Sterbehilfe in Deutschland: ein sensibles Thema | 37 Bundesratsinitiative ist es auch nicht, die ohnehin schon engen

Handlungsspielräume für Ärzte beim Erleichtern des Sterbeprozesses noch enger zu machen. Die Diskussion über Hilfen beim Sterben wird uns noch lange Zeit begleiten.53

Der FDP zufolge soll die Politik in dem amerikanischen Staat Oregon für Deutschland als Beispiel hingestellt werden. Für schwerkranke Patienten liegt ein Suizid-Medikament im Bereich des Möglichen. Dieses Medikament wird dem Patienten aber unter strikten Bedingungen verabreicht. Eine dieser Bedingungen ist, dass der behandelnde Arzt erwartet, dass der Patient weniger als sechs Monate zu leben hat. Er soll regelmäßig von diesem Arzt geprüft werden. Daneben wird der unheilbar Kranke verpflichtet über die Möglichkeiten der Palliativmedizin ausführlich informiert. Falls er es sich dann noch nicht anders überlegt hat, wird ihm schließlich das Suizid-Medikament verabreicht. Aus einer Untersuchung hat sich gezeigt, dass nur wenige Patienten diese Suizid-Medizin auch tatsächlich einnehmen. Für die FDP ist die Art und Weise, wie Oregon mit Sterbehilfe umgeht, eine passende Lösung für die deutsche Sterbehilfefrage. Trotzdem sind die Politiker der Partei der Meinung, dass sie die Politik dieser Amerikaner nicht ohne Weiteres übernehmen wollen. Der FDP-Politiker Michael Kauch erklärte sich dazu mit den nächsten Worten: “Ich persönlich halte die Regelung in Oregon für einen gangbaren Weg.

Zwingend erforderlich wären aber strenge amtsärztliche Kontrollen und Vorschriften, dass es Suizidbeihilfe nur für jene gibt, bei denen die Palliativmedizin an ihre Grenze stößt.”54 Die Haltung des FDP-Politikers Michael Kauch ist damit exemplarisch für den Standpunkt der ganzen Partei.55

(38)

Sterbehilfe in Deutschland: ein sensibles Thema | 38 Argumenten, die die CDU und die CSU gegen Sterbehilfe vorbringen, nur wenig

Beachtung. Die Linke ist der Ansicht, dass ein Mensch selber entscheiden darf, wenn das Leben für ihn sinnlos geworden ist. Darauf wurde untersucht, ob die Auffassungen des Parteivolkes zu aktiver Sterbehilfe auch mit den Anschauungen der politischen Parteien zu diesem Thema übereinstimmten. Die Ergebnisse dieser Untersuchung waren wenig überraschend. Es hat sich gezeigt, dass diejenigen, die während der letzten

Bundestagswahl im Jahre 2009 Die Linke gewählt haben, aktiver Sterbehilfe wesentlich positiver gegenüberstehen als das Parteivolk der übrigen politischen Parteien im Deutschen Bundestag. Die Anzahl der Befürworter von aktiver Sterbehilfe liegt bei dem Parteivolk von Die Linke sogar zweimal so hoch wie bei den Anhängern der anderen politischen Parteien. Das nächste Bild ist eine Karte, die die politische Landschaft in Deutschland nach den soeben genannten Wahlen zum Deutschen Bundestag vom 27. September 2009 zeigt. Dieser Karte kann man entnehmen, dass Die Linke im Osten Deutschlands überdeutlich die meisten Anhänger hat. Wenn man sich diese Karte anschaut, bekommt man den Eindruck, dass der Westen Deutschlands beachtlich mehr Probleme mit Sterbehilfe hat als der Osten. Dieses Bild stimmt mit der Wirklichkeit überein. Eher in der Arbeit wurde schon angegeben, dass die "Ossis" aktiver Sterbehilfe wesentlich positiver gegenüberstehen als die "Wessis". Es gibt in Deutschland also einen Zusammenhang zwischen der Partei, die einer wählt, und seinem Standpunkt zu aktiver Sterbehilfe.56

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Neben den etablierten Parteien im Deutschen Bundestag gibt es auch noch einige kleinere Parteien. Diese Parteien haben im Allgemeinen radikale Ansichten. Es stellt sich heraus, dass vor allem die extremen Parteien massenhaft für aktive Sterbehilfe eintreten. Die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) ist Befürworter einer aktiven Sterbehilfe. Auch ihr Parteivolk ist fast einmütig für aktive Sterbehilfe. Die NPD ist aber rechtsextrem. Das Problem ist hier also eindeutig. Ab dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde aktive

Sterbehilfe von den Deutschen beinahe unlöslich mit dem Rechtsextremismus verbunden. Die rechtsextreme NSDAP hat dieses Bild mit eigener Hand kreiert, als sie im Jahre 1939 mit Aktion T4 anfing. Die Tatsache, dass mehr als 65 Jahre nach diesem Krieg gerade eine andere rechtsextreme Partei aufs Neue eine aktive Sterbehilfe befürwortet, ist für

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