• No results found

Das Leben nach dem Fall der Mauer: Weitermachen oder wiederanfangen? Die erfahrenen historischen und biografischen Brüche der ostdeutschen Schriftsteller Jana Hensel, Maxim Leo und Wolfgang Engler

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2021

Share "Das Leben nach dem Fall der Mauer: Weitermachen oder wiederanfangen? Die erfahrenen historischen und biografischen Brüche der ostdeutschen Schriftsteller Jana Hensel, Maxim Leo und Wolfgang Engler"

Copied!
40
0
0

Bezig met laden.... (Bekijk nu de volledige tekst)

Hele tekst

(1)

Universität: Radboud Universiteit Nijmegen Institut: Faculteit der Letteren

Abteilung: Duitse Taal en Cultuur Betreuerin der Arbeit: dr. Y. Delhey

Das Leben nach dem Fall der Mauer:

Weitermachen oder wiederanfangen?

Die erfahrenen historischen und biografischen Brüche der ostdeutschen

Schriftsteller Jana Hensel, Maxim Leo und Wolfgang Engler.

Verfasserin: Julia Beunk Matrikelnummer: s1005069 Abgabedatum: 23. Oktober 2020

(2)

1

Abstract

In der vorliegenden Arbeit wurde erforscht, welche Unterschiede es zwischen biografischen und historischen Brüchen in den Geschichten über die politische Wende 1989/90 gibt. In dem Buch Wer wir sind werden die zwei Brüche von den ostdeutschen Schriftstellern Jana Hensel (1976) und Wolfgang Engler (1952) erwähnt. Mittels einer literarischen Textanalyse, die thematisch angelegt ist und sich auf die genannten Brüche richtet, werden die großen Unterschiede deutlich. Das Buch Haltet euer Herz bereit von Maxim Leo (1970) wird in dieser Forschung miteinbezogen. Aus dem geht hervor, dass die Beschreibungen seines Lebens vor und nach der Wende 1989 auf eine bestimmte Art und Weise mit den Beschreibungen Hensels übereinstimmen. Die Leben Leos und Hensels änderten sich drastisch nach der Wende 1989, was auf einen biografischen Bruch hinweist. Engler,

dagegen, machte kaum einen individuellen Wandel nach der Wende 1989 mit, das Merkmal eines historischen Bruches.

(3)

2

Inhaltsangabe

1. Einleitung ... 3

1.1 Forschungsüberblick ... 3

1.2 Kurze Beschreibung der Methode und des Materials ... 4

1.3 Relevanz ... 5

1.4 Aufbau der Arbeit ... 6

2. Theoretischer Rahmen ... 7

2.1 Wer wird sind ... 8

2.2 Haltet euer Herz bereit ... 11

2.3 Individuelles und kollektives Gedächtnis und die Identität ... 12

2.4 Reflektieren über die Geschichte ... 15

3. Methodik ... 17

4. Analyse der zwei Werke... 19

4.1 Wer wir sind ... 20

4.1.2 Jana Hensel und der biografische Bruch ... 20

4.1.2 Wolfgang Engler und der historische Bruch ... 24

4.2 Haltet euer Herz bereit ... 27

4.2.1 Die von Maxim Leo dargestellten Erfahrungen vor und nach der Wende ... 27

4.2.2 Die Erfahrungen Leos im Vergleich zu den anderen zwei Schriftstellern und den Brüchen ... 30

4.3 Der Generationsunterschied und die erlebten Brüche ... 31

5. Schlussfolgerung und kritische Reflexion der Forschung ... 34

6. Ausblick ... 37

(4)

3

1. Einleitung

„ Es ist ein unbeschreiblicher Moment, wenn die Geschichte mit solcher Wucht und Unmittelbarkeit in einen hineindrängt, noch dazu, wenn man 1989 noch ein halbes Kind war.“1

So spricht Jana Hensel, wenn sie mit der Beschreibung ihrer Biografie anfängt. Die politische Wende 1989 ist eines der Hauptthemen des Werkes Wer wir sind, das Buch das im Jahr 2018 von den vormaligen DDR-Bewohnern Jana Hensel (1976) und Wolfgang Engler (1952) veröffentlicht wurde. Die Ostdeutsche spricht über die Unmittelbarkeit der Wende und die Folgen dieser bewegten Zeit. Der jähe Wechsel von dem vertrauten DDR-Regime zu dem unbekannten BRD-System war für die meisten Ostdeutschen eine große Änderung. Da die Wende vor erst dreißig Jahre stattgefunden hat, ist die Geschichte der Wiedervereinigung von Deutschland 1990 als relativ jung zu betrachten. Es ist wichtig sich mit dieser Geschichte zu beschäftigen, da die Beteiligten der jungen Geschichte nicht nur Ostdeutsche sind, sondern die Geschichte auch indirekte Beteiligte hat (wie zum Beispiel die ehemaligen

Westdeutschen).

1.1 Forschungsüberblick

Zum Thema Wendeliteratur und die Folgen der politischen Wende 1989 wurde schon vieles erforscht. Wichtig ist, dass der Begriff Wendeliteratur im weitesten Sinne des Wortes zu verstehen ist. Im Artikel „Wendeliteratur- Literatur der Wende?“ wird beschrieben, dass es unmöglich ist, einen umfassenden Überblick über die Thematik zu geben, da die Definition von Wendeliteratur nicht eindeutig ist.2 Besteht Wendeliteratur nur aus Texten, in den die Jahre 1989/90 beschrieben werden oder geht es vor allem um die Texte die nach dem Ende der DDR erschienen?3 Eine eindeutige Antwort auf die Frage bekommt man also nicht, da die (Nach-)Wendezeit und die Geschichte der DDR (1949-1990) in verschiedenen Bereichen erforscht werden können. In dieser Arbeit werden die Texte, die die Zeit der ehemaligen DDR, den Fall der Mauer und die Zeiten nach der Wende beschreiben, verstanden unter Wendeliteratur.

1 Wolfgang Engler und Jana Hensel, Wer wir sind: Die Erfahrung, Ostdeutsch zu sein. (Berlin: Aufbau Verlag

GmbH & Co. KG, 2018), 137.

2 Vgl. Nicole Leier, “Wendeliteratur- Literatur der Wende? Der Mauerfall in ausgewählten Werken der

deutschen Literatur,” Informationen Deutsch als Fremdsprache 37,5 (2010): 494, https://doi.org/10.1515/infodaf-2010-0505.

(5)

4

Da der Fall der Mauer ein ziemlich aktuelles Geschehnis ist, erscheinen heutzutage noch viele Texte bzw. Forschungen in Bezug auf die Wende und ihre Folgen. Es gibt Bücher von

Schriftstellern wie Claudia Rusch und Christa Wolf, die über ihre Erfahrungen in der DDR und das Leben nach dem Fall der Mauer geschrieben haben. Diese Geschichten basieren also auf eigene Erfahrungen, so im Buch Leos. Überdies gibt es auch viele Forschungen nach den Unterschieden zwischen der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) und der Bundesrepublik Deutschland bzw. dem Westen (BRD). Nicht nur werden die früheren

Unterschiede (DDR vs. BRD) erforscht, sondern auch die andauernden Unterschiede, die man heutzutage noch zwischen beiden Teilen (Ost- und Westdeutschland) beobachten kann. Beispiele dieser Studien sind unter anderem die Artikel „Verdrängungsprozess oder strukturelle Faktoren? Ursachen geringerer Arbeitsmarkterträge in Ostdeutschland“ von Granato (2011) und „Health Convergence Between East and West Germany as Reflected in Long-Term Cause-Specific MortalityTrends: To What Extent was it Due to Reunification“ von Grigoriev und Pechholdova (2017). Die Beispiele dieser Studien zeigen die Diversität des Themas und die unterschiedlichen Forschungsbereiche. Diese Arbeit fokussiert sich vor allem auf die Erfahrungen und Erlebnisse der drei Autoren anhand der von ihnen geschriebenen Literatur.

1.2 Kurze Beschreibung der Methode und des Materials

Diese vorliegende Arbeit beschäftigt sich hauptsächlich mit zwei Werken, nämlich mit den Büchern Wer wir sind (2018) und Haltet euer Herz bereit (2009). Wer wir sind, geschrieben von Jana Hensel und Wolfgang Engler, ist ein niedergeschriebenes Gespräch zwischen den beiden Ostdeutschen in dem sie unterschiedliche Themen, beispielsweise das Thema Fall der

Mauer als historischer oder biografischer Bruch, abhandeln. Die beiden Autoren

schlussfolgern, dass der Mauerfall nicht nur als historischer Bruch erlebt werden kann, sondern auch als biografischer Bruch. Wolfgang Engler behauptet, dass er nur einen historischen Bruch erlebt hat. Während Jana Hensel ihre Erfahrungen indirekt mit einem biografischen Bruch verknüpft, welcher durch den plötzlichen Systemwechsel entstanden ist. Ziel dieser Arbeit ist es, eine Antwort auf die Frage welche Unterschiede es zwischen

historischen und biografischen Brüchen in den Geschichten der politischen Wende 1989/90 gibt, zu finden. Die Hauptfrage dieser Arbeit lautet: Welche Unterschiede gibt es zwischen historischen und biografischen Brüchen in Geschichten der politischen Wende 1989/90? Zudem wird anhand einer Teilfrage erforscht, ob Maxim Leos Erfahrungen, beschrieben in

(6)

5

seinem Buch Haltet euer Herz bereit, eher auf einen historischen oder auf einen biografischen Bruch hinweisen.

In dieser Arbeit wird daher eine literarische Textanalyse durchgeführt. Die Frage wird anhand von den zwei entscheidenden Werken und von Fragmenten aus eigenen Büchern von Jana Hensel (Zonenkinder (2002)) und Wolfgang Engler (Die Ostdeutschen: Kunde von einem

verlorenen Land (1998)) beantwortet. Die in der Hauptfrage genannten Geschichten, sind die

Geschichten Englers, Hensels und Leos.

Die Hauptfrage werde ich mithilfe nachfolgender Teilfragen beantworten:

1. Wieso betrachtet Jana Hensel den Fall der Mauer und die Folgen eher als einen biografischen Bruch?

2. Wieso hat Wolfgang Engler den Fall der Mauer und die Folgen eher als einen historischen Bruch betrachtet?

3. Wie beschreibt Maxim Leo die Zeit vor und nach der politischen Wende 1989?

4. Weisen die Beschreibungen Leos auf einen historischen oder auf einen biografischen Bruch hin?

5. Inwieweit spielt der Generationsunterschied zwischen den drei Schriftstellern eine Rolle auf die Art und Weise wie sie den Bruch erfahren haben.

Die Teilfragen werden in Kapitel 4 „Analyse der zwei Werke“ erörtert. Die Informationen, die zum Verständnis der Hauptfrage und der Teilfragen beitragen, werden in dem

theoretischen Rahmen erweitert. Eine spezifische Verantwortung der gewählten Werke gibt es in Kapitel 3 „Methodik“.

1.3 Relevanz

Reflektieren über die ziemlich junge Geschichte der ehemaligen DDR, des Falls der Mauer und der Nachwendezeit ist für viele Menschen wichtig. Nicht nur ist das Reflektieren und Nachdenken über die unruhigen Zeiten entscheidend für die Menschen, die selber in der DDR gewohnt haben und den Systemwechsel mitgemacht haben, sondern ist es auch für den

anderen Teil der deutschen Bevölkerung wichtig, da es heutzutage noch immer Unterschiede bzw. Ungleichheit zwischen Ost- und Westdeutschland gibt.Sie müssen sich davon bewusst sein, dass es Menschen gibt die in einem total anderen System aufgewachsen sind. Außerdem darf nicht vergessen werden, dass es viele Menschen gibt, die indirekt im Zusammenhang mit der Geschichte der DDR und der Nachwendezeit stehen. So gibt es unter anderem Leute, die

(7)

6

Familien in Ostdeutschland hatten, Familien die vor dem Bau der Mauer nach Westen zogen oder Leute die jetzt im Osten des Landes wohnen. Es ist also von Bedeutung die Menschen besser über die Erfahrungen der Ostdeutschen während des Falls der Mauer und der

darauffolgenden Zeit zu informieren, da die Geschichte jung ist und es viele Leute mit einer (indirekten) Beziehung zu dieser Zeit gibt. Die Geschichte ist jung und die DDR gibt es nicht mehr, aber das heißt nicht, dass die Geschichte vergessen werden muss. Sowohl ehemalige DDR-Bürger als auch indirekte Beteiligte haben einen Nutzen von dieser DDR-Geschichte und deren Ende, da sie die heutigen Verhältnissen Deutschlands erklärt (beispielsweise die unterschiedlichen Arbeitslosenquoten in Ost- und Westdeutschland). Die Folgen der politischen Wende gehören (indirekt) zur Lebensgeschichte vieler Menschen. Menschen, welche heutzutage noch immer an die vergangenen Zeiten zurückdenken.

1.4 Aufbau der Arbeit

Für die Beantwortung der Forschungsfrage müssen die 5 Teilfragen beantwortet werden. Zur Beantwortung der Teilfragen braucht man einige Hintergrundinformationen für den Kontext. Diese Hintergrundinformation zum Verständnis der Bücher, zum kollektiven und

individuellen Gedächtnis und zur Identität und letztendlich zum Reflektieren über die

Geschichte gibt es in dem theoretischen Rahmen. In der Methodik wird kurz auf die Methode und die Verantwortung der Bücher eingegangen. Anschließend werden die Teilfragen im vierten Kapitel mittels einer Literaturanalyse beantwortet. Schließlich wird die

Forschungsfrage in der Schlussfolgerung beantwortet und werden die Arbeitsergebnisse noch einmal zusammengefasst. In der anschließenden Reflexion wird die Bedeutung der Ergebnisse erläutert und dann werden im Ausblick die Fragen und Forschungsmöglichkeiten, die sich daraus ergeben, diskutiert. Die Bachelorarbeit schließt mit einer Liste mit bibliographischen Angaben ab.

(8)

7

2. Theoretischer Rahmen

Im theoretischen Rahmen werden die zusätzlichen Informationen zum besseren Verständnis der Arbeit und der Literaturanalyse erwähnt. Zuerst gibt es eine genauere Beschreibung der zwei wichtigsten Werke Wer wir sind und Haltet euer Herz bereit. Die Verfasser der Bücher und die Inhalte ihrer Werke werden in Kapitel 2.1 und 2.2 dargestellt. Darauf folgt Kapitel 2.3 mit einer Begriffserklärung des kollektiven und individuellen Gedächtnisses und der Identität und die Erklärung, warum diese Begriffe für diese Arbeit von Bedeutung sind. In Kapitel 2.4 wird auf das Nutzen der Literatur als Medium zur Reflexion der Realität eingegangen. Dieses Thema ist für diese Arbeit entscheidend, da die Verfasser der unterschiedlichen Bücher anhand ihrer Bücher und Erzählungen über die DDR-Geschichte reflektieren.

(9)

8

2.1 Wer wird sind

Das erste Buch, das weiter eingeführt wird, ist Wer wir sind (2018). Das Buch ist, im Gegensatz zu dem anderen Werk Haltet euer Herz Bereit, von zwei ehemaligen DDR-Bewohnern verfasst worden. Die beide haben das Buch nicht wirklich geschrieben, sondern eher auf Band gesprochen: Das Gespräch, das letztendlich zum Buch führte, wurde nämlich von einer Moderatorin, genannt Maike Nedo, bearbeitet. Das Buch wurde von Aufbau Verlag verlegt. Aufbau Verlag lässt wissen, dass der Verlag eine Reihe von Gesprächs-Büchern veröffentlicht hat. Der Verlag erklärt, dass Engler und Hensel sich und ihre Arbeiten schätzen und deshalb ein Gespräch über die ostdeutsche Erfahrung (unterschiedlicher Erfahrungen) nahe lag. Das Buch wurde von Jana Hensel und Wolfgang Engler geschrieben. Es gibt einen beträchtlichen Altersunterschied zwischen den beiden Ostdeutschen. Jana Hensel, geboren im Jahr 1976, war ein Teenager als die Mauer fiel. Währenddessen arbeitete Wolfgang Engler (1952) schon als Kultursoziologe an der Schauspielschule Ernst Busch.4 Dieser

Altersunterschied hat dafür gesorgt, dass Hensel und Engler die Wende auf eine andere Art und Weise erlebt haben, da der Verstand eines Kindes einfach anders als der Verstand eines Erwachsene funktioniert.

Da sich diese Arbeit großenteils auf die Erfahrungen der Verfasser fokussiert, ist es von Bedeutung, die zwei Schriftsteller und ebenfalls ehemalige DDR-Bewohner einzuführen. In Kapitel 6 „Herkunft als Auftrag? Über unsere Biografien” lernt der Leser die ehemaligen DDR-Bewohner besser kennen. Jana Hensel erlebte eine anstrengende Kindheit, sie spielte Tennis auf hohem Niveau und war überdies Vorsitzende einer Gruppe von Pionieren.5 In Wer

wir sind beschreibt sie ihren leistungsbezogenen Vater und ihren Erfolg mit dem Bestseller Zonenkinder. In dem autobiografischen Buch Zonenkinder schaut die Autorin auf ihre

DDR-Erfahrungen (unter anderem auf ihre sozialistische Erziehung und die FDJ) und auf die Wendejahre zurück.6 Im Podcast „Alles Gesagt“ (2019) erzählt sie, wie sie mit ihrem Buch über eine Nacht berühmt wurde. Generation Golf (2000), das bekannte Buch Florian Illies‘ war für Hensel eine große Inspiration um auch über ihre Erfahrungen in Bezug auf die

4 Vgl. Engler und Hensel, Wer wir sind, 179. 5 Vgl. Ebda., 140.

6 Vgl. Fabian Thomas, Neue Leben, neues Schreiben: Die Wende 1989/90 bei Jana Hensel, Ingo Schulze und

Christoph Hein. (München: Thomas Martin Verlagsgemeinschaft, 2009),48,

https://books-google-nl.ru.idm.oclc.org/books?id=mnx4DwAAQBAJ&printsec=frontcover&hl=nl&source=gbs_ge_summary_r&cad =0#v=onepage&q&f=false.

(10)

9

politische Wende 1989 zu schreiben.7 In Zonenkinder schreibt Hensel darüber wie ihre Kindheit nach dem Fall der Mauer verschwand. Illies schrieb in seinem Buch wie seine Welt, die alte Bundesrepublik, nach dem Fall der Mauer verschwunden war: Die Bücher handeln also von der gleichen Situation, aber werden aus anderen Perspektiven (BRD vs. DDR) betrachtet.8

Die in Berlin wohnende Ostdeutsche arbeitet heutzutage als Journalistin für Zeit-Online. Für

Zeit-Online schrieb sie unter anderem einen oft gelesenen Brief an die Bundeskanzlerin über

das Umgehen mit den Hasstiraden im Hinblick auf den Wahlkampf.9 In diesem Brief, veröffentlicht am 7. September 2017, fragt Hensel sich, weshalb Merkel den Demonstranten während ihres Wahlkampftermins nicht die Meinung gesagt hatte.10 Überdies ist Hensel weiterhin berufstätig als begeisterte Autorin.

Der achtundsechzigjährige Wolfgang Engler wuchs in Dresden auf. In dem sechsten Kapitel des Buches erzählt Engler über den Verlauf seines Lebens. Als Engler ein Teenager war, wohnte er im Prenzlauer Berg (Ostberlin) und bekam viel von den Demonstrationen in Prag im Jahr 1968 mit.11 Wenn er über seine Jugend spricht, erzählt er Hensel, dass er in einem Alter war, in dem er für alles Neue empfänglich war; nicht fertig mit seiner Entwicklung und alles stürmte auf ihn ein (sowohl das politische Geschehen in Prag, als auch in Paris und Westberlin).12 Er hatte also mitgemacht, wie versucht wurde das politische System in Tschechoslowakei zu ändern, etwa zwanzig Jahre später wurde das politische System Deutschlands geändert.

Engler war lange Zeit tätig als Dozent an einer Hochschule für Schauspielkunst in Berlin und wurde ab 2005 sogar Rektor der Hochschule.13 Ein Kultursoziologe versucht bestimmte gesellschaftliche Tendenzen anhand Kulturen zu erforschen. Durch seine Kenntnisse im Bereich der Kultur, hat er im Vergleich zu der Journalistin mehr Hintergrundwissen zu

7 Vgl. Hensel, Jana, Alles Gesagt? Warum beschweren sich die Ossis Jana Hensel? ? Interviewt von Christoph

Amend und Jochen Wegner, https://podtail.nl/podcast/alles-gesagt/warum-beschweren-sich-die-ossis-jana-hensel/ vom 14.02.19: 52.55- 53.55.

8 Vgl. Ebda., 54.45-55.00.

9 Vgl. Engler und Hensel, Wer wir sind, 11.

10 Vgl. Jana Hensel, „Warum haben sie denen nicht die Meinung gesagt?,“ Zeit Online, zuletzt geändert 2017,

https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-09/angela-merkel-finsterwalde-wahlkampf-demonstranten-brief/seite-2 (10.09.2020).

11 Vgl. Engler und Hensel, Wer wir sind, 146. 12 Vgl. Ebda.

(11)

10

beispielsweise den Kulturen beider ehemaligen Länden und zum Verhalten unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen. Überdies schreibt er, wie auch seine Gesprächspartnerin, Bücher über die ehemalige DDR und ihre Einwohner. In den von ihm geschriebenen Büchern Die

Ostdeutschen als Avantgarde und Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land greift

er auf seine Wurzeln zurück.

Das Buch der beiden Verfasser ist in zehn unterschiedliche Kapitel aufgeteilt. Es fängt mit dem Kapitel „Wer wir sind. Eine Begrüßung“ an und schließt im letzten Kapitel „Wie wir wurden, wer wird sind: Eine Verabschiedung“ ab. Ihr Buch handelt nicht nur von der Frage wie die Erfahrung ist ostdeutsch zu sein, sondern versucht auch eine Antwort zu formulieren auf die Frage, wer überhaupt diese Ostdeutschen sind. Da es von einem wirklichen Gespräch handelt, gibt es manchmal Verständnisprobleme und Meinungsunterschiede zwischen den Gesprächspartnern. Schon am Anfang erlebt der Leser diese Meinungsverschiedenheiten. Jedes Kapitel fängt mit einem wichtigen Zitat beider Verfasser an. Zum Thema

Flüchtlingspolitik der offenen Tür, die Politik die sich die Regierungsparteien CDU und SPD unter Führung der Kanzlerin Merkel verschrieben haben, sind die zwei ganz anderer

Meinung.14 Engler spricht von einer Krise: „Im Herbst 2015 manifestierte sich eine tiefgreifende Krise der politischen Repräsentation.“15 Währenddessen hat Hensel das Phänomen ganz anders beschrieben, nämlich: „Der Herbst 2015 ist für Deutschland ein historisch strahlender Moment“.16 Das Buch reflektiert somit nicht nur die Vergangenheit, sondern betrachtet auch die Gegenwartsgeschichte. So gehen Hensel und Engler auch auf das große Interesse der Ostdeutschen an der rechtspopulistischen AfD ein und diskutieren über den Aufstieg von Pegida:

12,6 Prozent der Wähler haben bundesweit für die AfD gestimmt, wobei die neuen Länder insgesamt 21 Prozent ihrer Stimmen den Rechtspopulisten gaben. Doppelt so viele wie in den alten Ländern. Das waren über 16 Prozentpunkt mehr als vier Jahre zuvor. Ja, und leider muss man sagen, überraschen war daran nichts. 17

Weitere Themen, neben den aktuellen Debatten, sind beispielsweise die Innen- und Außenwahrnehmung der Ostdeutschen und die Zeitenwende der 90’er Jahre.

14 Vgl. Manfred G. Schmidt, Das politische System Deutschlands: Institutionen, Willensbildung und

Politikfelder, 3. Auflage. (München: C.H. Beck, 2016), Kapitel 4, Abschnitt 1.6,

https://books-google-nl.ru.idm.oclc.org/books?id=vxntDAAAQBAJ&printsec=frontcover&hl=nl&source=gbs_ge_summary_r&cad= 0#v=onepage&q&f=false.

15 Engler und Hensel, Wer wir sind, 7. 16 Ebda.

(12)

11

2.2 Haltet euer Herz bereit

Haltet euer Herz bereit wurde im Jahr 2009 von Maxim Leo veröffentlicht. In seinem

autobiografischen Buch erzählt er, im Gegensatz zu Wer wir sind, nur über seine eigenen Erfahrungen und über die Geschichte seiner Familie. In seinem Buch fokussiert Leo sich nicht auf die möglichen Folgen der (Nach-)Wendezeit und der Geschichte der DDR für die gesamte Gesellschaft, aber er fokussiert sich nur auf das, was seine nahen Verwandten mitgemacht hatten. Schon früh im Buch verwendet Leo eine treffende Metapher:

Es gab viel Streit, und meistens ging es um Dinge, die ich erst später wirklich verstanden habe. Um den Staat, um die Gesellschaft, um die Sache, wie es immer hieß. Unsere Familie war wie eine kleine DDR. Hier fanden die Kämpfe statt, die sonst nicht stattfinden durften. Hier traf die Ideologie auf das Leben. Die ganzen Jahre über tobte dieser Kampf.18

Leo blickt in seinem Buch zurück auf seine „kleine DDR“. Als Kind war er zu jung die komplizierte Geschichte seiner Familie im Ganzen zu verstehen. Zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer ist der Schriftsteller in Archive gegangen, hat Fotos, vergessene Tagebücher und Briefe gefunden und seine Familie befragt.19 Das in dreiundzwanzig Kapitel eingeteilte Buch handelt nicht nur von Leos Erfahrungen und den Erfahrungen seiner Eltern, sondern er geht auch umfassend auf das Leben seiner Großeltern (mütterlicherseits) ein. Leo beginnt sein Buch mit einer Charakterisierung seiner Eltern. Die Eltern Leos, Mutter Anne und Vater Wolf, wuchsen beide mit anderen Ideen über die Gesellschaft auf: Annette, eine deutsche Historikerin, war sogar in der Partei (SED), während Wolf, ein rebellischer Künstler, die ganze DDR schrecklich fand. 20 Die besondere Geschichte Annettes Vaters Gerhard wird auch behandelt, er kämpfte in dem französischen Widerstand und wohnte, als Anne ein Kind war, mit seiner Familie in Westdeutschland. Später zogen Anne und ihre Familie in die DDR, da Gerhard Kommunist war und im Westen verfolgt wurde. 21 Diese und andere Geschichten werden detailliert im Buch beschrieben. Durch Leos klare, lebendige Beschreibungen ist es für die Leser einfach, sich in Leos Welt hineinzuversetzen.

Maxim Leo wurde im Jahr 1970 in Ostberlin geboren. Wie schon erwähnt, war er der Sohn einer Historikerin und eines Künstlers. Seine Eltern haben ihn immer unterstützt, da sie

18 Maxim Leo, Haltet euer Herz bereit: eine ostdeutsche Familiengeschichte, 4. Auflage. (München: Wilhelm

Heyne Verlag, 2012), 9.

19 Vgl. Ebda., 10. 20 Vgl. Ebda., 18. 21 Vgl. Ebda., 24.

(13)

12

beiden meinten, dass das Land (die DDR) nicht gut für Kinder war. Als der Teenager Maxim kein Abitur machen durfte, wurden beide wütend, sie konnten es nicht zulassen, dass der Staat aus ihrem Sohn einen Arbeiter machte.22 Letztendlich besorgten Annette und Wolf ihrem Sohn eine Lehrstelle als Chemielaborant. 23 Als Chemielaborant hat Leo letztendlich nicht gearbeitet, 1990 fing er mit einem Studium im Bereich Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin und an dem hoch angesehenen französischen Institut Institut d’Etudes

Politiques de Paris an.24 Nach dem Absolvieren des Studiums arbeitete Leo als Journalist für unterschiedliche Unternehmen. Heutzutage arbeitet er noch immer, wie Hensel, als Journalist und schreibt Bücher. Im Jahr 2019 veröffentlichte er das Buch Wo wir zu Hause sind: Die

Geschichte meiner verschwundenen Familie, ein autobiografisches Buch, wie Halter euer Herz bereit, in dem der Schriftsteller sich wieder in einer komplizierten Familiengeschichte

vertieft.

2.3 Individuelles und kollektives Gedächtnis und die Identität

Beim Analysieren der Bücher ist das Nachdenken über das individuelle und kollektive Gedächtnis ein wichtiger Schritt. Nicht beide Bücher sind autobiografisch zu bezeichnen.

Haltet euer Herz bereit ist autobiografisch: Leo dokumentiert seine Lebensgeschichte (und

die Lebensgeschichte seiner Familien. Wer wir sind, dagegen, ist ein Interview zwischen zwei Personen in dem autobiografische Elemente beleuchtet werden. Die Beschreibungen ihrer Erfahrungen beruhen auf den Erinnerungen der Vergangenheit. Diese Vergangenheit ist in diesem Fall die Zeit der DDR, die des Falls der Mauer und zum Teil die Nachwendezeit. Sie beschreiben ihre gespeicherten Erinnerungen, aber was heißt Gedächtnis genau und worin unterscheiden sich kollektives und individuelles Gedächtnis?

Jan Assmann erklärt den Begriff Gedächtnis wie folgt: „Gedächtnis ist die Fähigkeit, Erlebtes und Gelerntes zu behalten, aber auch zu vergessen, um Neues aufnehmen zu können;

Erinnerung ist demgegenüber der Akt, sich im Gedächtnis Gespeichertes bewusst zu machen.“25 Gedächtnis ist laut Assmann in drei Subgattungen einzuteilen, nämlich in das episodische, das semantische und das prozedurale Gedächtnis.26 Das episodische Gedächtnis

22 Vgl. Ebda., 222. 23 Vgl. Ebda., 223.

24 Vgl. „ReporterForum”, Autor: Kurzinformation Autor, Maxim Leo,

http://www.reporter-forum.de/index.php?id=22 (26.05.2020).

25Jan Assmann,Gedächtnis/ Erinnerung,” in Lexikon der Geisteswissenschaften. Sachbegriffe – Disziplinen

-Personen, hg. von Helmut Reinalter und Peter J. Brenner (Wien: Böhlau Verlag, 2011), 233.

(14)

13

ist beim Schreiben einer Autobiografie die wichtigste Art, da das episodische Gedächtnis biografische Erlebnisse speichert.27

Im Buch Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen: Eine Einführung von Astrid Erll wird der Begriff „kollektives Gedächtnis“ wie folgt beschrieben: „Das ›kollektive

Gedächtnis‹ ist ein Oberbegriff für all jene Vorgänge biologischer, psychischer, medialer und sozialer Art, denen Bedeutung bei der wechselseitigen Beeinflussung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in kulturellen Kontexten zukommt.“28 Wichtig zu bemerken ist, dass das kollektive Gedächtnis nicht ›das Andere der Geschichte‹ oder ein Gegenpol zur

individuellen Lebenserinnerung bezeichnet, aber den Gesamtkontext, innerhalb solchen verschiedenartigen kulturellen Phänomenen entstehen, darstellt.29 An dem Begriff ›kollektives Gedächtnis‹ gibt es auch Kritik, so schreibt Susan Sontag beispielsweise, dass jedes

Gedächtnis individuell ist und mit der Person stirbt, zu der es gehörte.30

Das individuelle Gedächtnis ist, im Vergleich zum kollektiven Gedächtnis, das dynamische Medium subjektiver Erfahrungsverarbeitung.31 Erinnerungen werden anhand Kommunikation aufgebaut, was heißt, dass das individuelle Gedächtnis immer sozial gestützt wird.32

Merkmale individueller Erinnerungen sind unter anderem, dass sie perspektivisch und außerdem mit anderen Erinnerungen vernetzt sind. 33 Man kann also das gleiche Geschehnis mitgemacht haben, aber erinnert sich auf eine andere Art und Weise, da das Geschehnis aus anderen Perspektiven betrachtet werden kann. Das kollektive und individuelle Gedächtnis gehören zu einander und brauchen einander: „Kollektives und individuelles Gedächtnis stehen vielmehr in einer Beziehung wechselseitiger Abhängigkeit, sodass das Individuum sich erinnert, indem es sich auf ein Standpunkt der Gruppe stellt, und das Gedächtnis der Gruppe sich verwirklicht und offenbart in den individuellen Geschehnissen.“34 Überdies ist das individuelle Gedächtnis, durch seine Vernetztheit mit unter anderem Symbolen und Ritualen, kollektiv formbar. 35 Maxim Leo, der den Fall der Mauer mitgemacht hat, denkt, wenn er auf

27 Vgl. Ebda.

28Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen: Eine Einführung, 3. Auflage. (Stuttgart: J.B.

Metzler Verlag, 2017), 5.

29 Vgl. Ebda., 6.

30 Vgl. Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit: Erinnerungskulturen und Geschichtspolitik, 3.

Auflage. (München: Beck C.H., 2018), 29.

31 Vgl. Ebda., 25. 32 Vgl. Ebda. 33 Vgl. Ebda., 24.

34 Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen: Eine Einführung, 13. 35 Vgl. Assmann, „Gedächtnis/Erinnerung.“ 234.

(15)

14

diese Periode zurückschaut, an seine eigenen Erfahrungen. Jedoch wandelt sich durch beispielsweise Gedenktage die individuelle Erfahrung in eine kollektive Erfahrung (und in einem kollektiven Gedächtnis), da man an diesen Tage zusammen auf die vergangenen Geschehnisse zurückschaut.

Das kulturelle Gedächtnis steht in Zusammenhang mit dem kollektiven Gedächtnis. Das kulturelle Gedächtnis will Zusammenhänge sichtbar machen, die durch Begriffe wie Ideologie und Mythos verdeckt sind. 36 Das kulturelle Gedächtnis fokussiert sich also nicht unbedingt auf die Anzahl der Personen (individuell vs. kollektiv), aber beschäftigt sich tatsächlich mit dem Erinnern an Kultur und der Identitätsprägung. Das kulturelle Gedächtnis reicht, im Vergleich zu dem biografischen Gedächtnis, viel weiter: während das biografische Gedächtnis nur die bewusste erlebte Lebenszeit des Individuums umfasst, reicht das kulturelle Gedächtnis Jahrtausende zurück.37 In diesem Fall wird auf die kulturelle Tradition bzw. das kulturelle Gedächtnis des Anfangs der DDR (1949) beruft. Wenn man sich innerhalb einer Kultur kollektiv an ein Geschehnis erinnert (= kulturelles Gedächtnis) entsteht die Identitätsformung einer Gruppe.

Die Erinnerungen, die eine Gruppe Menschen oder ein Individuum an eine spezifische Periode oder an einem Geschehnis hat, stehen auch mit der (kulturellen) Identität in Verbindung. Identität lässt sich laut Giesen und Seyfert, wie das Gedächtnis, kollektiv und individuell einteilen. Die kollektive Identität lässt sich wie folgt beschreiben: „Wenn wir von kollektiver Identität sprechen, so behaupten wir eine gewisse Ähnlichkeit der Angehörigen einer Gemeinschaft im Unterschied zu den Außenstehenden.“38 Menschen, die früher in der DDR gelebt haben, gehören also zu einem Kollektiv, da sie sich von anderen Identitäten unterscheiden. Leo, Hensel und Engler gehören also zu dem Kollektiv der gleichen Hintergrundgeschichte. Die Gruppe hat zusammen in dem DDR-System gelebt und eine andere kulturelle Erfahrung erlebt, als die Menschen, die nicht in der DDR gelebt haben. Obwohl die drei Schriftsteller auf eine Art verbunden sind durch ihre kollektive Identität, ist ihr individuelles Gedächtnis mit den dazugehörenden biografischen Erinnerungen auch

36 Vgl. Ebda., 236. 37 Vgl. Ebda.

38 Bernhard Giesen und Robert Seyfert, „Kollektive Identität,“ Aus Politik und Zeitgeschichte 63, Heft 13-14

(16)

15

wichtig. Sie haben eine gleiche Situation mitgemacht, aber haben trotzdem eine eigene Geschichte mit ihren persönlichen Erfahrungen zu erzählen.

2.4 Reflektieren über die Geschichte

In den beiden Büchern wird, bis auf einige Kapitel, auf die Vergangenheit zurückgeblickt. Da die Werke großenteils aus dem Zurückblicken auf die Vergangenheit, in diesem Fall auf die DDR-Zeit, den Fall der Mauer und die Nachwendezeit bestehen, ist es von Bedeutung hierauf zu achten. Literatur bzw. Bücher können als Medien betrachtet werden, da nur das

Beschriebene in den Büchern mit dem Leser kommuniziert wird. 39 Die Texte dienen als Medien des kulturellen Gedächtnisses.40 Ein Verfasser reflektiert unter anderem kulturelle Änderungen, die Realität und Geschehnisse der Vergangenheit.

Die in den zwei Büchern geschriebenen Geschichten sind nicht nur Erzählungen, die Texte sind Formen des individuellen und kollektiven Wahrnehmens von der Welt und die Reflexion der Wahrnehmungen.41 Beim Schreiben der Bücher haben die Schriftsteller die Vergangenheit reflektiert und darüber geschrieben. Es muss Gleichgewicht zwischen Ästhetik und Realität geben, das Nutzen der „schönen Wörter“ muss nicht die Verständlichkeit der realen

Geschichte beeinflussen. Die Realität muss gut durchschimmern, denn Literatur und historische Realität lassen sich nicht voneinander ableiten.42 Obwohl es sich bei beiden Büchern um autobiografische Elemente handelt, ist es als Leser schwierig zu überprüfen inwieweit der Schriftsteller seine reale Geschichte beschreibt und keine wichtigen Tatsachen außer Betracht lässt.

Darüber hinaus ist es wichtig, dass man zwischen Wahrnehmungen und Erzählperspektiven unterscheidet. Wenn der Ich-Erzähler spricht, was in beiden Büchern meistens der Fall ist, gibt es subjektivere Äußerungen, da er über sich selbst und seine Erfahrungen spricht. Die Bücher handeln von Erfahrungen der Schriftsteller, die Schriftsteller haben beim Schreiben des Buches auf Erfahrungen bzw. Wahrnehmungen zurückgegriffen. Wie und wann sie auf die vergangenen Wahrnehmungen zurückgriffen haben, ist entscheidend für die Bedeutung und den Inhalt des Textes. Haltet euer Herz ist um Jahr 2009 geschrieben worden. Während des Schreibens hat Maxim Leo auf seine Vergangenheit und Wahrnehmungen

39 Vgl. Wilhelm Voßkamp, „Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft,“ in Einführung in die

Kulturwissenschaften, hg. von Ansgar Nünning und Vera Nünning (Stuttgart: J.B. Metzler Verlag, 2008), 78.

40 Vgl. Ebda., 80. 41 Vgl. Ebda., 77. 42 Vgl. Ebda., 81.

(17)

16

zurückgeblickt. Die Wiedergabe der Verarbeitung seiner Erfahrungen und der

Interpretationen seiner Wahrnehmungen könnte, hätte er dieses Buch früher oder später geschrieben, anders sein. Für Wer wir sind gilt das Gleiche: Wenn die beschriebenen politischen Geschehnisse später stattgefunden hätten, wäre die Meinungen der Verfasser bezüglich dieser Themen vielleicht anders. Ein Mensch kann überdies zu neuen Einsichten kommen. Das Alter des Verfassers, der Gemütszustand des Verfassers, die Geschehnisse des Jahres des Schreibens (2009 und 2018) und der Prozess der Verarbeitung der Vergangenheit spielen eine große Rolle für die letztendlichen Beschreibungen im Buch.

Obwohl Maxim Leo in seinem Werk auf die Vergangenheit reflektiert, ist es von Bedeutung, dass man die Einflüsse von Leos Familien einsieht. Leo ist eher ein Zeitzeuge seiner

Familienmitglieder und wird stark von den komplizierten Familiengeschichten beeinflusst. Er reflektiert also großenteils seine erlebte Vergangenheit, die mit der kollektiven erlebten realen Vergangenheit verbunden wird.

Wie alt der Verfasser während eines bestimmten Geschehnisses war, ist gewissermaßen auch von Bedeutung. Wenn jemand sehr jung ist, ist es schwierig, alle Eindrücke zu verstehen, zu verarbeiten und sich später daran zu erinnern. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die jüngeren Schriftsteller Hensel und Leo, die politische Situation bezüglich des Falls der Mauer nicht ganz verstanden haben, da sie im Vergleich zu Engler einen kurzen Teil der DDR-Geschichte mitgemacht haben. Engler, dagegen, hatte in dieser Periode schon mehr Lebenserfahrungen gemacht und war einfach älter.

(18)

17

3. Methodik

In der Einleitung wird bereits erklärt, was die Forschungsfrage der Arbeit ist und wie diese Frage beantwortet wird. In Kapitel 4 wird eine Literaturforschung durchgeführt, deren Ergebnisse für die Beantwortung der Teilfragen und der Hauptfrage genutzt werden. Eine Literaturforschung wäre die angemessene Methode, da man anhand Literatur auf die erlebte Vergangenheit zurückgreifen kann. Außerdem untersucht die Forschung die persönlichen Erfahrungen der Schriftsteller. Das Nutzen biografischer Literatur und das Ausführen einer Literaturanalyse ist also notwendig. Der größte Vorteil einer Literaturstudie ist, dass man durch die genauen Beschreibungen der Erfahrungen ein gutes Bild der Situation bekommt und der Leser sich sogar in den Schriftsteller hineinversetzen kann. Einer der größten Nachteile einer Literaturstudie ist, dass Finden geeigneter Literatur. Wie im Kapitel 2.4 „Reflektieren über die Geschichte“ genannt wurde, ist es schwer, zu überprüfen inwiefern die

Beschreibungen des Schriftstellers wahrheitsgetreu sind und inwiefern die ganze Geschichte erzählt wird.

In Kapitel 4.1 werden der biografische Bruch Hensels und der historische Bruch Englers erforscht und erörtert. Anhand der Beschreibungen in Wer wir sind und der Bücher

Zonenkinder von Hensel und Die Ostdeutschen: Kunde von einem verlorenen Land Englers

wird ein Bild der erlebten Brüche skizziert. Überdies werden für Kapitel 4.1.1 Aussagen aus dem Podcast Alles Gesagt: Warum beschweren sich die Ossis, Jana Hensel? genutzt, die die Erfahrung des biografischen Bruches Hensels verdeutlichen. Der größte Teil der Forschung basiert auf Literatur, aber es gibt auch einige nicht-literarische Verweise. Man muss darauf achten, dass ein Podcast ein ganz anderes Medium ist. Ein Podcast kann ein unterschiedliches Zielpublikum haben als ein Buch. Darüber hinaus wird ein Podcast auch oft als weniger wissenschaftlich betrachtet, da es sich in einem Podcast um direkte Aussagen handelt. Ein Schriftsteller kann beim Schreiben eines Buches lange über eine Aussage nachdenken, während eine Aussage in einem Podcast feststeht.

Die Frage „Wie beschreibt Maxim Leo die Zeit vor und nach der politischen Wende 1989?“ wird in Kapitel 4.2 erforscht. Darauf werden seine Erfahrungen mit den Erfahrungen Englers und Hensels verglichen, sodass geschlussfolgert werden kann, ob er eher einen historischen oder einen biografischen Bruch erlebt hat. Am Ende des vierten Kapitels wird anhand der Ergebnisse erforscht, ob der Altersunterschied zwischen den Verfassern Einfluss hat auf die Art und Weise wie man die Wende 1989 erlebte, also biografisch oder historisch.

(19)

18

Im Theorieteil sind die zwei Werke schon introduziert worden, aber fehlt der Grund, weshalb die zwei Bücher für diese Forschung geeignet sind. Die Bücher sind geeignet für die

Literaturforschung, da in beiden Büchern ungefähr die gleiche Periode besprochen wird. Überdies sind beide Bücher etwa 20 Jahre nach dem Fall der Mauer von ehemaligen DDR-Bewohnern publiziert worden. Nicht nur schreiben die drei Schriftsteller in ihren Werken über ihre persönlichen Erfahrungen, sondern sie beschreiben auch welchen Einfluss die DDR-Zeit, der Falls der Mauer und die Nachwendezeit auf ihre (in)direkte Umgebung hat. Damit die zwei Bücher so viele Berührungspunkte haben, sind die zwei Werke gut mit einander zu kombinieren und werden die Ergebnisse valide sein. Für die zwei anderen Werken Hensels und Englers, die weniger in den Vordergrund treten würden, gelten die gleichen Gründe, diese Bücher sind etwas älter und um das Jahr 2000 erschienen.

(20)

19

4. Analyse der zwei Werke

In den nächsten zwei Teilkapiteln werden die zwei Bücher analysiert. Wer wir sind ist wieder in zwei Teilkapiteln aufgeteilt, denn die Erfahrungen Hensels und Englers werden individuell betrachtet. In Kapitel 4.3 werden beide Werke gleichzeitig bezogen.

(21)

20

4.1 Wer wir sind

Was versteht man unter historischen und biografischen Brüchen und was hat dafür gesorgt, dass Hensel und Engler den Fall der Mauer und die politische Wende 1989/90 beide als einen anderen Bruch erfahren haben? Engler und Hensel sind der Meinung, dass man sich nur ein Urteil über die Ostdeutschen erlaubt, wenn man auf eine faire, sachgemäße Gewichtung der Erfahrungen vor und nach dem großen Bruch der Jahre 1989/90 Rücksicht nimmt.43 Wenn jemand über Ostdeutsche urteilt, muss man also unbedingt ihren erlebten Bruch im Hinterkopf behalten, da er einen großen Einfluss auf das weitere Leben der Ostdeutschen hat.

4.1.2 Jana Hensel und der biografische Bruch

In dem siebten Kapitel „Verlust und Wiederaneignung. Über ostdeutsche Diskurse“

besprechen die ostdeutschen Schriftsteller die Brüche. Die Wende 1989 bzw. der Bruch kann sowohl biografisch, als auch historisch erfahren werden. Die Wende sorgte dafür, dass die Ostdeutschen von einem ideologischen Block in den anderen überliefen und darüber hinaus gelangen sie vom Sozialismus in die Marktwirtschaft. 44 Sie waren an ein kommunistisches System gewöhnt und gelangten plötzlich in ein kapitalistisches System. Obwohl Hensel sich nicht wörtlich über ihren mitgemachten Bruch äußert, weisen ihre Beschreibungen auf einen biografischen Bruch hin. Hensel betrachtet den Fall der Mauer und den totalen Kollaps der Gesellschaft als eine ostdeutsche Erfahrung und nicht mehr als eine DDR-Erfahrung, da man die Erfahrung eher mit Helmut Kohl (ehemaliger Bundeskanzler der BRD) zusammenbringt.45

Für die Analyse Hensels Beschreibungen um das Jahr 1989, ist es wichtig das Buch

Zonenkinder (2002) miteinzubeziehen. In Wer wird sind erklärt Hensel weshalb sie die

Aufgabe, die Beschreibung des Lebens nach dem Fall aus dem Blickwinkel eines Teenagers, auf sich nahm:

Für meine Generation gab es gar keine Zuschreibungen. Bis Ende der neunziger Jahre existierte sie als eine beschriebene Generation gar nicht. Das hatte natürlich mit klischierten Denkbildern zu tun, wonach man damals tatsächlich annehmen wollte, dass die DDR und alle ihre Prägungen mit dem Jahr 1989 verschwunden waren. Und so sprach man mir als jemandem, die mit dreizehn Jahren noch fast ein Kind gewesen war, als die Mauer fiel, jegliche DDR-Erfahrung ab. Dass ich und viele meiner

Generationsgenossen überhaupt eine Prägung durch unsere DDR-Herkunft, die Mauerfallerlebnisse, den Wende- und Nachwendeprozess haben könnten, das wurde von vielen prinzipiell in Frage gestellt oder für nicht möglich erklärt.46

43 Vgl. Engler und Hensel, Wer wir sind, 52. 44 Vgl. Ebda., 70.

45 Vgl. Ebda., 69. 46 Ebda., 46 f.

(22)

21

Hensel hat also die schon bekannte Geschichte der Wende 1989 vom Teenagergesichtspunkt her dargestellt, da sie bis 2002 nicht existierte. Zonenkinder fängt gleich mit einer treffenden Beschreibung des unruhigen Herbsts 1989 an:

Am letzten Tag meiner Kindheit, ich war dreizehn Jahre und drei Monate alt, verließ ich gemeinsam mit meiner Mutter am frühen Abend das Haus. Es war bereits dunkel man sah den Atem vor dem Gesicht, Nieselregen fiel vom Himmel. Ich musste hohe Schuhe, Strumpfhosen und zwei Pullover unter meinen blauen Thermoanorak ziehen und niemand wollte mir so richtig sagen, wo es hingehen sollte. Auf dem Weg zur Straßenbahn, den wir immer liefen, um in die Leipziger Innenstadt zu kommen, mussten wir über ein Bahngelände, und ich weiß nicht mehr, ob ich es mir heute einbilde oder ob wir tatsächlich keinem Menschen begegnet sind und ob ich damals schon dachte, dass der Regen, den man nur im gelben Licht der Laternen erkennen konnte, sehr schön aussah, wie er da so ruhig und gleichmäßig vor sich hin viel. 47

Nur beim Lesen des ersten Absatzes fällt es auf, dass Hensel sich noch gut an die

Montagsdemonstration erinnert. Sie weiß genau, was sie trug und was sie an diesem Tag sah. Der erste Satz des ganzen Buches verrät den großen Einfluss der politischen Wende 1989 auf ihr Leben. Sie behauptet nämlich, dass der Fall und damit das Ende der DDR das Ende ihre Kindheit bedeutete. Die DDR-Zeit gehörte also zu ihrer Kindheit und danach fühlte sie sich plötzlich nicht mehr als Kind. Nicht nur in Zonenkinder, sondern auch in Wer wir sind betont Hensel wie überwältigend die unruhige Periode vor dem Fall war: „Und ich kann mich noch gut erinnern, wie ich am nächsten Morgen in die Schule kam und alle von mir wissen wollten, wie es gewesen war. Und ich konnte es nicht erzählen, weil es zu groß war, weil die

Eindrücke zu überwältigend waren.“48 Sie war damals ein kleines Kind in einer großen Menge Menschen.

Die Stimmung um den Fall hat Hensel also noch in frischer Erinnerung. Nach dem Fall der Mauer gab es große Änderungen. Fast jeder ist bekannt mit der schlimmen Arbeitslosigkeit und dem Verschwinden der ostdeutschen Unternehmen, aber Hensel fokussiert sich auf die kindliche Perspektive und beschreibt, was ihr auffiel. Die ehemaligen DDR-Kinder gehörten zu einem eigenen Kollektiv mit ihrem DDR-Brauchtum wie beispielsweise die

FDJ-Versammlungen und die Samstagsschule. Nach der Wende 1989 wurde Hensel bombardiert mit westdeutschen Perspektiven und gehörte zu dem ersten ostdeutschen Jahrgang, der nach westdeutschem Schulsystem Abitur gemacht hatte.49 Darüber hinaus beschreibt Hensel in Zonenkinder, wie kleine vertraute Sachen im Klassenraum nach der Wende verschwanden:

47 Jana Hensel, Zonenkinder. (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2002), 6, Adobe Digital Editions. 48 Engler und Hensel, Wer wir sind, 158.

(23)

22

„Als nach dem Mauerfall zuerst die Bilder von Erich Honecker und Wladimir Iljitsch Lenin aus den Klassenzimmern verschwanden, gab es lange kein anders Gesprächsthema. Tagein, tagaus hatten wir die Männer angeguckt wie das Testbild im Fernsehen, doch erst als sie nicht mehr da waren, fielen sich plötzlich auf.“50

Es gab nicht nur Änderungen im Bildungswesen, sondern auch in Hensels außerschulischen Aktivitäten bzw. Freizeit: „Mittwochs um 16 Uhr ging ich auch nicht mehr mit Halstuch und Käppi zum Pioniernachmittag, so wie die Großen nicht mehr zur FDJ-Versammlung

gingen.“51Als Kind war Hensel also Mitglied der Pioniere und über Nacht gab es keine FDJ oder Pioniergruppen mehr. Eine Gruppe, bei denen Hensel immer aktiv mitmachte, existierte nicht mehr. Detailliert beschreibt sie wie sie sogar die Kinderzeitschrift der DDR genannt ABC-Zeitung verlor: „Nach und Nach waren die ABC-Zeitungen der Kleinen von den Schulhöfen verschwunden und damit nicht nur Rolli, Flitzi und Schnapp, sondern auch Manne Murmelauge, unser Freund mit Halstuch und Käppi, der uns auf der dritten Seite immer Tipps gab, wie wir den Timurtrupp besser organisierten, wie die Wandzeitung zur Woche der Waffenbrüderschaft noch besser würde und was die drei Zipfel des Halstuches zu bedeuten hatten.“52

Die aufgelisteten Beschreibungen sind Beispiele der von Hensel erlebten Änderungen. Es ist deutlich, dass es sich in Zonenkinder um die Erinnerungen eines damaligen Kindes handelt, da es keine Sachen wie das Betriebsleben und die Politik zum Thema hat, aber eher von dem Schulleben, den Freunden und der Familie handelt. Die bis jetzt genannten Beschreibungen sind nur eine kleine Anzahl von Hensels erlebten Änderungen. Der Fall der Mauer hatte also einen riesigen Einfluss auf das Leben nach dem 9. November. Ihre Kindheit verschwand und sie fühlte sich wie eine Fremde in einem neuen Land, da es die kleinen Dinge an denen sie sich während der DDR-Zeit gewöhnt hat, auf einmal nicht mehr gab. Die Wende 1989 und ihre Folgen prägte ihr Leben wesentlich, was wahrscheinlich heißt, dass Hensel implizit ihren biografischen Bruch beschreibt. „Βιος“ heißt Leben auf Griechisch, ein biografischer Bruch ist also eine persönliche Wende, ein lebensbeeinflussender Bruch. Die Wende 1989 hat tatsächlich ihr Leben zerbrochen und ihre Kindheit verschwinden lassen. Obschon Hensel versuchte, sich damit abzufinden, hörte sie nicht mit dem Suchen nach den Leinwandbildern

50 Hensel, Zonenkinder, 8. 51 Ebda., 9.

(24)

23

ihrer Kindheit auf, die verschwunden waren.53 Hensel beschreibt in ihrem Werk Zonenkinder vor allem die Mängel, die es für sie nach dem 9. November gab, aber erwähnt manchmal auch positive Punkte des Falls, zum Beispiel die Freiheit des Reisens.

Das Resultat der vielen Änderungen war das Gefühl, dass Hensel eine Einbrecherin in einem neuen Land war. In dem Podcast Alles Gesagt sagt die Ostdeutsche, dass es bedenkenswert ist die Ostdeutschen mit Migranten zu vergleichen, da es Parallelen gibt: wenn ein Ostdeutsche sich selber nicht bespricht, bespricht auch niemand die Ostdeutschen.54 Überdies erzählt sie Engler wie jung und unbefangen sie war:

Ich war gänzlich verwoben mit der damaligen Zeit und ihren Ereignissen. Später als Erwachsener ist man das ja nicht mehr, gehört bereits zu irgendwelchen Milieus, sortiert sich seine Realität, so gut man dazu in der Lage ist. Ich wurde mit allen anderen damals tatsächlich ins kalte Wasser des Umbruchs geworfen, wurde von jeder Welle erwischt, ohne dass ich bereits zu schwimmen gelernt hatte.55

Sie erklärt, dass sie in den Zeiten um den Bruch noch nicht zu einem bestimmten Milieu gehörte, später beschreibt sie ebenfalls in Zonenkinder wie entfremdet sie sich von ihrer neuen Welt bzw. dem neuen Deutschland fühlte: „Ich hasste es, mich dort nun wie ein Tourist im eigenen Leben zu bewegen, die Maschinen zu bestaunen und dabei meine Biografie auf jene Hand voll Anekdoten zu reduzieren, die meine westlichen Besucher hören wollten. Oder von denen ich dachte, sie wollten sie hören.“56 Sie fühlte sich also wie eine Touristin,

umgeben von Westdeutschen. Es gab nach der Vereinigung der zwei Länder ein Land mit zwei Gruppen Leuten, nämlich die ost- und westdeutsche Gesellschaft. Die zwei

Gesellschaften sortieren sich biografisch und ökonomisch, erwähnt Hensel in Alles Gesagt. Sie sagt auch, dass die Ostdeutschen nichts Ökonomisches zu verbergen haben, aber etwas Biografisches: Die ostdeutsche Gesellschaft sortiert sich biografisch, während der

westdeutschen Gesellschaft sich stark ökonomisch sortiert.57

In Alles Gesagt spricht sie sich über das Leben ihres Vaters nach der Wende 1989 aus: „Er ist nach dem Mauerfall in den 90’er Jahren wie hunderttausend andere mit seinem ganzen Vorhaben gescheitert.“58 Sie erzählt im Podcast auf emotionale Art und Weise wie das

53 Vgl. Ebda., 19.

54 Vgl. Hensel, Alles Gesagt? Warum beschweren sich die Ossis Jana Hensel? 203.18-203.28. 55 Engler und Hensel, Wer wir sind, 49.

56 Hensel, Zonenkinder, 18.

57 Vgl. Hensel, Alles Gesagt? Warum beschweren sich die Ossis Jana Hensel? 166.15-166.37. 58 Hensel, Alles gesagt? Warum beschweren sich die Ossis Jana Hensel? 103.47-103.55.

(25)

24

Arbeitsleben ihres Vaters scheiterte und erklärt, dass seine Geschichte Teil einer kollektiven Geschichte ist. Die Wende 1989 hatte also nicht nur weitreichende Folgen für die Jugend, sondern auch für die Erwachsenen. Überdies beweist die Geschichte ihres Vaters, dass es auch für Erwachsenen möglich ist, einen biografischen Bruch zu erleben, da das Arbeitsleben vieler Erwachsenen nach dem Fall eine tragische Wendung bekam. Ebenfalls greift sie in

Zonenkinder auf die Geschichte der Erwachsenen zurück: „Unsere Eltern, so sehen wir es,

sind müde und ein bisschen zu alt für die neue Zeit.“59 Hensel behauptet, dass die ältere Generation in der alten Epoche sitzen bleibt, während die Jugend zeigen will, dass sie die Spielregeln des Westens gelernt haben und damit umgehen können.60

4.1.2 Wolfgang Engler und der historische Bruch

Im Gegensatz zu Hensel drückt Engler sich klar und deutlich aus und sagt, dass er keinen biografischen Bruch mitgemacht hat: „Bei mir waren schon viele, viele Jahre mehr

verstrichen, und anders als bei den meisten Ostdeutschen wurde der historische Bruch bei mir kein biografischer Bruch.“61 Obwohl der Systemwechsel 1989 große Folgen wie einen

ökonomischen Kollaps und mehrere Wanderungsbewegungen für die Ostdeutschen hatte, hatten diese Entwicklungen nicht dafür gesorgt, dass Engler den Bruch biografisch erfuhr.

Hensel vermutet, nachdem Engler erklärt, dass er überhaupt keinen biografischen Bruch erlebt hat, dies auf jeden Fall mit seiner Arbeitsbiografie zu tun hat. Seine Arbeit und Aufgaben haben sich nach dem Fall nämlich nicht geändert: „Ich behielt meine Arbeit, tat, was ich vordem getan hatte und noch immer tue, Studentinnen und Studenten in Kultursoziologie zu unterrichten, gehe denselben Weg zu meiner Arbeitsstelle, der Schauspielschule »Ernst Busch«, treffe dort Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich vielfach schon zu DDR-Zeiten zusammengearbeitet habe.“62 Sein Arbeitsleben hat also keine Wende durchgemacht und hat sich nach der Wende 1989 fortgesetzt, wie das Arbeitsleben auch im Oktober 1989 und davor aussah. Anders als bei Hensel hat eine tägliche Tätigkeit (in diesem Fall Arbeit statt Schule) seine Kontinuität behalten. Der historische Bruch hat also keinen eingreifenden Einfluss auf das tägliche Leben Englers. Wenn Engler in Wer wir sind über den 9. November 1989 spricht, bleibt er neutral und erzählt wie er den Tag selbst erfahren hatte, jedoch nicht sehr detailliert.

59 Hensel, Zonenkinder, 50. 60 Vgl. Ebda.

61 Engler und Hensel, Wer wir sind, 179. 62 Ebda.

(26)

25

Er beschreibt die vorausgehenden, überwältigenden Demonstrationen, aber verknüpft diese Geschehnisse nicht mit seiner Biografie.

Es sieht so aus, wenn man die Beschreibungen der Erfahrungen Englers näher betrachtet, dass er den Bruch als historisch betrachtet, da er den Verlauf seines Lebens nicht direkt mit dem Geschehnis 1989 verknüpft. Der Bruch ist historisch, da für Engler nur von einem plötzlichen historischen Wandel die Rede ist. Das es nach dem 9. November keine Änderungen gab, stellt er natürlich nicht in Abrede, es gab nämlich einen tatsächlichen Bruch mit unvermeidlichen Folgen, aber diese Folgen hatten keinen Einfluss auf sein Leben. Obwohl die Wende 1989 für das Kollektiv für große Änderungen gesorgt hat, wie ein Systemwechsel, bankrotte

Unternehmen und eine Unwucht der Wirtschaft und Bildung, hat Engler auf individueller Ebene kaum Änderungen durchgemacht.

Der Systemumbruch bedeutete ein neues Leben für die Ostdeutschen. Die Ostdeutschen gerieten in ein nicht-kommunistisches System, in dem es andere Normen und Werte gab. Dennoch neigte die Wir-Balance nach dem Fall in Ostdeutschland stärker der Wir-Seite zu als im Westen des Landes.63 Die Ostdeutschen beschäftigten sich nach der Wende also noch immer mit den Interessen des Kollektivs. Engler erwähnt, dass der Begriff „die Ostdeutschen“ eher eine Art Nachwendeerfahrung oder -erfindung ist und sie sich am stärksten mit

Ostdeutschland identifizieren lässt statt der Bundesrepublik oder Europa.64 Darüber hinaus fühlen die Ostdeutschen sich auf kultureller Ebene verbunden und gibt es ein

Zusammenhangsgefühl, das es auf diese reflexive Weise zu DDR-Zeiten niemals gegeben hatte.65 Die Ostdeutschen haben in ihrer DDR-Zeit ein kulturelles Gedächtnis aufgebaut, als kollektiv erinnern sie sich an die Geschehnisse vor dem Fall. Nach dem Fall der Mauer geriet diese Gruppe Menschen in eine neue Gruppe (die Westdeutschen), eine Gruppe, die die Geschehnisse 1945-1989 wieder auf eine andere Art und Weise erfahren hatte. Die DDR hörte auf, aber das bedeutete nicht, dass die Ostdeutschen sich nicht mehr an ihre

Vergangenheit erinnerten. Etwa ein Jahrzehnt später, erzählen die ostdeutschen Schriftsteller, setzte die erste große Erinnerungswelle an die DDR ein: Die populäre Kultur, wie Bücher und Filme, griff auf die vertrauten DDR-Zeiten zurück.66 Die alten gemeinsamen Erinnerungen

63 Vgl. Engler und Hensel, Wer wir sind, 130. 64 Vgl. Ebda., 66.

65 Vgl. Ebda. 66 Vgl. Ebda., 183.

(27)

26

konnten von den Ostdeutschen erneut erlebt werden. Der Einfluss des historischen Bruchs wurde auf diese Art und Weise verringert bzw. stufenweise verarbeitet, denn es gab Filme wie »Sonnenallee«, die das Leben der ehemaligen DDR zeigten und dafür sorgten, dass die

Erinnerung lebendig blieb.67

Der historische Bruch hat dafür gesorgt, dass die Ostdeutschen nach der Wende ein neues kollektives Gedächtnis aufbauten: das Leben nach dem Fall und das Leben in einem neuen System. Dieser Bruch hat auch zu der kollektiven Identität beigetragen, da jeder Ostdeutsche den Wandel ihres Systems mitgemacht hat und sich an diese Situation angepasst hat. Doch hat jeder Ostdeutsche sich auf eine andere Art und Weise angepasst, was heißt, dass Engler beispielsweise durch seine Erfahrungen unabhängig von der kollektiven Identität ebenfalls individuell eine neue Identität aufgebaut hat.

In Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land geht Engler tief auf die Geschehnisse um 1968 ein. Er behauptet, dass eine eingehendere Beschäftigung mit 1968 für ein tieferes Verständnis der ostdeutschen Geschichte der siebziger und achtziger Jahre unverzichtbar ist.68 Das Jahr 1968 war für die Ostdeutschen aus politischer Sicht wichtig, da eine weniger strikte Regierungsform mittels friedlicher Demonstrationen fast aufkam. Leider wurde diese

hoffnungsvolle Periode am 21. August mit dem Niederschlag des Prager Frühlings beendet und damit verschwanden sämtlichen Illusionen über die Reformfähigkeit des

Gesamtsystems.69 Er beschreibt unter anderem, was diese Niederlage mit den Ostdeutschen getan hat und inwieweit die Ostdeutschen an der politischen Geschichte der anderen

(östlichen) Länder beteiligt waren. In beiden Büchern schenkt er dem Jahr 1968 viel Beachtung, was heißen kann, dass er tief von diesem Jahr beeindruckt ist. Die Erfahrungen Englers Kindheit und die dazugehörenden Geschehnisse, wie seine Haltung zu der FDJ, werden in seinen Büchern genauer beschrieben als seine neueren Erfahrungen wie die politische Wende 1989. Es könnte sein, dass er den Fall der Mauer nicht als biografischen Bruch erlebt hat, da er als Kind schon mit außergewöhnlichen Situationen wie die 68er-Bewegung Bekanntschaft machte und deshalb das Jahr 1968 schon als eine Art biografischen Bruch erfahren hat. Außerdem offenbart Engler in dem Dialog mit Hensel, dass er gut auf

67 Vgl. Ebda., 284.

68 Vgl. Wolfgang Engler, Die Ostdeutschen: Kunde von einem verlorenen Land. (Berlin: Aufbau-Verlag, 1999),

263, Adobe Digital Editions.

(28)

27

einen eventuellen Bruch vorbereitet war: „Im Austausch mit Kollegen und Studenten lasen und debattierten wir, was zeitgleich im Westen Deutschlands und in der Welt gelesen und diskutiert wurde, und waren zumindest in dieser Hinsicht auf das, was kommen sollte, auf den Systemwechsel, gut vorbereitet.“70 Diese Vorbereitung kann dafür gesorgt haben, dass er schon wusste, wie er mit so einem Bruch umgehen musste.

4.2 Haltet euer Herz bereit

Es ist jetzt bekannt wie das Leben Hensels und Englers um die politische Wende 1989 aussah. Wie beschreibt Leo diese Zeit und was hat sich nach dem Fall der Mauer geändert? Die drei Schriftsteller haben die Geschehnisse auf individueller Art und Weise verarbeitet, aber inwieweit sind die Erfahrungen Leos mit den Erfahrungen der Wer wir sind Schriftsteller zu vergleichen?

4.2.1 Die von Maxim Leo dargestellten Erfahrungen vor und nach der Wende Das Buch Leos handelt von einer ganzen Familiengeschichte. Er erzählt von den zähen Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern und von den Kriegsgeschichten seiner

Vorfahren. Leo wächst in einer Familie mit komplizierten Familiengeheimnissen und anderen Meinungen in Bezug auf das DDR-System auf. Leos Eltern (Anne und Wolf) haben alle beide eine ganz andere Erziehung gehabt, wodurch sie die DDR auf eine andere Art und Weise betrachten. Anne war eine „DDR-Fantastin“, während Wolf sich wider die Ideen der DDR setzte und seinen eigenen Weg ging. Leo hat seine ganze Familiengeschichte erzählt, aber fokussiert sich auch oft auf seine eigenen Erfahrungen.

Von Zeit zu Zeit gibt es Kapitel im Buch, in denen Leo an seine frühsten DDR-Gedanken appelliert. In dem Kapitel „Zusammenstöße“ beschreibt er seine erste Begegnung mit der Stasi. Er wurde von einem Auto erfasst, als er über die Straße rannte. Dieses Auto wurde von einem Stasi-Agenten gelenkt und der Ton war bereits angegeben: „Ich wusste damals nicht, was Stasi bedeutet, aber ich kann sagen, dass mein Verhältnis zu ihr von Anfang an kein gutes war.“71 Seine Kindheit war ruhig und er war vor allem mit seinen Freunden beschäftig. Mit seinen Freunden spielte er am liebsten das Spiel „In den Westen flüchten“. 72 Schon im jungen Alter war er neugierig auf das geheime Land.

70 Engler und Hensel, Wer wir sind, 45. 71 Leo, Haltet euer Herz bereit, 183. 72 Vgl. Ebda., 186.

(29)

28

Die Neugier Leos reichte nicht nur bis zu den harmlosen Kinderspielen, sondern erscheint auch in vielen anderen Teilen des Buches. Schon als Kind fand er es immer schön, dass seine Mutter, Anne, aus dem Westen kam.73 Es gab schon früh ein bestimmtes Interesse am

Westen, im Verborgenen. Als er sechzehn Jahre alt war, fuhr er mit Gerhard nach Frankreich über Westdeutschland. Mittels eines Reisepasses konnten sie die Grenze passieren: „Wie konnte es auf einmal so einfach sein, über diese beschissene Grenze zu kommen? Mit einem Anruf hatte Gerhard die Mauer für mich geöffnet.“74 Gerhard machte es für seinen Enkel Leo möglich, den Westen anzuschauen. Mit seinem fast auslaufenden Visum besuchte Leo West-Berlin nach der Reise. Er beschreibt wie er fünf oder sechs Mal mit der S-Bahn zwischen Lehrter Bahnhof und Friedrichstraße hin und her fuhr, er konnte nicht genug von diesem Pendelgefühl bekommen: In den Osten zu fahren und gleich wieder rauskommen.75 Er wusste schon, dass er in der Zukunft in dem Westen wohnen wollte:

Anderseits wusste ich jetzt, dass ich in den Westen wollte, sobald ich alt genug war, mir ein neues Zuhause zu suchen. Das war nicht nur eine Idee, sondern ein Plan, an den ich fest glaubte. Als ich eines Abends nach dem Essen Anne und Wolf davon erzähle, ist es auf einmal ganz still an unserem Tisch. Vielleicht spüren sie, wie ernst ich es meine.76

Erst als Leos Abiturantrag abgelehnt wurde, sah er ein, inwieweit die DDR sein (zukünftiges) Leben beeinflusste. Er spürte zum ersten Mal die Macht der DDR, sie konnte einfach darüber bestimmen, wer welchen Lebensweg einschlagen durfte.77 Überdies entdeckte der Teenager auch, dass seine Eltern ihn immer vor dem System geschützt hatten: „Ich begriff auf einmal, wie wenig die Welt meiner Eltern mit dem zu tun hatte, was sonst in diesem Land passierte. Wie gut ich in diesem luftigen, warmen Intellektuellenhaushalt abgeschirmt worden war von der Realität.“78 Die ruhigen Kinderzeiten gab es nicht länger, Leo lebte jetzt in der

Wirklichkeit.

Obwohl Leo in seinem Werk oft beschreibt, wie häufig er sich mit dem Westen beschäftigte, beschreibt er den Fall und ebenfalls die Einladung in den Westen, nicht als einen

euphorischen Moment. Er schreibt, dass er am 9. November 1989 möglicherweise genauso wenig von der historischen Bedeutung des Moments verstanden hat wie sein Vater während

73 Vgl. Ebda., 22. 74 Ebda., 228. 75 Vgl. Ebda., 233. 76 Ebda., 234. 77 Vgl. Ebda., 223 78 Ebda., 224.

(30)

29

des Mauerbaus. 79 Überdies erwähnt er, dass er während des wichtigen Moments nicht lange im Westen geblieben ist, obwohl er in vielen Kapiteln des Buches seine Sehnsucht nach dem Westen beschreibt. Während es viele Leute gab denen die Tränen hoch kamen, war das erste woran Leo dachte, als er den West-Berliner Boden betrat, seine vergessene Zigaretten. 80 Diese Reaktion zeigt, dass Leo auf das Moment des Falles noch nicht wirklich mit dem wichtigen Geschehnis und seine Folgen beschäftigt war. Der Fall weckte also keine heftigen Emotionen: „Ich habe das Gefühl, dass mein Kopf zu langsam ist, um das alles

mitzubekommen. Es ist wie ein Film, der von mir abläuft. Christine weint, wir umarmen uns, und ich habe Lust auf eine Zigarette.“81 Leo beschreibt, dass er nicht alles mitbekam, dies kann sowohl mit seinem adoleszenten Alter als auch mit der plötzlichen heftigen Wende zu tun haben, deren möglichen Einfluss Leo auf diesen Moment noch nicht realisierte.

Am Anfang des Buches macht Leo eine bemerkenswerte Aussage: „An diesem Tag habe ich mir zum ersten Mal gewünscht, noch mal in die DDR zurückzukehren zu können.“82

Interpretiert man diesen Satz, bemerkt man, dass Leo also keine gute Beziehung zu der DDR hatte. Er hatte erst nach 18 Jahre nach dem Mauerfall - dieses Kapitel handelt von dem Jahr 2007 - Sehnsucht nach seinem Geburtsland. Der Bruch hatte Einfluss auf Leos Leben, aber war nicht unbedingt negativ. Wenn Leo sein Leben reflektiert, erwähnt er, dass jetzt nicht die Gesellschaft, sondern er selbst zum Hauptthema seines Lebens geworden ist: Sein Glück, sein Job, seine Projekte und seine Träume.83 In dem neuen System handelt es jetzt von dem

Individuum statt des Kollektivs. Er konnte sich auf sich selbst fokussieren und seinen eigenen Weg gehen, ohne sich nur auf das Kollektiv - was in Zeiten der DDR wichtig war - zu

fokussieren. Der Systemwandel 1989 hat es für Leo vereinfacht, ein neues Leben anzufangen: „Ich musste mich nicht bewegen, der Westen ist zu mir gekommen. Er hat mich zu Hause erobert, in meiner vertrauten Umgebung. Er hat es mir leicht gemacht, ein neues Leben zu beginnen.‘‘84 Er gibt zu, dass er eigentlich keine echten Gefühle für das Land gehabt hatte.85 Da er keine wirklichen Gefühle für das Land, die DDR, hatte, hat die Wende Leo nicht auf eine negative Art und Weise beeinflusst, da er keine emotionale Beziehung zu der DDR hatte.

79 Vgl. Ebda., 52. 80 Vgl. Ebda. 81 Ebda., 263. 82 Ebda., 9. 83 Vgl. Ebda., 15. 84 Ebda., 15. 85 Vgl. Ebda., 195.

(31)

30

4.2.2 Die Erfahrungen Leos im Vergleich zu den anderen zwei Schriftstellern und den Brüchen

Das Werk Leos ist weniger inklusiv als das Werk Wer wir sind. Leos Beschreibungen gehen nur auf seine Familienmitglieder ein, wodurch es für den Leser schwierig ist, sich vorzustellen wie das Leben von der ganzen Gruppe erfahren wurde. Wer wir sind gönnt dem Leser einen Einblick auf das Leben des Kollektivs. Obwohl die drei Schriftsteller die DDR und die Nachwendezeit unabhängig voneinander erlebt haben, gibt es Zusammenhänge zwischen den biografischen Geschichten. Die Erfahrungen Hensels und Leos haben die meisten

Überlappungen.

Hensel und Leo machen den Leser aufmerksam auf die ökonomischen Folgen ihrer Eltern. Sowohl Hensels als auch Leos Eltern gingen in finanzieller Hinsicht einer schweren Periode entgegen. Leos Vater hatte die von Hensel schon genannte kollektive Geschichte in Bezug auf die Finanzen nach der Wende auch erlebt: „Alles andere wäre auch schwierig, weil er seit der Wende nie besonders viel Geld verdient hat und nur sechshundert Euro Rente bekommt.“86 Engler, dagegen, äußert sich über seine finanzielle Situation nach dem Mauerfall nicht, aber das kann natürlich mit seinem nicht geänderten Arbeitsleben zu tun haben. Überdies waren Hensel und Leo beide Mitglied der FDJ, aber haben diese Erfahrung beide auf eine andere Art und Weise erlebt. Leo versteckte sein FDJ-Hemd oft in seiner Schultasche und fand es

überhaupt „extrem uncool“ ein FDJ-Hemd anzuhaben.87 Hensel war betrübt über das

Verschwinden der FDJ, während Leo gar nicht über das Vermissen der FDJ nach der Wende 1989 spricht.

In den Büchern Haltet euer Herz bereit und Zonenkinder gibt es eine gleiche Beschreibung des Gefühls des Mangels der DDR. Hensel fühlte sich als Kind nach der Wende wie Leos Mutter sich noch immer nach der Wende fühlt: „Ich glaube, die Beziehung meiner Mutter zu diesem Staat war wie eine unglückliche Teenagerliebe. Sie war als junges Mädchen für die DDR entflammt und brauchte ein ganzes Leben, um wieder von ihr loszukommen. Mir fällt es schwer, das alles zu begreifen, zu sehen, dass meine kluge, kühle Mutter noch zwanzig Jahre nach dem Ende der DDR um diese erste große Liebe trauert.“88 Die Beschreibungen der Belebung Annes kommen mit den Gefühlen Hensels überein, sie hatte auch die Idee, dass es

86 Ebda., 16. 87 Vgl. Ebda., 188. 88 Ebda., 35.

(32)

31

nach dem Fall eben nichts positives mehr gab, ähnlich zu dem unglücklichen Teenagerleben: Die Liebe, die DDR, war nicht mehr.

Engler bemerkt auf individueller Ebene wenig Unterschiede nach der politischen Wende 1989. Hensels und Englers Erfahrungsgeschichten ähneln und unterscheiden sich gleichzeitig sehr. Die beide hatten ganz andere Gefühle in Bezug zu ihrem Heimatland. Leo schreibt, dass er seine Heimatgefühle von der DDR getrennt hat.89 Er hatte nach der Wende also nicht das Gefühl, dass sein Heimatland verschwunden war, da er diese Gefühle überhaupt nicht mit der DDR verknüpft hatte. Hensel, dagegen, legte mehr Wert auf ihr Heimatland und beschreibt in

Zonenkinder, dass sie sich in dem neuen Land wie eine Fremde fühlte. Obwohl sie andere

Gefühle bezüglich des Lebens nach der Wende hatten, prägte der Wende die Nachwendezeit Leos und Hensels auf gemeinsamer Ebene, positiv oder negativ. Sie haben beide einen Bruch erlebt, der den Verlauf des weiteren Lebens beeinflusste. Leo schreibt, dass seine Träume und sein Glück in der Bundesrepublik Deutschland im Vordergrund standen. Er wohnte nicht mehr in der DDR, den Staat, den er im fortgeschrittenen Alter erst echt kennengelernt hatte. Er konnte seine Fantasien über den Westen nach der Wende tatsächlich leben. Hensel machte auch einen lebensbestimmenden Bruch mit, aber war hier, im Gegensatz zu Leo, eher

unzufrieden mit. Hensels Kindheit war verschwunden und sie musste sich an ein komplett anderes System gewöhnen. Wogegen Leo behauptet, dass er einfach ein neues Leben anfangen konnte, trat es bei Hensel eine Art Heimweh auf, ein Heimweh nach dem verschwundenen Land. Sowohl das Heimwehgefühl Hensels als das Paradiesgefühl Leos weisen auf einen biografischen Bruch hin. Leos Leben änderte sich auch nach der Wende, er konnte machen was er wollte und genoss die Freiheit. Auf eine völlig unterschiedliche Art und Weise haben die beiden Schriftsteller den gleichen biografischen Bruch erlebt.

4.3 Der Generationsunterschied und die erlebten Brüche

Wie man die Wende 1989 bzw. den Bruch erlebt hat, hat laut Engler und Hensel auch mit dem Alter des Zuschauers zu tun, Hensel sagt Folgendes dazu: „Deshalb ist es sehr wichtig, wie alt man zum Zeitpunkt des Einbruchs einer neuen Realität ist, wenige Jahre

Altersunterschied bekommen plötzlich eine enorme Wichtigkeit. Ich habe mich damals an jener Schwelle befunden, an der ein beginnendes Bewusstsein bereits eingesetzt hatte, ohne dass es in irgendeiner Weise schon geformt oder gefestigt war.“90 Sogar wenige Jahre Altersunterschied können dafür sorgen, dass der Bruch auf eine andere Art und Weise

89 Vgl. Ebda., 195.

Referenties

GERELATEERDE DOCUMENTEN

Zunächst kam heraus, dass jedes Paradigma eigentlich einen wichtigen empirischen Trend der zweiten Moderne beleuchtet: das Säkularisierungsparadigma den Rückfall der Grosskirchen,

Naast de ideologische en praktische parallellen en vormen van beïnvloeding tussen de Alldeutsche Verband en het nationaal-socialisme – zelfs Adolf Hitler gaf in Mein Kampf blijk

Ein weiteres Argument rückt die Übereinstimmungen der beiden deutschen Staaten in den Vordergrund und wird folgendermaßen von einem Redakteur ins Feld geführt: „Door taal,

Volksaufstände gibt es ab 1280 regelmäßig in den Städten; von 1323 bis 1328 waren auch die westflandrischen Bauern in Aufruhr. In Flandern brachten die Aufstände im Laufe des

Rücksichtslosigkeit des NS-Systems, sondern macht auch deutlich, wie verwundbar das Ahnenerbe in sei- nem Bestreben war, neue nationalsozialistische trans- nationale Kontakte

Liegt aber darin nicht eine Zweideutigkeit? Denn insoweit das höchste Verhältnis das des Schaffenden zu seinem Material ist, muß dann nicht die höchste Manifestation dieser

Allerdings gibt es auch eine Reihe von Kommentaren und Handbüchern, die nicht nach dem Na- men des Herausgebers oder Begründers zitiert werden, sondern nach ihrem Titel.. 1; siehe

De SP heeft de afgelopen jaren geprobeerd te helpen waar het kon, maar uiteindelijk wordt het succes van een links alternatief bepaald door mensen ter plekke die de handen uit