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Die Transformation der Religion und der Grosskirchen in der zweiten Moderne aus der Sicht des religiösen Modernisierungsparadigmas

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Tilburg University

Die Transformation der Religion und der Grosskirchen in der zweiten Moderne aus der

Sicht des religiösen Modernisierungsparadigmas

Hellemans, Staf

Published in:

Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte

Publication date: 2005

Document Version Peer reviewed version

Link to publication in Tilburg University Research Portal

Citation for published version (APA):

Hellemans, S. (2005). Die Transformation der Religion und der Grosskirchen in der zweiten Moderne aus der Sicht des religiösen Modernisierungsparadigmas. Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, (99), 11-35.

General rights

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Die Transformation der Religion und der Grosskirchen

in der zweiten Moderne aus der Sicht des religiösen

Modernisierungsparadigmas

Staf Hellemans

Die Lage der Religion in der westlichen Gesellschaft – nur von dieser wird hier die Rede sein – wird durch die Wissenschaft äusserst kontrovers interpretiert.1 Die einen, bis vor kurzem die Mehrheit, stellen eine tiefgreifende und unentrinn-bare Säkularisierung fest, welche die Religion und die Kirchen in der Moderne in eine mehr und mehr marginale Position bringe.2 Andere bestreiten diese These vehement und machen die Kirchen selbst als Folge ihrer Liberalisierung verant-wortlich für ihren Niedergang nach 1960.3 Noch andere sehen wohl einen nicht mehr umkehrbaren Rückfall der Kirchen, aber nennen dies nicht Säkularisierung, sondern Verwandlung von kirchlicher in nicht-kirchliche Religion.4 Ausserdem gibt es immer wieder Autoren, die meinen, ein religiöses «revival» beobachten zu können.5 Wer hat Recht?

Meiner Meinung nach hat jede Position wohl einiges für sich, doch führt die Verabsolutierung jeder einzelner Position in die Irre. Die Jahre nach 1960 lassen sowohl die Säkularisierung der Grosskirchen wie auch das Aufkommen von Sek- ten, neuen religiösen Bewegungen und nicht kirchlich organisierter Religiosität erkennen. Zudem soll man auch die meist vergessene oder heruntergespielte Transformation der Grosskirchen nicht ausser Acht lassen. Die Anerkennung

1 Siehe auch den Literaturüberblick von Patrick Pasture, Christendom and the Legacy of the

Sixties: Between the Secular City and the Age of Aquarius, in: Revue d’Histoire Ecclésias-tique, 99 (2004), 1, 82–117.

2 Siehe z.B. Steve Bruce, God is Dead: Secularization in the West, Oxford 2002; Karel

Dobbelaere, Secularization: An Analysis at Three Levels, Brüssel 2002.

3 Siehe Rodney Stark/William Sims Bainbridge, A Theory of Religion, New Brunswick 1987;

Rodney Stark/Laurence R. Iannaccone, A Supply-Side Reinterpretation of the «Seculari-zation» of Europe, in: Journal for the Scientific Study of Religion, 33,3 (1994), 230–252.

4 Siehe Thomas Luckmann, The Invisible Religion. The Problem of Religion in Modern

So-ciety, New York 1967; Paul Heelas/Linda Woodhead, The Spiritual Revolution: Why Reli-gion is Giving Way to Spirituality, Oxford 2005.

5 Siehe z.B. Robert N. Bellah, Religious Evolution, in: American Sociological Review, 29,3

(1964), 358–374, 360; Jean-Pierre Vernant, Mythe en religie in het oude Griekenland, Baarn 1990, 7; Gilles Kepel, La revanche de Dieu. Chrétiens, juifs et musulmans à la reconquête du monde, Paris 1991.

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dieser verschiedenen Tendenzen darf aber nicht als Freibrief für wissenschaftli-chen Eklektizismus verstanden werden. Die Tendenzen lassen sich meiner Mei-nung nach besser verstehen als divergierende religiöse Reaktionen auf die neue Grosswetterlage der zweiten Moderne. Ich werde zu zeigen versuchen, dass das Paradigma der religiösen Modernisierung in der Lage ist, eine Gesamtdeutung all dieser Tendenzen zu bieten.

Gerade weil die aktuelle Lage und die Zukunft der Religion so undeutlich und umstritten ist, ist es unbedingt notwendig sich im klaren zu sein, auf welche the-oretischen Grundvoraussetzungen man sich einlässt, wenn man sich anschickt, die heutige religiöse Lage oder eine Bewegung oder Kirche zu beschreiben. Des-halb stelle ich zuerst die drei Paradigmen vor, die die religionssoziologischen Analysen seit 1960 geleitet haben. Sie lassen sich umschreiben als Säkularisie-rung, «rational choice» und «invisible religion». Sodann werde ich das Paradig-ma der religiösen Modernisierung vorstellen. Erst danach folgt die Analyse der wichtigsten empirischen Trends.

Das Säkularisierungsparadigma

Das Säkularisarisierungsparadigma behauptet, dass die gesellschaftliche Stellung und der Einfluss der Religion, insbesondere der Kirchen, mit der Modernisierung zurückgingen. Je modernisierter eine Gesellschaft, desto gesellschaftlich irrele-vanter wird die Religion: «Stated briefly the secularization thesis asserts that modernization (itself no simple concept) brings in its wake [...]‚ the diminution of the social significance of religion.»6

Es gibt viele weit auseinander klaffende Ausarbeitungen dieser Grundthese.7 Am Anfang konzipierte man eine Gesamtdeutung der Geschichte. Die Religion stünde seit dem hohen Mittelalter im Zeichen des Niedergangs: Die Religions-spaltungen im 16. Jahrhundert, die Aufklärung im 18. Jahrhundert, die Trennung von Kirche und Staat, der Atheismus und Szientismus im 19. Jahrhundert, der weitere Rückfall sowohl des Einflusses als auch der Anhängerschaft der Gross-kirchen im 20. Jahrhundert – vor allem nach 1960.8 Als Antwort auf die anhal-tende Kritik, vor allem seit den 1980er Jahren, wurden später neue, diesmal Mi-nimalfassungen vorgeschlagen. So reduziert Casanova Säkularisierung auf Diffe-renzierung.9 Die Religion ist Casanova zufolge auch in der westlichen Welt noch

6 Ray Wallis/Steve Bruce, Secularization: The Orthodox Model, in: Steve Bruce (Hg.),

Reli-gion and Modernization, Oxford 1992, 8–30, 11.

7 Literaturüberblicke bieten: Karel Dobbelaere, Secularization: A Multi-Dimensional Concept,

London, 1981; ders., Secularization: An Analysis at Three Levels (wie Anm. 2); Olivier Tschannen, Les théories de la sécularisation, Genève 1992.

8 Siehe Pitirim Sorokin, The Western Religion and Morality of Today, in: Internationales

Jahrbuch für Religionssoziologie, 3 (1966), 9–43; Bryan R. Wilson, Religion in Secular Society, London 1966; Peter Berger, The Sacred Canopy, New York 1967; David Martin, A General Theory of Secularization, New York 1978.

9 José Casanova, Public Religions in the Modern World, Chicago 1994. Er steht damit in einer

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immer eine gesellschaftliche Kraft und hat sich sicher nicht privatisiert – siehe Polen, Lateinamerika und die Vereinigten Staaten. Aber die Stellung der Religi-on hat sich durch die Differenzierung der wichtigsten gesellschaftlichen Bereiche wie Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und auch Religion geändert. Wenn aber Säkularisierung nur ein anderer Name für Differenzierung ist, gibt es meiner Meinung nach keinen Grund mehr, diesen umstrittenen Terminus zu benutzen. Dann spricht man besser nur noch von Differenzierung. Eine zweite Minimal-fassung lässt den Kern der Säkularisierungsthese intakt – den Rückgang der Grosskirchen als Folge der Modernisierung –, schwächt aber ihren Geltungs-bereich ab. Callum Brown zufolge haben die Kirchen sich bis 1960 gut gehalten und ist die Säkularisierung erst seit 1960 voll im Gange.10 Sicherlich hat sich die volle Wucht der Säkularisierung in Europa erst nach 1960 gezeigt, aber es gab auch vor 1960 schon weitgehend säkularisierte Regionen in Europa (z.B. Nord-deutschland seit dem späten 18. Jahrhundert oder Grosstädte wie Paris und Ber-lin seit dem 19. Jahrhundert). Säkularisierung hat eine längere Geschichte als Brown zugeben will.

Die Minimalisierung als Strategie der Aufrechthaltung des Kerns der Säkula-risierungsthese – wie auch immer interpretiert – wird verständlich angesichts der massenhaften Kritik, die das Säkularisierungsparadigma hervorgerufen hat (auch in diesem negativen Sinne war es ein sehr erfolgreiches Paradigma). Wie schon angedeutet, ist die Geschichte Europas nicht als kontinuierlicher Niedergang der Religion zu beschreiben. Es gab Transformations- und Erneuerungsprozesse, die die Religion und die Kirchen bis ins 20. Jahrhundert immer neu ins Zentrum des gesellschaftlichen Geschehens gestellt haben. Man denke zum Beispiel an die Umwandlung der fragmentierten und feudal strukturierten katholischen Kirche im 19. Jahrhundert in eine zentralisierte und mobilisationsfähige Massenorgani-sation. Oder an den Aufbau einflussreicher Subgesellschaften – auch Säulen oder Lager genannt – nach 1850, die durch katholische oder protestantische Kirchen zusammengehalten wurden.11 Einen zweiten Vorwurf, den Kritiker dem Säkula-risierungsparadigma machen, lautet dass Säkularisierung sich, abgesehen von Europa, nirgendwo sonst bemerkbar macht, nicht in der nicht-westlichen Welt, und – viel verheerender – auch nicht in den Vereinigten Staaten, der führenden

Industrial Society, in: Edward A. Tiryakan (Hg.), Sociological Theory, Values and Socio-cultural Change, Glencoe 1963, 33–70 gegen Sorokin, The Western Religion (wie Anm. 8).

10 Callum G. Brown, The Death of Christian Britain. Understanding secularization 1800–2000,

London/New York 2001.

11 Siehe u.a. Urs Altermatt, Der Weg der Schweizer Katholiken ins Ghetto. Die

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Nation der Moderne. Peter Berger, der in den 1960er und 1970er Jahren ein Hauptvertreter des Säkularisierungsparadigmas war, sieht jetzt in der Säkulari-sierung Europas nicht mehr einen Vorposten einer weltweiten Entwicklung, son-dern nur noch eine Ausnahme der allgemeinen Regel: «The world today is as fu-riously religious as it ever was, and in some places more so than ever.»12 Berger macht es sich damit aber zu leicht. Die Säkularisierung in Europa, nicht nur in einigen Ländern, sondern in ganz Europa – und ausserdem auch in Kanada und Australien – ist doch ein Faktum erster Ordnung. Sie kann nicht nur als Ausnah-me bezeichnet werden, sondern erfordert eine Erklärung.

Ich sehe noch einen dritten Mangel, diesmal weniger eine Fehleinschätzung als eine strukturelle Beschränkung des Säkularisierungsparadigmas: Es registriert nur den Rückfall organisierter Religionen. Es ist sozusagen eindimensional in-teressiert an Fragen des «Ab» und «Auf» – dies gilt auch wenn das «Ab» nach Weber als Entzauberung und Abstraktion der Glaubensinhalte interpretiert wird. Dies ist aber nur ein Thema einer Vielzahl von vor allem qualitativen Transfor-mationsprozessen, die Religion und Religionen widerfahren, wenn sie von agra-rischen in moderne Gesellschaften hinüber treten und sich weiter in die Moderne wagen (ich denke z.B. an Themen wie Verkirchlichung, die Herausbildung eines religiösen Marktes, Individualisierung, Globalisierung). Zudem kann das Säkula-risierungsparadigma sich nur über organisierte Religionen aussprechen, denn nur hier kann man empirisch über Wachstum oder Verfall streiten. Das Säkularisie-rungsparadigma ist also schlecht gerüstet, um Transformationsfragen zu analy-sieren – und wenn es dies tut, werden diese Prozesse gleich in das Prokrustesbett des Rückfalls gedrängt. Ich will damit die Säkularisierungsfrage nicht als un-wichtig oder sogar als ein törichtes Problem vom Tisch wischen, sondern sie be-trachten als das was sie ist, nämlich als ein Problembereich erster Ordnung, nicht aber als der primäre Ausgangspunkt einer Totalanalyse. Es gibt Säkularisierung, aber auch mehr als Säkularisierung.

Das «rational choice» Paradigma

«Rational choice» oder rationale Wahl zwischen Optionen nach Kosten-Nutzen-Kalkül durch einen Akteur – eine Person oder ein Kollektiv – bildet den Aus-gangspunkt des Paradigmas, das die Sozialwissenschaften in den letzten dreissig Jahren dominiert hat. Es war schon seit langem vorherrschend in der Wirt-schaftswissenschaft, bevor es seinen Siegeszug in der Politikwissenschaft, Sozio-logie und AnthropoSozio-logie begann. Seit den 1980er Jahren wird auch in der Reli-gionssoziologie mit diesem Paradigma gearbeitet. Williams Sims Bainbridge, Rodney Stark, Roger Finke und Lawrence Iannaccone sind die wichtigsten Ver-treter.13

12 Peter Berger (Hg.), The Desecularisation of the World. Resurgent Religion and World

Poli-tics, Grand Rapids 1999, 4.

13 Siehe Stark/Bainbridge, A Theory of Religion (wie Anm. 3); Roger Finke/Rodney Stark,

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Das «rational choice» Paradigma schildert eine ganz andere Welt als das Sä-kularisierungsparadigma. Auch in Sachen Religion werde nach Kosten-Nutzen-Kalkül gehandelt. Stark und andere behaupten, dass die Individuen dabei nicht so sehr die Religion mit den niedrigsten Kosten bevorzugten, sondern die Religion die den besten Tausch hergebe: Eine Religion die viele Nutzen bringe und vor al-lem auf überzeugende Weise ausserordentliche Nutzen (wie ewiges Heil) in Aus-sicht stelle, dürfe wohl auch hohe Anforderungen stellen. Sekten oder strenge Kirchen sollen hier mehr bringen als die grossen, liberalen Kirchen. Letztere hät-ten nur wenig zu biehät-ten und liessen zu, dass sie von Leuhät-ten, die nichts beitragen, sondern nur ganz ab und zu (klassisch bei Festveranstaltungen und Beerdigun-gen) erscheinen, ausgebeutet würden – die «free rider». Strenge Kirchen und Sekten liessen weniger Freiraum für Freibeuter und erforderten mehr Einsatz von den Mitgliedern. Sie würden also mehr Aktivitäten veranstalten können, ihre Zu-sammenkünfte seien gekennzeichnet durch mehr Enthusiasmus und Zusammen-halt, sie würden einander mehr davon überzeugen, dass Gott tatsächlich zum Gu-ten in ihrem Leben eingreife. Kurzum, SekGu-ten würden mehr und überzeugendere Religion hervorbringen als liberale Grosskirchen mit ihrem abstrakten Gott und langweiligen Diensten. Deshalb seien in den letzten Jahrzehnten die Sekten und strenge Kirchen angewachsen, während die Anhängerzahlen der grossen Kirchen gesunken seien.

Die «rational choice»-Theoretiker betrachten die Säkularisierung in Europa denn auch als selbstverschuldet: Die grossen Kirchen sind zu bürokratisch und theologisch zu liberal und ihre Anhängerschaft dementsprechend schlaff und ab-wesend.14 Die Ursache für die Säkularisierung suchen sie in dem schwachen Funktionieren des religiösen Marktes in Europa. Die Grosskirchen sind alte Mo-nopol- und Oligopolkirchen, die noch immer vom Staat in verschiedener Hin-sicht – Kirchensteuer, Finanzierung von Gehältern und Kirchengebäuden, Hür-den gegen sektarische Konkurrenten – unterstützt werHür-den. Kein Wunder, sagen sie, dass die Grosskirchen nicht fit seien. In den Vereinigten Staaten dagegen greife der Staat fast nicht ein, funktioniere ein freier religiöser Markt und führe die scharfe Konkurrenz zwischen den vielen Kirchen und Sekten dazu, dass die

Acts of Faith: Explaining the Human Side of Religion, Berkeley/Los Angeles 2000; Lau-rence R. Iannaccone, Why Strict Churches are Strong, in: American Journal of Sociology, 99 (1994), 1180–1211; und als Überblick: R. StephenWarner, Work in Progress towards a New Paradigm for the Sociological Study of Religion in the United States, in: American Journal of Sociology, 98 (1993), 1044–1093.

14 Siehe die Debatte: Stark/Iannaccone, A Supply-Side Reinterpretation of the «Secularization»

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religiöse Nachfrage optimal erfüllt werde. Das sei der wirkliche Grund für die Abwesenheit von Säkularisierung in den Vereinigten Staaten, so die «rational choice» Theoretiker.

Es versteht sich, dass dieses Paradigma mit seinen querliegenden Thesen viel Widerstand und Kritik hervorgerufen hat. Dies ist nicht der Ort, um diese zu sichten.15 In Bezug auf unsere Frage – die aktuelle Transformation der Religion und der Grosskirchen – will ich nur drei Themen herausstellen. Die «rational choice» Theoretiker heben hervor, dass Religion den Gesetzen eines religiösen Marktes gehorche. Zwar erheben sie den Markt meiner Meinung nach zu Un-recht zu einem universalen und normativen Modus – in agrarischen Gesellschaf-ten gab es immer nur beschränkt Märkte. Es lässt sich aber nicht bestreiGesellschaf-ten, dass das religiöse Feld in der Moderne, und gerade nach 1960, mehr und mehr als ein religiöser Markt funktioniert. Das «rational choice» Paradigma hebt, zweitens, die Bedeutung der Sekten und strengen Kirchen hervor. Üblicherweise wurden sie vernachlässigt und als radikale und irrationale Aussenseiter der Grosskirchen betrachtet. Stark und andere drehen den Spiess um: Die Sekten seien die dynami-schen Elemente im religiösen Markt – sie bringen Neuerungen, sie wachsen –, während die etablierten Kirchen wie ausgelöschte Vulkane dahinduseln und erodieren würden. Ich denke dass die «rational choice» Theoretiker zu Recht mehr Aufmerksamkeit für sektarische Bewegungen fordern. Ihre Stellung und Rolle in der Religionsgeschichte und vor allem im heutigen Religionsgeschehen sind wichtiger, als üblicherweise erkannt wird. Stark und andere gehen jedoch zu weit, wenn sie den Sekten a priori einen Vorsprung über etablierte Kirchen be-scheinigen.16 Sie gehen davon aus, dass hohe Kosten gefragt werden können, weil sie einen hohen Nutzen bringen.17 Ein automatischer Vorgang ist dies aber nicht. Mit steigenden Kosten steigen auch die Risiken, dass man keinen (genü-genden) «return» bekommt. Die Mehrzahl der Menschen wird dieses Risiko nicht eingehen wollen. Die weitaus meisten Sekten stagnieren deshalb frühzeitig auf einer Kleinstzahl und/oder verschwinden wieder, eine viel geringere Zahl wächst, nur Ausnahmen können sich etablieren (die Zeugen Jehovahs und die Mormonen werden hier immer wieder genannt). Sektarische Neustiftungen sind viel fragiler und in ihren Wachstumsmöglichkeiten begrenzter, als die «rational choice» Theoretiker wahrhaben wollen.

Umgekehrt – und drittens – unterschätzen sie systematisch die Bedeutung und vor allem die Transformationsfähigkeit der etablierten Kirchen. Nur die negati-ven Seiten – Bürokratie, Lethargie, unlautere Staatsunterstützung – werden ge-nannt. Es ist aber zweifelhaft, ob sich die grösseren Kirchen nur deshalb so lange haben halten können. Man soll die Kirchen nicht nur als Überreste vorher

glü-15 Siehe aber Lawrence A. Young (Hg.), Rational Choice Theory and Religion, New York

1997; Steve Bruce, Choice and religion. A critique of rational choice theory, Oxford 1999; Stephen Sharot, Beyond Christianity: A Critique of the Rational Choice Theory of Religion from a Weberian and Comparative Religions Perspective, in: Sociology of Religion, 63,4 (2002), 427–454.

16 Aber siehe schon Weber und Harnack über die Etablierung des frühen Christentums als ein

Vorgang der Routinisierung des Charismas.

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hender religiöser Bewegungen darstellen, sondern sie auch nach ihrer kirchlichen Dynamik, nach Anhaltspunkten und Entwicklungsmöglichlichkeiten, kurzum nach ihrer Stärke, analysieren. Es sei eingeräumt, dass Finke und Stark in den letzten Jahren zaghaft einige Vorschläge in diese Richtung gemacht haben.18 Zum Abschluss will ich betonen, dass das «rational choice» Paradigma die ge-nannten Schwächen – schwache historische Analyse, normative Vorgehenswei-se, amerikanischer Partikularismus, Überschätzung der Sekten und Unterschät-zung der etablierten Kirchen – aufheben kann. Anders als das Säkularisierungs-paradigma – und das Paradigma der «invisible religion» – sehe ich hier keine in-nere Beschränkung, nur behebbare Grenzen und Ungleichgewichte der bisher ausgearbeiteten Theorien.

Das «invisible religion» Paradigma: von Religion zu Spiritualität

Die Überschrift dieses Paragraphes entnehme ich zwei Büchern, die in ihren Titeln ganz genau umschreiben, worum es hier geht: «Invisible religion» von Thomas Luckmann aus dem Jahre 1967 und das eben erschienene Buch «The Spiritual Revolution. Why Religion is Giving Way to Spirituality» von Paul Heelas und Linda Woodhead.19 Die Hauptthese dieses Paradigmas besagt, dass organisierte Religion – in Kirchen und in Sekten – nach 1960 abnimmt zu-gunsten subjektiv bestimmter Spiritualität. Da diese Religion nicht mehr wie vor-her in grossen Organisationen ihren Kulminationspunkt findet, sondern im Priva-tissimum der subjektiven Sphäre entsteht und gelebt wird, ist sie für die Aussen-welt vielfach unsichtbar. Diese subjektive Religion ist nicht länger ein – immer gebrochener – Durchschlag kirchlicher Zielvorstellungen, sondern wird je nach individueller Fassung aus vielerlei, sogar widersprüchlichen Elementen syn-kretistisch zusammengebastelt. Um diese neue Sozialform der Religion deutlich zu unterscheiden von der herkömmlichen, organisierten Sozialform, bevorzugen Heelas und Woodhead die Bezeichnung Spiritualität.20 Das mag rhetorisch inter-essant sein, aber inhaltlich führt diese konzeptuelle Strategie meiner Meinung nach in die Irre. Spiritualität wird durchweg als eine Dimension von Religion be-trachtet, und Religion war immer viel mehr als nur ihre organisierte Form. Noch viele andere Vorschläge wurden gemacht, wie z.B. «implicit religion» (Bailey), «diffuse Religion» (Cipriani) oder, umschreibend, «die Verflüchtigung der Reli-gion ins Religiöse» (Knoblauch).21 Es gab auch vielerlei Bemühungen, die un-sichtbare Religion sichtbar zu machen, meist mit wenig Erfolg. Nur religiöse Szenen mit einem Mindestmass an Organisation und Identität wie «New Age»

18 Siehe z.B. die Nischenanalyse in Stark/Finke, Acts of Faith (wie Anm. 13), 196–197. 19 Luckmann, The Invisible Religion (wie Anm. 4); Heelas/Woodhead, The Spiritual

Revolu-tion (wie Anm. 4).

20 Siehe schon Paul Heelas, The Spiritual Revolution: From «Religion» to «Spirituality», in:

Linda Woodhead, (Hg.), Religions in the Modern World, London 2002, 357–377.

21 Siehe die Auslese in Hubert Knoblauch, Die Verflüchtigung der Religion ins Religiöse, in:

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oder einzelne «cults» konnten zu Tage gefördert werden.22 Unbestritten bleibt aber die Einsicht, dass Religion nach 1960 viel weniger Grossorganisation braucht und dass die neue Individualisierungsrunde der zweiten Moderne den In-dividuen, wie auch in anderen Bereichen, grösseren Spielraum für einen eigen-mächtigen Umgang mit Religion zuteilt.

Es ist nicht ganz klar, wie sehr diese Betrachtung paradigmatischen Status be-ansprucht bzw. beanspruchen kann, schildert sie doch eher einen, sei es auch wichtigen, Trend in der religiösen Landschaft der post-1960er Jahre. Luckmann jedenfalls suggeriert eine gesamtgeschichtliche Entwicklung, wenn er behauptet, dass das mittelalterliche Modell einer offiziellen Kirche in der Moderne ersetzt wird durch das Tohuwabohu unzähliger, individuell-idiosynkratischer Synkretis-men, im Zuge derer die Kirchen herabgesetzt werden zu sekundären Institutio-nen, die als Zulieferanten, als «Warenlager letzter Bedeutungen», den individu-ellen Bastlern zuarbeiten.23 Ein solcher Geschichtsentwurf führt in ähnliche Probleme wie beim Säkularisierungsparadigma. Die reale geschichtliche Ent-wicklung lässt sich nur schwer diesem Bild einfügen. Die mittelalterliche Kirche war weniger einheitlich und weniger massensozialisationsfähig, als Luckmann annimmt. Der Höhepunkt des «offiziellen Modells» liegt eher im 18. und sogar im 19. Jahrhundert. Das Geschichtsbild ist auch einseitig: Es vermittelt nur eine Dimension – die Deinstitutionalisierung. Organisierte Religion hat aber auch und gerade in der Moderne, wie das weltweite Auftreten der Grosskirchen und das Aufblühen des Sektenwesens zeigen, einen wichtigen Stellenwert, wenn auch einen anderen als vor der Moderne. Ich komme daher zum gleichen Schluss wie bei der Erörterung des Säkularisierungsparadigmas: Es gibt, vor allem nach 1960, einen Trend zu «invisible religion», aber die Schilderung der religiösen Lage fordert mehr als nur diese Farbe.

Das religiöse Modernisierungsparadigma

Das Fundament des Säkularisierungsparadigmas ist die Idee, dass Religion und Moderne sich als zwei äussere und feindliche Mächte gegenüberstehen. Daher die Behauptung «je mehr Modernität, desto weniger Religion». Das religiöse Modernisierungsparadigma nimmt einen ganz anderen Ausgangspunkt. Statt Re-ligion und Moderne gegeneinander auszuspielen, sieht sie in der Moderne den Grund aller Religion in der modernen Gesellschaft. Die Moderne bildet ja den gesellschaftlichen Kontext, in dem wir uns alle bewegen und in dem sich auch alle Religion notwendigerweise bewegen muss. Gegenüber den Verfechtern der religiösen Orthodoxie muss deshalb betont werden, dass unsere religiösen Ge-danken und Handlungen aktuelle, aktiv-kreative Antworten darstellen auf die Möglichkeiten und Herausforderungen der Moderne. Anders gesagt, auch die Orthodoxen sind unwissentlich und unwillentlich Reformer, nur keine liberalen Reformer. Demgegenüber muss gegen die Reformer, die die Moderne als ein

ho-22 Siehe Paul Heelas, The New Age Movement. The Celebration of Self and the Sacralization

of Modernity, Oxford 1996.

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hes Gut umarmen, angemerkt werden, dass die Moderne nicht länger nur als ein erstrebenswerter Idealzustand gelten kann, sondern aufzufassen ist als eine spezi-fische Gesellschaftsformation mit charakteristischen Struktureigenschaften (z.B. funktionelle Differenzierung), mit charakteristischen Idealen (z.B. Menschen-rechte), aber auch charakteristischen Entgleisungen (ich nenne als Stichwörter Weltkriege, Holocaust, Totalitarismus). Die Moderne ist zu betrachten als eine historische Gesellschaftsformation, als der heute umfassende und also unum-gängliche Gesellschaftstyp. Sie hat schon eine respektable Geschichte von gut zwei Jahrhunderten hinter sich und dazu noch eine Übergangsgeschichte aus der mittelalterlichen agrarischen Zivilisation von einigen Jahrhunderten, die Früh-moderne. Die Moderne ist selber aufzuteilen in zwei Phasen, die industrielle Mo-derne (1800–1960) und die avancierte MoMo-derne (ab 1960) – auch PostmoMo-derne oder nach Beck zweite oder reflexive Moderne genannt. Mit jeder fundamentalen Änderung der Gesellschaft ändert sich auch die in ihrem Schoss wirksame Re-ligion. Mit dem Aufkommen der zweiten Moderne werden die Religionen ge-zwungen sich in neue religiöse Modernisierungsprozesse zu stürzen.

Diese Perspektive betrachtet Religion also als einen im stetigen Wandel be-griffenen Bereich einer sich ebenso wandelnden modernen Gesellschaft. Das gilt nicht nur für neue Religionen, sondern ebenso für die aus vormodernen Zeiten stammenden Weltreligionen. Statt die Charakteristika einer Weltreligion auf sta-tische Weise aus der idealtypischen Differenz mit der Moderne abzuleiten – und so Tradition mit Wandel, oder Glaube mit Wissenschaft zu kontrastieren –, lädt die Modernitätsthese dazu ein, ganz genau zu analysieren wie die Religionen sich auf die Moderne einlassen, wie sie sich permanent und kreativ in Beziehung setzen zu den Herausforderungen und Möglichkeiten, den Modellen und Ideen, den Bewegungen und Problemen, die sich in der Moderne stellen, und wie sie sich so jederzeit neu bilden. Wie Personen sich in ihrem sozialen Umfeld bewe-gen und ihre Identität bilden, so tun Religionen dies in ihrem modernen Umfeld. Indem sie ohne Unterlass anknüpfen an ihr modernes Umfeld, modernisieren sie sich. Dies macht die Religionen nach 1800, auch wenn sie sich auf ihre religiö-sen Traditionen und auf die Vergangenheit berufen und sogar wenn sie lautstark ihre Abkehr von der Moderne bekunden, grundverschieden von ihren vormoder-nen Formen. Statt des Gegensatzes von Religion und Moderne rückt die neue Perspektive also die vielfältigen und verschlungenen Prozesse religiöser Moder-nisierung in den Mittelpunkt der Analyse. Noch bis vor kurzem schien dieser Be-griff, religiöse Modernisierung, nur eine contradictio in terminis zu sein.24

Entscheidend an dieser religiösen Modernisierungsperspektive ist – ich wie-derhole es noch einmal –, dass Modernisierung und modern nicht länger mit auf-geklärtem, liberalem oder fortschrittlichem Habitus gleichgesetzt werden. Ortho-doxe, Konservative oder Traditionalisten sind nicht weniger modern als Liberale oder Progressive. Die ersten stehen ebenso in der Moderne, beurteilen diese nur

24 Siehe Staf Hellemans, Religieuze modernisering, Utrecht 1997 (Antrittsvorlesung). Siehe

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ganz anders. So war und ist es auch mit der katholischen Kirche: in der Moderne stehend mit einem zugleich kritischen bis ablehnenden Urteil. Man könnte sagen, dass die katholische Kirche sich in den vergangenen beiden Jahrhunderten, mit Ausnahme der wenigen Jahre um das zweite Vatikanum herum, unter anti-mo-dernistischem Banner modernisierte.25 Man sollte sich davor hüten diese anti-modernistische Modernisierung als eine unhaltbare Spagathaltung darzustellen. Das ist sie genauso wenig wie die die Moderne und das Bürgertum kritisierende Künstler-Avantgarde. Die anti-modernistische Modernisierung der katholischen Kirche bildete bis 1960 eine überaus erfolgreiche Strategie.

Die Idee, das Verhältnis von Religion und Moderne inklusiv statt exklusiv zu betrachten, ist nicht neu. Sie ist eine logische Schlussfolgerung aus der funkti-onalen Differenzierungstheorie Niklas Luhmanns und ist, wenn auch nicht ex-plizit ausgearbeitet, in seinen religionssoziologischen Arbeiten vorhanden.26 Um dieselbe Zeit schlug Wolfgang Reinhardt vor, die Gegenreformation als Moder-nisierung zu verstehen.27 Wahrscheinlich von Luhmann inspiriert, nutzten Franz-Xaver Kaufmann und Karl Gabriel die Inklusionsthese, um die Christentums-geschichte in systematischer Absicht neu zu interpretieren.28 Auch Urs Altermatt hat die moderne Seite des Christentums in der Moderne hervorgehoben.29 In Frankreich sind vor allem Danièle Hervieu-Léger und Frédéric Lenoir zu nen-nen30, in Italien Luca Diotallevi.31 Ich verstehe meinen eigenen Vorschlag als eine Radikalisierung dieser Forschungstradition. Gabriel charakterisiert den Ka-tholizismus nach 1800 als «ein Amalgam aus Traditionalität und Modernität»32, Altermatt als «Antimodernismus mit modernen Mitteln»33. Gegen Gabriel betone ich, dass Rückgriff(e) auf Tradition(en) in der modernen Gegenwart stattfinden

25 Siehe Hellemans, Religieuze modernisering (wie Anm. 24) und ders., From ‹Catholicism

Against Modernity› to the Problematic ‹Modernity of Catholicism›, in Ethical Perspectives, 8,2 (2001), 117–127.

26 Niklas Luhmann, Funktion der Religion, Frankfurt a.M. 1977; ders., Die Ausdifferenzierung

der Religion, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 3, Frankfurt a.M. 1989, 259– 357; ders., Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2000.

27 Wolfgang Reinhard, Gegenreformation als Modernisierung ? Prolegomena zu einer Theorie

des konfessionellen Zeitalters, in: Archiv für Reformationsgeschichte, 68 (1977), 226–252.

28 Franz-Xaver Kaufmann, Kirche begreifen. Analysen und Thesen zur gesellschaftlichen

Ver-fassung des Christentums, Freiburg 1979; ders., Religion und Modernität, in: Johannes Ber-ger (Hg.), Die Moderne – Kontinuität und Zäsuren, Göttingen 1986, 283–307; ders., Wie überlebt das Christentum?, Freiburg 2000; Karl Gabriel, Christentum zwischen Tradition und Postmoderne, Freiburg i.Br. 1992; Gabriel/Kaufmann, Zur Soziologie des Katholizis-mus (wie Anm. 11).

29 Urs Altermatt, Katholizismus und Moderne. Zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte der

Schweizer Katholiken im 19. und 20. Jahrhundert, Zürich 1989.

30 Danièle Hervieu-Léger, Religion and Modernity in the French Context: For a New Approach

to Secularization, in: Sociological Analysis, 51,1 (1990), 15–25; dies., La transmission religieuse en modernité: éléments pour la construction d’un objet de recherche, in: Social Compass, 44,1 (1997), 131–143; dies., La religion en mouvement. Le pélérin et le converti, Paris 1999; Frédéric Lenoir, Les métamorphoses de Dieu, Paris 2003.

31 Diotallevi, The territorial articulation (wie Anm. 24); ders., Religione, chiesa e

modernizza-zione: il caso italiano, Roma 2000.

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und zur besseren Positionierung im «Kampf um die Moderne» beitragen34, gegen Altermatt, dass die Moderne nicht nur neuartige Mittel bringt, sondern konstitu-tiv ist für die Formierung des modernen Katholizismus. Katholizismus und an-dere Religionen sind in der Moderne nicht halb modern, sondern durch und durch modern.35

Aber selbst wenn religiöse Modernisierung als eine mögliche – und, wie ich hoffe, überzeugende – Forschungsperspektive aufgenommen wird, so ist damit noch nicht viel gesagt. Sie gibt zwar einen allgemeinen Leitfaden vor, mit dem alle denkbaren religiösen Vorgänge und Entwicklungen näher analysiert werden können, aber sie bleibt vorerst noch ein so gut wie leerer Interpretationsrahmen. Sie besagt nicht, anders als die Säkularisierungs- und «invisible religion»-The-sen, wohin sich die Religion in der (zweiten) Moderne bewegt. Diese Flexibilität ist ein Vorteil: Man soll die Empirie entscheiden lassen und nicht zu viel theore-tisch vorschreiben. Aber ein Paradigma ist nur interessant, wenn es sich mit Em-pirie sättigen lässt, wenn der Leitfaden der religiösen Modernisierung hilft, die tatsächlichen religiösen Vorgänge besser ins Blickfeld zu bekommen. Wenden wir uns darum nun den wichtigsten empirischen Trends zu, die sich seit 1960 abzeichnen, und fragen wir uns inwieweit das religiöse Modernisierungsparadig-ma dazu beiträgt, ein empirisch adäquates und theoretisch konsistentes Bild der Transformationen der Religion und der Grosskirchen in der zweiten Moderne zu schildern.

Rückfall der Grosskirchen

Wenn Wissenschaftler und vor allem das Publikum die religiöse Lage nach 1960 in Europa in einem Schlagwort zusammenfassen müssen, wird man wohl bei «Säkularisierung» ankommen. Und das ist keine schlechte Wahl, vorausgesetzt dass man die empirische Tendenz «Säkularisierung» unterscheidet von dem Interpretationsrahmen «Säkularisierungsparadigma». Die Bedeutung von Säku-larisierung oder Säkularisation soll man, meiner Meinung nach, beschränken auf die empirische Frage, ob die Kirchen an Einfluss verlieren oder nicht – gesamt-gesellschaftlich (z.B. in der Politik) und in Bezug auf die Gefolgschaft (z.B. Mit-gliedschaft und Kirchenbesuch). Nur das Ab (und eventuell auch das Auf) der in Kirchen organisierten Religiosität kann man ja empirisch einigermassen gut mes-sen, da man nur von Kirchen normativ vorgegebene, standardisierte Meinungen und Praktiken zählen kann (z.B. Kirchenbesuch). Die Erklärung dieser Säku-larisierung ist aber eine ganz andere Sache. Das «rational choice» Paradigma gibt

34 Hellemans, Strijd om de moderniteit (wie Anm. 11).

35 Siehe weiter meine Auseinandersetzung mit Altermatt: Urs Altermatt, Ambivalences of

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hier eine völlig andere Erklärung – Folge der faulen, liberalen Grosskirchen – als das Säkularisierungsparadigma – Folge der Modernisierung der europäischen Gesellschaften.

Säkularisierung – der Rückfall der Grosskirchen – ist also als eine Grossten-denz der neuen religiösen Lage nach 1960 zu betrachten. Sie ist schon über Jahr-zehnte in vielen Erhebungen dokumentiert worden. Ich beschränke mich darum auf einen schnellen Überblick der Entwicklung des Kirchenbesuchs, der Mit-gliedschaft und des Glaubens an einen Gott. Ich entnehme die Daten den «Euro-pean Values Studies», die in 1981, 1990 und 1999 die Bevölkerung vieler Län-der Europas – aber so weit ich weiss nicht die Län-der Schweiz – mit den gleichen Fragen befragt haben.

Tabelle 1: Wöchentlicher Kirchenbesuch in Europa 1981, 1990 und 1999

Be Fr Irl It Port Span GB Hol Deu

1981 30 12 82 36 41 14 27 21

1990 23 10 81 40 33 33 13 21 19

1999 19 8 57 41 36 26 14 15 14

Quellen: für 1981: Stephen Harding/David Phillips (Hg.), Contrasting Values in Western Europe, Houndmills/London 1986, 36–37; für 1990: Sheena Ashford/Noel Timms, What Europe Thinks. A Study of Western European Values, Aldershot 1992, 46; für 1999: Grace Davie, Europe: The Excep-tional Case. Parameters of Faith in the Modern World, London 2002, 6.

Es gibt natürlich zwischen den Ländern grosse Unterschiede. Die skandinavi-schen Länder, die hier nicht aufgeführt wurden, haben schon lange europaweit die niedrigsten Kirchenbesuchszahlen. In 1999 besuchte in Dänemark 2,7% der Bevölkerung und in Schweden 3,8% wöchentlich die Kirche.36 Die katholischen, südeuropäischen Länder und Irland haben die höchsten Ziffern. Die westeuropäi-schen Länder – herkömmlich katholische Länder wie Belgien und Frankreich und religiös gemischte Länder wie Grossbritannien, Holland und Deutschland – liegen dazwischen. Wichtiger als diese Unterschiede ist aber die allgemeine Ent-wicklung, und diese führt abwärts. Die Ausnahmen sind Italien, Portugal (doch fehlt 1981) und Grossbritannien (aber der hohe Kirchenbesuch Nord-Irlands – damals 52% – ist 1981 nicht mitgezählt). Vergessen wir auch nicht, dass um 1980 der tiefe Sturz der Jahre 1965 bis 1980 schon stattgefunden hatte. In West-Deutschland besuchten 1950 50,6% der Katholiken den Sonntagsgottesdienst und in 1965 noch 42,6% (beide ohne Westberlin). In 1980 und 1989 betrug die Zahl 27,0% resp. 22,3% (beide allerdings mit Westberlin).37 In den 1950er Jah-ren lagen die Zahlen in mehreJah-ren Ländern, darunter Holland, noch höher als in den Vereinigten Staaten.

36 Siehe Grace Davie, Europe: The Exceptional Case. Parameters of Faith in the Modern

World, London 2002, 6.

37 Siehe Michael N. Ebertz, Kirche im Gegenwind. Zum Umbruch der religiösen Landschaft,

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Tabelle 2: Kirchenmitgliedschaft in Europa 1981, 1990 und 1999

Be Fr Ir It Por Schw GB Holl WDeu

1981 74 73 98 93 82 91 85 59 90

1990 68 62 97 85 71 87 58 51 89

1999 63 57 90 82 88 82 82 46 82

Quellen: für 1990: Sheena Ashford/Noel Timms, What Europe Thinks. A Study of Western European Values, Aldershot 1992, 46; für 1981 und 1999: Yves Lambert, A Turning Point in Religious Evolu-tion in Europe, in: Journal of Contemporary Religion, 19,1 (2004), 29–45, 31.

Die Mitgliedschaftszahlen der Kirchen sinken überall ausser in Portugal (die Zahl für Grossbritannien für 1990 ist als Folge von Kodierungsfehlern zu nie-drig).38 Aber im Vergleich zum Kirchenbesuch hält sich der Rückgang in Gren-zen. Die Zahlen bleiben hoch: Die grosse Mehrheit der europäischen Bevölke-rung betrachtet sich noch immer als Mitglied einer christlichen Grosskirche. Den Grund dafür sucht Grace Davie in der Haltung der Europäer, die den Kirchen eine stellvertretende Rolle – «vicarious religion» – zuweisen.39 In Not oder bei Festen kann man sich immer auf sie berufen, aber ansonsten bleibt man auf Distanz.

Tabelle 3: Gottesglaube in einigen europäischen Ländern 1947, 1981, 1990 und 1999

F GB Holl WDeu 1947 68 84 80 1968 73 77 79 81 1981 62 76 65 72 1990 57 71 61 63 1999 56 61 60 66

Quelle: für 1947 bis 1990: Sheena Ashford/Noel Timms, What Europe Thinks. A Study of Western European Values, Aldershot 1992, 42; für 1999: Yves Lambert, A Turning Point in Religious Evolu-tion in Europe, in: Journal of Contemporary Religion, 19,1 (2004), 29–45, 31.

Der Glaube an einen Gott – wie auch immer interpretiert – ist ebenfalls gesken, aber wird immer noch von einer deutlichen Mehrheit der Bevölkerung un-terschrieben. Ausserdem hat seit 1990 in Frankreich, Holland und Deutschland eine Stabilisierung auf hohem Niveau stattgefunden. Die Diskrepanz zwischen Glaube und Kirchenbesuch erklärt Grace Davie mit der Formel «believing with-out belonging»: Man glaubt zwar weiterhin, aber ohne damit noch kirchliche Praxis zu verbinden.40 Zieht man aber in Betracht, dass der Gottesbegriff für viele immer unbestimmter wird – «es soll doch einen Urgrund oder etwas Höhe-

38 Siehe Yves Lambert, A Turning Point in Religious Evolution in Europe, in: Journal of

Con-temporary Religion, 19,1 (2004), 29–45, 34.

39 Grace Davie, Religion in Modern Europe: A Memory Mutates, Oxford 2000.

40 Grace Davie, Religion in Britain since 1945: Believing without Belonging, Oxford 1994;

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res geben» –, interpretiere ich die bleibende hohe Zustimmungsrate eher als Zei-chen eines «religious longing without belonging» denn als Ausdruck eines klaren Gottesglaubens.41

Aus den drei Zahlenreihen lässt sich eine doppelte Schlussfolgerung ziehen. Sie dokumentieren erstens den seit 1960 deutlichen Rückfall der Grosskirchen in Europa. Sie zeigen aber zugleich, wie sehr die christlichen Grosskirchen noch immer die religiöse Landschaft in Europa dominieren. Die Kirchen müssen zwar einen schmerzlichen Säkularisierungsprozess hinnehmen – mit grossen Anse-hens- und Machtsverlusten –, sie sind nicht im Begriff des Verschwindens, son-dern machen eher einen tiefgreifenden Transformationsprozess durch, im Zuge dessen sie sich in der zweiten Moderne neu erfinden müssen – keine leichte Sache. Aber betrachten wir erst die Säkularisierungsfrage weiter. Der Einschnitt erschöpft sich nicht nur in einem quantitativen Rückgang der Betätigung und des Glaubens der Gefolgschaft. Die ganze Dramatik der Säkularisierung hängt viel-mehr damit zusammen, dass die sinkenden Zahlen nur die Indizien eines kom-pletten Einsturzes eines bis 1960 mächtigen und stolzen religiösen Regimes her-geben. Die Grosskirchen waren hervorragend organisiert, mit vielen Priestern, mit religiösen, sozialen und kulturellen Vereinigungen und hier und da sogar mit politischen Parteien, waren also ausgestattet mit einer konfessionell stark soziali-sierten und mobilisierungsfähigen Anhängerschaft. Diese kirchliche Ordnung, eigentlich ein Produkt der ersten Moderne, brach in den Jahren nach 1960 zu-sammen. Der französische Soziologe Yves Lambert hat es zutreffend als das En-de einer Zivilisation umschrieben.42 Der gleiche Vorgang wurde verschiedentlich thematisiert als Entsäulung in Holland und Belgien43, als die Auflösung sozio-kultureller Milieus in Deutschland44, der Lager in Österreich, des katholischen Ghettos oder der katholischen Subgesellschaft in der Schweiz45, als «la fin d’un monde» in Frankreich46. Die Bezeichnungen «Säule», «Lager», «Milieus», «Sub-gesellschaften», «mondes» machen klar, dass nicht nur die Grosskirchen, son-dern auch säkulare, umfassend organisierte Bewegungen wie die sozialistische Arbeiterbewegung von dem sich nach 1960 verbreitenden Desintegrationssog betroffen waren.47 Im religiösen Bereich ist der Vorgang sogar in den Vereinig-ten StaaVereinig-ten bekannt, hier unter dem Begriff «the decline of denominationalism».48

41 Hellemans, From ‹Catholicism Against Modernity› to the Problematic ‹Modernity of

Catho-licism› (wie Anm. 25), 124.

42 Yves Lambert, Dieu change en Bretagne, Paris 1985.

43 Siehe J.P. Kruyt/W. Goddijn, Verzuiling en ontzuiling als sociologisch proces, in: A.N.J.

Den Hollander et al. (Hg.), Drift en koers. Een halve eeuw sociale verandering in Nederland, Assen 1962, 227–263; Hellemans, Zuilen en verzuiling in Europa (wie Anm. 11).

44 Siehe Rainer Maria Lepsius, Parteiensystem und Sozialstruktur: zum Problem der

Demokra-tisierung der deutschen Gesellschaft, in: Wilhelm Abel et. al. (Hg.), Wirtschaft, Geschichte und Wirtschaftsgeschichte, Stuttgart 1966, 371–392; Wilhelm Damberg, Abschied vom Mi-lieu? Katholizismus im Bistum Münster und in den Niederlanden 1945–1980, Paderborn 1997.

45 Siehe Altermatt, Katholische Subgesellschaft (wie Anm. 11). 46 Danièle Hervieu-Léger, Catholicisme, la fin d’un monde, Paris 2003. 47 Siehe Hellemans, Strijd om de moderniteit (wie Anm. 11), 171–227.

48 Robert Wuthnow, The Restructuring of American Religion. Society and Faith since World

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Die Tatsache, dass die Grosskirchen im Westen und vor allem in Europa nach 1960 in eine schwere Krise gestürzt sind, die sowohl quantitativ als auch qualita-tiv an die Substanz geht, lässt sich also nicht bestreiten. Weil sie mit einem Ein-fluss- und Machtverlust der Kirchen in der Gefolgschaft und im gesellschaftli-chen Bereich einhergeht, finde ich die Bezeichnung dieses Vorgangs als «Säku-larisierung» berechtigt.

Die Bildung eines religiösen Marktes und der Aufschwung der Sekten

Der Rückfall der Grosskirchen ist nur ein Aspekt der Transformation der Reli-gion nach 1960. Sie wurde aber in den 1960er und 1970er Jahren als dermassen spektakulär und dramatisch erfahren, dass man sie als Grundlage für eine Totalerklärung der Entwicklung der Religion in der Moderne – das Säkularisie-rungsparadigma – betrachtete. Heute sieht man besser, dass sich daneben und darunter auch andere Prozesse vollzogen haben und noch vollziehen. Schon in den 1960er Jahren hat Thomas Luckmann auf die Entwicklung hin zur «invisible religion» hingewiesen. Seit den 1980er Jahren betonen die «rational choice» Theoretiker, dass religiöses Angebot und Nachfrage sich auf einem religiösen Markt treffen und dass Sekten und strikte Kirchen sehr wohl in diesem Markt gedeihen.

Dass Religion sich mehr und mehr im Rahmen eines Marktes vollzieht, ist meiner Meinung nach eine wichtige Einsicht. Aber leider gehen die «rational choice» Theoretiker in der Exposition dieser Idee allzu normativ und anachronis-tisch vor, weil sie sich zu sehr auf die Widerlegung des Säkularisierungsparadig-mas und auf eine positive Neubewertung der Sekten fixieren. Sie wollen vor allem zeigen, dass ein freier religiöser Markt besser funktioniert als eine Oli-gopol- oder Monopolsituation und daher durch Säkularisierung nicht getroffen wird (siehe die Vereinigte Staaten im Vergleich zu Europa). Sie betrachten die-sen freien Markt auch als welthistorisch normativ: Er soll überall in der Ge-schichte vorherrschen, und wo dies nicht geschehe, sei weniger Religion und korrumpierte Religion die Folge. Die Allianz des Christentums mit dem römi-schen Kaiser Konstantin wird durch Stark dementsprechend negativ, als ein Fluch, bewertet.49 Der Fehler, den Stark hier macht, ist die Überhöhung der heute vorherrschenden Lage in den Vereinigten Staaten – die Strukturierung von Reli-gion als ein religiöser Markt – zur welthistorischen Sollgrösse. Anachronistische Geschichtsdeutungen sind die Folge.

Mögen Stark und die seinen zu Recht die aktuelle Bedeutung des religiösen Marktes hervorheben, die Bildung eines religiösen Marktes ist historisch eine jüngere Entwicklung. Sie ist ein Vorgang der Moderne und hat sich erst seit den 1960er Jahren stark beschleunigt und als umfassender Rahmen aufgezwungen. Statt den religiösen Markt als eine universale Sollgrösse zu postulieren, soll man also seine Geschichte rekonstruieren. In vormodernen Gesellschaften waren

reli-49 Rodney Stark, For the Glory of God: How Monotheism Led to Reformations, Science,

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giöse Märkte – wie politische Märkte – inexistent oder zeitlich und sachlich be-grenzt. Religion war in der Regel keine Sache individuellen Entscheidens, son-dern unveräusserlicher Bestandteil der Gruppenidentität und deshalb kollektiv und politisch abgesichert (wie Sokrates erfahren musste). Mit dem Aufstieg der Universalreligionen kam es zwar zu Kämpfen um die religiöse Vorherrschaft, so im römischen Kaiserreich, dem persischen Sassanidenreich oder China. Ich be-zweifle aber, dass diese Auseinandersetzungen mit dem Marktmodell – individu-elle Wahl zwischen rein religiösen und in politikfreier Konkurrenz ausgetrage-nen Religioausgetrage-nen – angemessen beschrieben sind. Erst die Moderne schafft dafür die Voraussetzungen: die translokalen Kommunikationszusammenhänge, die In-dividualisierung des Entscheidens, die Transformation von Religionen in Massen umwerbende Unternehmungen, die funktionale Differenzierung mit der Tren-nung von Kirche und Staat. Das religiöse Feld hat sich dementsprechend geän-dert. In vormodernen Zeiten glich es einem segmentär geteilten Archipel von lo-kalen und regionalen Religionen, welche von einer oder mehreren, transregiona-len und hegemoniatransregiona-len Religionen dominiert wurden – genau wie die politischen Reiche die lokalen und regionalen Gemeinschaften überwölbten. In einigen Fäl-len und nur in der späteren Vormoderne konnte die hegemoniale Religion die Bevölkerung so tief durchdringen, dass es nur noch lokale und regionale Varian-ten der einen hegemonialen Religion gab – so im mittelalterlichen Europa. Der Durchbruch zur Moderne um 1800 brachte einen neuen Pluralismus und mit ihm eine Konkurrenz der Religionen um das Herz des in religiösen Sachen nun sou-verän erklärten Individuums.

Die neuartige Pluralisierung – und damit die Herausbildung eines religiösen Marktes – hielt sich lange Zeit in Grenzen. Die mühsame Trennung von Kirche und Staat hatte in Europa vor 1960 vor allem die Folge, dass Abweisung jedwe-der Religion und radikal-protestantische Abspaltungen in den protestantischen Ländern möglich wurden. In den Vereinigten Staaten bewirkte die Migration aus vielen europäischen Ländern zwar eine grössere Anzahl von religiösen Denomi-nationen, aber die Einbindung der Migranten in ihre jeweilige Herkunftreligion dämpfte doch mögliche Übertritte und deshalb die Konkurrenz. Das ändert sich erst nach 1960. Die neue Individualisierungsrunde, die so charakteristisch ist für die zweite Moderne und deshalb auch so prominent in der Literatur vertreten ist50, setzt die Individuen frei für grundlegende Entscheidungen in vielen Lebens-bereichen – mit gemischten Folgen, wie wir heute wissen. Der grössere Freiraum für abweichendes Verhalten bietet einen fruchtbaren Boden für allerhand neue Ideen, Verhaltensweisen und Bewegungen. Die gestiegene Wohlfahrt und Bil-dung, zusammen mit Globalisierung und Mediatisierung, tragen ebenfalls zur Pluralisierung und «Unübersichtlichkeit» (Habermas) der Gesellschaft bei. In diesem Ambiente enthalten nicht nur die wirtschaftlichen, politischen und Ent-spannungsmärkte neuen Aufschub, sondern kommen auch wissenschaftliche, religiöse und sogar Erziehungsmärkte zum Tragen. Die Gesellschaft hat sich

50 Allen voran in Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne,

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eben so entwickelt, dass die Analyse des Marktmodells, das zuerst in der Wirt-schaft zum Zuge gekommen ist, nun fast überall, mitunter auch im Bereich der Religion, einsetzbar wird.

Ein religiöser Markt mit vielen Religionen und mit auf Wechsel eingestimm-ten Individuen hat also erst nach 1960 so richtig einen Anfang genommen. Man darf wohl sagen, dass die Zahl der Religionen in diesen Jahrzehnten wohl explo-sionsartig zugenommen hat – auch wenn man immer mitbedenken muss, dass Religionen sich schwierig zahlen lassen. Die Vereinigten Staaten sind, mindes-tens in dieser Hinsicht, wohl «the leading nation». Die 16 christlichen Kirchen im späten 18. Jahrhundert waren schon um 1900 zu mehr als 300 Denomina-tionen angewachsen. Seitdem ist ihre Anzahl noch weit grösser geworden: «Over two thousans different primary religious groups (denominations) exist in the U.S. across the spectrum of the world’s religions.»51 In Europa sind die etablierten Kirchen zwar noch immer stärker vertreten, aber auch hier hat sich die Zahl der Religionen und religiösen Bewegungen vor allem nach 1960 stark vermehrt. Eileen Barker schätzt sie insgesamt auf ungefähr 2000.52 Zusammen mit der hö-heren Zahl der Religionen hat sich auch die Zahl der Leute, die die Religion wechseln, vermehrt. In 1951 rapportierten 4% der U.S. Bevölkerung, dass sie einer anderen Denomination angehörten denn als Kind. In 1981 war ihre Zahl gestiegen auf eine von drei Personen.53 Zehn Jahre später sollen 40% die Deno-mination seit ihrer Kindheit gewechselt haben, aber es ist unwahrscheinlich – so die Forscher – dass die Zahl noch weiter ansteigt.54 Auch wenn die weitaus grösste Zahl der «switcher» zwischen verwandten, protestantischen Denominati-onen wechselt und vor allem mit Umzügen und Mischehen verbunden ist, ist dennoch klar dass Religionen viel mehr der Konkurrenz ausgesetzt sind als vor-her. Anziehungskraft, werbewirksames Auftreten und effiziente Organisation sind wichtig geworden. Kleine Gruppen und Sekten können schnell anwachsen und Religionen können, wenn es kriselt, auch schnell an Anhang verlieren. Alte, solide verankerte Kirchen können sich – wie grosse Unternehmen und politische Parteien – zwar stärker gegen die Aufs und Abs waffnen, immun sind sie – wie das Beispiel der amerikanischen anglikanischen Kirche (die «episcopals») be-weist – nicht.

Der religiöse Markt ist also noch ziemlich jung und, sicher in Europa, als un-ausgegoren zu betrachten. Seine spezifischen Charakteristika und Dynamik sind noch unklar und sollten nicht übereilig vom wirtschaftlichen Markt abgeleitet werden. Religion wird wohl ganz anders produziert und konsumiert als die

Pro-51 J. Gordon Melton, The Fate of NRMs and their Detractors in Twenty-First Century America,

in: Phillip Charles Lucas/Thomas Robbins (Hg.), New Religious Movements in the 21st Century, New York/London 2004, 229–240, 229.

52 Eileen Barker, New Religious Movements: Their incidence nd signifance, in: Bryan Wilson/

Jamie Cresswell (Hg.), New Religious Movements: Challenge and response, London 1999, 15–31, 16.

53 Siehe Wuthnow, The Restructuring of American Religion (wie Anm. 48), 88.

54 Siehe Jay Demerath/Yonghe Yang, Switching in American Religion: Denominations,

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dukte wirtschaftlicher Märkte. Schon kann man aber sagen, dass Sekten und al-lerhand religiöse Bewegungen und religiöse «Unternehmer» auf diesem hochmo-dernen Markt viel mehr Entfaltungsmöglichkeiten haben als vorher. Die Akzep-tanz abweichenden Verhaltens hat nach 1960 sehr zugenommen. Umgekehrt hat sich die Dominanz hegemonieller Religionen sehr verringert. Die Bevölkerung ist nicht mehr so stark wie früher eingebunden in eine Religion, und die Kosten eines Religionswechsels liegen nun deutlich niedriger. Neuankömmlinge können sich in der mediatisierten Gesellschaft rasch bekanntmachen, z.B. über Bestsel-ler, Massenveranstaltungen oder über bizarr empfundene Merkmale (wie die Kleidung der Hara Krishna oder die Massentrauungen der «Moonies»). Genauso wie die Subkulturen und die vielen «life style»-Bewegungen der Jugendszene hat sich auch im religiösen Bereich eine bunte Schar kleiner Gruppen neben den grossen alten Traditionsvereinen einen Platz gemacht. Wie gross und wie be-schaffen dieser Platz am Ende sein wird, lässt sich aber, wie gesagt, zur Zeit schwierig voraussagen.

Personzentrierte Religiosität: vom Mitglied zum Klient

Neben dem Rückfall der Grosskirchen und der Bildung eines religiösen Marktes – und in ihrem Sog der Aufwertung von Sekten und der Erleichterung religiöser Innovationen, Neubildungen und, generell, abweichendem Verhalten – ist der Umschlag von der Kirchenorganisation zum Individuum als religiösem Zentrum ein dritter grosser Trend in der Umstrukturierung des religiösen Feldes nach 1960. Die neue Individualisierungsrunde nach 1960 wurde schon mehrfach ange-sprochen, unter anderem als Voraussetzung für die Entfaltung des religiösen Marktes. Es wäre aber falsch anzunehmen, dass die Effekte der Individualisie-rungsprozesse der zweiten Moderne sich beschränken auf die individuelle Wahl zwischen religiösen Organisationen. Hinzu kommen noch zwei weitere profunde Konsequenzen: das individualisierte Verhalten in der Beziehung zur Kirche und der Personen ausserhalb jeder kirchlicher Reichweite.

Beginnen wir mit der Ausweitung der ausserkirchlichen Religiosität. Die meisten «individualisierten Individuen» – eine treffende Bezeichnung Niklas Luhmanns55 – haben sich, zumindest in den eigenen Augen, losgesagt von jed-weder kirchlicher Bevormundung und suchen nun aus eigener Kraft nach «dem Sinn des Lebens». Sie durchstreunen dabei – je nach persönlicher Potenz und innerer Triebkraft – ihre Umwelt nach ansprechenden religiösen Ideen und For-men. Die Möglichkeiten dazu sind, vor allem nach 1960, beträchtlich angestie-gen. Vorher war man auf die Kirche – seine Kirche, denn Übertritte waren quvoll – angewiesen. Auch dann gab es natürlich Freiheitsgrade, negativ – vor al-lem die höheren Schichten und die Aussenseiter konnten sich kirchlicher Wei-sung entziehen – und positiv – das breite Areal der Volksdevotion. Mit stei-gender Wohlfahrt, Bildung, Mobilität und Mediatisierung sind nun auch die

55 Niklas Luhmann, Individuum, Individualität, Individualismus, in: ders.,

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Chancen der Durchschnittsbevölkerung seit 1960 für stärkere religiöse Unabhän-gigkeit beträchtlich gesteigert worden. Einerseits lassen Kirchenzwang und Kir-chenkontrolle nach, andererseits weitet sich das nicht traditionell-kirchliche An-gebot erheblich aus. Das neue AnAn-gebot kann sich aber nicht mehr so leicht, wie die früheren Kirchen, als ein Gesamtpaket aufdrängen. Sicher gibt es noch Sek-ten und neue religiöse Bewegungen mit Totalansprüchen. Aber daneben gibt es inzwischen auch ein breites Angebot von unverbindlichen Formen und Aktivi-täten. So holen viele Leute religiöse Ideen und Anschauungen aus Büchern, Fernsehen oder Internet. Der religiöse Büchermarkt hat sich dabei grundlegend geändert. Dominierten bis 1960 kirchlich gebundene Autoren und Verlage, so sind die Regale der Buchläden nun vor allem mit Esoterik, New Age, «religion and wellness» und desgleichen bestückt. Und auch in der Belletristik gibt es – siehe Autoren wie Paul Coelho oder Dan Brown – religiös angehauchte Ver-kaufsschlager. Dass Dan Browns literarischer Bestseller «Der Da Vinci Code» für nicht wenige die Kirche als Informationsquelle über das Christentum min-destens teilweise ersetzt, ist wohl der Grund hinter den sauren Reaktionen man-cher Kircheninstanzen. Zudem gibt es inzwischen auch ein breites Angebot von unverbindlichen Aktivitäten – Vorträge, Seminare, Besinnungsabende und -ta-gungen – und dazu gehörige individuelle Unternehmer, Organisationen und Be-wegungen, die sich nicht mehr sosehr an Mitglieder als an Besucher und Klien-ten richKlien-ten.

«New Age» darf wohl als das Beispiel par excellence gelten für diesen Trend von der Mitgliedschaft zur Klientel. «New Age» steht für ein Sammelsurium äusserst unterschiedlicher Ideen und Formen – Astrologie, «holy health», Weis-heit aus dem Orient, holistische Wissenschaft, neo-Paganismus usw. –, die wohl vor allem zusammengehalten werden durch eine gemeinsame Hintergrundlogik der Suche und Sakralisierung des «wahren Selbst».56 Das Individuum – und seine unmittelbare Beziehung zum Ganzen – ist hier ins Zentrum des religiösen Geschehens gerückt: Sein Selbst und seine Erfahrungen, kurzum «self spiritua-lity» stehen im Mittelpunkt. Bewegungen und Organisationen haben keinen Wert mehr an sich, sondern werden herabgesetzt zu ebensolchen Instrumenten, zu Hilfsmitteln im Dienst dieses höchstpersönlichen spirituellen Werdegangs. An-dererseits zeigt «New Age» auch, wie sehr die ihre wahre Individualität feiern-den Individuen auf kollektive Angebote angewiesen bleiben. Es ist aber nicht mehr die eine Kirche, die das Sagen hat. Die Individuen werden nun verführt durch das Geschick und Charisma individueller Unternehmer und Gurus oder sie werden angetrieben von unpersönlichen Mechanismen wie Bestsellern und spiri-tuellen Moden. Auch die Kirchen können sich dem Individualisierungssog nicht entziehen. Ihre Besinnungszentren arbeiten nach dem gleichen Klientelprinzip wie die ausserkirchlichen Meditationszentren und bieten manchmal auch «New Age»-ähnliche Kurse oder östliche Meditationspraktiken an. Auch in den Ge-meinden und Pfarreien hat die Kundenlogik sich durchgesetzt, wie sich dies vor

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allem in den Begräbnissen und den festlichen Veranstaltungen bei der Kommu-nion, Firmung oder Heirat zeigt. Die Zeit, in welcher die Grosskirchen die Mit-glieder herumkommandieren konnten, ist wohl schon längst vorbei.

Die grosse Nachfrage nach Spiritualität soll in diesem Zusammenhang gese-hen und bewertet werden. Die Individuen haben sich zwar, wie es die zweite Moderne ihnen nach 1960 nahelegt, von der festgelegten Religiosität einer Kir-che losgesagt – das gilt auch für die meisten Mitglieder der KirKir-chen –, finden sich dann aber vor die schwere Aufgabe gestellt, das so entstandene schwarze Loch selbst wieder auszufüllen. Das ist oft zu viel gefragt, zumal jeder Ersatz nun mit der gleichen Skepsis wie die alten Formen betrachtet wird –, und so kön-nen die alten Formen unerwartet wieder auftauchen, nun aber unter Verlust ihrer früheren Selbstverständlichkeit und Exklusivität. So hat sich die paradoxe Situa-tion herausgebildet, dass einerseits das religiöse Angebot viel grösser ist als vor 1960 und dass viele Leute sich auch – aber nur wenn es ihnen passt – nach einer wahren, authentischen Religiosität sehnen, aber dass es andererseits doch oft nicht zu einem Zusammentreffen von Angebot und Sehnsüchten kommt. Dies ist die Negativseite des schon angesprochenen «longing without belonging».

Die Neuetablierung der Grosskirchen am Beispiel der katholischen Kirche

Zum Schluss dieses schnellen Überblicks über den tiefen Umbruch der Religion seit 1960 möchte ich auf die nicht weniger einschneidenden Transformationspro-zesse, welchen die Grosskirchen ausgesetzt sind, hinweisen. Die herkömmlichen Paradigmen übersehen sie zum grössten Teil. Das Säkularisierungsparadigma nimmt sie auf, aber nur in der eindimensionalen Fassung des Rückfalls und der Liberalisierung. Desgleichen gilt für die Theoretiker der «rational choice», die nur zwei mögliche Transformationen hervorheben: entweder den Übergang von Sekte zu Kirche – der auf die Dauer in die Stagnation führen soll – oder die um-gekehrte Bewegung zu weit liberalisierten Kirchen, die ihre Religion wieder strenger und strikter und deshalb, diesen Autoren zufolge, auch attraktiver ma-chen. Das «invisible religion» Paradigma verliert die Grosskirchen ganz und gar aus dem Auge. Ich behaupte demgegenüber, dass die Transformationen der Grosskirchen umfassend und Teil des Umbruchs sind, den das religiöse Feld ins-gesamt durchmacht im Übergang von der ersten zur zweiten Moderne. Das Ge-lingen oder MissGe-lingen dieser Transformationen wird darüber hinaus entschei-dend sein für die Frage, ob die Grosskirchen wie in der Vergangenheit auch in der Zukunft das religiöse Feld dominieren werden, dann wohl ob sie definitiv ihre Vor-herrschaft verlieren werden. Nehmen wir den Katholizismus als Beispiel.

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Re-formatoren (Betonung der Kirchentradition, der Sakramente, der Heiligen- und Marienverehrung), Verstärkung der Kirchenorganisation (Kurienreform, Neuein-teilung der Bistümer, bessere Ausbildung der Priester in diözesanen Priesterse-minaren) und bessere Bildung und Beaufsichtigung der Laien, sowohl der ka-tholischen Eliten (Nunziatur, Einsatz der Jesuieten, Schul- und Universitätsein-richtungen) als auch der Gesamtbevölkerung (Sakramententeilnahme, Katechis-men). Das Resultat war eine ganz andere Kirche als im späten Mittelalter. Diese Kirchenformation erstreckte sich bis zur französischen Revolution.

Ein zweiter grosser gesellschaftlicher Umbruch ereignete sich in den Jahren um 1800. Die tridentinische «Ancien Regime»-Kirche zerbrach an den Folgen des Durchbruchs zur Moderne, vor allem der französischen und der industriellen Revolution. Wiederum dauerte es mehrere Jahrzehnte, bevor sich ein neuer Ka-tholizismus und «ein zweites konfessionelles Zeitalter»57, nun auf dem Boden der ersten, industriellen Moderne, herausgebildet hatte.58 Hier stand ein Konzil, Vatikanum I (1869–1870), am Ende des Prozesses der Neuetablierung, der schon in der napoleonischen Ära angefangen hatte. Schwerpunkt der Reform war nun die Umbildung der heterokliten, sich stark auf den Adel und das Grundeigentum stützenden Kirche in eine moderne, straff auf Rom hin hierarchisierte Massenor-ganisation. Im Zuge dieser Ultramontanisierung wurden die katholischen Glau-benssätze, Kultformen und Kultur enger zusammengeführt, eingerahmt in eine mehr systematisierte päpstliche Lehre und sodann via Enzykliken, Breven usw. als Leitlinien für das alltägliche Verhalten der Gläubigen propagiert. Zum ersten – und letzten – Mal in der Geschichte wurde das Leben der einfachen Katholiken umfassend und bis in die penibelsten Details (z.B. den ehelichen Geschlechts-verkehr) festgelegt und gesteuert. Dieser ehrgeizigen Klerikerambition war es auch zu verdanken, dass vor allem nach 1880 neben und in der Folge des mas-senorganisatorischen Ausbaus der Kirche katholische Massenorganisationen auf vielerlei Gebieten (Erziehung, Kultur, Wirtschaft, Politik, Freizeit) entstanden.59

Diese bis in die 1950er Jahre überaus erfolgreiche Kirchenformation stürzte mit dem Ende der ersten Moderne und dem Übergang zur zweiten Moderne nach 1960 abrupt ein. Vatikanum II (1962–1965), das – sozusagen ahnungslos – ganz am Anfang dieser Krise stand, hatte zwar optimistisch gestimmt eine liberale Reform eingeleitet. Aber diese wurde, einige Jahre später schon, durch die ge-nerelle, sich schnell ausweitende Kirchenkrise überholt.60 Seitdem sucht die ka-tholische Kirche neuen Halt. Wie der kurze historische Überblick zeigte, geriet

57 Olaf Blaschke, Das 19. Jahrhundert: Ein Zweites Konfessionelles Zeitalter?, in: Geschichte

und Gesellschaft, 26,1 (2000), 38–75.

58 Aus der reichen Literatur über den ultramontanen Katholizismus, siehe Roger Aubert, De

kerk van de crisis van 1848 tot Vaticanum II (Geschiedenis van de kerk, dl. X), Bussum 1974; Emile Poulat, Eglise contre bourgeoisie. Introduction au devenir du catholicisme ac-tuel, Tournai 1977; Gabriel/Kaufmann (Hg.), Zur Soziologie des Katholizismus (wie Anm. 11); Bill McSweeney, Roman Catholicism. The Search for Relevance, Oxford 1980.

59 Siehe Hellemans, Strijd om de moderniteit (wie Anm. 11).

60 Siehe Gabriel, Christentum zwischen Tradition und Postmoderne (wie Anm. 28), 121–202;

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sie nach 1960 nicht zum ersten Male in eine schwere Krise. Jeder grosse gesell-schaftliche Umbruch seit 1500 hatte eine Begleitkrise der Kirchenformation zur Folge. Dies zeigt, wie sehr Religion und Kirche integrale Bestandteile der Ge-sellschaft sind. Das ist auch die Hauptidee hinter dem religiösen Modernisie-rungsparadigma. Der Vergleich mit früheren Krisen lehrt uns auch, dass es im-mer lange dauert, bevor sich die Fundamente einer neuen, den neuen gesell-schaftlichen Umständen entsprechenden Kirchenformation herausgebildet haben. Zwischen der französischen Revolution von 1789 und Vatikanum I vergingen immerhin 80 Jahre. So gesehen stecken wir jetzt mitten in der Umbruchsphase. Es macht denn auch wenig Sinn, Vatikanum II als Wegweiser der Kirche der Zu-kunft hochzujubeln oder als Ursprung der Krise zu dämonisieren.

Wegen der langen Übergangszeit ist es recht schwierig, jetzt schon voraussa-gen zu wollen, wie die neue Formation der katholischen Kirche der zweiten Mo-derne am Ende gestaltet sein wird. Eine wesentliche Frage dabei ist, ob die ka-tholische Kirche sich noch als Kirche – als eine Anstalt für grosse Teile der Bevölkerung – oder nur noch als Sekte – als ein Verein für die wenigen Über-zeugungstäter – wird behaupten können. Die Säkularisierung Europas und der Rückfall der «mainline» Kirchen in den Vereinigten Staaten scheinen für das Sektenszenario zu sprechen. Dagegen sind aber die bleibend grosse Zahl der Kir-chenmitglieder, die breite Teilnahme an den «rites de passage», der Erfolg von Massenveranstaltungen wie Kirchentagen und katholischen Jungendwelttagen und die grosse bis überwältigende Faszination für die Figur des Papstes hervor-zuheben. Möglicherweise streift die katholische Kirche nur ihre alte Haut der straffen Massenorganisation und einer geschlossenen Subgesellschaft mit einer mehrheitlichen Kerngruppe und einem kleineren Rand ab und tritt eine neue Ge-stalt hervor, welche zwar getragen wird von einem kleinen Kern von Virtuosen und Kernmitgliedern, die es aber vermögen, die grosse und ausgefaserte Menge der Randmitglieder von Zeit zu Zeit anzusprechen. Die Frage ist, ob und wie eine solche Kirche funktionieren wird. Wird sich hier eine neue Dynamik ent-falten oder ist es nur eine Zwischenstation auf dem Weg zur Sekte?

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Umschrei-bung lässt noch vieles offen.61 Vielleicht lässt sich in 20 Jahren schon ein deut-licheres Bild zeichnen. Die alten, noch im ultramontanen Massenkatholizismus geborenen Jahrgänge werden nach 2025 nicht mehr aktiv sein, und dann wird klarer herauskommen, wie die kleineren Kerngruppen die Kirche gestalten wer-den.

Religions- und Kirchengeschichte als Modernisierungsgeschichte

Die Lage der Religion wird kontrovers beurteilt. Das machte ein kurzer Rund-gang durch die soziologischen Paradigmen klar. Zunächst kam heraus, dass jedes Paradigma eigentlich einen wichtigen empirischen Trend der zweiten Moderne beleuchtet: das Säkularisierungsparadigma den Rückfall der Grosskirchen, das «rational choice» Paradigma die Herausbildung eines religiösen Marktes und die Entmarginalisierung der Sekten, das «invisible religion» Paradigma den Befrei-ungsschlag individueller Religiosität und das religiöse Modernisierungsparadig-ma die TransforModernisierungsparadig-mationen der Religion und der Grosskirchen in und durch die Moderne. Die Paradigmen der «rational choice» und der religiösen Modernisie-rung halte ich für überlegen, weil sie sich nicht auf die Analyse eines Trends be-schränken sondern, zumindest potentiell, zu einer Gesamtanalyse der Entwick-lung der Religion fähig sind. Die – behebbaren – Vorbehalte gegen das «rational choice» Paradigma liegen meines Erachtens vor allem in der Unteranalyse der Kirchen und in dem Fehlen einer Gesellschaftstheorie, die die langfristige histo-rische Evolution der Religion zu rekonstruieren vermag. Hier könnte gerade die Stärke des religiösen Modernisierungsparadigmas liegen. Könnte, weil dieses Para-digma, obwohl von vielen Autoren getragen, weniger einheitlich und daher auch weniger systematisch durchgearbeitet ist als das «rational choice» Paradigma.

Wie der Name anzeigt, will der religiöse Modernisierungsansatz vor allem den historischen Charakter aller Religion hervorheben: Die jeweilige Religion wird in der jeweiligen Gesellschaft, in casu in der jeweiligen Moderne, generiert. Um das Entsprechungsverhältnis von Religion und Gesellschaft gut herauszuar-beiten, brauchen wir aber kräftige Gesellschaftstheorien, die imstande sind, die tragenden Strukturen und Prozesse einer Gesellschaftsformation zu erfassen. Die gesellschaftstheoretischen Konzepte und Perspektiven können dann eingesetzt werden, um der jeweiligen Produktion von Religion auf die Spur zu kommen. Damit schreibt der religiöse Modernisierungsansatz sich ein in die neueren Mo-dernisierungstheorien62, die die Moderne nicht mehr als ein selbstverständliches,

61 Siehe Staf Hellemans, Van ultramontaans massakatholicisme naar veelledig

keuzekatholicis-me. Speculaties omtrent de toekomst van religie en kerk, Utrecht 1998; ders., De katholieke kerk in Nederland 1960–2020. Van volkskerk naar keuzekerk, in: ders./Willem Putman/Jozef Wissink (Hg.), Een kerk met toekomst? De katholieke kerk in Nederland 1960–2020, Zoetermeer 2003, 9–39.

62 Siehe Beck, Risikogesellschaft (wie Anm. 50); Ernest Gellner, Nations and Nationalism,

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