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Groningen, den 10. 07. 2012

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Rijksuniversiteit Groningen Faculteit der Letteren Duitse taal en cultuur Masterarbeit

Fachcode: LDX999M20

Die theoretische Kanondiskussion in der Unterrichtspraxis?

Zum Umgang mit ‚Kanon‘ und Literatur

im DaF- und DaZ-Unterricht

Dozent: Dr. P.O.H. Groenewold Zweitgutachter: Dr. H. Harbers

Groningen, den 10. 07. 2012

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Inhalt

1. Einführung und Aufbau 4

Kultur und Sprache, Kanon und Kultur

2. Zur theoretisch-intellektuellen Kanon-Diskussion 9

2.1 Traditionelle Grundfunktionen literarischer Kanones 9 2.1.1 Literatur als ein Medium der kollektiven Identitätsbildung

2.1.2 Übersicht theoretischer Kanonfunktionen

2.2 Die nationale Geschichte eines deutschen literarischen (Bildungs-)Kanons: zur Wirkungsmacht des deutschen Deutungsmusters „Bildung und Kultur“ 11

2.3 Ein traditionelles Kanonverständnis 14

2.3.1 Das traditionelle Kanonkonzept: eine Art ‚literarischen Pantheons‘? 2.3.2 Zur Begriffsgeschichte

2.3.3 Fazit

2.4 Das klassische Identitätskonzept 21

3 Deutsch als Fremd- und Zweitsprache 24

3.1 DaF als Oberbegriff; Entwicklung eines Fachgebiets 24

3.2 DaF im Kontrast zu DaZ 26

3.3 Positionierung des DaF-/DaZ-Unterrichts in Sprachen- und Bildungspolitik, d.h. mit Bezugnahme auf gesellschaftliche Entwicklungen 29 3.4 Kanon- und Curricula-Entwicklung: die Frage nach einer

Sprachförderungspolitik 32

4. Fremdsprachliche Literatur(didaktik) im Fach DaF/DaZ 36

4.1 Eine fremdkulturelle Literaturdidaktik: die Didaktik des Fremdverstehens 36 4.1.1 Ihr Uhrsprung in der IG

4.1.2 Kulturelles Lernen und Literatur?

(3)

3

4.2 Die interkulturell ausgerichteten fremdsprachigen Konzepte 43 4.2.1 Interkulturelle (kommunikative) Kompetenz

4.2.2 Interkulturelle Kommunikation

4.2.3 Interkulturelles (kommunikatives) Lernen

4.3 Zu einer interkulturellen Literaturdidaktik 47

4.3.1 Die Entwicklung des Interkulturalitätsparadigmas 4.3.2 Interkultureller Literaturunterricht?

Eine interkulturelle Literaturdidaktik 4.3.3 Migrationsliteratur im Fach DaF/DaZ

4.4 Literaturkanon(es) im DaF/DaZ? 54

5. Schlussfolgerungen und Ausblick

Unterwegs zu interkultureller Verständigung und transkulturellem Dialog? 58

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4

1.

Einführung und Aufbau: Kultur und Sprache, Kanon und Kultur

Kultur ist ein sprachlich-diskursives Phänomen.1

Sie ist in erster Linie an Sprache gebunden, wird sprachlich vermittelt. Kultur und Sprache sind somit untrennbar.2 Im Kontext einer

Kulturwissenschaft im Fach Deutsch als Fremdsprache gilt Kultur als „ein Vorrat an vorgängigem, in Tradition und Sprache gespeichertem und überliefertem Wissen (Deutungsmustern).“3

Mit Kultur wird so die „Gesamtheit der kollektiven Deutungsmuster einer Lebenswelt“4

bezeichnet. Kulturen existieren aber „nicht unabhängig von der Perspektive der Betrachter.“5 Hierauf verweist beispielsweise ein Konzept von Kultur, das die

Bezeichnung „diskursiv-reflexiv“6

erhält:

Kultur erscheint als ein Prozess fortschreitender reflexiver Semantisierung, durch welche ununterbrochen Sinnressourcen geschaffen und distribuiert, aber auch subvertiert und zerstört werden.7

Warum interessiert hier ein solches Kulturkonzept? Zusammenhänge zwischen Kanon und Kultur, damit zwischen Kultur und - durch Kanones hindurch vermittelten - kulturellen Deutungsmustern, sind von Bedeutung.

Diese Arbeit will erneut darauf aufmerksam machen, dass literarische Kanones „unmittelbar mit dem Kulturbegriff einer Gesellschaft verbunden [sind].8

Mit anderen Worten: jeweils herrschende Kulturbegrif(fe) haben Folgen für die Kanonbildung. „Konstitutiv für jede Kanondiskussion ist der Kulturbegriff.“9, sagt Erlinger. Ein Blick auf die vom

nationalistischen Gedankengut geprägten Geschichte des 19. Jahrhunderts, namentlich in der Sache Kanonbildung, mit einem Verweis auf das deutsche Bildungsbürgertum, kann dies gut

1

Vgl. Claus Altmayer / Uwe Koreik: Geschichte und Konzepte einer Kulturwissenschaft im Fach Deutsch als Fremdsprache. In: Krumm /Fandrych / Hufeisen / Riemer (Hg.): Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Ein internationales Handbuch, Berlin /New York 2010, S. 1385. Ab hier als Handbuch DaFZ 2010 bezeichnet.

2 Adelheid Hu: Fremdverstehen und kulturelles Lernen. In: Handbuch DaFZ 2010, S. 1396. 3

Claus Altmayer / Uwe Koreik: Geschichte und Konzepte einer Kulturwissenschaft im Fach DaF. In: Handbuch DaFZ 2010, S. 1385.

4 Wolfgang Nieke: Interkulturelle Erziehung und Bildung. Wertorientierungen im Alltag. Opladen, S. 50. Zitiert

nach: http://erwachsenenbildung.at/themen/interkulturelle_eb/grundlagen/kulturbegriff.php [Herangezogen am 30.4.2012].

5

Siehe Adelheid Hu: Fremdverstehen und kulturelles Lernen. In: Handbuch DaFZ 2010, S. 1395.

6 Ebd., S. 1396.

7 Hartmut Böhme: Was ist Kulturwissenschaft? Eine Einführung.

[http://www.culture-hu-berlin.del/ehre/kulturwissenschaft.pdf]. Zitiert nach: Ebd., ebd.

8

Hans Dieter Erlinger: Kanonfragen für die Medienerziehung im Deutschunterricht. In: Heinz Ludwig Arnold/ Hermann Korte (Hrsg.): Text + Kritik IX. Sonderband Literarische Kanonbildung, München 2002, S. 298.

(5)

5

verdeutlichen. Hilfreich sind hier die Deutungsmuster „Bildung“ und „Kultur“, auf die im zweiten Kapitel noch eingegangen wird. Teile der deutschen Zeitgeschichte verweisen nichtsdestoweniger ebenfalls auf den genannten Zusammenhang.

‚Kultur ist in Bewegung‘, heiβt es in der bekannten Redewendung. Wenn das so ist, verändern Kulturbegriffe sich mit. Sie sind wandelbar. Literarische Kanones nun bleiben unmittelbar mit dem Kulturbegriff einer Gesellschaft verbunden.10

Wo Kultur sozusagen Kanones hervorbringt, gilt nämlich auch andersherum: Kanon ‚macht‘ Kultur. Durch Kanonbildungsprozesse hindurch wird immerhin bestimmt und festgelegt, was ‚Kultur‘ ist beziehungsweise zu sein hat, was konserviert und gepflegt wird und/oder werden sollte. Kanonbildung ist in diesem Sinne von gesellschaftlichen Bedingungen abhängig.

Für eine Kanonbildung innerhalb des Faches Deutsch als Fremdsprache (DaF) und Deutsch als Zweitsprache (DaZ) gilt letzteres umso mehr. In Bezug auf Kanonbildungen und Zielsetzungen in Curricula für das Fach DaF und DaZ treten Fragen hervor wie: Was wird als wichtig und wertvoll angesehen in Bezug auf ‚Ausländer‘ und MigrantInnen? Was müssten sie von ‚der‘ Aufnahmegesellschaft und ‚ihrer‘ Kultur wissen und verstehen können, was müssten sie sprachlich aushandeln können, und wozu? Wie kann nicht nur Kenntnis über, sondern auch Verständnis für deutsche Kultur und Sprache erreicht werden? Verschiedene Aspekte spielen hier zudem eine Rolle. Lehrer im DaF-/DaZ-Unterricht begegnen mit Sicherheit einer kulturellen und sprachlichen Vielfalt unter den Lernenden. Auβerdem sind DaF- und DaZ-Unterricht oft von politischen Maβnahmen abhängig, beziehungsweise werden von ihnen nachhaltig geprägt. Folgende Fragen spielen im Bereich DaF/ DaZ somit ständig eine Rolle:

Wie schätzt ‚die deutsche Gesellschaft‘ oder Regierung die Relevanz von Sprachenpolitik ein? Anders formuliert: (wie) wird Sprachenpolitik gesellschaftlich getragen? Welche Ausländerpolitik herrscht zur Zeit vor? Gibt es eine gesellschaftliche Basis für Maβnahmen zur Beförderung von Integration, und was wird dabei unter Integration verstanden? Antworten auf diese Fragen sind auch deswegen wichtig, weil die jeweilig geführte Sprachenpolitik auf den DaF-/ DaZ-Unterrichtspraxis meist direkt von Einfluss ist (und so wiederum das wissenschaftliche Fachgebiet DaF/DaZ beeinflussen kann).

Bildungspolitisch und sprachenpolitisch ist Sprachunterricht natürlich immer von Interesse. Der Bildungserfolg von MigrantInnen im jeweiligen Land ist zum großen Teil von

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Ihrer (zweiten) Sprachbeherrschung abhängig. Die PISA-Studie hat, was das angeht, nach der Veröffentlichung der schlechten Ergebnisse von Schülern mit Migrationshintergrund einen Schock bewirkt. Die Bildungsforschung hat ihr Interesse danach dann auch verstärkt auf Jugendliche, deren Zweitsprache Deutsch ist, gerichtet. Sprachenpolitisch interessiert die Stellung des Deutschen in einer globalisierten Welt ohnehin, bleibt Sprachförderung somit kontinuierlich gefragt. Zumal Englisch in der Regel als erste Fremdsprache gelernt wird. Wissenswert ist, dass Deutsch hingegen des Öfteren als zweite Fremdsprache erscheint. Von den ca. 18 Millionen Deutschlernenden weltweit, lernen 50% Deutsch als zweite, nur etwa 30% Deutsch als erste Fremdsprache und nur ca. 30% Deutsch als dritte oder weitere Fremdsprache.11

Wenn wir diese Daten zusammen nehmen mit der Bemerkung zu Beginn der Arbeit, dass Kultur an Sprache gebunden ist, muss erstens fragwürdig erscheinen, warum gelungene Integration oft lediglich auf den Erwerb der Landessprache durch die MigrantInnen verkürzt wird.12 Da doch längst bestätigt ist, dass auch kulturelle Aspekte automatisch mit dem

Sprachenunterricht realisiert werden13

- wenn zudem angenommen werden kann, dass Kultur und Sprache sich gerade wechselseitig erhellen - darf gerade mehr Aufmerksamkeit auf die Vermittlung von kulturellen Aspekten über Sprache und Kommunikation gelenkt werden. Es wird ein besseres Verständnis von deutscher Sprache UND Kultur unter MigrantInnen und Ausländern fördern. Umgekehrt müssen Lehrer und andere Beteiligte in den ‚Vermittlungsprozessen‘ (zwischen ‚fremder‘ und ‚eigener‘ Kultur) immer irgendwelche Anknüpfungspunkte suchen, damit tatsächlicher Anschluss bei den Ausgangskulturen der Zielgruppen gefunden werden kann. Solche Prozesse scheinen Fächern wie DaF und DaZ innezuwohnen. Wie könnte dies alles aber erreicht werden? Reden wir hier jetzt von Übertragung von ‚kultureller Identität‘? An genau dieser Stelle träfen wir nämlich auf ein Kanonproblem. Das Kanonproblem sei sogar ein zentrales Problem im Rahmen des Fachs Deutsch als Fremdsprache, behauptet Alois Wierlacher, Begründer der Interkulturellen Germanistik.14

11

Vgl. Fandrych / Hufeisen / Krumm / Riemer: Perspektiven und Schwerpunkte des Faches Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. In: Handbuch DaFZ 2010, S. 16.

12 Vgl. Verona Plutzar: Zuwanderung und Sprachenpolitik der deutschsprachigen Länder. In: Handbuch DaFZ

2010, S. 109.

13

Ulrich Zeuner: Interkulturelle Landeskunde. In: Handbuch DaFZ 2010, S. 1475.

14

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7

Warum eigentlich? Was wird im Rahmen des Fachs Deutsch als Fremdsprache (DaF) sowie Deutsch als Zweitsprache (DaZ), in Bezug auf literarische Kanones, als problematisch betrachtet? Gehen wir davon aus, dass Literatur dazu beiträgt, Identität und Selbstverständnis zu definieren und zu festigen,15

stellt sich die Frage so: Was macht eine „interkulturell“ ausgerichtete Literaturdidaktik mit diesem Konzept? Grob verallgemeinernd gesagt: was passiert, wenn fremdsprachliche Leser, d.h. Leser unterschiedlich sprachlicher oder kultureller Herkunft, und nicht Muttersprachler deutschsprachige literarische Texte lesen? Ist da fremdkulturellen Lesebedingungen (Leseweisen, Perspektiven und Rezeptionsbedingungen) Rechnung zu tragen? Was unterscheidet einen fremdsprachlichen Literaturunterricht vom muttersprachlichen? Wie verhält sich Literaturunterricht zu Identitätsbildungen, wenn „jede Literatur“ als „Schreiben zwischen den Kulturen“16 betrachtet wird? Welche Rolle wird

Literatur in einer inter- oder transkulturellen Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik zugedacht? Wozu ist sie geeignet? Mit anderen Worten: Welches Potential werden literarischen Texten zugesprochen, gerade auch für den Deutsch als Fremd- und Zweitsprache-Unterricht? Und welche Bedeutung kommen Kanones in diesem zu?

Im Vorliegenden werde ich mich auf die Suche nach Antworten auf diese Teilfragen begeben. Mit allen diesen Fragen kommt mittlerweile auch die Hauptfrage zum Vorschein. Sie lautet wie folgt: Wie wird mit ‚Kanon‘ und Literatur im Fremd- und Zweitsprachenunterricht umgegangen? Und weicht ein solcher Umgang von einem traditionellen Kanonverständnis ab?

Damit diese Hauptfrage beantwortet werden kann, wird erstens auf ein traditionelles, in der theoretisch-intellektuellen Kanon-Diskussion erörtertes Kanonverständnis eingegangen. Das geschieht im zweiten Kapitel. Dieses Verständnis wird erst danach neben eine Anwendung von Literatur und Kanones im DaF-/DaZ-Unterricht gestellt. Fach-inhärente und andersartige Ursachen für ‚das Kanonproblem‘ werden damit sowohl im dritten als auch im vierten Kapitel, und natürlich auch in der Schlussfolgerung, miteinbezogen. Das dritte Kapitel dient zur Klärung des Fachgebiets DaF/DaZ wie ihrer Unterrichtspraxis. Es greift auch wichtige (sprach- und bildungspolitische) Entwicklungen für beide heraus. In der Frage nach Prozessen

15 Ursula Bavaj: Kultureller kanon – literarischer Kanon. Lernziel Deutschland. In: Simonetta Sanna (Hg.): Der

Kanon in der deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft. Akten des IV. Kongresses der Italienischen Germanistenvereinigung, Alghero, 27.-31.5.2007, Bern 2009. S.131.

16

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8

des kulturellen Lernens im DaF-/DaZ-Sprach- und Literaturunterricht wird sich im vierten Kapitel abzeichnen, dass eine Didaktik des Fremdverstehens sich von einer Didaktik eines interkulturellen Verstehens unterscheiden lässt. Verdeutlich wird, wie und warum man hier vom Lernziel der ‚kulturellen Kompetenz‘ zur ‚interkulturellen Kompetenz‘ gelangte. Gezeigt wird weiterhin, seit wann sich Sprachlernen wieder verstärkt mit Literatur verbindet.

(9)

9

2. Zur theoretisch-intellektuellen Kanon-Diskussion

2.1 Traditionelle Grundfunktionen literarischer Kanones 2.1.1 Literatur als ein Medium der kollektiven Identitätsbildung

In der theoretischen Kanondiskussion heiβt es: jeder Kanon habe „mit der kollektiven Identität einer Gesellschaft zu tun.“17

Ein Kanon hat somit gemeinschaftsbildende Kraft. Kanon schaffe Identität, indem er eine gemeinsame Kommunikationsgrundlage biete, die wiederum gemeinsame Wertvorstellungen und Handlungsgrundlagen repräsentiere.18 In den

Worten des bekannten deutschen Ägyptologen, Religionswissenschaftlers und Kulturwissenschaftlers Jan Assmann: Der „Kanon repräsentiert (…) ein Deutungs- und Wertsystem, im Bekenntnis zu dem sich der Einzelne der Gesellschaft eingliedert und als deren Mitglied seine Identität aufbaut.“19

Der Kanon gilt als „Prinzip einer kollektiven

Identitätsstiftung und -stabilisierung“, die zugleich „Basis individueller Identität“ sei.

„Das Ereignis, das die gesamte Bedeutungsgeschichte des Kanonbegriffs strukturiert“, sei - ihm zufolge - dann auch „das Vordringen der Kategorie der Identität.“20 Wie geht ein solcher

Prozess der Identitätsstiftung hervor? Nun: Der Kanon sorgt für „Identitätsstiftung durch Traditionsbildung.“21

Bis so weit eine Wiedergabe traditioneller theoretischer Positionen in Bezug auf Kanon und Identität. Auffällig ist meines Erachtens, dass in theoretischen Diskussionen - das heiβt nicht nur die hier dargestellte - vor allem die kollektive Identitätsstiftung (sei sie geschlechts- oder klassenspezifisch, oder gerade national bedingt) traditionell zu den Grundfunktionen literarischer Kanones gerechnet wird. Weniger sichtbar erscheint die dafür benötigte Wechselwirkung zwischen individueller Identität(en) und kollektiver Identität. Der Akzent liegt vielmehr auf kollektiven (kulturellen) Identität(en), die - in den Worten Assmanns - die „Basis individueller Identität“ sei(en). In traditioneller Theoriebildung wird Literatur damit oft, und werden so Kanones, als Kulturgut, als eine Form des kulturellen

Gedächtnisses angesehen, das identitätsbildend, -bestätigend, und so auch identitätslegitimierend, funktionieren würde. Neben der gerade erwähnten kulturspezifischen

17 Hans-Dieter Erlinger: Kanonfragen für die Medienerziehung im Deutschunterricht. In: Heinz Ludwig Arnold/

Hermann Korte (Hrsg.): Literarische Kanonbildung. Sonderband Text und Kritik. München 2002, S. 295. 18

A.M.J.: Kanon. In: Ralf Schnell (Hg.): Kultur der Gegenwart. Stuttgart / Weimar 2000, S. 245.

19

Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München (3. Aufl.) 2000, S. 127.

20 Ebd., ebd.

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10

Identitätsstiftung werden in theoretischen Diskussionen aber auch andere Kanonfunktionen oft genannt. Ich fasse alle zusammen:

2.1.2 Übersicht theoretischer Kanonfunktionen

(1) Der Kanon sei ein wichtiges Mittel zur Stiftung kultureller Identitäten. Literarische Kanones tragen zur Selbstdarstellung und Identitätsstiftung einer Gruppe und Gesellschaft bei. Ein Kanon erfülle so Selbstdarstellungs- und Legitimationsbedürfnisse.

(2) Ein Kanon erfülle auch ein Bedürfnis nach Orientierung.22 Er tradiere Werte. Ein Kanon

fungiere so als Norm, als Wertorientierung.23

(3) Ein Kanon liefere Handlungsorientierungen; mittels Regel und Konventionen (zu denken sei beispielsweise an das Innovationspostulat).

(4) Auch kann ein Kanon als Erkenntnisbedingung (Frame) fungieren. In dem Sinne werden durch Kanones hindurch sinnkonstitutive Frames angereicht. Im Zusammenhang mit 2: Ein Kanon kann ebenfalls als Lektüreanregung fungieren, er kann für eine bestimmte Sicht oder Interpretationsweise werben, ein Kanon kann gemeint sein, vorzustellen wie „die Dinge“ gesehen, gelesen, interpretiert werden sollten.

(5) Kanonwissen stelle eine Form „kulturellen“ oder „symbolischen Kapitals“ dar (in Bezug auf das Bürgertum sei zu denken an Bildungskapital), begründe und stabilisiere also soziale Rangpositionen.24 Einem literarischen Kanon komme so „Symbolisierungs- bzw.

Repräsentanzfunktion“25

zu.

(6) Ein Kanon sei auβerdem ein „Ermöglichungsstruktur von Innovation“, bevor er als „Instrument der Inhibierung von Innovation“ eingesetzt wird.26

Diese Funktionen sind größtenteils über (gesellschaftlich-literarische) Vergangenheit hergeleitet worden. Oft handelt es sich um Vergangenheiten, in denen Literatur gesellschaftlich noch in hohem Maße von Bedeutung war, wie im Fall Deutschland, im Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts. Es empfiehlt sich, uns hier auf die Deutungsmuster „Bildung“ und „Kultur“ einzulassen, weil sie für die Entstehung eines nationalen deutschen Kanons eine große Rolle spielten. Sie sind aber auch deswegen zu behandeln, weil diese

22

Oliver Pfohlmann: Literaturkritik und literarische Wertung. S. 52.

23 Vgl. bezüglich der Punkte 2, 3, und 4; Siegfried J. Schmidt: Abschied vom Kanon? Thesen zur Situation der

gegenwärtigen Kunst. In: Kanon und Zensur, S. 345 und 337.

24 Manfred Engel: Kanon-pragmatisch. Mit einem Exkurs zur Literaturwissenschaft als moralischer Anstalt. In:

Ricarda Schmidt/ Nicolas Saul (Hg.): Literarische Wertung und Kanonbildung. Würzburg 2007, S.28. 25

A.M.J.: Kanon. In: Ralf Schnell (Hg.): Kultur der Gegenwart. Stuttgart / Weimar 2000, S. 245.

26 Joachim Küpper: Kanon als Historiographie. In Maria Moog-Grünewald (Hg.): Kanon und Theorie,

(11)

11

Deutungsmuster die theoretisch-intellektuelle Kanondiskussion lange beherrscht haben. Die ‚nationale‘ Kanongeschichte scheint außerdem die theoretisch-intellektuelle Kanondiskussion, in ihrer Ausrichtung zum Kollektiven hin, völlig bestimmt zu haben.

2.2 Die nationale Geschichte eines deutschen literarischen (Bildungs-)Kanons: zur Wirkungsmacht des deutschen Deutungsmusters „Bildung und Kultur“

Im Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts ist Literatur in Deutschland in besonderem Maβe von gesellschaftlicher Bedeutung. Literarische Bildung galt zu dieser Zeit als Zeichen der Allgemeinbildung und Persönlichkeitsentwicklung. Sie muss mit dem Humboldt‘schen Bildungsideal zusammengedacht werden. Leitidee dieses Ideals sei die „zweckfreie und harmonische individuelle Bildung,“27 die Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung zum Ziel

habe. Die innere Bildung zum Menschen stand im Vordergrund der neuhumanistischen Bildungsphilosophie. Fortschreitende Bildung sei nämlich Grundlage fortschreitender Kultivierung der Menschheit im Ganzen.28

Es ist diese klassische Bildungsidee, der nun „Kultur“ als Medium zugeordnet wird.29 Kultur wird hiermit, in idealistischer-romantischer

Tradition, zum Ideal verklärt (hier sei bereits auf die Bezeichnung „Deutschland Kulturnation“30

verwiesen). Sie sollte auf individuell-geistiger Ebene Umsetzung finden. ‚Kultur‘ bezeichne im damaligen Kulturverständnis dann auch die „vermeintlich deutsche Orientierung an inneren Werten“31

und privaten Tugenden. Damit im Eigentlichen gemeint sind die klassischen Werte Humanität, „ein sowohl sittliches als auch ästhetisches Ideal menschlicher Vollkommenheit,“32 und (Selbst-)Verantwortung. Diese Werte, als Inbegriff

einer dem Schönen, Wahren und Guten verpflichtende Haltung, würden nämlich auf „die geistige Bildung und Entwicklung des Individuums“ abzielen.33

In diesem Zusammenhang

27

Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. 2. Aufl. Frankfurt am Main / Leipzig 1994, S. 148.

28 Ulrich Hermann: Pädagogisches Denken. In: Notker Hammerstein / Ulrich Hermann (Hg): Handbuch der

deutschen Bildungsgeschichte. Band II, 18. Jh., München 2005, S. 122.

29

Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. A.a.O., S. 148.

30 Ebd., u.a. S. 158.

31 Claus Altmayer: Konzepte von ‚Kultur‘ im Kontext von Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. In: Krumm /

Fandrych et al (Hg.): Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. (A.a.O.), S. 1404.

32

Manfred Fuhrmann: Bildung. Europas kulturelle Identität. Stuttgart 2002, S. 49.

33 Claus Altmayer: Konzepte von ‚Kultur‘ im Kontext von Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. In: Handbuch

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12

gehört die Erwähnung, dass die deutsche Bildungsidee gegen den Utilitarismus der Aufklärung, d.h. gegen die pragmatische Nützlichkeitsorientierung, zu agieren versuchte.34

Wichtig ist hier, dass das sich entwickelnde individualistische, ursprünglich emanzipatorische Gedankengut, das gegen die Gewalt der französischen Revolution (nicht aber gegen ihre Ideale) gerichtet war, nicht auf die individuelle innere Ebene beschränkt blieb. Der Individualismus des Bildungsideals wurde zu einer kollektiven Erscheinung.35

Diese Entwicklung schafft die Voraussetzung für eine ‚erfolgreiche‘ (umfangreiche) Anwendung der Bildungsidee. Diese Entwicklung konnte aus verschiedenen Gründen Gestalt annehmen, die teilweise schon im 18. Jahrhundert verbürgt waren. Eins ist kurz zu nennen, und dass ist die Tatsache, dass das 18. Jahrhunderts als „pädagogisches Jahrhundert“ bekannt steht.36 Das

„pädagogische Jahrhundert“ wäre „nur möglich als Jahrhundert der Anthropologie und der Theorien von Entwicklung und Universalgeschichte,“ erwähnt das Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte vielsagend.37

Das ‚pädagogische‘ in der Jahrhundertbenennung weist auf die Bestrebungen der Reformpädagogik hin, und auf die Tatsache, dass sich zu dieser Zeit ein eigenständiges Erziehungssystem herausbildete, das sich von der Kirche trennte,38 und auf

den Staat übertragen wurde.39

Ich fahre mit der Anwendung der Bildungsidee im 19. Jahrhundert fort: „Gebildet“ zu sein, wurde zum wichtigen Distinktionsmerkmal der Bürgerwelt. Unter Berufung auf die Deutungsmuster „Bildung“ und „Kultur“ stellte das Bildungsbürgertum dabei geistige und soziale Führungsansprüche. Das betraf auch, oder wie kein anderes, das Unterrichtswesen. Anschluss fand das Bildungsbürgertum also bei den vorangegangen Bestrebungen der Reformpädagogik, die Schulreformpolitik schon als Gesellschaftspolitik betrieben hatte. Schule (statt Kirche) musste, dieser Bewegung nach, zur Institution von Gesellschaft gemacht werden. Gesellschaftspolitik nahm so die Gestalt von Bildungspolitik an.40 Schmidt zufolge

sind hier übrigens die ersten Anzeichen für „die Dimension des Politischen im Begriff des

34 Michaela Hänke-Pörtscheller: Kanonisierte Mobilmachung. Ein Bildungskanon für den Geist der Freiheit? In

Ehrlich / Schildt / Specht (Hrsg.): Die Bildung des Kanons. Textuelle Faktoren – Kulturelle Funktionen – Ethische Praxis, Köln / Weimar / Wien 2007, S. 153-172, hier: S. 156. Auch beschrieben bei: Manfred Fuhrmann: Bildung. Europas kulturelle Identität. Stuttgart 2002, S. 29 und 49.

35 Vgl. hierzu Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. A.a.O., S. 202. 36

Siehe Ulrich Hermann: Pädagogisches Denken. In: Notker Hammerstein / Ulrich Hermann (Hg): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Band II, 18. Jh., München 2005, S. 124 ff.

37 Ebd., ebd.

38 Vgl. Siegfried J. Schmidt: Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhunderts, Frankfurt

am Main 1989, S. 181.

39

Vgl. Manfred Fuhrmann: Bildung. Europas kulturelle Identität. Stuttgart 2002, S. 34.

40 Vgl. Siegfried J. Schmidt: Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhunderts, Frankfurt

(13)

13

Pädagogischen“41 zu finden. Dem Deutungsmuster Bildung gelang es nun, ehemals lokale

oder regionale Bürgerwelten zu vereinheitlichen. Das Deutungsmuster ermöglichte dem Bildungsbürgertum auβerdem eine erfolgreiche individuelle und kollektive Selbstaufwertung.42

‚Der‘ Kanon wurde in diesem Prozess zum festen Bestandteil der kulturellen Sinnordnung, er wurde zur neuen Bildungsgegenstand. Mit ‚der‘ Kanon sei hier der deutsche Kanon, als nationales Gegenmodell zum Kanon der Weltliteratur, gemeint. Dieser nationale Kanon entstand auf der Basis eines bestimmten Modells: „das Modell nationaler Literaturentwicklungen mit jeweils als nationale Klassik ausgewiesenen Höhepunkten, die frühe oder spätere Literaturepochen in eine Vor-oder Nachläuferrolle drängten.“43 Der Kanon

des Bildungsbürgertums war dann auch in hohem Maße vom Bedürfnis nach nationaler Identitätsbildung geprägt. Zusammenfassend kann schon hier festgehalten werden, dass in Deutschland die Idee der „Kulturnation“44

hierbei eine große Rolle spielte. Der nationale Kanon wurde in Literaturgeschichten festgelegt und in Lehrplänen des schulischen Literaturunterrichts aufgenommen. Der Kanon der deutschen Literatur füllte damit die entstandene Leerstelle des vorherigen Kanons der religiösen Texte im Schulunterricht wieder auf. Die neue Literatur war, mit anderen Worten, vom Staat in das öffentliche Kulturleben eingebracht worden. Ins Zentrum des Interesses waren die sprachlichen Kunstwerke der Nation gerückt. Im Jahrhundert des Wettbewerbs der Nationen gehörte der Kanon auf diese Weise zuletzt zu den „kulturellen Strategien der Dauer“.45 Er war aufs engste mit der

Selbstrepräsentation der Nation verbunden. Aleida Assmann beschreibt diese Entwicklungen im Prozess der Kanonisierung im 19. Jahrhundert als die Ablösung von ‚Bildung‘ durch ‚Identität‘:

Während der Prozess der Bildung persönliche Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung zum Ziel hatte, erfolgt der Prozess der Identitätskonstruktion über die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen, die in ihren Merkmalen distinktiv und in ihren Grenzen klar sein müssen.46

Das Bildungsbürgertum scheint in diesem Prozess kurzum als Schnittstelle fungiert zu haben.

41 Ebd., S. 184. 42

Ebd., S. 203.

43

Michael Ewert: Literarischer Kanon und Fragen der Literaturvermittlung. In: Hans-Jürgen Krumm / Christian Fandrych et al (Hrsg.): Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Ein internationales Handbuch, Band 2, Berlin / New York 2010, S. 1555.

44

Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur A.a.O., u.a. S. 158.

45

Aleida Assmann. Im Internet über: www.uni-leipzig.de. Vermutliche Zusammenfassung von: Zeit und Tradition. Kulturelle Strategien der Dauer. Beiträge zur Geschichtskultur 15. Böhlau, Köln/Weimar/Wien 1999

(14)

14

Zu fragen in Bezug auf die theoretische Diskussion ist hier schon: vertritt ein Kanon immer eine gesellschaftliche homogene bzw. homogenisierte Gruppe? Und erstellt oder bedingt eine literarische Kanonbildung somit unbedingt Homogenität?47

2.3 Ein traditionelles Kanonverständnis

2.3.1 Das traditionelle Kanonkonzept: eine Art ‚literarischen Pantheons‘?

Was wird nun eigentlich im traditionellen Sinne mit ‚Kanon‘ angedeutet? Was impliziert ein traditionelles Kanonverständnis? Die Frage ist kurz und einfach zu beantworten. Bei einem traditionellem Kanonverständnis handelt es sich um D E N traditionellen Kanon. In D E M traditionellen Kanon geht es um D A S ‚klassische Erbe‘.

Laut einer Definition im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft wird mit Kanon bezeichnet: „Zusammenstellung als exemplarisch ausgezeichneter und daher für besonders erinnerungswürdig gehaltener Texte; ein auf einem bestimmten Gebiet als verbindlich geltenden Textcorpus.“48 Speziell: „In der Literaturwissenschaft der Bestand an

literarischen Texten, deren Kenntnis zu einer bestimmten Zeit im Rahmen einer Nation oder Kulturkreises als obligatorisch für den Ausweis von (literarischer) Bildung galt.“49

Dem Kanon haftet offensichtlich bis in die neueste Diskussion hinein die (zumindest implizite) Bedeutung der „symbolischen Repräsentanz allgemein verbindlicher und geheiligter Werte“50

an. Das klassische Erbe wird als musterhaft - und damit als überzeitlich - klassifiziert.51 Kanonisiertes gilt somit oft noch als heilig, verbindlich, vorbildlich, klassisch

und überzeitlich, und namentlich in der (von Bildungstheoretikern geprägten) theoretischen Kanondiskussion. Über obige Definition von Kanon, die Kenntnis des (Bildungs-)Kanons mit der Errungenschaft einer (literarischen) Bildung oder einfachweg mit ‚Bildung‘ gleichsetzt, wird klar, dass eine Kanondiskussion auf Basis eines Bildungsbegriffes sich immer mit Normsetzungen verbindet. Sie verdeutlicht, dass ‚Bildung‘ sich an bestimmten Normen orientiert, oder notwendigerweise orientieren muss? Wieso aber werden diese Normen als für alle Zeiten feststehende, als für immer gegebene betrachtet? Mit Hilfe einer etymologischen

47 Die ‘Nation’ beispielsweise wird durchgängig als eine Bevölkerung aufgefasst , die Merkmale einer ziemlich

hohen Grad an kulturelle Homogenität aufweisen würde. Vgl. Joep Leerssen; National thought in Europe.

48 Rosenberg: Kanon. In: Georg Braungart (Hg). Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft.3. Aufl.,

Berlin 1997-2003. (Band 2, H-O, 2000). Zitiert nach Stefan Neuhaus: Literaturkritik. Eine Einführung. Göttingen 2004, S. 147.

49

Ebd. ebd.

50 A.M.J.: Kanon. In: Ralf Schnell (Hg.): Kultur der Gegenwart. A.a.O., S. 244.

51

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15

Geschichte des Kanon-Begriffs kann teilweise sichtbar werden, wie es dazu kam. Das ruft die Frage herbei: Woher stammt eigentlich unser Konzept eines literarischen Kanons?

Das Kanonkonzept wurde von der Theologie übernommen, die bis dahin eine Kanondebatte darüber geführt hat, welche Texte der religiösen Überlieferung als verbindlich (kanonisch) angesehen werden sollten. Der literarische Kanonbegriff existiert nämlich so lange noch nicht. Angenommen wird, dass der literaturwissenschaftliche Begriff von Kanon von dem Philologen David Ruhnken (1723-1798) eingeführt worden ist. Er entdeckte die Bedeutung des Kanonprinzips für die Überlieferung der antiken Literatur. Er wies darauf hin, dass bereits in der Antike Kanonlisten kursierten, die dann die Schullektüre bzw. die literarische Produktion bestimmten.52

Ein literaturwissenschaftlicher Kanonbegriff kristallisiert sich so im 19 Jahrhundert weiter heraus. Die Verwendung der Bezeichnung ‚Kanon‘ ist aber schon viel älter.

Vom Kanon reden, heiβt nicht umsonst von einem komplexen und heiβ umkämpften Phänomen reden. ‚Kanon‘ ist umso mehr ein vielumfassender Begriff, weil er in unterschiedlichen Domänen erörtert ist: „Der Terminus ‚Kanon‘ [findet] schon in seiner Begriffs- und Sachgeschichte unterschiedliche Anwendungsfelder und [erweist] sich als Schnittstelle verschiedener Diskurse.“53 Er ist und war nicht nur von Bedeutung in religiösen

(und religionswissenschaftlichen) Kontexten und im literarischen Bereich. Auch in den Bereichen der Kunstgeschichte, des Rechtswesens und der Soziologie wird der Begriff angewandt. Der Terminus ‚Kanon’ an sich evoziert somit unterschiedliche Vorstellungen, wie auch der Terminus ‚Bildung‘.

2.3.2 Zur Begriffsgeschichte

Die Bedeutungsinhalte haben alle aber ihre Herkunft in einem bestimmten historischen bis aktuellen Anwendungsbereich. Die eigene Historie schwingt teilweise noch im heutigen jeweiligen Verwendungsgebrauch mit, und beansprucht so ihre Geltung (wenn auch manchmal implizit). Die Herkunftsgeschichte wird in 6 ‚Schritten‘, die mit verschiedenen Bereichen etwa deckungsgleich sind, dargestellt:

(1) Baukunst: Kanon als Werkzeug, Messinstrument.

So stammt das griechische Wort ‚κανών‘ (Maßstab, Regel) sprachgeschichtlich aus dem Semitischen, zum Beispiel hebräisch ‚qāneh‘, dass so viel wie ‚Rohrschilf‘ bedeutet,

52

Lothar Ehrlich/ Judith Schildt/ Benjamin Specht: Einleitung. In: Ehrlich / Schildt / Specht (Hrsg.): Die Bildung des Kanons. Textuelle Faktoren – Kulturelle Funktionen – Ethische Praxis, Köln / Weimar / Wien 2007, S. 9.

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vergleiche auch griechisch ‚κάννα‘ und lateinisch ‚canna‘. Das lateinische Wort geht selbstverständlich auf das Griechische zurück. Und das griechische Wort ist - ich wiederhole - ein Lehnwort aus dem Semitischen. Ursprünglich bezeichnet κανών so ein gerade gewachsenes Rohr, aus dem Körbe und Messruten hergestellt werden. Vor allem die letztgenannte Verwendungsweise ist hier von Bedeutung. Die gerade Stange oder ‚Rohrstock‘, der aus Rohr gefertigte Stab, diente als Richtlatte oder Richtscheit, als

Messgerät bzw „Lineal“ zur Ausrichtung der Einzelteile beim Errichten von Gebäuden, die

Geradheit eines Gegenstandes konnte mit einem solchen Rohr überprüft werden. Die Grundbedeutung von Kanon liegt kurz im Handwerks- und Baukontext. „Doch schon im griechischen Kontext kommt es zu einer ersten Abstraktion, weg vom konkreten Bauinstrument, hin zum mit ihm erstellten Maßverhältnis der Teile.“54

(2) Bildende Kunst, Musik: Kanon als Norm, Maßstab, Richtlinie

Die konkrete Bedeutung des ‚Richtscheits’ verallgemeinert sich also, sodass ‚Kanon‘ „schon früh jede Norm und jede allgemein geltende Richtlinie“55 bezeichnet. Die Grundbedeutung

entwickelt sich nämlich „über die eines Maßstabs idealer (harmonischer) Proportionen zu der einer allgemein gültigen ›Idee‹ des ›Richtigen‹, etwa in Rhetorik, Ethik und Politik.“56

Diese beiden Schritte will ich ein wenig erläutern. Es ist der griechische Bildhauer Polyklet, der um die Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. das etwas gedanklichere Konzept ‚Kanon als Maßstab‘ eigentlich gründet, der ein Kanongebot der idealen Proportionierung des menschlichen Körpers fördert. In seiner Lehrschrift unter dem Titel Kanon herrschen

kanonische Norme, Maßstäbe vor. Wird so auch eine Vorstellung der ‚richtigen‘

Kunstpraxis und -Objekte dargelegt? Bei Polyklet seien die Teile so mit dem Ganzen abgestimmt, dass sie ein „beseeltes“ Ganzes, ein „System“ bilden, und demnach voll berechenbar sind.57 In diesem Zusammenhang sollte ebenso die mathematische Musiklehre

der Pythagoreern genannt werden, in der die ideale Proportion der Klangintervalle, der Klangverhältnisse also, zentral stand. ‚Kanon‘ bezeichnete dort die regelmäßigen Abstände der Töne auf den genormten Saiten-Instrumenten. ‚Kanonisch‘ war der Umgang mit einem

54 Lothar Ehrlich / Judith Schildt / Benjamin Specht: Einleitung. In: Ehrlich / Schildt / Specht (Hrsg.): Die

Bildung des Kanons. Textuelle Faktoren – Kulturelle Funktionen – Ethische Praxis, Köln / Weimar / Wien 2007, S. 10.

55 Johannes Bilstein: Standardisierung und Kanonisierung. Zur Imaginations- und Begriffsgeschichte. In

Johannes Bilstein / Jutta (Hrsg.): Standardisierung und Kanonisierung. Erziehungswissenschaftliche Reflexionen, Wiesbaden 2009, S. 15.

56

A.M.J.: Kanon. In: Ralf Schnell (Hg.): Kultur der Gegenwart. Stuttgart / Weimar 2000, S. 244.

57 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen.

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17

Instrument somit, wenn es genau vorgegebenen Tonhöhen-Abständen folgte.58 Assmann

erwähnt das Streben nach höchster Genauigkeit als „gemeinsamer Nenner der technischen und geistigen Verwendungsweisen von Kanon“59

. Es gehe hier um „Ordnung, Reinheit und Harmonie, um den Ausschluβ von Zufall und unkontrollierter Abweichung.“60

(3) Rhetorik, Ethik, Politik: Kanon als Idee des Richtigen, Kanon als Muster- und Leitbildverhältnis, Kanon als Vorbild, Modell

Der gemeinsame Nenner bezieht er auch auf den „Gedanke eines Instruments, das sowohl der Erkenntnis als auch der Produktion (von Kunstwerken, Tönen, Sätzen, Handlungen) als Norm des Richtigen dienen kann.“61

Ein neues Beispiel: in der aristotelischen Ethik ist „der vernünftige Mensch“ Vorbild(stypus) richtigen Handelns.62

Der Schritt nach einer Verwendungsweise in Rhetorik, Ethik und Politik, wobei Kanon als Maßstab des Richtigen gilt, wurde also rasch bewältigt. Es ist übrigens bezeichnend, dass die berühmte Statue (‚der Doryphoros‘) des gerade erwähnten Polyklets als Verkörperung seiner Kanonlehre später selbst Kanon genannt wird. Hier ist schon die Eigenschaft besonderer Exklusivität und

Modellhaftigkeit zum Kanonbegriff hinzugetreten. Hier hat sich der Anspruch auf

Nachahmung bzw. Vorbildhaftigkeit schon (oder noch) als konstitutiv für den Kanon erwiesen. Das ist zu beachten.

(4) Philosophie: Kanon als Maßstab wahrer/zuverlässiger Erkenntnis, Kriterium

Die Verwendung des Begriffs ‚Kanon‘ als Bezeichnung eines Maßstabs wahrer oder

zuverlässiger Erkenntnis, ist durch den Philosophen Epikur als Synonym für Kriterium

geworden.63

Von hier aus zieht sich „eine Traditionslinie der Bezeichnung“, „von Regeln des richtigen Gebrauchs der Erkenntnisvermögen“, „bis hin zu Kants „Kanon der reinen Vernunft““64 (er spricht davon in seiner Kritik der reinen Vernunft, 1781). Bei Euripides

findet sich „Kanon“ ganz im moralischen Sinne, „als Kriterium der Unterscheidung zwischen „gerade“ und „krumm“ (d.h. moralisch korrekt und verwerflich).“65 Dieter Conrad zufolge

58 Johannes Bilstein: Standardisierung und Kanonisierung. A.a.O., S. 15. 59

Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. A.a.O., S. 109.

60

Ebd., ebd.

61 Ebd., ebd.

62 Vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. A.a.O., S. 110 und Dieter Conrad: Zum Normcharakter von

“Kanon” in rechtswissenschaftlicher Perspektive. In: Jan und Aleida Assmann (Hg.): Kanon und Zensur, Hier: S. 49.

63 Dieter Conrad: Zum Normcharakter von “Kanon” in rechtswissenschaftlicher Perspektive. A.a.O, S. 48; und

Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München, 3. Aufl. 2000, S. 108ff.

64

Ebd, ebd.

65 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen.

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scheint der metaphorische, „und damit eine innere Normativität implizierende Charakter des Wortgebrauchs“ in der griechischen Antike sehr lang erhalten geblieben zu sein. Er führt herbei, dass noch in der Stoa das Gesetz als „Kanon, Richtschnur oder Leitbild der Gerechtigkeit“ verstanden wird. Später ist Kanon das äuβere Gesetz, die Satzung selbst. Dies nennt Conrad die spätantike terminologische „Positivierung“ des Begriffs.66 Daneben bestand

aber ein metaphorischer Gebrauch des Begriffs für „ein freieres, komplexeres Muster- und Leitbildverhältnis“.67

Siehe auch (3).

(5) Theologie: Kanon als Richtschnur der Wahrheit

Die (zumindest implizite) Bedeutung der „symbolischen Repräsentanz allgemein

verbindlicher und geheiligter Werte“ erhält der Kanon-Begriff dann durch seine

theologische Verwendung in Judentum und Christentum: der Begriff bezeichnet die verbindliche Form und Zusammenstellung der Thora bzw. der christlichen Bibel, d.h. die anerkannten Schriften des A.T./N.T. ohne die Apokryphen. Auch bezeichnet er die Gruppe der kanonisierten Heiligen, dem katholischen Kirchenrecht (Codex Juris Canonici, häufig als „heiliger Kanon“ vom weltlichen Gesetz abgehoben68

) und dem mittleren Teil der katholischen Messe (Canon missae, d.h. das Hochgebet der Eucharistie in der katholischen Liturgie).69

Die Beziehung des Singulars Kanon auf eine Zusammenstellung mehrerer Elemente vollziehe sich erst hier, im kirchlichen Gebrauch. Auf diese Weise steht Kanon für die Gesamtheit in einem Bereich geltender Vorschriften und Regeln, wie für deren verbindliches Verzeichnis, die Zusammenstellungen von Regeln selbst.

(6) Literarische Verwendung:

Schlieβlich wird der Kanonbegriff erst im 18. Jahrhundert für literarische Werke und Autoren verwandt. Dies geschieht im Zuge der Säkularisierung kultureller Wert- und Identitätsvorstellungen.70

2.3.3 Fazit

Festzuhalten ist allenfalls, dass Ethik, Erkenntnistheorie und Ästhetik schon früh durch den Begriff ‚Kanon‘ verbunden sind.71 Stets geht es in der Begriffsgeschichte um „vorbildliche

Verhältnisse, um „ein Idealmaβ“, oder um eine (zuerst ziemlich freie, dann verbindlichere)

66

Dieter Conrad: Zum Normcharakter von “Kanon” in rechtswissenschaftlicher Perspektive. A.a.O, S. 49.

67 Ebd., ebd. 68 Ebd., ebd. 69

Vgl. hierzu: A.M.J.: Kanon. In: Ralf Schnell (Hg.): Kultur der Gegenwart. A.a.O., S. 244.

70

Ebd., ebd.

71 Vgl. Einleitung. In Ehrlich / Schildt / Specht (Hrsg.): Die Bildung des Kanons. Textuelle Faktoren – Kulturelle

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19

Richtschnur“.72 Zu vermerken sei eine Verschiebung von Kanon als Norm bzw. Regel,

Vorschrift (siehe 1 und 2) nach Kanon als Orientierungs-Wert, Leitfaden, Richtschnur (3 und 4), auf die eine Art Vermischung (5) folgt. Gleichzeitig aber sind die Bedeutungen manchmal schwer schrittweise zu unterscheiden.

Die Begriffsentwicklungsgeschichte zeigt dennoch, wie die Einfüllung des Wortkörpers immer abstrakter wird, vom Konkreten ins Abstrakte führt. Entstanden im Baukunst und Handwerkskontext, findet der Begriff - über seine Verwendung in Rhetorik, Ethik und Politik in der Antike - seine Anwendung im Religionskontext (d.h. in Judentum und Christentum), wo es zur theologischen Zwecke verwendet wird. Dort wird die Abstraktion definitiv, erscheint sie ultimativ. Zentral in dieser Hinsicht ist, dass der Kanonbegriff seit seiner theologischen Verwendung mit der Konnotation ‚heilig’ aufgeladen worden ist. Der Begriff scheint auf diese Weise nicht nur schon autorisiert worden, sondern auch scheinbar einer kritischen Hinterfragung entzogen worden zu sein. Was schon autorisiert worden ist, braucht keine Autorität mehr. Die Auswahl der alt- und neutestamentlichen Schriften resultierte so in einem geschlossenen Kanon, er wurde von der Kirche als Grundlage des christlichen Glaubens anerkannt.

Sowieso ist es auffällig, dass der Begriff im Laufe seiner Geschichte immer weniger wertneutral aufgeladen wird. Es wird gerade wertbezogener. Der Kanonbegriff bezieht sich zuletzt nicht auf das was ist, sondern auf das, was sein soll.73 Der Kanonbegriff habe so das

Instrumentelle [wiederholt: der Gedanke eines Instruments, das (…) als Norm des Richtigen dienen kann] verloren; d.h. er habe diese Konnotation in seiner heutigen Verwendungsweise verloren, „und sich dafür mit den Kategorien der Normativität, Wertbezogenheit und Allgemeinverbindlichkeit angereichert“74

, heiβt es (wiederum) bei Assmann.

Wie steht das alles im Verhältnis zu seiner Verwendung für literarische Werke und Autoren, noch abgesehen von der Ausgangsfrage nach seiner Verwendung im DaF-/DaZ-Unterricht? Die Frage ist nicht ganz unproblematisch, eine Antwort ebenfalls nicht.

Für eine mehr oder weniger kohärente Beantwortung kehren wir zuerst zu einer Frage zurück, die noch nicht im Eigentlichen, d.h. kurz und konkret, beantwortet wurde; woher denn das Konzept eines literarischen Kanons stamme. Kernfrage mit Blick auf obige

72 Johannes Bilstein: Standardisierung und Kanonisierung. Zur Imaginations- und Begriffsgeschichte. In

Johannes Bilstein / Jutta (Hrsg.): Standardisierung und Kanonisierung. A.a.O., S. 15.

73

Vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München, 3. Aufl. 2000, S. 115.

74 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen,

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Entstehungsgeschichte ist dabei: Was sagt die etymologische Geschichte des Kanonbegriffs letztlich über die Weise des Funktionierens eines literaturwissenschaftlichen Kanons aus?

Natürlich: die Meinungen sind darüber sehr geteilt. Ich gestatte mir die Freiheit einer Auswahl. Joachim Küpper zufolge ist es beispielsweise auβerordentlich wichtig, zwischen dem monotheistischen Sakral-Kanon und dem Paradigma unseres Konzepts eines literarischen Kanons, das aus der Antike, also aus einem polytheistischen Diskurskosmos stammt, zu unterscheiden.75

Das Problem sei aber, dass die Begriffsgeschichte von Kanon sich uns darstelle „als ein Palimpsest, in dem griechisch-römische von jüdisch-christlicher Kultur überlagert ist und beide zu einer unlöslichen Einheit verschmolzen sind.“76

Das Konzept des Sakral-Kanons habe somit auf das Konzept eines literarischen Kanons eingewirkt. Obwohl der Paradigma-Wechsel in der Kunst in Richtung Autonomie und Originalität, und damit die Abschaffung der didaktischen (heteronom-ästhetischen) Orientierung wie des ganz alten Prinzips der Nachahmung (imitatio → aemulatio), schon lange stattgefunden hat - nämlich Ende des 18. Jahrhunderts, unmittelbar nach der Alphabetisierung der Bevölkerung - spielt das alte Konzept der Existenz eines einzigen geschlossenen Kanons, der heilig, vorbildlich und verbindlich sei, einfach weiter unterhalb des ‚neuen‘ Konzepts der pluralen, offenen Kanones, obwohl es diesem faktisch krass gegenübersteht. Ist es nicht hervorstechend, dass erst gleichzeitig mit der Säkularisierung ein literarischer Kanonbegriff entsteht?

Auch Dieter Conrad macht darauf aufmerksam, dass am Kanonbegriff das Alte „heilig, verbindlich, vorbildlich“ nicht immer gültig war, dass „der Charakter des Geheiligten dem ursprünglichen Wortsinne fremd [ist].“77

Die Bezeichnung in der Überschrift von Abschnitt 2.3.1 ‚literarischen Pantheons‘ ist aus diesen Gründen eine unsinnige, und ungewünschte für ein ‚(post)modernes‘ Kanonkonzept. Trotzdem aber ist sie, im Zusammenhang mit allgemeinen und vergangenen Kanonfunktionen, auch eine auf der Hand liegende. Wie oft werden nicht Kanon(es) als übergreifende Einheit(en) gesehen, statt als Medium für Differenz-Zeugnisse? Alle „Götter“ zusammen unter einer Kuppel, das riecht auch nach romantischer Genie-Ästhetik, und weist so überhaupt nicht in eine Richtung von Vielschichtigkeit und Pluralität, von Nebeneinander-Existieren der Lebensauffassungen, wie es in unserer Zeit den Fall ist. Küpper hebt den genannten Unterschied damit mit Recht hervor.

75 Joachim Küpper: Kanon als Historiographie. In: Maria Moog-Grünewald (Hg.): Kanon und Theorie,

Heidelberg 1997, S. 44.

76

Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München, 3. Aufl. 2000, S.121.

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Wenn wir das, an dieser Stelle, zusammennehmen mit dem Fakt, dass ‚Kanon‘ immer noch sowohl Werke als Werte bezeichne,78 darf, ja muss danach gefragt werden, auf welche Werte

sich das dann jetzt beziehe, und ob dies in Bezug auf aktuellere Kanonkonzepte gerechtfertigt ist, ob ästhetische Kriterien in Bezug auf einen Kanon literarischer Werke auβerdem zu verteidigen und zu umschreiben sein könnten. Wertvollsein ist immerhin eine relationale Eigenschaft.79

Dagegen sind in der vorherigen ‚Kanon-Abhandlung‘ vornehmlich die angeblich überzeitlichen Werte in den Blick getreten. Gemeint sind Werte wie ‚Klassizität‘ und Vorbildlichkeit‘. Gefragt ist, ob ein solches Kanon-Verständnis in Bezug auf literarische Kanones in der Postmoderne, also auch in Bezug auf heutige Verwendungsweisen im Unterricht, überhaupt zutreffen kann?

2.4 Das klassische Identitätskonzept

Zusammenfassend lieβ dieses Kapitel vor allem die „Ineinssetzung von Ästhetik und

Ethik“ in Bezug auf den (Bildungs-)Kanon, d.i. damit auch in Bezug auf ein traditionelles

Kanon-Verständnis, erkennen. Bei der Beschreibung des Bildungsbürgertums wurde sie ebenfalls sichtbar in der ‚Bildungsidee‘. Die klassischen Werte Humanität und (Selbst)Verantwortung wurden an Ideen über ‚geistige Bildung‘ und ‚Entwicklung des Individuums‘ gekoppelt. Die Werte wurden dabei als Inbegriff einer dem Schönen, Wahren und Guten verpflichtenden Haltung aufgefasst. Fuhrmann nennt diese Gleichstellung, das Zusammenziehen von Ästhetik und Ethik, „eine Lieblingsvorstellung der deutschen Klassiker“.80

Die Behandlung der Geschichte des Kanon-Begriffs hat die Herkunft dieser Verbindung einigermaßen erklärt. Traditionell-didaktisch findet sich ein solches Kanon-Verständnis u.a. in der Auslegung von literarischen Werken als ‚Modelle‘, die Aspekte beispielhaften Lebens repräsentieren würden. Hier liegt meines Erachtens klar der Link zum überkommenen Kanonbegriff. Man denke nur kurz an die unterstellte ‚Vorbildlichkeit‘.

Nun sollte gewiss nicht verneint werden, dass Kanonbildung in der Literatur immer noch Normen voraussetzt, die von bestimmten Instanzen festgelegt werden. Sie würden ermöglichen, dass nicht nur das ‚Gute‘, sondern auch das ‚Schlechte‘ definiert wird.81

78

Lothar Ehrlich / Judith Schildt / Benjamin Specht: Einleitung. In: Ehrlich / Schildt / Specht (Hrsg.): Die Bildung des Kanons. Textuelle Faktoren – Kulturelle Funktionen – Ethische Praxis. Köln /Weimar /Wien 2007, S. 10

79

Vgl. Christoph Bode: Singing the Canon: Warum Mehrstimmigkeit eine gute Sache ist. In: Maria Moog-Grünewald (Hg.): Kanon und Theorie. Heidelberg 1997, S. 67.

80

Manfred Fuhrmann: Bildung. Europas kulturelle Identität. Stuttgart 2002, S. 49.

81 Herangezogen am 6. Januar 2012:

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22

Kanonisierung impliziert so immer schon Ausschließung und Ausgrenzung. Kanonisierung kennzeichnet sich als Selektionsprozess. In Bezug auf Kulturen bedeutet das aber auch: „Kanon kann für eine Kultur Orientierung ermöglichen und Spiele eröffnen, und er kann - alternativ oder gleichzeitig - Handlungsspielräume einschränken und potentielle Mitspieler ausgrenzen.“82 Kritik am Kanon schlieβt sich genau diesem Punkt an.

Bezogen auf den deutschen nationalen Literaturkanon, zeigte sich, dass sich nationale Identität bildete durch Abgrenzung; Abgrenzung von anderen Sprachen, deren Sprechern und mit ihnen verbundenen kulturellen Eigenarten. Abgrenzung weist hin auf Geschlossenheit. Im Entwurf der einen Nation gab es so nur eine ‚richtige‘ Identität, und zwar die einheitlich nationale. Sie konnte sich stützen auf die Vorstellung von der Existenz klar unterschiedener, in sich homogener Kulturen.“83 Diese Vorstellung findet ihre Daseinsberechtigung lediglich in einem traditionellen und essentialistischen Kulturbegriff.

In einem essentialistischen Kulturbegriff werden Kulturen als in sich abgeschlossenes Ganzes (Kulturkreise) betrachtet und mit vermeintlichen Abstammungsgemeinschaften („Ethnien“) gleichgesetzt. Hierauf basiert dann eine Angrenzung zwischen dem Eigenen und dem Fremden, dem Innen und Auβen.84 Herkömmliche Vorstellungen von Kultur schildern Kultur somit als relativ stabiles (national oder ethnisch abgeschlossenes) System ab, als einheitliches System auch.

Ein klassisches Identitätskonzept nun, wie sie aus der traditionellen Kanon-Diskussion und dem traditionellen Kanonverständnis hervortritt, steht mit einem solchen Kulturbegriff in Verbindung. Auch eine klassische Vorstellung von Identität beruht nämlich auf Einheitlichkeit und Geschlossenheit, auf Vollkommenheit der menschlichen Persönlichkeit sogar. Als diese Vorstellung in der Bildungsidee erfolgreich implementiert wurde, fand die Übertragung auf menschliche Kollektive rasch danach statt. Die Idee einer klar definierbaren, kollektiven nationalen Identität war geschaffen.

Die klassisch-einheitliche oder ganzheitliche Vorstellung von Identität, die Vorstellung von der alleinigen Existenz eines „vollkommenen Ich“, wird in der Postmoderne aber als obsolet empfunden.85 Ebenfalls unter Feuer liegt die Vorstellung von der Existenz

82 Renate von Heydebrand: Vorbemerkung. In: Dies.(Hg.): Kanon, Macht, Kultur. Theoretische, historische und

soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildung. Stuttgart 1998, S. XI, in Fußnote 3.

83 Heidi Rösch: Inter- oder transkulturelle Literaturdidaktik? In Barkowski / Demmig / Funk /Würz (Hg.):

Deutsch bewegt. Entwicklungen in der Auslandsgermanistik und Deutsch als Fremd- und Zweitsprache, Baltmannsweiler 201, 344.

84

http://erwachsenenbildung.at/themen/interkulturelle_eb/grundlagen/kulturbegriff.php [Herangezogen am 30.4.2012].

85

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23

klar unterschiedener, in sich homogener Kulturen. Hierauf hat sich dennoch nicht nur ein traditioneller Kulturbegriff basiert, sondern auch die theoretische-intellektuelle traditionelle Kanon-Diskussion.

Kann also noch länger die Rede sein von ‚kultureller Identität‘? Kann Hänke-Pörtscheller nicht ausschlieβlich auf Basis einer solchen (wenn vielleicht auch implizit angelegten) Vorstellung von Kultur meinen, dass in Kanonkontroversen „der kulturelle Sinn“ auf dem Prüfstand stehe?86 Als sei ‚der kulturelle Sinn‘ für alle eindeutig, daneben feststehend und gegeben? Ist die Rede von kulturellen Sinn-Entwürfen oder von Deutungsmustern, wie es im Fach DaF und DaZ Brauch ist, nicht vielmehr zu bevorzugen?

Die nächsten Kapitel werden auch diese Fragen klären, im Zusammenhang mit den in der Einleitung gestellten Teilfragen und in Verbindung mit der Hauptfrage. Im Folgenden wird so erstens der Fachbereich DaF und DaZ unter die Lupe genommen.

Eine kurze Bemerkung gestatte ich mich hier noch. Ein Deutungsmuster „leitet Wahrnehmungen, interpretiert Erfahrenes und motiviert Verhalten“, schreibt Georg Bollenbeck.87 Im Bereich DaF/DaZ scheint es gerade darum zu gehen, solche lebensweltliche Denk- und Wahrnehmungsmuster aufzuschließen. Mit der Begründung, dass sie unserem Zugang zur Wirklichkeit zugrunde liegen, dass mit dem Erlernen der Sprache zugleich die Entwicklung kultureller Deutungsmuster verbunden ist.88 Wie das Aufschlieβen dann im DaF- und DaZ-Unterricht gestaltet werden könnte? Auch dazu äuβert sich diese Arbeit.

86 Michaela Hänke-Pörtscheller: Kanonisierte Mobilmachung. Ein Bildungskanon für den Geist der Freiheit? In

Ehrlich / Schildt / Specht (Hrsg.): Die Bildung des Kanons. Textuelle Faktoren – Kulturelle Funktionen – Ethische Praxis, Köln / Weimar / Wien 2007, S. 153-172, hier: S. 155.

87

Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur A.a.O., u.a. S. 157.

88 Fandrych / Hufeisen / Krumm / Riemer: Perspektiven und Schwerpunkte des Faches Deutsch als Fremd- und

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3. Deutsch als Fremd-und Zweitsprache

3.1 DaF als Oberbegriff; Entwicklung eines Fachgebiets

Was bezeichnet der Terminus Deutsch als Fremdsprache (DaF) eigentlich? Wozu wird er verwendet? Welche wissenschaftliche Bereiche, welche Themen werden durch ihn hindurch angesprochen? Das im Jahre 2001 in erster Auflage erschienene Handbuch Deutsch als Fremdsprache meldet auf dem Umschlag, der Begriff DaF stehe für „unterschiedliche Bereiche der Beschäftigung mit dem Deutschen als Nicht-Muttersprache.“89

Zu vermerken ist schon hier, dass DaF ein Oberbegriff ist. Unter ihm geschart werden demnach sowohl wissenschaftliche Aktivitäten wie konkrete (Sprach-)Unterrichtspraxen und auch Studiengänge. Das kann manchmal verwirrend sein. Diese Arbeit bezieht sich aber nur auf die zwei erstgenannten Variante.

Zentral steht in allen Arbeitsgebieten der Spracherwerb von Nichtdeutschsprachigen. Bis 1975 ist „Deutsch für Ausländer“ hier dann auch eine gängige Bezeichnung.90

Wissenswert ist, dass erst mit (u.a.) der Gründung des „Jahrbuchs Deutsch als Fremdsprache“ der Begriff Deutsch als Fremdsprache Eingang findet. Er wird damit verteidigt, dass es sich in den Fachgebieten stets um Sprecher und Lerner des Deutschen handelt, denen diese Sprache ganz fremd ist. Die Idee war, also, dass der Begriff darauf aufmerksam machen würde - wie es in dem jüngsten Handbuch Deutsch als Fremd- und Zweitsprache (2010) in Worte gefasst wird - dass es „nicht um Sprachunterricht allein, sondern um eine spezifische Qualität der deutschen Sprache, nämlich die, für Lernende fremd zu sein, ginge.“91 Der

Kategorie der Fremdheit wird damit (theoretisch) ein bestimmter Stellenwert zuerkannt. Dabei werden die Lernenden oder Lerner deutlich mehr in den Vordergrund gestellt als bisher. Diese Orientierung hin zu einer stärkeren Ausrichtung auf eine Lernerperspektive ist teilweise der gegen Ende der 1960er Jahre entstandenen und sich in den siebziger Jahren ausformulierenden kommunikativen Wende zuzuschreiben, die auch namentlich in Fremdsprachenunterricht wirksam war. Hinzu kommt, dass das Fach DaF sich erst seit dieser Zeit zu einem akademischen Fach entwickelt. Die eben erwähnte theoretische ‚Fremdbestimmung‘ vollzieht sich, um kurz zu gehen, gleichzeitig mit der Etablierung von

89 Vorwort. In: Gerhard Helbig/ Lutz Götze / Gert Henrici/ Hans Jürgen Krumm: Deutsch als Fremdsprache. Ein

internationales Handbuch. Berlin / New York 2001 , S. V. Ab hier bezeichnet als Handbuch DaF 2001.

90

Vgl. Hans-Jürgen Krumm/ Bernd Skibitzki /Brigitte Sorger: Entwicklungen von Deutsch als Fremdsprache in Deutschland nach 1945. In: Handbuch DaFZ 2010, S. 47.

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DaF als wissenschaftliches Fachgebiet. Bis Anfang der siebziger Jahre gibt es noch keine ernsthafte Debatte über ein akademisches Fach DaF.92

Zwar existiert Deutsch als Fremdsprache schon vor dieser Zeit, aber in beschränkter Form – es handelt sich dann nur um Sprachkurse, die in unterschiedlichen institutionellen Kontexten angeboten werden. Das gilt übrigens sowohl für die Bundesrepublik Deutschland als auch für die DDR.93

Oft hervorgehoben in den Diskursen um das Fachgebiet DaF herum, auch heute noch, wird der Praxisbezug, den das Fach genießt. DaF sei deutlich „aus praktischen Notwendigkeiten der Sprachvermittlung“ erwachsen.94 Das hat(te) natürlich auch

Folgen für den wissenschaftlichen Werdegang des Fachs.

Bemerkenswert sind Bemerkungen in der Richtung, dass die deutsche Germanistik sich nur allmählich für Fragen des Deutschen als Fremdsprache geöffnet haben würde. Bereits genannt wurde die Gründung des „Jahrbuchs Deutsch als Fremdsprache“ im Jahre 1975. Sie wird als sichtbarsten Ausdruck dieses Öffnungsprozesses angesehen.95

Dennoch waren ihm schon Forschungsprogramme und andere Publikationsorgane wie Zielsprache Deutsch (1970) und Info DaF (1974) vorangegangen. Offenbar bedürfte das Fach ein wenig mehr an Nährboden, bevor es sich als Fachgebiet entwickeln konnte, und vielleicht stand die innerdeutsche Germanistik ihm zudem nicht gleich positiv gegenüber?

Doch sie entstand. Es erfolgten Professuren in Bielefeld (1978), Hamburg (1975) und München (1978). Sprachenpolitisch engagierte Mittler-Organisationen wie das Goethe-Institut, der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD), und der Fachverband Deutsch als Fremdsprache (FaDaF) beteiligten sich wesentlich an der Entwicklung des Fachgebiets.

Als wissenschaftliches Fachgebiet weist DaF Bezüge auf mit der Sprachwissenschaft, der Literaturwissenschaft und der Landeskunde.96 Sie werden die Referenzwissenschaften des

Deutschen als Fremdsprache genannt. Das jüngste Fachlexikon erwähnt hier unter Bezugnahme auf DaF und DaZ auch die Kulturwissenschaften. Literaturwissenschaft und Sprachwissenschaft erscheinen zudem in Pluralform. Ebenfalls finden die Bereiche der Fachdidaktik und -methodik, der Psycholinguistik und Pädagogik Erwähnung. Auffällig erscheint so die interdisziplinäre Ausrichtung des ganzen Interessegebietes im Fach DaF/DaZ,

92

Lutz Götze/ Gerhard Helbig/ Gert Henrici/ Hans Jürgen Krumm: Die Strukturdebatte als Teil der Fachgeschichte. In: Handbuch DaFZ 2010, S 20.

93 Ebd., ebd.

94 Hans-Jürgen Krumm/ Bernd Skibitzki /Brigitte Sorger: Entwicklungen von Deutsch als Fremdsprache in

Deutschland nach 1945. In: Handbuch DaFZ 2010, S. 44.

95

Ebenda. In: Handbuch DaFZ 2010, S. 47.

96 Gerhard Neuner: Curriculumentwicklung und Lehrziele Deutsch als Fremdsprache. In: Handbuch DaF 2001,

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weswegen ich sie auch hervorhebe. Manchmal im Nachteil des Faches wirkt dennoch auch hier die „zunehmende Spezialisierung“97, die Interdisziplinarität nämlich auch im Wege

stehen kann.

Im Fachgebiet des DaF und DaZ geht es um die Frage nach dem Zusammenhang von Sprache und Identität.98

Von Interesse ist auβerdem der Zusammenspiel von informellen und gesteuerten Spracherwerb. Das Erlernen der deutschen Sprache durch Fremdsprachenunterricht verläuft in dieser Hinsicht ziemlich gesteuert. Im Fall des Deutschen als Zweitsprache ist aber an erster Stelle oft die Rede von informeller Spracherwerb. Sowieso zeigt sich eine Verwicklung von DaF und DaZ. Das führt unmittelbar zu der Frage: Lassen sich die beiden auch voneinander differenzieren?

3.2 DaF im Kontrast zu DaZ

Deutsch als Fremdsprache kann von Deutsch als Zweitsprache unterschieden werden, obwohl es viele Unschärfen in der Grenzziehung geben würde.99

Ich nehme mir somit lediglich die Benennung der meist ins Auge springenden Unterschiede vor und werde danach noch einige Besonderheiten des Fachbereichs behandeln:

Hat sich DaF-Unterricht immer auf Deutschlernende auβerhalb des deutschen Sprachraums (erinnert sei an der Bezeichnung ‚Deutsch für Ausländer‘) bezogen, ist von DaZ gerade die Rede, wenn die deutsche Sprache in einem deutschsprachigen Land (oder in deutschsprachiger Umgebung) als Zweitsprache erworben wird, da ihre Verwendung im Alltag sich als notwendig herausstellt. Die Bezeichnung DaZ bezieht sich mit anderen Worten auf den Spracherwerb von Minderheiten und Migranten. Im Fachbereich wird dabei stets die lebensweltlich bedingte Zweisprachigkeit - als Merkmal von DaZ - hervorgehoben. Kennzeichnend für den Spracherwerb im Bereich DaZ ist somit, dass die deutsche Sprache unmittelbar in die Lebenswelt der Betroffenen eingreift. Das Deutsche wird in der alltäglichen Lebenswelt benutzt, ist aber keine Muttersprache der Benutzer. Sie wird in Deutschland (oder deutschsprachiger Umgebung) erlernt, weil es dort das zentrale Kommunikationsmittel ist. Schmölzer-Eibinger definiert Zweitsprache so als „jene Sprache, die Lernende im Zielsprachenland erwerben und beherrschen müssen, um am gesellschaftlichen Leben in

97

Siehe Vorwort, S. VII, In: Handbuch DaFZ 2010.

98

Vorwort. S. V, In: Handbuch DaFZ 2010.

99 Fandrych / Hufeisen / Krumm / Riemer: Perspektiven und Schwerpunkte des Faches Deutsch als Fremd- und

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einem Land überhaupt teilnehmen zu können.“100 Es kann hier daran erinnert werden, dass -

im Zusammenhang mit der Arbeitsmigration - das Deutsch dieser Fremdsprachler (oder Nichtmuttersprachler) die Benennung „Gastarbeiterdeutsch“ verursacht hat.

Ein weiterer Unterschied steht hiermit im Zusammenhang. Er lässt sich logisch aus dem Vorangegangen folgern und wurde auch bereits angedeutet. DaZ wird im Gegensatz zu DaF durch „das ständige Ineinandergreifen von gesteuerten und ungesteuerten Erwerbsprozessen“101

gekennzeichnet. Oft wird die Unterscheidung noch einfacher vorgestellt: DaF wird im schulischen Fremdsprachenunterricht ausgeübt, DaZ steht eher im Kontext lebensweltlicher Zweisprachigkeit.102 Eine Zweitsprache wird demnach erworben,

während eine Fremdsprache gelernt wird.

Dennoch kann auch bei DaZ vom schulischen Bereich die Rede sein, obwohl sie mehr als nur den Bereich umfasst. Es lohnt sich jedenfalls zu betonen, dass das Tätigkeitsfeld im Bereich DaZ ein sehr breites ist. Die Frage erhebt sich alsdann: wo hat man mit DaZ zu tun? Eine Antwort findet sich (u.a.) in Schulen für Kinder mit Migrationsgeschichte, in vorschulischen DaZ-Kursen oder im Förderunterricht für Migrantenkinder auβerhalb von Schule, aber auch in der Erwachsenenbildung.103

Beim letzten Punkt kann an die ganze Bandbreite des Unterrichts für (zugewanderte) Erwachsene gedacht werden; an Goethe-Instituten, an Weiterbildungsinstitutionen, an Sprachschulen, an ein Angebot DaZ in Firmen und Betrieben, und nicht zuletzt an die Integrations(sprach)kurse des Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), die durch den Deutsch-Test für Zuwanderer (DTZ) abgeschlossen werden kann. Zusammenfassend kann ausgesagt werden, dass die Breite der Bereiche innerhalb DaZ parallel zu der Breite der Adressaten läuft. DaZ-Unterricht umfasst immerhin Kinder, Jugendliche und Erwachsene.

Natürlich gibt es riesige Unterschiede zwischen DaZ-Lernern, die als Erwachsene Alphabetisierungskurse besuchen müssen, und Schülern in der Sekundarstufe II, die in eine deutschsprachige Umgebung hineingeboren sind.104 DaZ beschäftigt sich traditionell dann auch mehr (als DaF) mit unterschiedlichen Lernbedingungen - und muss sich auch deswegen

100

Sabine Schmölzer-Eibinger: Deutsch als Zweitsprache. Spracherwerbstheoretische und didaktische Grundlagen für den Unterricht in mehrsprachigen Klassen. In: Lange, Günther & Weinhold, Swantje (Hrsg.): Grundlagen der Deutschdidaktik. Hohengehren 2005, S. 128-150, hier: S. 129. Zitiert nach Barbara Herrmann: Schrifterwerb und Textkompetenz bei Kindern mit Deutsch als Zweitsprache. http://www.uni-koeln.de/phil-fak/deutsch/lehrende/schindler/downloads/files/Examensarbeit_Herrmann.pdf

101 Rupprecht Baur/ Andrea Schäfer: Der Faktor „Lehren“ im Bedingungsgefüge des Deutsch als

Zweitsprache-Unterrichts. In: Handbuch DaFZ 2010, S. 1074.

102

Hans Reich: Entwicklungen von Deutsch als Zweitsprache in Deutschland. In: Handbuch DaFZ 2010, S. 66.

103

Vgl. Rupprecht Baur/ Andrea Schäfer: Der Faktor „Lehren“ im Bedingungsgefüge des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts. In: Handbuch DaFZ 2010, S. 1075.

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