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Herbert van Uffelen, Moderne Niederländische Literatur im Deutschen Sprachraum 1830-1990 · dbnl

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Deutschen Sprachraum 1830-1990

Herbert van Uffelen

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Herbert van Uffelen,Moderne Niederländische Literatur im Deutschen Sprachraum 1830-1990.

Zentrum für Niederlande-Studien, Münster 1993

Zie voor verantwoording: http://www.dbnl.org/tekst/uffe003mode01_01/colofon.htm

© 2009 dbnl / Herbert van Uffelen

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Teil 1: Rezeption

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Einleitung

Die bedeutendsten Untersuchungen zur Rezeption fremdsprachiger Literaturen im deutschen Sprachraum liegen bereits einige Jahre zurück. Trotzdem wurde der Literatur aus den Niederlanden und Flandern bislang nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Ungeachtet der unübersehbaren Erfolge in den fünfziger und sechziger Jahren und des rezenten Durchbruchs von Autoren wie Hugo Claus (o1929), Harry Mulisch (o1927) und Cees Nooteboom (o1933) scheint das Interesse für die niederländische Literatur nach wie vor unter dem geringen Ansehen zu leiden, von dem die Kultur aus dem niederländischen Sprachraum, seit sie ihre Vormachtstellung im 17. Jahrhundert verloren hat, betroffen ist, und unter der Tatsache, daß viele Deutsche die niederländische Sprache als ‘dem zur mißbilligten Mundart erniedrigten Niederfränkisch’1zu ähnlich empfinden.

Ursachen für die bislang eher geringe Aufmerksamkeit für die niederländische Literatur nach 1945 sind nicht nur auf deutscher Seite zu suchen. Von

niederländischer und flämischer Seite hat man der Tatsache, daß im deutschen Sprachraum in bezug auf die niederländische Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg einfach alte Traditionen fortgesetzt wurden und daß damals der Kontakt zu den neuen Entwicklungen in der niederländischen Literatur so gut wie abriß, auch nur wenig entgegengesetzt. Letzteres mag bei der grundsätzlich internationalen Orientierung der Niederländer erstaunlich erscheinen, aber diese Orientierung beruht nun einmal an erster Stelle auf einem merkantilen Interesse. Nicht die Kultur, sondern Käse und Tulpen oder der erhobene moralisierende Zeigefinger stehen für die Niederländer bei internationalen Beziehungen vielfach im Vordergrund. In kultureller Hinsicht neigen sie eher zu übertriebener Zurückhaltung oder zur eigenen kulturellen

‘Annexion’ durch fortwährenden Import fremder Produkte.2

1 H. Combecher:Deutscher Niederrhein und niederländische Sprache. In: Niederrheinisches Jahrbuch, Bd. 8, 1965, S. 135.

Anfang der siebziger Jahre wies auch J. Goossens in seiner ‘Musterlektion über die Selbständigkeit des Niederländischen im Verhältnis zum Deutschen’ mit dem TitelWas ist Deutsch - und wie verhält es sich zum Niederländischen? Bonn, [1971], ebenfalls darauf hin, daß ‘unrichtige Vorstellungen über die niederländische Sprache, die im deutschen Sprachgebiet verbreitet seien’ (S. 5), das deutsche Verhältnis zur niederländischen Sprache bestimmen.

2 Hierfür ist Harry Mulischs Satz aus dem Jahr 1986, ‘In Holland bin ich weltberühmt’ (Nerv getroffen. In: Der Spiegel, Nr. 28, 7. Juli 1986, S. 146), ein Beispiel. Siehe hierzu auch: S.W.

Couwenberg:Noord- en Zuidnederlandse identiteit als varianten van de Algemeen-Nederlandse Kultuur. In: Neerlandia, Jg. 92, Nr. 2, Apr. 1988, S. 45-53.

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Auf den ersten Blick sind die Flamen im Vergleich zu den Niederländern viel nationalistischer, aber dafür sind sie in dem sich im Wandel zum föderalistischen Staat befindlichen Belgien noch immer auf der Suche nach einer eigenen Identität.

Hieraus erklären sich sowohl ihr Streben nach Anschluß an den nördlichen Nachbarn als auch ihr Partikularismus. Kein Wunder, daß gerade das Werben um Anerkennung, das von seiten der Flamen in der Vergangenheit in Richtung Osten immer wieder entwickelt wurde, ebenfalls alles andere als ein aktiver, selbstsicherer Einsatz für die Verbreitung der eigenen Kultur war.

Glücklicherweise hat sich, was die Haltung der Niederländer und Flamen bezüglich der Förderung ihrer Sprache und Literatur im Ausland betrifft, besonders in den letzten Jahren einiges getan. Wichtige Ereignisse in diesem Zusammenhang waren die Gründung der ‘Stiftung zur Förderung der niederländischen Literatur in

Übersetzung’, mit der bis vor kurzem Niederländer und Flamen gemeinsam ihre Literatur im Ausland zu fördern versuchten, und Mitte der achtziger Jahre das große VeranstaltungsprogrammBegegnungen mit den Niederlanden der Königlich Niederländischen Botschaft in Bonn, mit der diese die niederländische Kultur einschließlich ihrer Literatur im deutschen Sprachraum präsentierte. Damals hat die Königlich Niederländische Botschaft auch den Grundstein für diese Studie und die dazugehörigen Bibliographien gelegt, indem sie in Zusammenarbeit mit Murk Salverda, dem Verantwortlichen für die Ausstellungen des Nationalen

Literaturmuseums in Den Haag, als Begleitmaterial zur WanderaustellungOhne Käse, ohne Tulpen die Broschüre Niederländische Literatur in deutscher Übersetzung herausgegeben hat, in der eine vorläufige Bibliographie der niederländischen Literatur, d.h. der niederländischsprachigen Literatur aus den Niederlanden und Flandern, in deutscher Übersetzung ab 1900 enthalten ist.3

Das Bewußtsein, daß sich die Niederlande und Flandern seit der Gründung der supranationalen Niederländischen Sprachgemeinschaft (Taalunie), der Belgien und die Niederlande 1980 Pflege und Förderung der niederländischen Sprache und der niederländischen Literatur im Ausland übertragen haben, gemeinsam für die niederländische Literatur im Ausland einsetzen müßten, nimmt aber nur langsam zu.4Zwar verzerrt

3 M. Salverda:Niederländische Literatur in deutscher Übersetzung, Bonn, [1985].

Wenn in der vorliegenden Studie ausdrücklich von der Literatur aus Flandern die Rede ist, wird die Bezeichnung niederländischsprachige bzw. französischsprachige Literatur aus Flandern verwendet. Geht es nur um die Literatur aus den Niederlanden, wird, da

nicht-niederländischsprachige Literatur aus den Niederlanden nicht behandelt wird, der Begriff Literatur aus den Niederlanden gebraucht.

4 Die Sprachgemeinschaft ist der ‘Schlußstein’ einer Reihe von kulturellen Verträgen zwischen Nord und Süd, ausgehend vom ‘Belgisch-Nederlands Cultureel Akkoord’ von 1946 bis zur 1976 geschlossenen Vereinbarung über die Erstellung einer niederländischen Grammatik (ANS). (Siehe hierzu: L. Ravier:Neerlandistiek in het buitenland. In: Neerlandia, Jg. 92, Nr.

1, 1988, S. 12-17, hier S. 12.)

‘Mit der Unterzeichnung des Vertrages erhielt die “Niederländische Sprachgemeinschaft” eine Reihe von Befugnissen: [...] Rechtschreibung, Grammatik, Terminologie, Lexika, Niederländisch für Anderssprachige, Sprach- und Literaturwissenschaft, Verlagswesen und Buchhandel, Übersetzungen, korrekter Sprachgebrauch, Unterricht in niederländischer Sprache und Literatur im In- und Ausland, einige Aspekte der Medienpolitik und die Unterstützung privater Initiativen, die zur Verwirklichung der Zielsetzung der “Niederländischen Sprachgemeinschaft”

beitragen können.’ (O. de Wandel:Die ‘Niederländische Sprachgemeinschaft’ und die Niederlandistik extra muros, Den Haag, 1987, S. 3.)

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der niederländische Schriftsteller Jeroen Brouwers (o1940), der lange Zeit in Flandern gewohnt hat, die tatsächliche Sachlage, wenn er behauptet, daß es überhaupt keine Sprachgemeinschaft gebe, sondern nur eine Sprachverwirrung, die aus einer Entfremdung, die bei den jeweiligen Staatsgrenzen beginne, resultiere.5Aber dennoch ist Hugo Dyserinck leider immer noch zumindest teilweise recht zu geben, wenn er feststellt, daß es in Flandern und den Niederlanden Leute gibt, die davon überzeugt sind, daß es sich bei den Unterschieden zwischen Flamen und

Niederländern um Unterschiede ‘zwischen zwei selbständigen Volksgemeinschaften’6 handelt.

Der Vertrag der Niederländischen Sprachgemeinschaft hat in den Niederlanden und Flandern noch keine breite Basis gefunden. Vorurteile und Ängste prägen nach wie vor die Beziehungen und behindern die erfolgreiche gemeinsame Förderung der niederländischen Literatur im Ausland.7So ist es kein Zufall, daß geeignete Instanzen, die diese Förderung übernehmen könnten, heutzutage nicht zur Verfügung stehen. Die Niederländische Sprachgemeinschaft hat bezüglich der Förderung der niederländischen Literatur im Ausland keine eigenen Initiativen entwickelt, und die bereits erwähnte Stiftung zur Förderung der niederländischen Literatur in

Übersetzung hat, dies war auch der Grund ihrer Auflösung,

5 Siehe hierzu u.a.: J. Brouwers:Sire, er zijn geen Belgen, Amsterdam, 1988,

bezeichnenderweise eine Schrift, die von der niederländischen ‘Stiftung zur Promotion des niederländischen Buches’ gefördert wurde.

6 H. Dyserinck:Komparatistische Imagologie: zur politischen Tragweite einer europäischen Wissenschaft von der Literatur. In: H. Dyserinck und K.U. Syndram (Hrsg.): Europa und das nationale Selbstverständnis, Bonn, 1988, S. 25.

7 Einerseits schauen viele Niederländer auf die Flamen herab und interessieren sich nur aus geschäftlichen Gründen für Flandern, andererseits fürchten vor allem konservative Flamen noch immer das sogenannte progressive protestantische Virus aus den Niederlanden. Siehe hierzu: S.W. Couwenberg:Noord- en Zuidnederlandse identiteit als varianten van de Algemeen-Nederlandse Kultuur. In: Neerlandia, Jg. 92, Nr. 2, 1988, S. 51.

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in den letzten Jahren ihrer Existenz die Literatur aus Flandern nur noch auf Papier gefördert.8

Trotz des Vertrages der Niederländischen Sprachgemeinschaft wird die

niederländische Literatur seit einiger Zeit wieder national, d.h. einerseits durch eine flämische und andererseits durch eine niederländische Instanz, gefördert. Beide Instanzen arbeiten in der Praxis zwar zusammen, aber es bleiben Instanzen mit länderspezifischen Prioritäten. Demnach bleibt also nur zu hoffen, daß aus der eigens für die Frankfurter Buchmesse 1993 gegründeten flämisch-niederländischen Stiftung auf Dauer eine dem Vertrag zur Niederländischen Sprachgemeinschaft entsprechende neue Organisation zur gemeinsamen Förderung der niederländischen Literatur im Ausland wachsen wird.

Für den flämisch-niederländischen Prozeß der supranationalen Auto-Imagebildung ist das Bild des Auslandes von eminenter Bedeutung. Dafür bietet wiederum das Jahr 1985 einen Beleg, denn in diesem Jahr berief sich die Königlich Niederländische Botschaft zur Dokumentation der Einheit der Literatur aus den Niederlanden und Flandern statt auf die eigene Sprachgemeinschaft auf die sogenannte ‘Klarstellung’, ein Manifest aus dem Jahr 1966, das zur Beseitigung der vom deutschen Übersetzer Georg Hermanowski erzeugten Sprachverwirrung publiziert wurde.9

Eines der Ziele der vorliegenden Untersuchung ist dann auch, durch eine Beschreibung der lange Zeit unterschätzten Rolle und Bedeutung der

niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum dazu beizutragen, daß sich Niederländer und Flamen in Zukunft, anstatt weiter ängstlich zu befürchten, als kulturelle Nationen nicht ernst genommen zu werden, aktiver für die gemeinsame Verbreitung ihrer Literatur einsetzen und selbstbewußter zu ihrer einmaligen Sprachgemeinschaft stehen können. Zugleich soll von der Gelegenheit Gebrauch gemacht werden, das Bild der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum, wo nötig, zu korrigieren. Dabei wird versucht, in Anbetracht des Verhältnisses der niederländischen Literatur zur deutschsprachigen als das einer kleineren Literatur zu einer größeren (wobei die kleinere schnell zur minderwertigen abqualifiziert wurde bzw. wird), wo möglich, de Eigenständigkeit und die Eigendynamik der

niederländischen Literatur hervorzuheben.

In diesem Sinne steht in der vorliegenden Studie, wie wichtig der Prozeß der Transformation für die Praxis der Übersetzung auch ist, anders als etwa bei der Untersuchung zur Rezeption der niederländischen Litera-

8 Siehe hierzu auch: Anm. 47, S. 398 dieser Studie. Wo es ihr möglich war, hat die

Sprachgemeinschaft dennoch sehr wohl einzelne Initiativen zur Promotion der niederländischen Literatur im Ausland gefördert. Siehe hierzu u.a.: P. Noble:Nederlandstalige literatuur in Frankrijk. In: Ons Erfdeel, Jg. 31, Nr. 1, 1988, S. 13-18.

9 Zur Klarstellung siehe auch: S. 427ff. der vorliegenden Studie.

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tur in englischer Übersetzung von Ria Vanderauwera, nicht die ‘accomodation’, die Anpassung der ‘minority literature’10an das Zielsystem, im Vordergrund. Es besteht inzwischen wohl kein Zweifel mehr darüber, daß die Leser gegenüber ‘peripheral and secondary work’11weniger offen stehen ‘than for work at the innovatory center of the literary system, where inventiveness and creativity may be not only condoned but applauded’12, und daß sich kleinere Literaturen in einem vitiösen Zirkel befinden - ‘unknown therefore not translated, therefore always unknown’13-, aber eine Untersuchung, die vor allem das Zielsystem und die Adaption an dieses System in den Vordergrund stellt, fällt leicht selbst diesem Zirkel zum Opfer und riskiert, die Bedeutung der ursprünglichen Literatur, die Eigenständigkeit des ersten literarischen Systems aus dem Auge zu verlieren, um die Möglichkeiten ihrer Integration in die zweite zu untersuchen und Vorschläge zu ihrer Verbreitung zu machen. In

Wirklichkeit fördert man so aber selten die Ursprungsliteratur, sondern vielfach ausschließlich die Homogenität der Zielliteratur.

Den Stellenwert, den eine Literatur, besonders eine kleinere, in einer größeren wirklich innehat, kann man nur dann erfassen, wenn man ihre Eigenständigkeit und Eigendynamik nicht aus dem Auge verliert und nicht nur die Abhängigkeit, in der sich eine Literatur wie die niederländische befindet, beschreibt.

Eine solche Beschreibung der modernen niederländischen Literatur als refraktierte Literatur in einem größeren Zieisystem, in diesem Falle in dem der deutschsprachigen Literatur, erfordert eine weitgehend offene und vielschichtige Analyse. Darum beschränkt sich diese Studie nicht auf eine Konfrontation der literarischen Fakten, der tatsächlichen Übersetzungen mit bedeutenden Ereignissen in den jeweiligen literarischen Systemen. Großes Gewicht wird auch auf die Darstellung der politischen und kulturellen Beziehungen zwischen den Niederlanden und Flandern auf der einen und Deutschland auf der anderen Seite gelegt. Das Gleiche gilt für die Beschreibung des Einsatzes von Individuen oder Verlagen für die niederländische Literatur sowie gegebenenfalls der Förderung durch niederländische oder flämische Instanzen, denn alle diese Elemente bestimmen die Dynamik des Austausches.14Besondere Aufmerksamkeit

10 R. Vanderauwera:Dutch Novels translated into Englisch: the Transformation of a ‘Minority’

Literature, Amsterdam, 1985.

11 Ebd., S. 117.

12 Ebd.

13 Ebd., S. 27.

14 Die Analyse der Rezeption der niederländischen Literatur umfaßt in der vorliegenden Studie, soweit Rezeptionsbelege vorlagen, den ganzen deutschen Sprachraum. Da aber die niederländische Literatur in der untersuchten Periode schwerpunktmäßig in Deutschland bzw.

der Bundesrepublik rezipiert wurde, beschränkt sich die Analyse der politisch-kulturellen Beziehungen auf Beziehungen zwischen Deutschland bzw. der Bundesrepublik auf der einen und den Niederlanden und Flandern auf der anderen Seite. Die politisch-kulturellen Beziehungen von Österreich, de Schweiz und der DDR zum niederländischen Sprachraum werden nicht näher behandelt.

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wird ferner dem Bild der niederländischen Literatur in einigen literarischen

Zeitschriften gewidmet, weil sich durch die Konfrontation mit der relativen Konstante einer literarischen Zeitschrift besser als durch die Beschreibung einzelner

Monographien oder durch die Analyse der Darstellung der niederländischen Literatur in einzelnen literaturhistorischen Übersichten das sich ständig ändernde Bild der niederländischen Literatur beschreiben läßt und so die Spannung zwischen den beiden literarischen Systemen, die das Subsystem moderne niederländische Literatur im deutschen Sprachraum bestimmen, am besten erhellt werden kann.

Um den großen Untersuchungszeitraum überschaubar zu machen, wird er in vier Perioden untergliedert, wobei der Aufteilung sowohl literarische als auch politische Ereignisse zugrunde gelegt werden.

Die erste Periode (1830-1880) wird einerseits durch die Unabhängigkeit Belgiens begrenzt, die zugleich den Anfang der modernen niederländischsprachigen Literatur aus Flandern darstellt, und andererseits durch die literarische Erneuerung in den Niederlanden und einige Jahre später auch in Flandern in den achtziger und neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Bei der Untersuchung dieser Periode stehen die ersten deutsch-niederländisch-flämischen Beziehungen und eine Analyse des Erfolges des flämischen Autors Hendrik Conscience (1812-1883) im deutschen Sprachraum im Mittelpunkt. Es wird beurteilt, inwiefern Consciences Erfolg die Grundlage für eine breitere Rezeption der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum war.

Die zweite Periode (1880-1914) beginnt mit der literarischen Revolution der Achtziger in den Niederlanden und endet kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. In diesem Abschnitt wird die Rezeption der zwei bedeutendsten Vorläufer der literarischen Erneuerung in den Niederlanden und Flandern, Multatuli und Guido Gezelle, näher analysiert und der Rolle der niederländischen Achtziger im deutschen Sprachraum nachgegangen. Es wird untersucht, inwiefern das großdeutsche Interesse für Flandern und die Niederlande die Rezeption der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum beeinflußt hat und in welcher Form die niederländischen Achtziger oder die Vertreter des niederländischen Naturalismus rezipiert wurden. Wie im vorhergehenden Kapitel werden die allgemeinen Feststellungen zur Periode und zur Rezeption der niederländischen Kultur

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und ihrer Literatur im besonderen an Hand einer Analyse einiger ausgewählter Zeitschriften überprüft.

Die dritte Periode (1914-1945) ist durch die beiden Weltkriege begrenzt, denn die Rezeption der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum wurde in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts zu einem wesentlichen Teil durch die damalige Kriegs- und Nachkriegssituation bestimmt. Nachdem wiederum die Beziehungen zwischen Flandern, den Niederlanden und Deutschland untersucht werden, wird versucht, die Rolle der erfolgreichen niederländischsprachigen Autoren während des Nationalsozialismus zu bestimmen, und der Frage nachgegangen, inwiefern sie ins nationalsozialistische System integriert und für die Propaganda eingesetzt wurden bzw. ob sie ihre Eigenart bewahren konnten und einen eigenständigen literarischen Beitrag in dem von den Nationalsozialisten gelenkten Literatursystem leisten konnten. Abschließend werden die Feststellungen erneut mit der Entwicklung des Bildes der niederländischen Literatur in verschiedenen für die Periode

bedeutsamen literarischen Zeitschriften konfrontiert.

Im vierten und letzten Teil (1945-1990) wird untersucht, ob die niederländische Literatur nach über 100 Jahren der Rezeption im deutschen Sprachraum eine Rolle als gleichwertiger Partner erhalten hat. Ihre Erfolge in dieser Periode werden näher betrachtet, und die Förderung, die sie seit 1945 von deutscher, niederländischer oder flämischer Seite erfahren hat, wird kritisch beleuchtet. Da es seit dem Zweiten Weltkrieg keine deutschsprachige Literaturzeitschrift mehr gibt, die sich ausführlich und kontinuierlich mit der niederländischen Literatur beschäftigt, mußte für diese Periode auf die Analyse der Rezeption der niederländischen Literatur in Zeitschriften verzichtet werden. Dafür wird an Hand einer ausführlichen Sammlung von

Zeitungsausschnitten die Rezeption einiger der bedeutendsten

niederländischsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts in der deutschen

Zeitungskritik eingehend betrachtet und auf Basis einer genaueren Untersuchung der verschiedenen Anthologien aus dieser Periode die Entwicklung des Bildes der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum dargestellt.15

Auf nähere Untersuchungen zur konkreten Praxis der Integration und der Art und Weise der Adaption wurde, wie wichtig dies auch ist, aus genannten Gründen verzichtet. Dies gilt auch für eine Analyse des Prozesses der Auto-Imagebildung, d.h. des selbständigen Sich-Anpassens eines

15 Eine ausführliche Übersicht der Beiträge zur niederländischen Literatur und zu niederländischsprachigen Autoren in deutschsprachigen Zeitschriften und Zeitungen einschließlich einer Auswahl der Aufsätze und Werke zu den deutsch-niederländischen bzw.

den deutsch-flämischen politischen, kulturellen und literarischen Beziehungen in der Periode 1830-1990 befindet sich in Teil 2 der vorliegenden Studie.

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Autors an das Bild seines Werkes im Ausland. In der vorliegenden Studie werden zwar bei Conscience Ansätze eines solchen Prozesses festgestellt, aber eine weitergehende Analyse dieses Vorganges bei ihm oder bei anderen Autoren, die sich intensiv mit deutscher Literatur beschäftigt haben oder lange in Deutschland gewohnt haben wie Albert Verwey (1865-1937) oder Multatuli (1820-1887), muß der nachfolgenden Forschung überlassen werden. Dies betrifft ebenso eine detaillierte Untersuchung eventueller Einflüsse der niederländischen Literatur auf die deutschsprachige oder die Frage, mit welchen Autoren z.B. Conscience im 19.

oder Claus, Mulisch und Nooteboom im 20. Jahrhundert auf dem Buchmarkt im deutschen Sprachraum konkurrieren mußten bzw. müssen. Die hier vorgelegte Studie, die sich auf eine breite, diachrone Übersicht der Aspekte konzentriert, die bei der Entstehung und der Entwicklung des Systems, das aus der Begegnung der niederländischen mit der deutschsprachigen Literatur entstanden ist, eine Rolle gespielt haben und auch heute noch spielen, soll aber die für solche Untersuchungen notwendigen Voraussetzungen schaffen.

Wien, im Dezember 1992 Herbert Van Uffelen

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1. Der Zeitraum 1830-1880

1.1 Die Niederländer: ‘ein dekadentes Handelsvolk ohne Poesie’

Nicht immer hat man im deutschen Sprachraum so herabwürdigend über die Niederländer geurteilt wie Johann Gottfried von Herder in dieser Überschrift.1 Insbesondere nicht im 17. Jahrhundert, als die Niederlande, durch den Westfälischen Frieden unabhängig geworden, ökonomischen und kulturellen Weltrang erreicht hatten. In dem Zeitalter, wo durch die politische Trennung von Nord und Süd und die massenhafte Einwanderung aus den südlichen, katholischen Niederlanden unter spanischer Herrschaft das kulturelle Ende des alten Flandern besiegelt wurde, begann für die Generalstaaten das sogenannte Goldene Zeitalter und zogen viele Deutsche nach Amsterdam und nach Leiden, ins Zentrum der Wissenschaft.

Erst als die Niederländer im 18. Jahrhundert ihre Vormachtstellung verloren, sie sich sozusagen auf ihrem Wohlstand aus vergangenen Zeiten ausruhten und in eine Art ‘Versteinerung’2verfielen, schlug in Deutschland, wo man im Gegensatz zu den Niederlanden unabhängig von der wirtschaftlichen Lage eine ganze Reihe kultureller Glanzleistungen vorweisen konnte, die Bewunderung für die Niederländer und ihre Kultur in Kritik um.3Das Bild des reichen Holländers wurde durch das des satten Holländers, des Philisters, ersetzt.

Im 19. Jahrhundert war Deutschland eindeutig nicht mehr der empfangende, sondern der gebende Teil. Nicht nur in Belgien, sondern auch in den Niederlanden, wo die innere Stabilisierung durch die 1815 vom Wiener Kongress erzwungene Wiedervereinigung mit dem ursprünglichen südlichen, aber völlig entfremdeten Teil verzögert worden war und

1 Ähnliche peinliche ‘Sottisen’, wie K.P. Lange sie nennt, findet man auch bei A.W. Schlegel, I. Kant und den Vertretern des Jungen Deutschlands H. Heine und L. Wienbarg. (Siehe hierzu:

K.P. Lange:Die Begriffe ‘Nederlandsch’ und ‘Nederduitsch’. In: M. Prangel, H. Westheide (Hrsg.):Duitsland in Nederland, Groningen, 1988, S. 78; H. Meyer: Das Bild des Holländers in der deutschen Literatur. In: K. Wais (Hrsg.): Forschungsprobleme der Vergleichenden Literaturgeschichte, Tübingen, 1950, S. 171-188; C.V. Bock: Deutsche erfahren Holland 1725-1925. In: Castrum Peregrini, Jg. 27/28, 1956, S. 5-125 und H. Schott: Niederländische Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts, Köln, 1990 (Diss.).)

2 N. Japikse:Die politischen Beziehungen Hollands zu Deutschland in ihrer historischen Entwicklung, Heidelberg, 1925, S. 18.

3 Ein gewisser Neid auf die alte niederländische Größe und die Tatsache, daß die ‘holländische’

Bürgerlichkeit scharf mit den großen und tiefen Gefühlen der Romantik kontrastierte, haben dabei ebenfalls eine Rolle gespielt. Siehe hierzu auch: M. van Ackeren:Das Niederlandebild im Strudel der deutschen romantischen Literatur, Amsterdam, 1992 (Diss.).

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sich nach der Belgischen Revolution eine ‘Malaise-Stimmung’4breitgemacht hatte, avancierte ‘Germania docet’ für viele zu einer ‘fast selbstverständlichen Lösung’5. Darüber hinaus begnügte man sich nicht mehr mit der Feststellung, daß die Holländer und ihre Kultur ‘steif und kalt [...] exotisch und veraltet’6, daß sie die Chinesen von Europa seien. ‘Holland’, das aufgrund einer eigenwilligen Interpretation der Bestimmungen des Wiener Kongresses die Durchfuhr im Rheindelta mit Zöllen belegte, wurde zur direkten ‘Zielscheibe des Spottes’7.

1.1.1 Trotz negativer Vorzeichen: wachsendes Interesse für die Niederlande und Flandern

Das deutsche Verhältnis zu Belgien und den Niederlanden blieb dennoch im 19.

Jahrhundert nicht nur von negativen Vorzeichen bestimmt, sondern wandelte sich dauernd. Dafür sorgten der Nationalismus, der mit romantischen Ideen über Volk und Volksart vermischt war, das Gefühl der ständigen Bedrohung durch Frankreich, das Aufkommen liberaler Ideen, die Belgische Revolution und die damit

einhergehende Angst bzw. Bewunderung für liberales, revolutionäres Gedankengut, die Perspektiven neuer Handelsbeziehungen zu Belgien, insbesondere im Hinblick auf die umstrittenen Rheinschiffahrtsrechte, die religiösen Beziehungen zwischen

4 H. Lademacher:Fremdbild und Aussenpolitik, Bonn, 1989, S. 13.

5 J.F.E. Bläsing:Niederländer und Deutsche über sich und den Nachbarn, Bonn, 1981, S. 15.

Siehe hierzu auch: H. von der Dunk:Der deutsche Vormärz und Belgien 1830/48, Wiesbaden, 1966, insbes. S. 161.

6 E.F. Kossmann:Holland und Deutschland, Den Haag, 1901, S. 32.

7 Ebd., S. 33. Die Feststellung, daß man sich nach 1830 wieder daran gewöhnen mußte.

‘Niederländer und Holländer für identisch zu halten’ (C.A.W. Kruse:Excurse über holländische und vlämische Art, Sprache und Litteratur, Elberfeld, 1854, S. 5), vermittelt nur eine leise Ahnung von der ‘wegwerfende[n] Verachtung’ (Zit. F. Freiligrath nach E.F. Kossmann:Holland und Deutschland, Den Haag, 1901, S. 33), mit der man im Deutschland des anfangenden 19. Jahrhunderts gewohnt war, ‘die armen, freilich etwas massiven und tölpelhaften Dutchmen’

(ebd.) zu behandeln.

Die gespannten Beziehungen zwischen Deutschland und den Niederlanden lockerten sich erst allmählich mit dem Inkrafttreten des Handels- und Schiffahrtsvertrages, in dem sich die Niederlande bereit erklärten, den bis auf den Kolonialhandel letzten Stützpunkt ihrer alten Handelsmacht aufzugeben. Später verliehen Fortschritte auf dem Gebiet der Industrie, die Bedeutung der Niederlande als Kolonialmacht und die damit einhergehende Rolle des Landes als Handelspartner von Kolonialgütern für die immer mächtiger werdenden deutschen Staaten und das spätere deutsche Kaiserreich den Niederlanden sogar ein gewisses Ansehen. (Siehe hierzu: N. Japikse:Die politischen Beziehungen Hollands zu Deutschland in ihrer historischen Entwicklung, Heidelberg, 1925, S. 20ff.; ferner: W. Mitzka: Das Niederländische in Deutschland.

In:Niederdeutsche Studien, Neumünster in Holstein, 1932, S. 207-228 und H. Lademacher:

Zwei ungleiche Nachbarn, Darmstadt, 1990, S. 27ff.)

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einerseits dem protestantischen Preußen und dem katholischen Rheinland sowie andererseits den Niederlanden und Belgien, der Anti-Ultramontanismus, von dem deutsch-nationales Gedankengut begleitet war, und schließlich die nicht zu leugnende Bewunderung für den demokratischen Charakter der Niederlande im allgemeinen.8

Kennzeichnend für die meisten Stellungnahmen zur Beziehung zwischen den Niederlanden und Belgien auf der einen und den deutschen Staaten auf der anderen Seite blieb aber immer die Auffassung, daß der niederländische Sprachraum sein Heil bei Deutschland zu suchen hätte.9

Die hierfür wohl bekanntesten Zeugnisse sind die Schriften von Ernst Moritz Arndt, der davon überzeugt war, daß alles, was germanisch sei, zu Deutschland gehöre, und sich wie viele seiner Zeitgenossen nicht vorstellen konnte, daß Völker, die so nah miteinander verwandt waren, verschiedene Sprachen haben könnten. Arndt betrachtete die niederländische Sprache als einen ‘Zweig der Niederdeutschen oder Plattdeutschen’10. Auf Basis dieser Vorstellung einer gemeinsamen Sprache begründete er seine Forderung nach einer gemeinsamen Nation bzw. einem deutsch-germanischen Bundesstaat. Zugleich war Arndt davon überzeugt, daß ‘die Niederlande, wenn sie dem tiefsten Zug ihres Innern folgten, über kurz oder lang in die größere Gemeinschaft mit Deutschland zurückkehren müßten’11, daß also eine Zeit kommen würde, zu der Holland in Not geraten und dort wieder unweigerlich hineinfallen würde, wo es hingehörte, nämlich ‘in den Schoß des großen

Germaniens’12, und

8 Insbesondere zum Bewußtsein einer ‘rheinisch-belgischen Verwandtschaft’ im 19. Jahrhundert siehe: K. Pabst:Belgien und Rheinland-Westfalen seit dem 19. Jahrhundert. In: Geschichte im Westen, Jg. 5, H. 1, 1990, S. 26-37. Zum Anti-Ultramontanismus siehe auch: S. 67 der vorliegenden Studie.

9 H. Lademacher und H. von der Dunk verweisen in diesem Kontext u.a. auf den Historiker H.

Leo, der die Niederlande als einen verlorenen Sohn betrachtete, auf den Privatdozenten J.

Moleschott, der eine wissenschaftliche und politische Annäherung der Niederlande ans freie deutsche Volk befürwortete, auf B.G. Niebuhr, der wie E.M. Arndt die Grenzen ‘Deutschlands’

so weit wie möglich nach Westen verlegen wollte, auf H. Teuthold, der für ein neues Königreich Burgund, das auch Belgien umfassen sollte, plädierte, und auf F. von Gagern, der von einem Zusammengehen der Niederlande mit Deutschland wirtschaftliche und militärische Vorteile erwartete. (Siehe hierzu: H. Lademacher:Fremdbild und Aussenpolitik, Bonn, 1989 und H.

von der Dunk:Der deutsche Vormärz und Belgien 1830/48, Wiesbaden, 1966.)

10 Zit. nach: P.H. Nelde:Flandern in der Sicht Hoffmanns von Fallersleben, Wilrijk, 1967, S. 14.

11 F. Petri:Vom deutschen Niederlandbilde und seinen Wandlungen. In: Rheinische Vierteljahresblätter, Jg. 33, Bonn, 1966, S. 182.

12 E.M. Arndt in seiner Rede vor der Frankfurter Nationalversammlung im Jahre 1848. Zitiert nach: Ebd., S. 183.

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daß Deutschland erst ‘abgerundet und sicher’13wäre, wenn sich die Niederlande (und die Schweiz) angeschlossen hätten.14

Da Belgien nach Arndts Ansicht als das beste und sicherste ‘Bollwerk gegen die wälsche Ländergier’15eine herausragende Rolle beim Schutz der Freiheit der deutsch-germanischen Völker spielte, setzte er die Zugehörigkeit Belgiens zum zukünftigen deutsch-germanischen Bundesstaat als selbstverständlich voraus: ‘Gott hatte es so bestimmt, daß dieses uraltgermanische Land echt germanisch werden und künftig deutsch sein und heißen solle’16! Damit hatte Arndt in diesem

Zusammenhang aber auch sein wichtigstes Argument gebracht. Wie schon von der Dunk hervorhob, stand nämlich nicht nur seine Bewunderung für den flämischen (belgischen) Partikularismus im Widerspruch zu seinen Einheitsvorstellungen; Arndt, der Belgien nur aus seinen Reisen nach Wallonien und Brussel kannte, schloß auch zu Unrecht aus der Tatsache, daß das exportbedürftige Wallonien für einen Anschluß an Deutschland plädierte, daß auch das flämische Volk einen solchen Anschluß befürwortete.17Nicht nur, daß es zum Zeitpunkt Arndts ein solches ‘flämisches Volk’

faktisch nicht gab; Begeisterung für die aus den deutschen Ländern gereichte Bruderhand gab es im wesentlichen nur in Kreisen der flämischen Bewegung.18 Auch die flämische Industrie, zu dem Zeitpunkt im wesentlichen Leinwandindustrie, zeigte für den deutschen Markt kaum Interesse, sondern fürchtete eher die

Konkurrenz aus deutschen Ländern und war deshalb vor allem nach Frankreich orientiert.

Auffassungen wie die von Arndt waren alles andere als frei von pangermanistischem Expansionsdrang, aber dennoch wäre es verkehrt,

13 Zit. nach: P.H. Nelde:Flandern in der Sicht Hoffmanns von Fallersleben, Wilrijk, 1967, S. 12.

14 Vergleichbare Auffassungen wie die von Arndt waren nicht nur unter Nationalisten weit verbreitet. Auch F. Engels erachtete es für notwendig, das abtrünnige Belgien und Holland zu germanisieren. Während Engels dabei aber vor allem die Überlebensfähigkeit der nördlichen und südlichen Niederlande vor Augen hatte, dachte Arndt in erster Linie an die Sicherheit des Deutschen Reiches.

15 P.H. Nelde:Flandern in der Sicht Hoffmanns von Fallersleben, Wilrijk, 1967, S. 12.

16 E.M. Arndt. Zit. nach: H. von der Dunk:Der deutsche Vormärz und Belgien 1830/48, Wiesbaden, 1966, S. 64.

17 Siehe hierzu: Ebd., S. 157.

18 Arndts Vorstellung von einem alten flämischen (deutschen) Volk, das wiederauferstehen müßte, war zwar weit verbreitet und ist dies teilweise auch heutzutage noch, ist aber als falsch zu beurteilen: ‘Niet een reeds bestaand Vlaams volk begon zijn zelfstandigheidstrijd met de Vlaamse Beweging, maar de Vlaamse Beweging maakte de nederlandstalige Belgen tot een Vlaams volk; het is zonder meer duidelijk dat aan Vlaamse zijde anachronismen werden en worden begaan bij de verwijzing naar een aloud volk dat moest herleven’. (K. Deprez:Status en statuut van het Nederlands in België. In: Heibel, Jg. 19, Nr. 4, 1985, S. 16-17.)

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im Hinblick auf das Entstehen späteren großdeutschen Gedankengutes Arndts Äußerungen und vergleichbare Stellungnahmen radikal abzuwerten.

Erstens gab es einen großen Unterschied zwischen dem romantischen Pangermanismus Arndts und dem späteren großdeutschen Annexionismus im mächtigen Deutschen Reich nach 1870. Man kann Arndt wegen seiner Sehnsüchte nach einem großgermanischen Deutschland zwar als einen Vorläufer des späteren alldeutschen und großdeutschen Imperialismus betrachten, aber die Situation, in der Arndts Gedanken entstanden, unterschied sich, wie von der Dunk zu Recht feststellt, sehr von der nach 1870. Im Gegensatz zur alldeutschen Phase nach 1870 glaubten die Pangermanisten Anfang des 19. Jahrhunderts noch an die Möglichkeit eines Zusammenschlusses zwischen Skandinaviern, Angelsachsen und Deutschen, einen Zusammenschluß, den die Alldeutschen unter Hinweis auf die

Interessenkonflikte zwischen Deutschland auf der einen und England und Amerika auf der anderen Seite als Illusion entlarvten. Ferner waren die alldeutschen

Vorstellungen nicht wie die von Pangermanisten wie Arndt von einem idealistischen Glauben ‘an die Befreiung und Emanzipation des Bürgertums und der Völker aus rückständigen absolutistischen und feudalen Fesseln’19gekennzeichnet sowie nicht von der aufklärerischen Überzeugung geprägt, daß das ‘“Natürliche” auch das “Gute”

sei und umgekehrt’20. Darüber hinaus, und dies ist in diesem Zusammenhang wohl der wesentlichste Unterschied zu der Phase nach 1870, gab es zum Zeitpunkt der Entstehung von Arndts Schriften kein einiges, starkes und zentralisiertes

Deutschland, sondern Realität war vielmehr, daß die französische Armee gerade erst zurückgedrängt worden war und daß die einzelnen deutschen Staaten

‘halb-feudal regierte agrarische Länder’21waren.

Zweitens muß man bei der Beurteilung von Arndt berücksichtigen, daß er sich, eben weil er die Niederlande und Belgien als germanisch betrachtete, im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen durchaus positiv und respektvoll über die Niederlande und Belgien geäußert hat. Das kann als eine zu der Zeit seltene

‘good-will-Kampagne’22betrachtet werden.

19 H. von der Dunk:Der deutsche Vormärz und Belgien 1830/48, Wiesbaden, 1966, S. 380.

20 Ebd. Siehe hierzu auch: W. Dolderer:Deutscher Imperialismus und belgischer Nationalitätenkonflikt, Melsungen, 1989, S. 18.

21 H. von der Dunk:Der deutsche Vormärz und Belgien 1830/48, Wiesbaden, 1966, S. 73.

22 H. Lademacher:Fremdbild und Aussenpolitik, Bonn, 1989. S. 13. Auch K.P. Lange hebt im Anschluß an Boogman zu Recht hervor, daß Arndt mit seinen positiven Äußerungen die tatsächliche verbitterte Bewußtseinslage mißachtete. (Siehe hierzu: K.P. Lange:Die Begriffe

‘Nederlandsch’ und ‘Nederduitsch’. In: M. Prangel, H. Westheide (Hrsg.): Duitsland in Nederland, Groningen, 1988, S. 80.)

(16)

Drittens muß darauf hingewiesen werden, daß es bei den Beziehungen zwischen dem deutschen und dem niederländischen Sprachraum in der ersten Hälfte des 19.

Jahrhunderts eine gegenseitige Abhängigkeit auf der einen und eine gegenseitige Verstärkung der nationalen Selbstfindung auf der anderen Seite gab. So wie die flämische Bewegung, wie von der Dunk es ausdrückte, zunächst Wasser auf die Mühle der germanisch-deutschen Nationalisten war, später aber mit dem steigenden nationalen Selbstbewußtsein in Deutschland wie selbstverständlich wieder an Bedeutung verlor, hat die Anteilnahme des großen Bruders aus dem Osten die flämische Identitätsfindung unterstützt, zugleich aber auch die Weichen für die Hinwendung zu den Niederlanden gestellt und damit also auf Dauer in Richtung einer Distanzierung von Deutschland. Weil sich Flamen wie Niederländer bei der Suche nach einer eigenen nationalen Identität nicht nur von der bereits erwähnten allgemeinen Bewunderung für Deutschland, sondern auch von einem breiten Bewußtsein von der engen Verwandtschaft von Niederländischsprachigen und Deutschen freimachen mußten, haben provozierende nationalistische sowie pangermanistisch expansionistische Reichsschwärmereien von bekannten Publizisten wie Ernst Moritz Arndt oder Historikern wie Heinrich Leo eine wichtige

emanzipierende Funktion gehabt.23Schließlich nährten gerade sie nicht nur die Angst, die das bekannte Bismarck-Wort, ‘Holland wird sich schon selbst annektieren lassen’24, begründete, sondern sie förderten auf Dauer auch die Neigung zu Distanz nach dem Motto: ‘Wir sind Niederländer, keine Deutsche’!

Die Bedeutung der Beiträge Arndts und anderer ‘germanisch’ denkender Publizisten für die deutsch-niederländischen bzw. die deutsch-flämischen Beziehungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts liegt also nicht nur darin, daß sie den Grundstein für späteres alldeutsches und großdeutsches Gedankengut gelegt haben. Ebenso wichtig war, daß sie zugleich, wenn auch eher indirekt, die Entwicklung des nationalen Selbstbewußtseins im niederländischen Sprachraum gefördert und so eine wesentliche Voraussetzung für einen zwar kritischen, aber zunehmend gegenseitigen und respektvollen Kulturaustausch zwischen Deutschland auf der einen und Flandern und den Niederlanden auf der anderen Seite geschaffen haben.

23 Das breite Bewußtsein von der engen Verwandtschaft mit Deutschland war Flamen und Niederländern gemeinsam. Dies hat in einem rezenteren Aufsatz K.P. Lange auch anhand einer Untersuchung zur Verwendung der Begriffe ‘Nederlandsch’ und ‘Nederduitsch’ in Buchtiteln belegt. Den Resultaten seiner Untersuchung meint Lange sogar entnehmen zu können, daß die Niederländer ‘sich den Hochdeutschen noch immer stammverwandt [fühlten], als letztere die “Holländer” schon nicht mehr zu ihresgleichen zählten’ (ebd., S. 72).

24 Zit. nach: N. Japikse:Die politischen Beziehungen Hollands zu Deutschland in ihrer historischen Entwicklung, Heidelberg, 1925, S. 21.

(17)

Einen konkreten Beitrag haben diesbezüglich vor allem Gelehrte wie Jacob Grimm, Ludwig Uhland und August Heinrich Hoffmann von Fallersleben geliefert. Sie waren es, die bekanntlich das niederländische und flämische Kulturgut wiederentdeckten, und dies teilweise eher als die Wissenschaftler in den Niederlanden und Flandern.

Auch bei ihnen spielte die deutsche (germanische) Perspektive eine wichtige Rolle - sie war, wie sich zeigen wird, ähnlich wie bei Arndt sogar das eigentliche Motiv ihrer Arbeit -, aber durch ihre Erforschung der Beziehung des Niederländischen und Niederdeutschen zum Deutschen bzw. durch ihr Studium der niederländischen Literatur haben sie viel direkter als etwa Arndt die niederländische Sprache und ihre Literatur im deutschen Sprachraum bekannt gemacht, das Aufkommen des

niederländischen kulturellen Selbstverständnisses gefördert und so auf Dauer eine echte Beziehung zwischen dem niederländischen und flämischen Kulturraum einerseits und dem deutschen andererseits ermöglicht.

1.1.1.1 Jacob Grimm und Ludwig Uhland

Jacob Grimm war der erste der oben genannten Philologen, der sich um einen Überblick über die mittelniederländische Dichtung bemühte und mittelniederländische Volksbücher und -lieder sammelte.25Mit seinem Interesse für die

mittelniederländische Literatur war er der Philologie in den Niederlanden und Flandern weit voraus, denn im Gegensatz zu Grimm betrachteten damals die niederländischen Gelehrten als aufgeklärte Rationalisten die Beschäftigung mit dem Mittelalter als einen Rückschritt. Nicht unberechtigt war also Grimms Kritik, als er seine niederländischen Kollegen als ‘langsam und pedantisch’26bezeichnete und den Flamen vorwarf, daß es bei ihnen niemanden gebe, der sich um die ‘denkmäler

25 Über Grimms Bedeutung sagt der Philologe und Historiker F.J. Mone, auf dessen Arbeit als Professor der Geschichte an der Leuvener Universität von 1827 bis 1831 hiermit ebenfalls hingewiesen werden soll: ‘Buiten Van Wyn in Holland, Willems in België, Hoffmann in Duitschland, heeft geen schrijver de oud-nederlandsche literatuur gewaardeerd, zooals 't behoort. Het is Grimm's verdienste, dat hij niet alleen de eerste historische grammatica van het Nederlandsch heeft geleverd, maar ook dat hij de Duitschers den weg heeft gebaand, om de Nederlandsche literatuur te benaderen, ze te bestudeeren en ze wederom terug te voeren tot de Duitsche familie’. (Zit. nach: E. de Bom:De Vlaamsche Letterkunde in den Vreemde. In: Verslagen en Mededelingen der Koninklijke Vlaamse Academie, 1932, S. 1033.) Siehe hierzu auch: H. von der Dunk:Der deutsche Vormärz und Belgien 1830/48, Wiesbaden, 1966, S. 182ff. und H.D. Henning, B. Lauer (Hrsg.):Die Brüder Grimm, Kassel, o.J., darin insbesondere den Beitrag von S. Sonderegger über die philologische Arbeit der Brüder Grimm.

26 Zit. nach: P.H. Nelde:Flandern in der Sicht Hoffmanns von Fallersleben, Wilrijk, 1967, S. 30.

(18)

vaterländischer poesie [sic]’27kümmere, geschweige denn Ahnung davon habe.28 Grimms Motiv für seine Forschungen im Bereich der mittelniederländischen Literatur lag in dem Bewußtsein, daß in der Vergangenheit der niederländische und der deutsche Sprachraum miteinander verbunden waren und deshalb eine verwandte Sprache und Literatur aufweisen müßten. Nicht zuletzt deshalb war er von der Trennung zwischen Belgien und den Niederlanden nach 1830 enttäuscht.29Der deutsche Gelehrte, der in seinerDeutschen Grammatik das Niederländische vom Hochdeutschen getrennt hatte, begrüßte dennoch zugleich die nationalen Interessen, die in Belgien und den Niederlanden auflebten, denn er sah in der belgischen und der niederländischen Suche nach einer nationalen Identität auch eine Chance für die Belebung des vaterländischen Geistes und verknüpfte damit die Hoffnung, daß sie zusammen mit dem Interesse an der eigenen Sprache zu linguistischen

Untersuchungen, zur Sammlung und Veröffentlichung mittelniederländischer Texte und Herausgabe eines flämischen Idiotikons führen würden.30

Auf den Spuren Grimms begab sich 1844 auch Ludwig Uhland auf die Reise durch die belgischen Bibliotheken.31So, wie Grimm in den mittelniederländischen Texten die deutsche Vergangenheit gesucht hatte, suchte Uhland im Volkslied deutsches Gemeingut, was in niederländischen Handschriften seiner Meinung nach teilweise besser überliefert war als in deutschen Aufzeichnungen.

Für Uhland war Flandern ebenfalls ein ehemaliges ‘Glied des Reiches’32. Den flämischen Kampf um die Erhaltung der Volkssprache

27 Zit nach: Ebd., S. 32.

28 Diese Auffassung revidierte er erst dann, als sich in Flandern J.F. Willems, der Nestor der flämischen Bewegung, seinem Vorbild anschloß.

Grimms Arbeiten wurden, wie später die von Hoffmann von Fallersleben, im niederländischen Sprachraum nicht immer ohne Neid betrachtet, aber man wußte sie zu honorieren. Bereits 1813 wurde er Mitglied der Maatschappij der Nederlandsche Letterkunde, und J.F. Willems übersandte ihm 1838 das Diplom der Genter ‘Maetschappij van Vlaemsche letteroefening’.

29 Siehe hierzu auch: U. Kloos:Niederlandbild und deutsche Germanistik 1800-1933, Amsterdam, 1992 (Diss.), S. 21ff.

30 Siehe hierzu: P.H. Nelde:Flandern in der Sicht Hoffmanns von Fallersleben, Wilrijk, 1967, S. 29ff.

31 Da das Resultat seiner Forschungen in den Niederlanden nicht besonders ergiebig war, hatte er den Dichter F. Freiligrath, der sich damals in Amsterdam aufhielt, um Hilfe und Unterstützung gebeten. Freiligrath hat ihm, obwohl er der niederländischen Nation eigentlich ‘traditionell alle Poesie absprach’ (E.F. Kossmann:Holland und Deutschland, Den Haag, 1901, S. 33), fünf niederländische Liederbücher zukommen lassen.

32 Zit. nach: P.H. Nelde:Flandern in der Sicht Hoffmanns von Fallersleben, Wilrijk, 1967, S. 26.

Siehe hierzu auch: U. Kloos:Niederlandbild und deutsche Germanistik 1800-1933, Amsterdam, 1992 (Diss.), S. 44-45.

(19)

betrachtete er als Sieg des in Flandern ‘wieder neu sich fühlenden deutschen Elementes’33. Trotzdem leistete auch er mit seinen wissenschaftlichen Arbeiten, die für das Studium der älteren niederländischen Literatur von besonderer Bedeutung waren, einen wichtigen Beitrag zur Förderung des kulturellen Selbstverständnisses in den Niederlanden und zur Verbesserung der deutschen Kenntnisse über die niederländische Sprache und Literatur. Darüber hinaus hat er über sein Interesse für das Lied, das er als Brücke zwischen Schelde und Rhein betrachtete, die Weichen für einen intensiven Kulturaustausch gestellt, der 1844 in der Gründung des Deutsch-Vlämischen Sängerbundes gipfelte.34

1.1.1.2 Intermezzo: der Deutsch-Vlämische Sängerbund

Die bislang beschriebenen Versuche einer Annäherung zwischen dem deutschen und dem niederländischen Sprachraum gingen zumeist von Deutschland aus. Ein wenig anders verhielt es sich bei der Gründung des Deutsch-Vlämischen

Sängerbundes. Zwar war auch dieses Ereignis eine typische ‘Frucht der Romantik’35, denn es war einerseits indirekt zurückzuführen auf die Arbeiten von Grimm, Uhland und Hoffmann von Fallersleben sowie auf die große Bewunderung, die im 19.

Jahrhundert im niederländischen Sprachraum für die deutsche Musik gehegt wurde.

Andererseits ging es direkt auf den Einsatz des Kölner Philologen Johann Wilhelm Wolf zurück, ohne dessen Zutun die Initiative mit Sicherheit nicht Wirklichkeit geworden wäre. Aber diesmal kam der Impuls aus Flandern.36

Nachdem 1841 der Aachener Gesangverein in Gent zu Gast gewesen war und 1844 der Kölner Männergesangverein in Brussel einen Wettbewerb gewonnen hatte, ergriffen die ‘Förderer germanischer Verbrüde-

33 Zit. nach: P.H. Nelde:Flandern in der Sicht Hoffmanns von Fallersleben, Wilrijk, 1967, S. 27.

34 De Vlaamse leeuw (1847) ist eines der interessantesten Zeugnisse für die Bedeutung des Liedes als Brücke zwischen dem deutschen und dem niederländischen Sprachraum. Die flämische Hymne ist eine Umwandlung von N. Beckers antifranzösisch gestimmtem LiedDer deutsche Rhein, das 1841 durch V.H. Delecourt in Flandern bekannt wurde. (Siehe hierzu:

A. Deprez:Vlaamse Leeuw. In: J. Deleu, G. Durnez, R. de Schrijver, L. Simons (Hrsg.):

Encyclopedie van de Vlaamse Beweging, Bd. 2, Tielt, Amsterdam, 1975, S. 1892.)

L. Uhland war zwar an der Gründung des Deutsch-Vlämischen Sängerbundes nicht persönlich beteiligt, aber er stand in direktem Kontakt zu J.W. Wolf und anderen wichtigen

Persönlichkeiten, die die Gründung initiierten.

35 H. von der Dunk:Der deutsche Vormärz und Belgien 1830/48, Wiesbaden, 1966, S. 317.

36 Zu Wolf und seiner Rolle in der flämischen Bewegung siehe auch: S. 54ff. der vorliegenden Studie.

(20)

rung’37, der Genter ‘voorstander van culturele samenwerking met Duitsland’38Prudens van Duyse (1804-1859) und sein ‘tegenpool voor de Duitse afdeling’39J.W. Wolf, der sich zu der Zeit in Belgien aufhielt, die Initiative und kündigten die Gründung des Deutsch-Vlämischen Sängerbundes an.40

Die ‘Privatinitiative’41von Van Duyse und Wolf wurde von vielen Seiten begrüßt, insbesondere vom Organ der flämischen BewegungVlaemsch België (1844), das glaubte, daß man gerade mit dem Deutsch-Vlämischen Sängerbund die flämische Kultur im deutschen Sprachraum verbreiten könnte. Französische Kreise warnten zwar vor einer Herausforderung der Franzosen, aber die belgische Regierung war bereit, den Sängerbund finanziell zu unterstützen, obwohl auch sie den

pangermanistischen Unterton, der die Gründung begleitete, mit Skepsis betrachtete.

Für die deutsche Seite war folgender Kommentar aus derKölnischen Zeitung bezeichnend:

37 H. von der Dunk:Der deutsche Vormärz und Belgien 1830/48, Wiesbaden, 1966, S. 318.

38 A. Deprez, H. Vanacker:De Broederhand (1845-1847); Der Pangermane - Der Germane (1859-1862), Gent, 1988, S. 9.

39 Ebd.

40 Die Gründung wurde durch die symbolische Bedeutung, die der Sieg des Kölner

Männergesangvereins in Brussel erhalten hatte, vorangetrieben: ‘Gerade im Sommer 1844 hing ja gewissermaßen eine Entscheidung in der Luft, ob Belgien sich auf Deutschland oder auf Frankreich richten sollte.

Vlaemsch België jubelte daher laut und meinte, die ganze heftige Agitation profranzösischer Blätter gegen Deutschland und die deutsche Kultur zeuge nur von eigener Schwäche. Die deutschen Sänger seien den französischen weit überlegen usf.’ (H. von der Dunk:Der deutsche Vormärz und Belgien 1830/48, Wiesbaden, 1966, S. 318-319.)

41 Zu Recht betonte dies von der Dunk, denn tatsächlich standen nicht alle Flaminganten hinter der Sache, was auch beim Tauziehen um die definitive Besetzung des Vorstandes des Sängerbundes deutlich wurde. Um den Einfluß von Wolf und Delecourt im Vorstand des Vereins einzuschränken, ging man sogar so weit, neben Van Duyse Wolfs Gegner Nolet de Brauwere in den Vorstand zu wählen. (Siehe hierzu: Ebd., S. 320ff.)

Nicht zufällig wurde im Ersten Weltkrieg die Frage der Urheberschaft am Deutsch-Vlämischen Sängerbund wieder aufgegriffen. Um die Gründung des Vereins von dem immer wieder aufkommenden Verdacht des pangermanistischen Annexionismus zu befreien, publizierte L.

Schwering 1917 einen Aufsatz imBelfried, in dem er darlegte, daß die Initiative zur Gründung des Deutsch-Vlämischen Sängerbundes keine deutsche, sondern eine flämische unter Leitung von Van Duyse gewesen sei. Der Gedanke. so führte er aus, hat ‘im Flamland selbst gezündet’

(L. Schwering:Höhepunkte deutsch-flämischer Beziehungen. In: Der Belfried, Jg. 1, 1917, S. 354), weil die Ziele der führenden Flamen ‘auf eine Verstärkung der flämischen Bewegung durch die Deutschen ausgingen’. (Ebd., S. 353.) Schwering minimalisierte dabei die Rolle von J.W. Wolf der immerhin die zweite Seele des Sängerbundes war und der gerade in seiner ZeitschriftDe Broederhand die flämisch-deutsche Annäherung, ja sogar die Integration der flämischen Literatur in die deutsche propagierte.

(21)

[...] mit der Ausbreitung des Bundes in Deutschland [wird] auch die Stimme der niederdeutschen Dichter weiterklingen [...] und der

niederdeutschen Literatur bis ins Herz Deutschlands den Weg bahnen’42. Auch die weitere Argumentation war typisch:

‘Die Zwecke des Sängerbundes sind [...] die, daß die Grenze zwischen Nieder- und Oberdeutschland zergehe, er zermalme jede geistige Grenze, die noch zwischen den Brudervölkern besteht, und sei das erste Glied einer Kette, die beider Herzen durch Bruderliebe verbindet; in ihm erstehe ein gemeinsames Bollwerk gegen allen verderblichen fremden Einfluß von draußen.’43

In den darauffolgenden Jahren steigerten sich die Kontakte zwischen den flämischen und den deutschen Gesangvereinen zu einem Höhepunkt. Die erste große Veranstaltung fand 1846 in Köln statt. An ihr beteiligten sich 27 Gesangvereine aus Flandern und 97 aus Deutschland, insgesamt 2500 Sänger. Auch Hendrik Conscience reiste nach Köln, während Ferdinand August Snellaert (1809-1872), Jan Frans Willems (1793-1846) und Philip Marie Blommaert (1808-1871), die ebenfalls erwartet wurden, wegen interner Auseinandersetzungen in der flämischen Leitung dem Geschehen fernblieben. Es folgte ein Gegenveranstaltung in Brussel und schließlich ein großes Fest vom 26. bis zum 28. Juni 1847 in Gent.

Damit war der Höhepunkt der deutsch-flämischen Beziehungen um die Mitte des vorigen Jahrhunderts schon wieder überschritten. Die für 1848 geplante

Zusammenkunft in Frankfurt konnte wegen der Revolutionsunruhen schon nicht mehr stattfinden. Wahrscheinlich wäre es jedoch auch ohne dieses Ereignis bald zu einer Auflösung des Deutsch-Vlämischen Sängerbundes gekommen, denn bereits bei der Veranstaltung in Gent hatte sich die neue, nach Frankreich orientierte belgische Regierung Rogier mit ihrer Unterstützung zurückgehalten.

42 Kölnische Zeitung. Zit. nach: L. Schwering: Höhepunkte deutsch-flämischer Beziehungen. In: Der Belfried, Jg. 1, H. 8, Febr. 1917, S. 351.

43 Ebd. Für von der Dunk war das Zitat ein Beispiel für den Gegensatz zwischen

‘flämische[m] Missionsdrang’, wie er sich in Flandern zeigte, und ‘pangermanistische[m]

Missionsdrang’ in Deutschland. Dabei hatte er sich bei seiner Paraphrasierung des Fragments aus dem Beitrag derKölnischen Zeitung den Text aber auch ein wenig zurechtgestutzt, indem er das Wort ‘Geist’ wegließ und nicht angab, daß das Bollwerk in den ‘Herzen’ der Brüdervölker entstehen sollte. Im Wortlaut von von der Dunk schrieb die Zeitung: ‘die Zwecke des Sängerbundes seien nicht nur künstlerischer Austausch, sondern die Niederreißung der Grenzen zwischen Nieder- und Oberdeutschland, um ein gemeinsames Bollwerk der Brüdervölker zu schmieden gegen den Feind von außen.’

(Siehe hierzu: H. von der Dunk:Der deutsche Vormärz und Belgien 1830/48, Wiesbaden, 1966, S. 321.) Als Quelle für sein Zitat nennt von der Dunk dieKölnische Zeitung vom 14. Juli 1844, Nr. 196. Diese Quellenangabe ist aber falsch. Leider ließ sich nicht nachvollziehen, aus welcher Ausgabe Schwering und von der Dunk tatsächlich zitieren.

(22)

Der intensive Kulturaustausch zwischen den deutschen und flämischen

Gesangvereinen wurde also nach wenigen Jahren beendet, aber man hatte einiges erreicht. Mehrere persönliche Kontakte waren geknüpft oder intensiviert worden - nicht zuletzt muß in diesem Kontext auf den Einsatz von Prudenz van Duyse beim Kölner Dombau hingewiesen werden -44, eine Reihe Deutscher war auf die kulturelle Existenz Flanderns aufmerksam geworden, und die Flamen hatten eine tiefgehende Bekanntschaft mit dem deutschen Lied gemacht, eine Bekanntschaft, die tatsächlich

‘von Dauer’45war.

1.1.1.3 August Heinrich Hoffmann von Fallersleben

Auch August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, der zunächst Theologie und klassische Philologie studierte und der sich, ermuntert von Jacob Grimm, dem Studium des Gotischen, des Alt-, Mittel- und Neuhochdeutschen mit allen Mundarten des letzteren sowie des Altsächsischen, des Niederdeutschen und des

Niederländischen zuwandte, hat durch sein Interesse für die niederländische Sprache und Literatur die Bekanntheit der niederländischen Literatur im deutschen

Sprachraum gefördert.

Ähnlich wie Uhland betrachtete Hoffmann von Fallersleben die niederländische Literatur als einen ‘Zweig des deutsch-germanischen Volks- und Geisteslebens’46. Dementsprechend richtete sich sein Interesse vor allem auf das, was in den Niederlanden deutsch war, mehr noch, gerade Hoffmann von Fallersleben kam einfach alles, was ‘undeutsch’

44 Der Kölner Dombau war ein bedeutendes verbindendes Glied zwischen Deutschland und den Niederlanden und Flandern, besonders in Kreisen von Neogotikern. (Siehe hierzu: Ebd., S. 323ff. und Anm. 737, S. 206 der vorliegenden Studie, ferner aber auch L. Att:Das deutsch-flämische Sängerfest. In: Die Grenzboten, 1846, wo den Organisatoren des Sängerfestes vorgeworfen wird, daß die Sänger als ‘musikalische Werkzeuge zur Unterstützung des Dombaus’ (S. 542) mißbraucht würden.

45 H. von der Dunk:Der deutsche Vormärz und Belgien 1830/48, Wiesbaden, 1966, S. 330.

46 Siehe hierzu: P.H. Nelde:Flandern in der Sicht Hoffmanns von Fallersleben, Wilrijk, 1967, S. 37. Es ist typisch für die Situation im deutschen Sprachraum in der ersten Hälfte des 19.

Jahrhunderts (und, wie sich später zeigen wird, nicht nur zu dem Zeitpunkt), daß es auch Hoffmann von Fallersleben, obwohl er sich bereits 1816 mit der niederländischen Sprachlehre befaßte, Schwierigkeiten bereitete, die Sprache der Literatur des Landes, dem er sich zugewandt hatte, richtig zu bezeichnen. In seiner SammlungAltholländische Sprachdenkmale, für die 1823 den Ehrendoktor der Philosophischen Fakultät der Universität Leiden erhielt, bezeichnete er die Literatur der Niederlande durchweg als holländische Literatur, obwohl zu der Zeit die nördlichen und südlichen Niederlande vereint waren.

Referenties

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