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„Wir finden Worte für das, was los ist, aber es bleibt folgenlos”: Die (Un)Möglichkeit weiblicher (Körper)Überschreitungen in Elfriede Jelineks Theaterstücken Clara S. und Krankheit oder Moderne Frauen

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Universität von Amsterdam/Universität Trier Semester 2, 2012-2013 Masterarbeit zum Abschluss des Researchmasters Literary Studies

Erste Begleiterin: Prof. Dr. Nicole Colin, Universität von Amsterdam Zweite Begleiterin: Prof. Dr. Franziska Schößler, Universität Trier

„Wir finden Worte für das, was los ist, aber

es bleibt folgenlos”

Die (Un)Möglichkeit weiblicher (Körper)Überschreitungen in Elfriede Jelineks

Theaterstücken Clara S. und Krankheit oder Moderne Frauen

Anne Veerman Studentnummer 10252665

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Anne.Veerman@student.uva.nl Wörterzahl: 34.522

Inhaltsangabe

1. Einleitung: „Frau[en] mit einer männlichen Anmaßung“...2

2. Clara S. Musikalische Tragödie...9

2.1. Weibliche Körperbilder...9

2.1.1. Der ‚klassische‘, verschlossene Mutterkörper (Clara)...9

2.1.2. Der dressierte Doppelgängerkörper (Marie)...16

2.1.3. Künstlerinnenkörper/Körperkünstlerinnen (Luisa und Carlotta)...20

2.2. Grenzüberschreitende Männerkörper...27

2.2.1. Mann/wildes Tier/Maschine: Der groteske (Techno-)Körper (D’Annunzio)...27

2.2.2. Der ‚körperlose Künstler‘ (Robert)...43

2.3. Betrachtung zur Beendung des Kapitels: Die Macht des patriarchalischen Diskurses und die abjekte Möglichkeit des Normüberschreitens...51

3. Krankheit oder Moderne Frauen...57

3.1. „Sie sind Geschlecht“: Die ,bezwungene‘ weibliche ‚Natur‘...57

3.2. „Wir verspotten die Schöpfung“: Drag performances und Subversionsakte des weiblichen Vampirs...65

4. Schluss...80

5. Siglenverzeichnis...85

6. Bibliographie...86

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Zitat auf Titelblatt: Elfriede Jelinek im Interview mit Marlene Steeruwitz: Sind schreibende Frauen Fremde in dieser Welt? In: Emma 5/1997. http://www.emma.de/hefte/ausgaben-1997/septemberoktober-1997/sind-sie-fremde/. Am 13.04.2013.

1. Einleitung: „Frau[en] mit einer männlichen Anmaßung“

1

Schwarzer Wir haben aber nicht so viele Schubladen in dieser Gesellschaft. Alles, was nicht in die

Schublade „weiblich“ fällt, fällt in die Schublade „männlich“.

Jelinek Ja, gut. So gesehen bin ich männlich - ohne es aber wirklich leben zu können.2

Die österreichische Autorin und Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek gilt seit Jahrzehnten als eine umstrittene sowie bejubelte „harte, offenbarende, Missstände-zeigende Kritikerin der Nation“,3 die in ihren Werken sowie in den Medien durch ihre oft als abstoßend, vulgär,

gehässig oder brutal empfundenen Äußerungen schockiert. In Jelineks Werken werden Politik, Kirche und Massenmedien mit giftigem Spott übergossen und die verdrängte österreichische nationalsozialistische Vergangenheit, die laut Jelinek immer noch direkt unter der Oberfläche der Gegenwart schlummert, mit Gewalt ans Tageslicht gezerrt. Der Aufdeckungsdrang der „Nestbeschmutzerin“4 Jelinek zielt jedoch weit über die Grenzen des

von ihr verschmähten Österreichs hinaus: Eines ihrer vordergründigen Anliegen ist es nämlich, in ihren Werken die Mechanismen der patriarchalisch-kapitalistischen Gesellschaft, „die Verbindung von Faschismus und Kapital, […] Faschismus, wie Bachmann sagt, der in der Familie beginnt, in der Beziehung zwischen Mann und Frau“,5 zu entschleiern. In ihren

Texten übt sie immer wieder scharfe Kritik am patriarchalischen System, das ihrer Ansicht nach „über alles gebreitet ist“6 und infolgedessen die Norm darstellt7 sowie das Bild der Frau

bestimmt. Aus ihrer Sicht werden Frauen unter patriarchalischen stereotypen Bildern

1 Interview mit Alice Schwarzer. In: Emma 7/1989. .

http://www.aliceschwarzer.de/publikationen/aliceschwarzer-artikel-essays/archiv/nobelpreis-jelinek/emma-gespraech-1989/. Am 11.04.2013.

2 Ebd.

3 Roloff, Hans-Gert: „Vorwürfe mache ich ja immer, das ist mein Markenzeichen.“ Die Jelinek und ihr Theater. In: Positionen der Jelinek-Forschung. Beiträge zur Polnisch-Deutschen Elfriede Jelinek-Konferenz Olsztyn 2005. Bern: Peter Lang 2008 (Jahrbuch für Internationale Germanistik, Volume 74). S. 141-164. Hier S. 141. 4 Janke, Pia: Reizfigur: „Die Nestbeschmutzerin“. In: Der Standard vom 14. Oktober 2005.

www.derstandard.at/1817975). Mit ihrer beißenden Kritik an der österreichischen Gesellschaft und Mentalität stellt Jelinek sich in die Tradition von Autoren wie Thomas Bernhard, Peter Handke, Peter Turrini und Gerhard Roth, die in ihren Werken eine Hassliebe zu Österreich an den Tag legen.

5 Vansant, Jaqueline: Gespräch mit Elfriede Jelinek. In: Deutsche Bücher XV/1985/1, S. 1. Zit. nach Sander, Margarete: Textherstellungsverfahren bei Elfriede Jelinek: Das Beispiel „Totenauberg“. Würzburg:

Königshausen und Neumann 1996. S. 31.

6 Interview mit André Müller: Ich bin die Liebesmüllabfuhr (2004).

http://www.a-e-m-gmbh.com/andremuller/elfriede%20jelinek%202004.html Am 13.04.2013.

7 Vgl. Jelineks Zitat „die Frau ist das Andere, der Mann ist die Norm. Er hat seinen Standort, und er funktioniert, Ideologien produzierend“ (Jelinek in ihrem Essay „Der Krieg mit anderen Mitteln. Über Ingeborg Bachmann“. In: Die Schwarze Botin 21 (1983). S. 149-153. Zit. nach Sander 33.).

(4)

begraben und „müssen alle durch die männliche Beurteilungsschleuse“, wobei sie auf dem „Markt der Körper“ nur auf die Schönheit ihrer Körper hin beurteilt und Intellekt, Talent und Leistungen als furchterregende Missbildungen betrachtet werden. Im Interview mit André Müller stellt Jelinek fest, dass auch sie wortwörtlich am eigenen Leib erfahre, dass man als Frau entweder ‚selektiert‘ oder ‚verworfen‘ wird:

Ich hab früher oft so als Witz erzählt, ob man Nobelpreisträgerin ist oder eine sechzehnjährige Schülerin, ist ganz egal, entweder die Männer pfeifen einem nach oder sie rufen einem „fette Sau“ hinterher. Jetzt bin ich selbst Nobelpreisträgerin. Aber das erhöht meinen Wert in den Augen der Männer nicht, eher im Gegenteil. Ich werde dadurch für sie noch monströser.8

Laut Jelinek werde die Frau - auch Jahrzehnte nach der zweiten Welle der Frauenbewegung9

-immer noch auf ihre biologischen Merkmale reduziert und aufgrund dieser als Außenseiterin definiert, wie sie in ihrem kurzen Essay „Frauen“ (2000) unterstreicht: „Wir gehen jetzt hier herum, weil wir sind, was wir sind: Frauen. Wir gehen also aufgrund unseres biologischen Seins, denn wer fragt danach, wer oder was wir wirklich sind“ […].10Außerdem kritisiert sie in

diesem Essay die Rolle der Mutter und des Models, auf die die Frau biologisch festgelegt zu sein scheint: „Für uns scheint, außer Schönheit, noch die Mutterschaft übrig zu bleiben […]. Die Frau ist ihre Familie. Doch sie wird einerseits, als Mutter, fetischisiert, andrerseits [sic] verachtet, mit Almosen abgespeist und vom Arbeitsmarkt möglichst ferngehalten“.11

Demzufolge ist es der Frau nicht gestattet, außerhalb von diesen Rollen ein eigenes Ich zu etablieren, wie Jelinek im Gespräch mit Marlene Steeruwitz konkludiert: „Eine Frau ist kein Einzelschicksal wie ein Mann. Eine Frau hat kein Ich. Eine Frau steht für alle Frauen. Als Vertreterin einer unterdrückten Kaste schreibt sie für alle anderen mit. Man gesteht uns nicht zu, Ich zu sagen. Und im Grunde können wir es auch nicht“.12 Die weibliche Autorin, die

fortwährend aus dem „Glaspalast des männlichen Denkens“13 ausgeschlossen wird, ist deshalb

dazu verurteilt, ein männliches Ich auszubilden, zur „Frau mit einer männlichen Anmaßung”14

zu werden, um überhaupt sprechen zu können. Da das Sprechen aus der Sicht Jelineks ein Handeln ist, wofür die Frau nicht ‚geeignet‘ ist, bezeichnet sie die weibliche Kunstproduktion

8 Interview mit André Müller, 2004.

9 Auf die Kritik Jelineks an der Frauenbewegung wird im ersten Kapitel näher eingegangen.

10 Jelinek, Elfriede: Frauen (2000). Online auf www.elfriedejelinek.com. Am 14.04.2013. 11 Ebd.

12 Interview mit Marlene Steeruwitz: Sind schreibende Frauen Fremde in dieser Welt? In: Emma 5/1997.

http://www.emma.de/hefte/ausgaben-1997/septemberoktober-1997/sind-sie-fremde/. Am 13.04.2013. 13 Interview mit Alice Schwarzer, 1989.

(5)

als „ein[en] gewalttätige[n] Akt“.15 Allerdings bleibt diese Überquerung der

Geschlechtergrenze weitgehend folgenlos, da die Werke von Frauen sich im “Halbdunkel” aufhalten und als „unterirdisch fließender Strom“16 nur gelegentlich an die Oberfläche

kommen dürfen. Infolgedessen wird eine weibliche Autorin nie die gleiche Erkennung wie ihre männliche Kollegen gewinnen, denn „diesen Subjektstatus, diese Sicherheit des Sprechens – das hat nur ein männlicher Autor“,17 wie Jelinek im Hinblick auf ihren

Landsmann Thomas Bernhard, als dessen weibliches Pendant sie oft betrachtet wird,18

feststellt.

Zudem weist Jelinek darauf hin, dass Frauen die männliche Rolle eines schreibenden, männlichen Subjekts nur kurzzeitig annehmen können, um daraufhin wieder als bloße Körper betrachtet zu werden: „Begeht eine Frau einmal diese Überschreitung [des Sprechens], muss sie wiederum ein weibliches Ich herauskehren, will sie auf dem Markt der Körper konkurrieren, um einem Mann zu gefallen“.19 Demzufolge fühlt sie sich als Autorin auf ihre

Körperlichkeit oder ,Natur‘ zurückgeworfen und sei sie ihrer Ansicht nach dazu verurteilt, ihre ‚männlichen‘ Eigenschaften „hinter [einem] ultraweiblichen Auftritt“ zu verstecken um sich „klein [zu] machen“20 und sich auf diese Weise dem männlichen Geschlecht wieder zu

unterwerfen. In ihrem Essay „Frauenraum“ (2000) konkludiert Jelinek im Hinblick auf diese zeitweilige Überschreitung der Geschlechtergrenze:

Und glaubt man sich einmal, sich ein Stück Schatten samt Zwischenreich erkämpft zu haben, ist es plötzlich wieder weg. Es hat eine Gründung von einem Frauenraum stattgefunden, aber das hat nichts begründet, und man kann es den Frauen auch wieder nehmen, was sie da bekommen haben oder gar nicht wirklich bekommen haben, ohne Begründung. Zuerst zeigt man es ihnen, dann nimmt man es ihnen wieder weg. Vom Nichts ins Nichts.21

15 Interview mit Riki Winter, 1991. S. 14.

16 Jelinek, Elfriede: Sich vom Raum eine Spalte abschneiden: Zu den Video-Installationen Valie Exports (1997). Online auf www.elfriedejelinek.com. Am 15.04.2013.

17 Interview mit Rose-Marie Gropp und Hubert Spiegel: Ich renne mit dem Kopf gegen die Wand und verschwinde. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Online, Feuilleton, 08.11.2004.

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/elfriede-jelinek-ich-renne-mit-dem-kopf-gegen-die-wand-und-verschwinde-1196979.html. Am 12.04.2013.

18 Vgl. Honegger, Gitta: Elfriede Jelinek: How to Get the Nobel Prize without Really Trying. In: Theater 36.2 (2006). S. 5-19. Hier S. 5.

19 Interview mit Anke Roeder: Überschreitungen (1996). Online auf www.elfriedejelinek.com. Am 14.04.2013. 20 Interview mit Alice Schwarzer, 1989. Am 11.04.2013.

(6)

Obwohl Jelinek demgemäß die permanente Existenz eines ‚Frauenraums‘ verneint und als selbstbenannte „Autorin der Negativität“22 in ihren Texten weder „exemplarische[.]

Handlungsmuster“23 noch „positive Gegenwelten“24 für Frauen entwirft, lässt sich allerdings

feststellen, dass sie durch ihre medialen Auftritte die Annahme, es gebe eine vorgegebene einheitliche weibliche Natur, verneint. Indem sie sich in Interviews verschiedene widersprüchliche Persönlichkeiten ‚zulegt‘, wie „Domina“, „Tierliebhaberin“, „hilfslose Neurotikerin“ oder „Sadomasochistin“,25 verkörpert sie „das Repertoire weiblicher

Stereotypien“26 und entlarvt diese „Weiblichkeitsmuster“27 als kulturell konstruierte. Die

Auftritte, die den ‚Mythos Jelinek‘ konstruieren, sind „als Theater, als Text“28 und als

„(Selbst)inszenierung“29 zu deuten: Wie eine Schauspielerin schminkt Jelinek sich auffällig

und sie ,verkleidet‘ sich, indem sie oft ihren Stil ändert. Über die Jahre „kommentierte […] [sie beispielsweise] ihr literarisches Werk immer wieder hintersinnig“,30 indem sie die Rollen

der von ihr dargestellten Protagonistinnen annahm.31 Mit ihrem kaleidoskopischen Gewebe

aus Charakteristiken und Stilen – die übrigens immer durch zusätzliches Fotomaterial bekräftigt werden32 – kreiert Jelinek den Mythos ihrer Person und verwischt andauernd die

Linie zwischen der ‚realen‘ Jelinek und ihren Repräsentationen in den Medien.33 Demzufolge

gestaltet es sich schwierig bis unmöglich hinter den Fassaden, die Jelinek um sich aufwirft, eine einheitliche Person zu entdecken, wie Katharina Pewny konkludiert: „Searching for the

22 Manner, Boris: Interview zu Ingeborg Bachmann (Ausschnitt aus dem Film Der Fall Bachmann, BR Deutschland 1990). Teil 1: https://www.youtube.com/watch?v=wRjBtRi2E5s).

23 Roloff 141. 24 Sander 31. 25 Sander 17. 26 Ebd.

27 Schößler, Franziska: Erinnerung: Elfriede Jelinek. In: Augen-Blicke: Erinnerung, Zeit und Geschichte in Dramen der neunziger Jahre. Tübingen: Gunter Narr Verlag 2004. S. 28-65. Hier S. 29.

28 Tacke, Alexandra: ‘Sie nicht als Sie‘: Elfriede Jelinek spricht „Im Abseits“. In: Künzel, Christine; Schönert, Jörg (Hrsg.): Autorinszenierungen: Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien. Würzburg: Königshausen und Neumann 2007. S. 191-208. Hier S. 195.

29 Ebd. S. 193. 30 Ebd. S. 194.

31 Mit den Fabrikarbeiterinnen in Die Liebhaberinnen verbündete sie [Jelinek] sich z.B. ‚durch das Tragen von bunter, industrieller Strickware‘. Dann wieder gab sie die reiche Ehefrau, stark geschminkt und in einen dicken Pelzmantel gehüllt. […]. Als sie ihr Stück Nora herausbrachte, trat sie wiederum ‚in schwarzer Lederkluft mit Flammenmuster auf, bei Clara S. im Zwanziger-Jahren-Look. […]‘“ (Koberg, Roland; Meyer, Verena: Elfriede Jelinek. Ein Portrait. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 2006, S. 173f. Zit. nach Tacke 194).

32 Vgl. ebd.

33 Vgl. Pewny, Katharina: Staging Difference: Theater-Representation-Politics. In: Topics in Feminism, History and Philosophy, IWM Junior Visiting Fellows Conferences. Vol. 6. Rogers, Dorothy u.a. (Hrsg.). Wien: IWM 2000. Online auf http://www.iwm.at/publ-jvc/jc-06-03.pdf. S. 1-11. Hier S. 10.

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´real´ Elfriede Jelinek is a useless venture […]“34 und Jelinek selbst resümmiert: „Alle die

glauben, sie wüssten etwas über mich, wissen nichts […]“.35

Vor diesem Hintergrund kommt die Frage auf, wie Jelinek ‚Geschlecht‘, das ihrer Ansicht nach aus einer omnipräsenten männlichen Perspektive als gegebenes Faktum oder statische Beschaffenheit eines Körpers betrachtet wird,36 als kulturelle Konstruktion, die erst

durch patriarchalische diskursive, soziale und politische Imperative37 hervorgebracht wird, in

ihren Werken entlarvt. In der vorliegenden Arbeit werden Jelineks frühe feministische Theaterstücke Clara S. (1981) und Krankheit oder Moderne Frauen (1984) als Verlängerungsstücke des ‚persönlichen Theaters’ der Autorin betrachtet, in denen Jelinek ‚Geschlecht‘ als künstliche Instanz demaskiert, indem sie nicht nur zeigt, wie dieses von dem herrschenden patriarchalen Diskurs produziert wird, sondern auch männliche Anmaßungen inszeniert, mit Hilfe deren die weiblichen Figuren ihre ‚Natur‘ – sei es auch zeitweilig – überschreiten, bevor sie wieder auf diese reduziert werden. Wie die vorliegende Arbeit zeigen wird, sind die zu analysierenden Theaterstücke unlösbar mit einander verbunden, da nicht nur betrachtet werden kann, dass die beiden Werke als „Künstlerinnendram[en]“38 die Praxis und

Problematik männlicher Anmaßungen, die nach Jelinek für jede Künstlerin unvermeidlich ist, in den Vordergrund rücken und so das Bild der Frau als ‚Nur-Körper‘ kritisieren, sondern auch, da Krankheit die in Clara S. dargestellten weiblichen Überschreitungsversuche aufgreift, ausarbeitet und übersteigert.

Das Werkzeug, das die in diesen Stücken dargestellten weiblichen Figuren für ihre Überschreitungen, ihr Vorstoßen in die männliche Domäne anwenden, und das zugleich als Dreh- und Angelpunkt der vorliegenden Untersuchung fungieren wird, ist der weibliche Körper, der im Folgenden nicht nur als Produkt des männlichen Diskurses, sondern auch als subversives Instrument, das diesen Diskurs – sei es auch nur vorübergehend – als Konstruktion entlarven oder unterminieren könnte, betrachtet wird. Dabei wird von der These ausgegangen, dass die weiblichen Figuren in den beiden Stücken notgezwungen mit dem arbeiten, was ihnen innerhalb des männlichen Systems zugeteilt worden ist, und durch die Übernahme und kritische Reartikulation männlicher Körpercharakteristiken versuchen, die

34 Ebd.

35 Interview mit Riki Winter, 1991. Hier S. 11.

36 Vgl. Butler, Judith. Bodies That Matter: On the Discursive Limits of „Sex“. Abingdon/New York: Routledge 2011 [1993]. S. xii.

37 Vgl. Kraft, Helga: Building the Austrian Body: Jelinek’s Celebrity Workout. In: Elfriede Jelinek: Writing Woman, Nation, and Identity. Hrsg. von Margarete Lamb-Faffelberger und Matthias Piccolruaz Konzett. Cranbury: Rosemont Publishing 2007. S. 221-249. Hier S. 222.

38 Nyssen, Ute: Nachwort. In: Jelinek, Elfriede: Theaterstücke: Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften, Clara S., Burgtheater, Krankheit oder Moderne Frauen. Hrsg. von Ute Nyssen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1992. S. 266-285. Hier S. 283.

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Mechanismen dieses Systems zu entlarven sowie von innen heraus zu destabilisieren. Obwohl diese Versuche der Protagonistinnen sich schließlich als vorübergehende erweisen, da sie letzendlich immer wieder auf ihren ‚natürlichen‘ Körper reduziert werden, lässt sich feststellen, dass die Stücke beide als Labor weiblicher (Körper)Überschreitungen39 fungieren

und so als Gegenstimme zu dem laut Jelinek von Männern beherrschten Theaterapparat, der „nie ein Ort für Frauen“40 war, zu betrachten sind.

Um die Körperüberschreitungen der weiblichen Figuren, die die patriarchalische Macht durch die Parodierung und Reformulierung der männlichen Körperlichkeit unterminieren, genau in den Blick zu nehmen, werden diese der Produktion der weiblichen Körper durch den patriarchalischen Diskurs und den männlichen Körpern, die als die ‚Norm‘ gelten, entgegengestellt. Hierbei wird Judith Butlers performatives Modell von Geschlecht als die Grundlage dienen, auf der die vorliegende Analyse basiert. Dies heißt konkret, dass Geschlecht hier – wie bereits in den vorhergehenden Abschnitten angedeutet wurde – nicht als ‚natürliche Tatsache‘ betrachtet wird, sondern als das Ergebnis der Wiederholung vorherrschender Normen, welche sich über länger Zeit hinweg vollzieht und auf diese Weise die Konstruiertheit von Geschlecht maskiert. Vor diesem Hintergrund werden die weiblichen Körperüberschreitungen als abweichende ‚Performances‘ gedeutet, die in der vorliegenden Untersuchung mittels Butlers Konzepte des Drags und der Subversion, die die Wiederholung der ‚Geschlechternormen‘ stören, erörtert werden. Innerhalb dieses gendertheoretischen Rahmens werden sowohl die weiblichen Körperüberschreitungen als auch die anderen Körperbilder einer Analyse mit Hilfe verschiedener Körperkonzepte unterzogen, welche in dem folgenden Abschnitt, in dem die Gliederung der Arbeit vorgestellt wird, aufgeführt werden.

In der Analyse von Clara S. im ersten Kapitel der vorliegenden Untersuchung wird zunächst die Praxis des Drags, wie diese von Judith Butler in ihren Werken Gender Trouble (1990) und Bodies That Matter (1993) besprochen wird, als theoretisches Werkzeug angewendet, um die männliche Anmaßung der Titelfigur Clara, die sie mittels ihrer Aneignung der Körpercharakteristiken ihres Gatten Robert ausführt, genau in den Blick zu nehmen. Daraufhin werden die Körper der anderen weiblichen Figuren, die sich im Gegensatz zu Clara nicht gegen die Reduzierung auf ihren Körper auflehnen und kritiklos die patriarchalischen Regeln, die Geschlecht hervorbringen, zitieren, vorgestellt. Schließlich werden die männlichen Figuren, die sich mittels ihrer grenzüberschreitenden (Techno-)Körper

39 Siehe auch Jelinek im Interview mit Anke Roeder (1996): „Als Frau für das Theater zu schreiben, ist eine maßlose Herausforderung, eine Überschreitung der Grenzen“.

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als das Gegenteil der weiblichen, von ihnen als ‚abjekt’ betrachteten Natur zu definieren versuchen, in den Fokus gerückt, um ihre normative Funktion und ihre Definitionsmacht über die weiblichen Körper genau beobachten zu können. Zur Analyse dieser Körper sowie der Sicht der männlichen Figuren auf ihre Gegenspielerinnen werden Julia Kristevas Begriff des Abjekten, Donna Haraways Figur des Cyborgs und Michail Bachtins Konzept des grotesken Körper den theoretischen Rahmen dieses Teils der Untersuchung bilden, der gleichzeitig als Grundlage der im zweiten Kapitel stattfindenden Erörterung der in Krankheit dargestellten Körperbilder dienen wird. Bevor allerdings mit dieser angefangen wird, werden die zwei Stücke in einem kurzen abschließenden Abschnitt miteinander verbunden, indem die Befunde der vorhergehenden Analyse zusammengefasst werden und Butlers Begriff der Subversion, der im Kontrast zu der nicht notwendigerweise subversiven drag performance eine Reformulierung der bestehenden Gesetze, die Geschlecht hervorbringen, mit sich bringt, eingeführt wird.

Im ersten Abschnitt des zweiten Kapitels findet sich eine Auseinandersetzung mit dem ersten Akt von Krankheit, in dem sich, wie sich herausstellen wird, die vorher in Clara S. vorgestellten Geschlechterverhältnisse intensiviert haben. Im Fokus des zweiten Abschnitts stehen daraufhin die Überschreitungen des weiblichen vampirischen Körpers, der sich nicht nur der Praxis des Drags bedient, sondern die bestehenden patriarchalischen Gesetze mittels der Aneignung, Umkehrung und Deformierung des männlichen Diskurses subvertiert. Hierbei werden die Merkmale des überschreitenden männlichen Körpers, wie dieser in Clara S. vorgestellt wurde, von den weiblichen Vampiren aufgegriffen und refomuliert, wodurch dieser dazu imstande ist, kurzzeitig die ursprünglichen, als ‚natürlich‘ dargestellten weiblichen Rollen zu verkehren. Demzufolge tritt die (ehemalige) Frau als sprechendes Subjekt in Erscheinung, wodurch sie während kurzer Zeit den gleichen Status wie die in Clara S. vorgestellten männlichen Künstler zu besitzen scheint und so die neue Norm verkörpert, welches ihr ermöglicht, den Mann in die vorher für sie bestimmte Domäne des Abjekten hineinzudrängen, bevor sie notgezwungen wieder in ihre Körperlichkeit zurückfällt. Zur Beschreibung dieser Verkehrungspraktiken des vampirischen Körpers werden nicht nur die vorher erwähnten und im ersten Kapitel bereits verwendeten Konzepte eingesetzt, sondern werden auch Haraways Begriff des ,cyborg writing‘, der auf das feministische Umschreiben von bereits bestehenden Geschichten hindeutet, sowie Lee Edelmans Kritik des sogenannten ‚reproduktiven Futurismus‘, der die weiblichen Vampire die Möglichkeit einer anti-patriarchalischen Zukunft gegenüberstellen, in die Diskussion einfliessen.

(10)

Schließlich werden im Schluss die Ergebnisse der einzelnen Kapitel in einer kurzen Zusammenfassung zusammengeführt und werden weiterführende Verbindungen zwischen dem weiblichen Körper und der (Un)Möglichkeit des weiblichen Sprechens aufgeworfen, indem der Fokus wiederum auf Jelineks persönliches ‚Körpertheater’ gelenkt wird.

2. Clara S. Musikalische Tragödie

2.1. Weibliche Körperbilder

2.1.1. Der ‚klassische‘, verschlossene Mutterkörper (Clara)

In Jelineks zweitem Theaterstück Clara S. Musikalische Tragödie, das 1981 uraufgeführt wurde, wird die Künstlerschaft als männlich konnotierte Domäne durch die Betrachtung von sowohl männlicher als auch weiblicher Körperlichkeit vor dem Hintergrund der phallozentrischen „kulturpolitischen Macht“ thematisiert und problematisiert.41 Jelinek lässt

diese kontrastierenden Körper aufeinanderprallen, indem sie eine 1929 stattfindende fiktive Begegnung zwischen der keuschen, körperverschlossenen Clara Schumann (1819-1896) und dem extravaganten, sexuell grenzüberschreitenden Dichter und Casanova Gabriele D’Annunzio (1863-1938) in dessen Villa am Gardasee inszeniert.42 Mit der Verschmelzung

zweier Zeitebenen, nämlich dem romantischen Genie-Kult des 19. Jahrhunderts und dem Faschismus43 des 20. Jahrhunderts, unterstreicht sie das Weiterwirken von erniedrigenden

Machtbeziehungen im kulturellen Bereich sowie im Alltag, die die Existenz und Begabung der weiblichen Künstlerin verneinen und die Frau als ‚Nichts‘ denunzieren.

In dem Stück tritt Clara Schumann als Künstlerin und sich aufopfernde Muse44 auf,

die unter Zwang ihres Mannes Robert die eigene Karriere als Pianistin und Komponistin aufgegeben und sich der Mutterrolle gewidmet hat. Bereits in der ersten Szene des Stücks

41 Vgl. Pełka, Artur: Körper(sub)versionen: Zum Körperdiskurs in Theatertexten von Elfriede Jelinek und Werner Schwab. Frankfurt am Main [u.a.]: Peter Lang 2005 (Gießener Arbeiten zur neueren deutschen Literatur und Literaturwissenschaft 25). S. 104.

42 Vgl. Thomas, Rebecca S.: Subjectivity in Elfriede Jelinek´s Clara S.: Resisting the Vanishing Point. In: Modern Austrian Literature 32.1 (1999). S. 141-156. Hier S. 143.

43 D’Annunzio stand dem aufkommenden Faschismus in Italien positiv gegenüber (vgl. Abath, Maike: Geburt einer Selbstinszenierung [zum 150. Geburtstag von Gabriele D’Annunzio]. Online auf Deutschlandradio:

http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kalenderblatt/2036943/. Am 05.05.2013): Er hielt Reden, um die Massen in Rom für den Eintritt in den ersten Weltkrieg zu begeistern, kämpfte als Unterleutnant und

Kampfflieger in der Armee und galt als Vorbild für Mussolini. Außerdem belagerte er 1919 die dalmatinische Stadt Fiume (heutzutage Rijeka in Kroatien), deren Kultur und Geschichte als größtenteils Venetianisch betrachtet wurden, mit dem Ziel, sie für Italien zu annektieren. Über ein Jahr lang galt er als Kommandant der Stadt (Vgl. o.V.: Chronologische Kurzbiographie von Gabriele D’Annunzio. Online auf: Website Deutsches Historisches Museum. http://www.dhm.de/lemo/html/biografien/DannunzioGabriele/. Am 05.05.2013). Jelinek verweist auf D’Annunzios faschistisch konnotierte Eroberungstaten, indem sie ihn im Stück als ‚Commandante‘ bezeichnet.

44 Vgl. Bethmann, Brenda und Larson Powell: „One must have tradition in oneself, to hate it properly“: Elfriede Jelinek’s Musicality. In: Journal of Modern Literature 32.1 (2008). S. 163-183. Hier S. 171.

(11)

wird die Zerrissenheit zwischen Körper und Geist, zwischen Natur und Kunst,45 unter der

Clara - wie jede Künstlerin nach Jelinek46 - leidet, ersichtlich: „Mein Inneres kämpft so stark

gegen mein Äußeres an. Das Äußere hält die vergeistigte Frau für unwichtig. Gleich wird mein Herz hervorquellen und auf den Boden fallen“. Um sich als Künstlerin zu definieren, wird sie zur Feindin ihres eigenen Körpers, wie Luisa Baccara, eine andere Pianistin die wie Clara um die Förderung durch D’Annunzio bittet, feststellt: „Mir scheint, Sie sind zu stark von dieser Körperfeindlichkeit infiziert. Gleich zerreißen Sie mir unter den Händen. Das spür’ ich. Der deutsche Geist kommt langsam auf den Geschmack und zerreißt sorgfältig alle Körper, die sich in seinem Umkreis blicken lassen“ (CS 64).

Im Kontrast zu der „sinnliche[n] “ (CS 64), „körperbetont[en]“ (CS 79) und „üppigen“ (CS 80) Luisa betrachtet Clara sich als „hohe Priesterin der Kunst“.47 Sie stellt ihren Körper

als verschlossen dar, in einem Versuch, dessen Existenz zu verneinen und so der Idealvorstellung des ‚körperlosen‘ und „zur Abstraktion und Symbolisierung neigend[en]“48

männlichen Künstlers, die von ihrem Gatten Robert verkörpert wird und von ihrem Vater „in [sie] hinein gehämmert“ (CS 65) wurde, nachzueifern.49 Im Gegensatz zu Luisa und den

anderen Künstlerinnen, die sich in der Villa D’Annunzios aufhalten, weigert sie sich, den erotischen Aufforderungen des „Dichterfürsten“50 Folge zu leisten um im Tausch für ihre

sexuellen Dienste die finanzielle Unterstützung zu bekommen, die sie seit der Geisteskrankheit ihres Mannes dringend braucht.51 Außerdem kann beobachtet werden, dass

sie sich den körperfeindlichen Diskurs ihres Vaters und Ehemannes anmaßt52 und

infolgedessen den menschlichen Körper als etwas Ekelhaftes definiert, das abgedeckt und unsichtbar bleiben soll. Ihr Abscheu gegenüber dem eigenen Körper tritt in der ersten Szene

45 Johanning 107.

46 Vgl. Jelinek im Interview mit Boris Manner: „[…] dass es für alle Frauen die diese […] Überschreitung der Kunstproduktion wagen, und sich in diese männliche Domäne begeben, sich ein männliches Ich tatsächlich zulegen müssen, das sie aber nicht mit ihrem sinnlichen, weiblichen Ich in Übereinstimmung bringen können. Und diese […] Zerrissenheit, die diese weibliche, oder männliche Anmaßung einer Frau mit sich bringt, das ist, in verschiedenster Weise, würde ich sagen, für alle Schriftstellerinnen überhaupt, für alle Künstlerinnen […] das durchzieht eigentlich die weibliche Kunstproduktion“ ( Manner, Boris: Interview zu Ingeborg Bachmann (Ausschnitt aus dem Film Der Fall Bachmann, BR Deutschland 1990). Teil 1: https://www.youtube.com/watch? v=wRjBtRi2E5s).

47 Heinemann, Michael: Körpermusik. Elfriede Jelineks Schumann. In: Positionen der Jelinek-Forschung. Beiträge zur Polnisch-Deutschen Elfriede Jelinek-Konferenz Olsztyn 2005. Bern: Peter Lang 2008 (Jahrbuch für Internationale Germanistik, Volume 74). S. 303-314. Hier S. 303.

48 Pełka: Körper(sub)versionen, 2005. S. 107. 49 Vgl. ebd. S. 109.

50 Sander 38.

51 Siehe auch Claras Äußerungen im Gespräch mit D’Annunzio: „Mein Künstlerinnenkörper, der früher sogar selbsttätig komponiert hat, als er noch Zeit dafür hatte, wird von Ihnen nicht geschändet werden“ (CS 68) und „Von hinlegen kann überhaupt nicht die Rede sein, Commandante. Ich appelliere eher an Ihr Mäzenatentum als an Ihre Sinne“ (CS 69)

(12)

des Stücks deutlich in den Vordergrund, indem Luisa und Clara als kontrastive Figuren einander gegenübergestellt werden:53 Während ihre Kollegin sie in der ersten Szene küsst und

sie zu umarmen und küssen versucht,54 „zieht [Clara] den Kleidausschnitt übertrieben

schamhaft vor der Brust zusammen“ und versucht „entsetzt […] und fast derangiert“ (CS 65) ihrer Kollegin zu entkommen. Außerdem äußert sie sich gegenüber D’Annunzio ablehnend zu den ‚verderblichen Trieben‘ des menschlichen Körpers, da diese – aus der Sicht ihrer ‚Meister‘ – die Verhältnisse zwischen den Menschen zerstören würden: „Die geschlechtliche Seite ist es, die uns alle umbringt. Auch Sie, Ariel! Die Krankheit, die von Natur aus tötet. Sie ruiniert selbst die tiefste Innigkeit zwischen Mann und Frau. Das sagten mein Vater und Robert einstimmig“ (CS 79). Um sich als Künstlerin zu definieren, versucht Clara, ihre Körperlichkeit zu verdrängen, indem sie ihren Körper ‚abschließt‘, der dadurch als „undurchdringliche[s] Fleisch“ und als „schwerer Kerker“, in den man nur „mühsam“ (CS 76) eindringen kann, in Erscheinung tritt.

Es lässt sich erkennen, dass der verschlossene Körper Claras Ähnlichkeiten zu dem von dem russischen Literaturtheoretiker und Philosoph Michail Bachtin in seinem Werk Rabelais and his World diskutierten ,klassischen‘ Körper55 aufzeigt. Im Kontrast zu dem

unabgeschlossenen und offenen56 grotesken Körper,57 der als „body in the act of becoming“58

und „jumble of protuberances and orifices“59 intensiv mit der Welt verbunden ist und die

eigenen Grenzen überschreitet, kann der klassische Körper60 als „a strictly completed, finished

product“,61 als „geschlossen und auf Individualität bedacht“62 definiert werden. Dieser „klar

53 Das Verhältnis zwischen Clara und Luisa wird in Abschnitt 2.1.3. weiter thematisiert.

54 Siehe Jelineks Anweisungen: „Luisa zieht Clara die Hand, mit der diese krampfhaft ihren Kleidausschnitt

zuhalten möchte, weg, und nimmt sich Freiheiten heraus“ (CS 65).

55 Bachtin, Michail: Rabelais and his World. Übersetzung aus dem Russischen: Helen Isvolsky. Bloomington: Indiana University Press. S. 30.

56 Vgl. ebd. S. 36.

57 Der groteske Körper gilt in Bachtins Analyse als zentrales Bild des ,grotesken Realismus‘, der als

ästhetisches Konzept charakteristisch für die mittelalterliche Volkskultur ist, auf der Rabelais’ Werk basiert (vgl. Bachtin: Rabelais and his World, 1984. S 18: „Actually, the images of the material bodily principle in the work of Rabelais (and of the other writers of the Renaissance) are the heritage, only somewhat modified by the Renaissance, of the culture of folk humor. They are the heritage of that peculiar type of imagery and, more broadly speaking, of that peculiar aesthetic concept which is characteristic of this folk culture and which differs sharply from the aesthetic concept of the following ages. We shall call it conditionally the concept of grotesque realism“).

58 Ebd. S. 317.

59 Jefferson, Ann. Bodymatters: Self and Other in Bakhtin, Sartre and Barthes. In: Bakhtin and Cultural Theory. Hrsg. von Ken Hirschkop und David Shepherd. Manchester: Manchester University Press 1989. S. 152-177. Hier S. 166.

60 Laut Bachtin ist das klassische Körperbild in „the new bodily canon” (Bachtin 320) der Neuzeit

vorherrschend (vgl. Kandinskaia, Natalia: Zum Begriff des Grotesken. Künstlerische Praxis und Theorie des Grotesken. In: Postmoderne Groteske – groteske Postmoderne?: Eine Analyse von vier Inszenierungen des Gegenwartstheaters. Berlin: Lit Verlag 2012. S. 9-30. Hier S. 21).

61 Bachtin 29. 62 Johanning 87.

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konturierte“63 Körper ist nicht mit anderen Körpern verbunden wie der groteske Körper, der

laut Bachtin einen kosmischen und universalen Charakter besitzt und auf „the collective ancestral body of all the people“64 verweist, sondern gilt als ein isolierter, individualisierter

Körper mit einer geschlossenen, glatten und undurchdringbaren Oberfläche.65 Zudem verbirgt

und ignoriert dieser Körper die überschreitenden und positiv konnotierten „images of bodily life“ die den grotesken Körper charakterisieren, wie Gebären, Sterben, Schwangerschaft und Kopulation, und wandelt sie in „vulgarities“66 oder Obszönitäten um. Wenden wir uns nun

der Figur Clara zu, dann kann beobachtet werden, dass sie nicht nur versucht, den Sexualverkehr, der von Bachtin als einer der drei ,Hauptakte‘ des grotesken Körpers betrachtet wird,67 als ‚verhängnisvoll‘ abzulehnen, sondern auch ihren eigenen, fortdauernd

von ihrem Ehemann geschwängerten und daher von der Kunstausübung ausgeschlossenen Körper als abstoßend wahrnimmt68: „Mein trächtiger Bauch … dieses Übermaß an Natur, das

der Sensibilist nie erträgt … diese geballte Form der Weiblichkeit … jeder Fortschritt versinkt davor … der Künstler muss oft angesichts des aufgepflusterten Unterleibs erbrechen“ (CS 78). Indem Clara Körperlichkeit – und ihren eigenen weiblichen Körper insbesondere – aus der Perspektive ihres Ehemannes und Vaters betrachtet, maßt sie sich einen „männlichen Ton“69 an, der ihren Körper als Nachbildung des idealen männlichen Künstlerkörpers

erscheinen lässt. Claras Aneignung einer männlichen ‚Stimme‘ und die damit einhergehende Imitation des männlichen Körpers kann im Butlerschen Sinne als eine ‚drag performance‘ betrachtet werden. In ihrem ersten Buch Gender Trouble weist Butler darauf hin, dass Drag70

die Vorstellung, es gebe eine originelle, ‚natürliche‘ Geschlechtsidentität, parodiert71 und

abstreitet, indem es die Künstlichkeit dieser Identität aufzeigt:

63 Strobel, Katja: Die Courage der Courasche. Weiblichkeit als Maskerade und groteske Körperlichkeit in Grimmelshausens Pikara-Roman. In: Maskeraden: Geschlechterdifferenz in der literarischen Inszenierung. Hrsg. von Elfi Bettinger und Julika Funk. Berlin: Erich Schmidt 1995. S. 82-97. Hier S. 93.

64 Bachtin 19. 65 Ebd. S. 317. 66 Ebd. S. 39.

67 Vgl. ebd. 353. Bachtin bezeichnet den Sexualverkehr, das Sterben oder den Todeskampf („death throes“, S. 353), und den Akt des Gebärens als die drei Hauptakte im Leben des grotesken Körpers (vgl. Bachtin 353). 68 Vgl. Pełka: Körper(sub)versionen, 2005. S. 108f.

69 Sander 38.

70 Siehe den Eintrag zu ‚drag‘ in der Routledge International Encyclopedia of Queer Culture: „Usually applied to ostentatiously exaggerated transvestitism, ironically playing up imitations of the opposite sex, drag is a complex, diversified phenomenon that defies a single, all-encompassing definition. […] Although drag is often associated with cross-dressing, transvestitism, transsexualism and transgender, it is not synonymous with any of these terms. Drag is essentially action, not identity: it shakes up all rigid definitions for gender and sexuality, parodying the stereotypes of femininity and masculinity“ (Baroni, Monica: Drag. In: Gerstner, David A. (Hrsg.): Routledge International Encyclopedia of Queer Culture. London/New York: Routledge 2011. Ohne

Seitenangabe.).

71 Vgl. Butler, Judith: Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity. London/New York: Routledge 1990. S. 137.

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In imitating gender, drag implicitly reveals the imitative structure of gender itself – as well as its contingency. Indeed, part of the pleasure, the giddiness of the performance is in the recognition of a

radical contingency in the relation between sex and gender in the face of cultural configurations of causal unities that are regularly assumed to be natural and necessary.72

Vor diesem Hintergrund lässt sich sagen, dass Clara die als ,natürlich‘ vorgeführten Geschlechtsidentitäten als kulturelle Konstruktionen demaskiert, indem sie durch ihre ‚männliche Performance‘, in der sie ihre Geschlechtsidentität ‚anders wiederholt‘,73 die

Aufmerksamkeit auf die ‚naturalisierten‘ und deshalb unsichtbaren Regeln lenkt, durch die männliche und weibliche Körper hervorgebracht werden.74 Die männliche und weibliche

Geschlechtsidentität werden hier demnach als ‚drag‘,75 als eine sich „ständig wiederholende

und zitierende Praxis des Normenfolgens“76 denaturalisiert. Allerdings führt dies nicht zu

einer dauerhaften Überschreitung der Grenze zwischen dem männlichen und weiblichen Geschlecht, da Claras Imitation des männlichen Körpers – um mit Butlers Worten zu sprechen – als „uncritical miming of the hegemonic“,77 als Reidealisierung der männlichen

Normen, gekennzeichnet werden kann. Indem sie ihren weiblichen Körper als ekelerregend betrachtet und dem männlichen ‚Körperlosigkeitsideal‘ nachzustreben versucht, bestätigt sie nur den Status der Frau als das ‚abjekte‘78 und kunstunfähige Geschlecht. Ihre Performance

hat deshalb keine Subversion der herrschenden Genderkonventionen zur Folge, genauso wie Drag laut Butler nicht notwendigerweise zur Umkehrung und Verschiebung79 der Regeln

durch die Körper produziert werden, führt, wie sie in ihrem zweiten Buch Bodies That Matter unterstreicht:

72 Ebd.

73 Vgl. Salih, Sara: On Judith Butler and Performativity. In: dies.: Judith Butler. London/New York: Routledge 2002. Online auf http://queerdigital.pbworks.com/f/SalihButlPerfo.pdf. S. 55-68. Hier S. 58.

Am 25.05.2013.

74 Vgl. Linda M.G. Zerillis Auslegung von Judith Butlers Ideen über Drag: „[…] when we do gender, we follow a rule, but this rule-following remains invisible to us; when we see drag, we become aware of the rule we are following when we do gender, hence aware of the fact that gender is a performance, not a substance“ (Zerilli, Linda M.G.: Feminists know not what they do: Judith Butler’s Gender Trouble and the limits of epistemology. In: Carver, Terrell; Chambers, Samuel (Hrsg.): Judith Butler’s Precarious Politics: Critical Encounters. Abingdon/New York: Routledge 2008. Hier S. 35. ).

75 Vgl. Butler: „To claim that all gender is like drag, or is drag, is to suggest that ‘imitation’ is at the heart of the

heterosexual project and its gender binarisms, that drag is not a secondary imitation that presupposes a prior and

original gender, but that hegemonic heterosexuality is itself a constant and repeated effort to imitate its own idealizations“ (Butler 2011: S. 85).

76 Holzleithner, Elisabeth: Judith Butlers „Körper von Gewicht“. Eine zitatförmige Abwägung. Online auf

http://homepage.univie.ac.at/elisabeth.holzleithner/Zitatfoermige_Abwaegung.htm. Am 24.05.2013. 77 Vgl. Butler 2011: S. 90.

78 Der Aspekt des ‚Abjekten‘ in Jelineks Stück wird in Abschnitt 2.2 weiter ausgearbeitet. 79 Butler 2011: S. 83.

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Although many readers understood Gender Trouble to be arguing for the proliferation of drag performances as a way of subverting dominant gender norms, I want to underscore that there is no necessary relation between drag and subversion, and that drag may well be used in the service of both the denaturalization and reidealization of hyperbolic heterosexual gender norms.80

In diesem Kontext erscheint die männliche Anmaßung Claras als Reproduktionsakt, in dem sie die männlichen Normen die ihren Körper ‚materialisieren‘ oder hervorbringen wiederholt, ohne diese zu überarbeiten oder ‚umzuformen‘. Die ‚Wiederholungsarbeit‘ Claras wird auch auf der textuellen Ebene hervorgehoben, indem ihr fortwährend Zitate von Robert Schumann und ihrem Vater Friedrich Wieck in den Mund gelegt werden,81 wodurch sie, obwohl sie sich

die männliche Sprache angeeignet hat, immer noch von diesem Diskurs ‚gesprochen‘ und bestimmt wird. Als Folge bleibt ihr die Überschreitung der Grenzen ihres klassischen Körpers und damit die ‚männliche‘ Fähigkeit, durch die Produktion eines eigenen Werkes eine direkte Verbindung zwischen Geist und Kunst herzustellen, untersagt und sie wird dazu gezwungen, als Futtermittel und ‚natürliche Komponente‘ des Künstlerpaars zu dienen, die dem männlichen Künstler ermöglicht, seine Ziele zu erreichen:

Komponieren durfte ich nie selber. Obwohl ich es doch so sehr wollte. Er [Robert] hat mich dazu gebracht zu glauben, dass ich es in seinem Schatten gar nicht wollen könne. Das Genie will seine Reise in die Abstraktion ohne die Frau antreten. Die Frau ist nur etwas Knochenmehl (CS 80).

Künstlergatte und Künstlergattin: Das Blut des einen kann man nicht mehr vom Blut des anderen trennen, einer haust im anderen, man kann sie nicht auseinanderreißen! Entweder sie gehen gemeinsam irgendeiner Morgenröte entgegen oder sie fallen ineinander verkrallt in einen Graben hinein. Meist aber ist die Frau dann schon eine verdorrte Wurzel, während der männliche Künstler noch voll im Saft steht (CS 75).

Außerdem wird sie von den Normen, ganz gleich wie sehr sie sich auch gegen die Festlegung der Weiblichkeit auf den Körper aufzulehnen versucht, auf ihre Biologie reduziert und in die Rolle einer bloß reproduzierenden „Gebärmaschine“82 hineingezwungen, die lediglich die

„Schwanzfrüchte” (CS 78) des Mannes zur Welt bringen soll, wie sie verbittert feststellt:

80 Vgl. ebd. S. 85. 81 Vgl. Sander 38. 82 Johanning 97.

(16)

Alles, was aus dem Körper herauskommt, das Kind etwa, alles ist dem Mann ein Ekel. Gleichzeitig regt er die Frau aber dauernd zum Gebären an, um sie an ihrer Kunstausübung zu hindern. Er will keine Konkurrenz erwachsen sehen. […] Diese Hirnblütler! Sie arbeiten gegen ihre Körper an. […] Sie leugnen den Körper, schieben ihn der Frau zu […] (CS 86).

Es kann allerdings festgestellt werden, dass Clara die ihr aufgedrängten Rollen der Ehefrau und Mutter als ‚künstlich‘ darstellt, indem sie mehrmals kommentiert, was sie tut und sagt83

und dadurch „zeig[t], dass sie spiel[t]“.84 Beispielhaft ist ihr Ausruf “Das Muttertier schreit

jetzt laut: Marie, Marie! schreit.“ (CS 90), wodurch sie die Mutterrolle als soziales Konstrukt darstellt, das der Frau aufgrund ihrer ‚Biologie‘, nämlich ihrer Gebärfähigkeit, zugeschrieben wird.85 Im Gegensatz zu den ‚Tunten‘ aus dem von Judith Butler analysierten

Dokumentarfilm Paris Is Burning (1991),86 die sich darum bemühen, so echt und natürlich

wie möglich zu wirken, wenn sie eine andere (Geschlechts)Identität annehmen87 – wie auch

der Titel des im Film verwendeten Songs „Got To Be Real“ wortwörtlich besagt –, legt Clara hier absichtlich die Unnatürlichkeit der ihr zugeteilten Rollen offen. Obwohl sie demnach genau wie bei ihrem männlichen Auftritt das weibliche Geschlecht als ‚künstlich‘ darstellt, führt ihre Reflektion dieser Rollen nicht zu einer Subversion der bestehenden Normen, da sie

83 Vgl. Ham, Suok: Zum Bild der Künstlerin in literarischen Biographien: Christa Wolfs „Kein Ort. Nirgends“, Ginka Steinwachs „George Sand“ und Elfriede Jelineks „Clara S.“. Würzburg: Königshausen und Neumann 2008. S. 198. Ein anderes Beispiel ist übrigens Claras Erklimmen eines Berges am Ende des Stücks, wobei sie das Klettern als Verstoß gegen die männliche Macht deutet: „Clara: schreit plötzlich auf: Robert, ich hol dir das Edelweiß von droben! Von steiler Bergeshöh. Sie schickt sich an, das Alpinum zu beklimmen. […] Clara klettert […]. Ich habe jetzt keine Angst vor weiblicher Radikalität mehr und erklimme soeben ein phallisches Symbol. Und du kannst gar nichts dagegen machen! sie klettert.“ (CS 99).

84 Schößler: Augen-Blicke, 2004. S. 29.

85 Vgl. ebd. An dieser Stelle soll darauf hingewiesen werden, dass die Gebärfähigkeit, obwohl sie oft als ‚biologische Tatsache‘ angenommen wird, doch als soziale Norm funktioniert, die eine Frau als ‚echte‘ Frau (de)qualifiziert, wie Judith Butler im Interview mit der Zeitschrift Radical Philosophy erklärt: „Why shouldn’t it be that a woman who wants to have some part in child-rearing, but doesn’t want to have a part in child-bearing, or who wants to have nothing to do with either, can inhabit her gender without an implicit sense of failure or inadequacy? When people ask the question ‚Aren’t these biological differences?‘, they’re not really asking a question about the materiality of the body. They’re actually asking whether or not the social institution of reproduction is the most salient one for thinking about gender. In that sense, there is a discursive enforcement of a norm“ (Osborne, Peter und Lynne Segal: Gender as Performance: An Interview with Judith Butler. In: Radical Philosophy 67 (1994). Online auf: http://www.theory.org.uk/but-int1.htm. Am 17.05.2013).

86 In Bodies That Matter geht Butler näher auf die Möglichkeiten von Drag ein, indem sie Jennie Livingstons Dokumentarfilm Paris is burning (1991) einer detaillierten Analyse unterwirft. Der Film berichtet von den Lebensstilen und Performances von schwarzen Männern (Afro-Amerikaner und Latinos), Transvestiten und Transsexuellen im New Yorker Bezirk Harlem, wobei der Fokus hauptsächlich auf ihre ,Tuntenbälle‘ die sich als „subkulturelle Imitationen von Modeschauen“ (Seier, Andrea: Perspektivverschiebungen: Feministische Filmwissenschaft und Gender Studies. In: Remediatisierung: Die performative Konstitution von Gender und Medien. Berlin: Lit Verlag 2007. S. 17-40. Hier S. 34.) betrachten lassen, gelenkt wird. Auf diesen Bällen konkurrieren die Männer in verschiedenen Kategorien wie ‚school boy/girl‘, ‚town and country‘, ‚executive‘ und ‚high fashion evening wear‘ miteinander, wobei die ‚echteste‘ Imitation – wie paradox dies auch klingen mag -gewinnt.

87 Wie Butler in ihrer Analyse anführt: „‚Realness‘ is not exactly a category in which one competes; it is a standard that is used to judge any given performance within the established categories. And yet what determines the effect of realness is the ability to compel belief, to produce the naturalized effect“ (Butler 2011: S. 88).

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diese immer noch ‚wiederholt‘, so, wie es sich aus der männlichen Perspektive ‚gehört‘. Sie tritt hauptsächlich als Ehefrau und Mutter auf, die sich notgedrungen den vorherrschenden Verhältnissen gefügt hat und der demzufolge nichts anders übrig bleibt, als die Genialität ihres Mannes und einzigen für die Kunst tauglichen Kindes88 fortwährend in den Vordergrund

zu rücken.

2.1.2. Der dressierte Doppelgängerkörper (Marie)

Wie bereits im vorhergehenden Paragraphen angesprochen wurde, bleibt Clara trotz ihrer Widerstandsversuche im klassischen Körper gefangen, dessen einzigen ‚Überschreitung‘ die Verbindung zwischen Mutter und Kind ist, die laut Bachtin im neuen Leibeskanon als einziges ‚dualistisches‘ Merkmal an den grotesken Körper erinnert.89 Das Kind gilt hier als

einzige ‚Produktionsmöglichkeit‘ der Frau, wie Jelinek auch im Interview mit Boris Manner feststellt: „Die Frau darf zwar Kinder hinterlassen, die über sich hinaus weisen, aber sie darf kein Werk hinterlassen, das über ihre eigenen Grenzen hinausreicht. Sie kann also ihre eigenen Grenzen nicht verschieben“.90 Es kann beobachtet werden, dass Marie, die Tochter

Claras, als einziges ‚Werk‘ fungiert, das Clara von ihrem Mann erlaubt worden ist. Anfänglich tritt Marie als Doppelgängerin ihrer Mutter auf, wobei sie von Clara als eine „Versicherung gegen den Untergang des Ichs“91 sowie „promise of immortality“92 betrachtet

wird, als ihr Nachlass, der ihre eigenen Begabungen verkörpert: „Das Gehör meiner kleinen Marie weiß vieles zu unterscheiden, was andere überhaupt nicht merken! Ich entwickelte sie langsam zu einer Spezialistin wie mein Vater mich seinerseits damals prachtvoll entwickelte“ (CS 79). Genauso wie ihr eigener Körper in ihrer Kindheit von ihrem Vater für die Kunstausübung ,modelliert‘ wurde, dressiert sie den Körper ihrer Tochter für das Klavier, indem sie diesen in ein Trainingsgerät, „das Logier’sche Gestell“ (CS 64) genannt, einspannt. Mit dem Hinweis auf dieses Gestell, das im frühen 19. Jahrhundert von dem deutschen Musikpädagogen Logier entworfen wurde,93 verweist Jelinek auf die gängige Verteilung der

88 Die anderen Kinder Claras starben oder waren nicht dazu imstande, einer Karriere als Musiker nachzustreben, siehe auch Claras an Marie gerichtete Worte: „Acht Schwangerschaften, die meisten davon total umsonst. Schade um die Arbeit! […] Du bist der kümmerliche Rest, Mariechen“ (CS 78).

89 „In the new canon the duality of the body is preserved only in one theme, a pale reflection of its former dual nature. This is the theme of nursing a child“ (Bachtin 322).

90 Manner, Boris: Interview zu Ingeborg Bachmann. Teil 1: https://www.youtube.com/watch?v=wRjBtRi2E5s. 91 Freud, Sigmund: Das Unheimliche [1919]. Online auf

http://www.metaspace.de/~fetzner/wiki/uploads/Dokumentation/dasunheimliche.pdf. S. 1-16. Hier S. 7.

92 Brown, Steven T.: Machinic Desires: Hans Bellmer’s Dolls and the Technological Uncanny in Ghost in the

Shell 2: Innocence. In: Tokyo Cyberpunk: Posthumanism in Japanese Visual Culture. New York: Palgrave

Macmillan 2010. S. 13-53. Hier S. 35. 93 Vgl. Ham 189.

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Geschlechterrollen in der Musikwelt zu Claras Lebzeiten: Das Gerät, das den Spieler in seiner Bewegungsfreiheit extrem einschränkte, wurde nämlich vor allem verwendet, um die Körperhaltung von Frauen zu korrigieren.94 Dies liegt begründet in der Tatsache, dass das

Klavier aufgrund der erforderten eleganten und graziösen Haltung, die mit dem „Weiblichkeitsideal von vornehmer Bewegungslosigkeit bei fleißiger Betätigung“95

übereinstimmte, als weibliches Instrument betrachtet wurde. Zudem war Klavierspielen eine Tätigkeit, die für Mädchen aus der mittleren Klasse als essentiell galt, da man davon ausging, dass sie Frauen Disziplin beibringen würde, wie Stefana Sabin konstatiert96:

Das Klavierspiel hatte einen familialen oder sozialen Zweck zu erfüllen, sollte kein reines Vergnügen sein. Nicht Talent war gefragt, sondern Durchhalten, und dementsprechend galt das Klavierspiel bei einer Frau als Indiz für ihren Charakter; Klavierspielen zeugte von Selbstdisziplin und Ausdauer – Attribute, die bei einer Frau für wichtig galten … denn Ziel weiblicher Sozialisation war nicht zuletzt das widerstandslose Sicheinfügen in vorgeschriebene Rollen.97

Vor diesem Hintergrund lassen das Gestell sowie das Klavier, die Maries Körper in eine von den vorherrschenden männlichen Normen vorgeschriebene Haltung hineinzwingen, Marie nicht als Genie erscheinen, sondern machen sie zum Objekt, zum geistlosen Körper, der keine kreativen Produktionskräfte besitzt. Das Funktionieren der beiden ‚Maschinen‘ – hauptsächlich das Gestell, wie dessen Name schon besagt –, weisen hier Parallelen zu dem Heideggerschen Begriff ‚Ge-Stell‘ auf,98 mit dem der Philosoph in seinen Essays „Die Frage

nach der Technik“ (1954) und „Die Technik und die Kehre“ (1962) auf das „Wesen der

94 Ebd.

95 Budde, Gunilla-Friederike: Musik in Bürgerhäusern. In: Bödeker, Hans Erich; Veit, Patrice und Werner, Michael (Hrsg.): Le concert et son public. Mutations de la vie musicale en Europe de 1780 à 1914 (France, Allemagne, Angleterre). Paris: Éditions de la Maison des sciences de l’Homme 2002. S. 427-458. Hier S. 442. 96 Vgl. Bethmann/Powell 175.

97 Sabin, Stefana: Frauen am Klavier: Skizze einer Kulturgeschichte. Frankfurt am Main/Leipzig: Insel Verlag 1998. S. 36f., zit. nach Bethmann/Powell 175.

98 An diesem Punkt soll bemerkt werden, dass Jelinek den Begriff ‚Gestell‘ auch in anderen Werken benutzt, wie zum Beispiel in ihrem Stück Totenauberg (1991, 1992 uraufgeführt), in dem eine Begegnung der Philosophen Heidegger und Arendt inszeniert wird. Heidegger tritt im Stück in einem Gestell auf, das seinen Körper ,verdoppelt‘ und seinen Begriff für Technik veranschaulicht, wie Johanning zusammenfasst: „Die Gefährdung durch die Technik, den Verlust der Kontrolle über die Technik, die Heidegger auch in seinem Werk

Die Technik und die Kehre beschreibt, wird in Totenauberg als körperliche Fesselung verbildlicht“ (Johanning

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Technik“ verweist.99 In dem berühmten Spiegel-Interview100 von 1966 geht Heidegger auf sein

Verständnis von Technik in diesen Werken ein, indem er den Begriff ‚Ge-Stell‘ erläutert:

Das Wesen der Technik sehe ich in dem, was ich das ‚Ge-Stell‘ nenne, ein oft verlachter und vielleicht ungeschickter Ausdruck. Das Walten des Ge-Stells besagt: Der Mensch ist gestellt, beansprucht und herausgefordert von einer Macht, die im Wesen der Technik offenbar wird und die er selbst nicht beherrscht.

Demnach ist Technik aus Heideggers Sicht „etwas, was der Mensch von sich aus nicht bewältigt“:101 Es ist kein „bloßes Mittel“,102 kein neutrales Instrument das der Mensch „in der

Hand hat“,103 sondern eine externe Macht, die den Menschen zunehmend bestimmt und

definiert und möglicherweise zum Objekt machen kann,104 wie auch Kim Toffoletti in ihrem

Buch Cyborgs and Barbie Dolls zusammenfasst:

What Heidegger calls technology’s Gestell, or enframing, is the process whereby technology, rather than the individual, comes to define the purpose of, and motivations for, human existence. Following this line of thinking, machines can no longer be conceptualized as neutral tools that are appropriated by human beings to control and master their environment. […] While technology may enframe objects by bringing them into being for human resource, people too, can be enframed by technology as objects to be used and manipulated.105

Wenden wir uns nun der körperlichen Domestizierung Maries zu, dann wird allerdings deutlich, dass Jelinek in ihrem Stück im Kontrast zu Heidegger eine strikte Trennung zwischen zwei Domänen anbringt, nämlich zwischen denjenigen, die die Technik beherrschen oder kontrollieren – nämlich den männlichen Figuren106 – und denjenigen, die wortwörtlich

99 Vgl. Johanning 165. Es soll hervorgehoben werden, dass ich an dieser Stelle weder einen vollständigen Überblick über Heideggers Gedankengänge in den erwähnten Essays noch eine komplette Definition des Begriffs ‚Ge-Stell‘ vermitteln möchte, da an diesem Punkt nur die von Heidegger vorgestellte These, die Technik könne den Mensch möglicherweise überwältigen, für mich interessant ist.

100 In diesem Interview, das nach Heideggers striktem Wunsch erst nach seinem Tod publiziert werden durfte, äußerte der Philosoph sich unter anderem zu den Vorwürfen, die ihm anlässlich seines Verhaltens im Dritten Reich gemacht wurden.

101 o.V.; ‚Nur noch ein Gott kann uns retten‘: Spiegel-Gespräch mit Martin Heidegger, 23. September 1966. In: Der Spiegel, 1976. Heft 23, S. 193-219. Online auf http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-9273095.html. Am 01.06.2013.

102 Heidegger, Martin: Die Frage nach der Technik. Fünfte Auflage. Pfallingen: Günther Neske Verlag 1982 [1962]. Online auf: www.petradoom.stormpages.com/hei_tech.html. Am 30.05.2013.

103 Spiegel-Gespräch mit Martin Heidegger, 1966.

104 Siehe „Die Frage nach der Technik“: „Am ärgsten sind wir jedoch der Technik ausgeliefert, wenn wir sie als etwas Neutrales betrachten; denn diese Vorstellung, der man heute besonders gern huldigt, macht uns vollends blind gegen das Wesen der Technik“.

105 Toffoletti, Kim: Cyborgs and Barbie Dolls: Feminism, Popular Culture and the Posthuman Body. London/New York: I.B. Tauris 2007. S. 11.

106 Die Darstellung der männlichen Figuren als ‚Meister‘ über die Technik wird in Abschnitt 2.3: Grenzüberschreitende Männerkörper näher thematisiert.

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dem Ge-Stell unterworfen werden um sie von ihrem Subjektstatus zu berauben und ihnen das Eindringen in die männliche Domäne zu verwehren. Das Klavier und das Gestell funktionieren als Ge-Stell, indem sie den Körper der Frau disziplinieren um ihn von männlichen Genien vorgegebenen Werken reproduzieren zu lassen und so die „feinmechanische Begabung für das Drücken von Klaviertasten, und zwar in der richtigen Reihenfolge“ (CS 76) als einzige Fähigkeit der Frau neben der Mutterschaft markieren. Marie beschuldigt ihre Mutter, sie habe sie durch ihre rigide Erziehung auf den Körper reduziert, und dabei ihren ‚Geist‘ (das Sprechen)107 ignoriert:

[...] mein Gehör … hat sich schon … ähnlich wie bei dir als Kind ja auch … unheimlich stark … ausgebildet. Mehr aber für … musikalische Töne … als für die Sprache … Dass ich sprechen lerne … darum hast du dich … nie gekümmert … im Bestreben … eine geniale Pianistin aus mir … zu machen … jetzt bin ich nichts … als ein Paar Hände, an dem ein … Körper hängt (CS 77).

Indem die künstlerischen Leistungen Maries hier als bloße “Handarbeit”108 dargestellt werden

– was weiterhin durch die Fingerübungen von Czerny, die Marie am Anfang des Stücks ausführt, in den Blick gerückt wird –, wird die von Jelinek im Hinblick auf die verborgenen Leistungen der Frau109 wiederholt angeführte Behauptung Freuds,110 „die Frau [habe] außer

Flechten und Weben […] keine großen Kulturleistungen erbracht“111 und sei daher „nicht

kunstfähig“,112 bestätigt. Außerdem wird die ‚sexuelle Handarbeit‘ von sowohl Clara als auch

Marie von den männlichen Figuren mehr geschätzt, als die Fingerarbeit am Klavier.113

Obwohl Clara sich D’Annunzio gegenüber – anfänglich noch denkend, sie funktioniere gleichzeitig als Mutter und Künstlerin – als eine „Symbiose“ aus Künstler- und Mutterschaft zu definieren versucht, zerstört er dieses Idealbild, indem er sie nur als Körper wahrnimmt: „Mir ist es egal, ob Sie sich mir als Mutter oder als Künstlerin hingeben“ (CS 67). Über Marie

107 Vgl. Ham 188. 108 Johanning 129.

109 „Obszön ist das, was verborgen bleiben soll, und das ist in erster Linie das, was die Frauen tun, die unbezahlte Arbeit der Frauen, die in keinem BIP auftauchen, in keiner Statistik. Denn Freud sagt ja, dass das Verborgene das Genital der Frau ist, dass die einzigen Kulturtechniken, die die Frau hervorgebracht hat, Weben und Flechten sind“. In: Mayer, Norbert: Interview: Ich habe in allen Sparten den Endpunkt erreicht. Elfriede Jelinek über ihre Arbeit, das Obszöne, den vergeblichen Idealismus und Gedichte von 700 Seiten.

http://www.berliner-zeitung.de/archiv/elfriede-jelinek-ueber-ihre-arbeit--das-obszoene--den-vergeblichen-

idealismus-und-gedichte-von-700-seiten-ich-habe-in-allen-sparten-den-endpunkt-erreicht,10810590,10221004.html. Am 15.05.2013.

110 Siehe neben dem Interview mit Norbert Mayer z.B. die im Folgenden zitierten Quellen: Jelineks Essay „Frauenraum“ und das Interview mit Anke Roeder: Überschreitungen (1996).

111 Interview mit Anke Roeder: Überschreitungen (1996).

112 Jelinek, Elfriede: Frauenraum (2000). Online auf www.elfriedejelinek.com. Am 14.04.2013. 113 Vgl. Johanning 130.

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äußert er sich gleichermaßen: „Ich schätze die beginnenden weiblichen Körperformen ihres Kindes sehr wohl, nicht jedoch dessen Kunstäußerungen“ (CS 72).

Im Kontrast zu Clara erliegt Marie schließlich der Versuchung, in einer sexuellen Beziehung mit D’Annunzio als „rein körperliches Objekt der Begierde“114 zu fungieren.

Hieraus wird ersichtlich, dass Clara nicht in der Lage ist, ihre Tochter zum vergeistigten, körperlosen Genie zu erziehen und sie vor der körperlichen Disziplinierung mittels des Klaviers, das von ihr herabwürdigend als „tote[s] Kunstwerkzeug[.]“ (CS 76) betitelt wird, zu schützen. Stattdessen setzt sie unbewusst die vorherrschenden Normen des männlichen Genies, die vorher auch ihren eigenen Körper als ‚reine Natur‘ definierten, lediglich durch Wiederholung erneut in Kraft und übersteigert diese sogar. Die Geschichte wiederholt sich nicht nur, indem Marie wie ihre Mutter früher Klavierspielen als Sprechen lernt und durch sexuellen Missbrauch und die körperliche Domestizierung am Klavier auf ihren Körper reduziert wird,115 sondern sie wird hier auch von Marie als selbstverständlich und überdies als

angenehm erfahren. Indem sie die Reduzierung auf ihren Körper akzeptiert, bricht sie aus dem zu Claras klassischem Körper gehörenden individualisierten und geschlossenen Mutterkindbild116 aus, wodurch Clara die einzige Hoffnung auf ein ‚Werk‘ in der Form eines

von ihr produzierten weiblichen körperlosen Genies, notgedrungen fahren lassen muss.

In dem folgenden Paragraphen werden – bevor zur Analyse der ‚maßgebenden‘ Männerkörper übergegangen wird – die übrigen im Stück dargestellten weiblichen Körper ins Zentrum gerückt, um anschaulich zu machen, wie ihre Körper durch den männlichen Diskurs hervorgebracht werden und wie Jelinek sich durch die Darstellung verschiedener Frauenkörper gegen die Auffassung, es gebe eine „geschlechtlich-naturhafte Gemeinsamkeit der Frauen“,117 auflehnt.

2.1.3. Künstlerinnenkörper/Körperkünstlerinnen (Luisa und Carlotta)

Es lässt sich feststellen, dass die Körper von Luisa Baccara und Carlotta Barra als Gegenbilder zum abgesperrten Körper Claras dargestellt werden. Wie schon im ersten Paragraphen erwähnt wurde, wird die „kitschig-italienisch[e]“ Pianistin Luisa in der ersten Szene des Stücks als Gegenpol und Rivalin des „flüchtende[n] deutsche[n] Reh[s]“ (CS 64)

114 Pełka: Körper(sub)versionen, 2005. S. 109.

115 Siehe auch Claras Äußerungen zu ihrer Kindheit: „Mit fünf erst sprechen gelernt. Doch mein Gehör war wie eine Rasierklinge. Mein Vater schrieb selbst mein Tagebuch, während die Klavierhacker aller Altersklassen mir unters Röckchen griffen. Ich konnte ja nichts sagen!“ (CS 76).

116 Siehe Bachtin 322: „[…] the image of the mother and the child is strictly individualized and closed, the line of demarcation cannot be removed“.

(22)

Clara vorgestellt. Außerdem hat Luisa sich im Gegensatz zu Clara dem männlichen Diskurs völlig unterworfen und diesen gleichzeitig ‚internalisiert‘: Sie versucht, Clara von ihren Kompositionsversuchen abzuhalten, indem sie behauptet, der Mann sei aufgrund seiner körperlichen Ausstattung besser für die Kunstproduktion geeignet als die Frau.118 Hierbei

stützt sie sich auf eine männliche “biologistische[n] Geschlechterideologie“,119 in der

Geschlecht als „‚Grundtatsache‘ und nicht weiter hinterfragbares Faktum“120 betrachtet wird:

Die Frau ist meist weich und nachgiebig, der Mann ist hart und drängt vorwärts, egal wo es endet. Dabei schöpft er manchmal eine Komposition. In den Mann geht mehr hinein als in die Frau, deshalb kann er auch mehr aus sich herausholen, wenn es drauf ankommt. Eine Frage des Volumens, mein Herz (CS 65).

Luisa verherrlicht den Mann als Kunstproduzent, indem sie Clara zur Reproduktion männlicher Kunstwerke anzutreiben versucht, wobei sie sich selbst als Schulbeispiel der weiblichen Künstlerin darstellt:

Nehmen Sie doch ein Beispiel an mir! Ich gebe froh und frei von mir, was der männliche Tonsetzer schöpfte. Nichts windet sich in mir vor Qual dabei. […] Warum denn immer gleich selbst komponieren! Soviele Tondichtungen sind bereits vorhanden, darin können Sie doch Ihr Leben lang wühlen wie ein Schwein nach Trüffeln! (CS 65).

Sie verfügt zudem über „eine zynisch-realistische Einschätzung der Entfaltungsmöglichkeiten ihrer eigenen Kreativität“121: Sie betrachtet ihren Körper als Zahlungsmittel, als

„Marktwert“,122 mit Hilfe dessen sich weitere finanzielle Quellen anbohren und sich auf Dauer

Träume von internationalem Erfolg verwirklichen lassen.123 Sie fügt sich demnach als

118 Vgl. ebd. S. 105f. Pełka weist in seiner Analyse des Jelinek-Stücks Was geschah, nachdem Nora ihren

Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften (Uraufführung 1979) darauf hin, dass es keine

einheitliche Frauengruppe in diesem Bühnenwerk gibt. In diesem Paragraphen möchte ich diese These im Hinblick auf Clara S. weiter ausarbeiten.

119 Ebd. S. 106.

120 Gildemeister, Regine und Angelika Wetterer: Wie Geschlechter gemacht werden: Die soziale Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit und ihre Reifizierung in der Frauenforschung. In: TraditionenBrüche: Entwicklungen feministischer Theorie. Hrsg. von Gudrun-Axeli Knapp und Angelika Wetterer. Freiburg: Kore Verlag 1992 (Forum Frauenforschung Bd. 6). S. 201-253. Hier S. 201.

121 Janz 55. Zit. nach Sander 40. 122 Sander 40.

123 Siehe Luisas Ausrufe: „Während ich mich ihm [D‘Annunzio] hingebe, rede ich […] ausschließlich von meinen geplanten Klavierabenden in den Vereinigten Staaten. Im Frühjahr reise ich, der Commandante hat schon für mich abgeschlossen und die Kaution hinterlegt. Bis dahin nur noch etwa 120 Hingaben!

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„schlampig[e]“ (CS 79), „derbe“124 Frau ohne Widerstand in die Rolle des ‚Nur-Körpers‘, die

ihr Mäzen D’Annunzio von ihr erwartet und zitiert dadurch die vorherrschenden Regeln, die sie als passives Objekt gegenüber dem männlichen Subjekt markieren. Selbst ist sie sich dieses kritiklosen Zitierens, und damit ihres Aufgehens in der sich den maßgebenden Regeln anpassenden Masse, durchaus bewusst: „Ich habe stets darauf geachtet, ein Enfant Terrible zu sein, dessen Wert gerade darin besteht, aus der Masse herauszuragen, letztlich aber doch der Anpassung kein Hindernis in den Weg zu legen“ (CS 64). Sie regt sogar die Balletttänzerin Carlotta Barra dazu an, auch ihren Körper an den Commandanten zu ‚verkaufen‘: „Am besten ist es eben immer noch, wenn Sie sich ficken lassen“ (CS 70).

Aus diesem Vorhergehenden ergibt sich, dass Luisa sich zur „Komplizin des Mannes“ macht um einen besseren sozialen Status zu erhalten125 und „durch die ‚Gnade‘ der Männer

etwas zu werden“,126 wie Frauen es, Jelinek zufolge, in von Männern beherrschten

Gesellschaften oftmals tun127:

Patriarchat heißt nicht, dass immer die Männer kommandieren, es kommandieren auch die Frauen, nur kommt das letztlich immer den Männern zugute. Ich habe die Frauen sehr kritisch als die Opfer dieser Gesellschaft gezeigt, die sich aber nicht als Opfer sehen, sondern glauben, sie könnten Komplizinnen sein.128

Mit dieser ‚denunzierenden‘ Darstellung der Frau129 rebelliert Jelinek in ihren eigenen Worten

gegen das Bild der Frau „als das bessere und höhere Wesen, als das sie die Frauenbewegung gerne sehen würde“.130 An dieser Stelle ist anzumerken, dass Jelinek sich, obwohl sie sich als

124 Pełka: Körper(sub)versionen, 2005. S. 113. 125 Vgl. Interview mit Riki Winter, 1991. S. 13.

126 Programmheft des Wiener Burgtheaters zu Henrik Ibsens Nora oder ein Puppenhaus. 1997. Zit. nach Roloff 144.

127 Auch die Haushälterin D’Annunzios kann als Komplizin betrachtet werden, da sie die ,Hingabe‘ an D’Annunzio als unvermeidliches Mittel darstellt, das die Frau braucht, um in einer von der männlichen Macht geprägten Welt überleben zu können: „Beruhigen Sie sich, Liebste! Einmal muss es doch sein. Sie kennen ihn ja. […] Ich will Ihnen helfen! Sie braucht doch das Geld!“ (CS 75). Da Jelinek Aélis’ Körperlichkeit im Stück jedoch nicht weiter thematisiert und vor allem die „Künstlerinnenkörper“ (CS 68) in den Blick rückt, beschränkt die Analyse sich hier auf die Körper von Luisa und Carlotta.

128 Interview mit Riki Winter, 1991. S. 13.

129 Ebd. S. 12. Jelinek wurde von Feministinnen vorgeworfen, dass sie in ihren Texten die Frau herabwürdige, indem sie sie als Komplizin des Mannes darstelle, wie aus dem vorher erwähnten Interview mit Riki Winter hervorgeht.

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