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Die Verarbeitung der Pygmaliongeschichte in Agnes und Ruby Sparks

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Die Verarbeitung der Pygmaliongeschichte in Agnes und Ruby Sparks

Begleiter: Elke Huwiler Zweitbegleiter: Anna Seidl Datum afgifte: 19.06.2015 Datum mondeling examen: 23.06.2015

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Inhaltsangabe

Einleitung 2

Zusammenfassung Agnes und Ruby Sparks 6

Pygmalion in der Antike 8

Der Pygmalionstoff im Mittelalter 14

Der Pygmalionstoff vom 16. - 19. Jahrhundert 19

Der Pygmalionstoff im 20. und 21. Jahrhundert 23

Der Pygmalionstoff in Agnes 26

Der Pygmalionstoff in Ruby Sparks 33

Abschließende Analyse von Agnes und Ruby Sparks 40

Fazit und Ausblick 44

Literaturliste 47

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Einleitung

Wer heutzutage Filme oder Dramen sieht, hat die Chance, eine Verarbeitung früherer Auflagen zu sehen. Es existiert Intertextualität zwischen Werken, was in diesem Fall heißt, dass die neueren Texte sich auf die älteren beziehen. Es gibt beispielsweise viele, fast unzählbare Überarbeitungen von Shakespeare-Stücken: Amerikanische Filme wie 10 Things I Hate About You und She´s the Man sind nur einige davon. Auch aus der Antike kommen viele solcher Geschichten, die in späteren Zeiten zu neuen Stücken verarbeitet worden sind. Homers Odyssee ist davon nur ein Beispiel.1

Auch Ovids Metamorphosen wird oft verwendet. Einer William Shakespeares Grundlagen für sein

Romeo and Juliet war zum Beispiel die Geschichte von Pyramus und Thisbe. Auch eine weitere

Geschichte aus Ovids Metamorphosen, das Stück Pygmalion, findet sich in vielen Werken wieder. In Ovids Pygmalion erschafft der zypriotische Pygmalion eine Statue einer Frau aus Elfenbein. Er hasst die Propoetiden, Frauen, die Venus' Göttlichkeit verweigerten und danach zu Prostituierten wurden, und formt deshalb eine Statue die perfekter ist als eine wirkliche Frau. Die Statue ist sehr schön und sieht realistisch aus. Sie ist so schön, dass Pygmalion sich in sie verliebt, obwohl er wegen seiner Erfahrungen mit den Propoetiden eigentlich keine Frauen mag. Er kleidet die Statue und gibt ihr Geschenke. Bei einem Opfer an Venus wünscht er sich eine Braut, die der Statue ähneln soll. Er traut sich nicht nach dem zu fragen, was er wirklich wünscht: dass die Statue selbst lebendig wird. Als er wieder zuhause ist, bemerkt er, dass seine Statue lebendig geworden ist und Venus seinen wirklichen Wunsch beantwortet hat. Er heiratet danach die Statue und bekommt ein Kind mit ihr, das Paphos heißt.

Galatea, Pygmalions Braut2, könnte eine geformte Frau genannt werden. Pygmalion hat sie selbst geschaffen, sie ist so wie er sie erdacht hat. Dieses Motiv, das der geformten Geliebten oder der geformten Frau, wird danach noch oft verwendet. Nach Dörrie sind Gegenstände mythischer Erzählung, wie der trojanische Krieg, aber auch Pygmalion, selbst in 3000 Jahren fast unverändert geblieben, aber ihre Deutung hat sich oft verändert, meist in exemplarischer Weise.3 So auch Pygmalions Geschichte, die im Laufe der Jahrhunderte noch häufig in anderen Werken wieder

aufgenommen wurde. Rousseaus Verarbeitung der Pygmaliongeschichte ist eines dieser weit bekannten Werke. In dieser Version macht Pygmalion Galatea selbst lebendig, ohne Hilfe von Aphrodite oder 1 Frank Groothofs De Thuiskomst van Odysseus aus 1996 ist davon ein Beispiel.

2 Die Staue wird bei Ovid noch nicht Galatea genannt, diese Name bekommt die Statue erst später bei Rousseau. In dieser Arbeit wird deswegen nur ab Rousseau dieser Name für die Statue benutzt.

3 Heinrich Dörrie: Pygmalion. Ein Impuls Ovids und seine Wirkungen bis in die Gegenwart. Hrsg. von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Westdeutscher Verlag:Opladen 1974, S. 8.

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Venus wie es bei Ovid geschah.

George Bernhard Shaws Pygmalion geht auch zurück auf Ovid: Der Sprachwissenschaftler Henry Higgins möchte das arme, ungebildete Blumenmädchen Eliza Doolittle aufgrund einer Wette so unterrichten, dass sie für eine Herzogin gehalten werden könnte. So formt auch er eine Frau. Das Motiv ist noch immer aktuell und ist also auch in gegenwärtigen Werke wiederzufinden.

In dieser Arbeit wird unter die Lupe genommen, inwiefern zwei gegenwärtige Werke, der Film Ruby

Sparks (2012) und Peter Stamms Roman Agnes (1998), als Verarbeitung der Pygmaliongeschichte

betrachtet werden können.

In Agnes wird das Leben einer jungen Frau teils bestimmt vom Erzähler: Agnes bittet den Ich-Erzähler, eine Geschichte über sie zu schreiben, und verhält sich danach immer mehr wie

vorgeschrieben durch die Geschichte. In Ruby Sparks findet der junge Autor Calvin Weir-Fields eines Tages plötzlich ein Mädchen in seiner Küche, das er selbst geschrieben hat. Sie brät Eier und hat keine Ahnung davon, dass sie aus seiner Geschichte stammt. Seine fiktive Freundin ist Wirklichkeit

geworden.

Diese Arbeit untersucht die zwei gegenwärtigen Werke als Überarbeitungen der Pygmaliongeschichte. Es ist also eine Untersuchung nach Intertextualität. In dieser Arbeit wird aber nicht nur auf die

ursprüngliche Ovid-Fabel fokussiert, um die Intertextualität zu untersuchen. Nach Essaka Joshua basieren Adaptationen der Pygmaliongeschichte oft auf jüngeren Versionen des Mythos und nicht ausschließlich auf Ovid.4 Wenn eine Interpretation dieser Werke nur auf Ovid basiert wäre, blieben andere Werke unbeleuchtet, obwohl sie zur Pygmaliongeschichte gehören. Das Motiv, eine schon lebendige Frau durch Bildung weiter zu formen, anstatt eine Statue lebendig zu wünschen, gehört beispielsweise bereits zur Pygmaliongeschichte, auch wenn dieses Motiv bei Ovid nicht anwesend war. Deswegen ist es wichtig, sich nicht nur auf Ovid zu konzentrieren, und werden mehrere Versionen beleuchtet. Um untersuchen zu können, inwiefern die zwei gegenwärtige Werke die

Pygmaliongeschichte verarbeiten, wird deswegen auch in Betracht gezogen, wie der Pygmalionstoff bisher literarisch verarbeitet worden ist. Im zweiten Teil des von Jean de Meun geschriebenen

Rosenromans, einer mittelalterlichen Geschichte, findet sich die Pygmaliongeschichte beispielsweise

auch wieder. Teils laüft die Geschichte parallel an Ovids Erzählung aus den Metamorphosen. Jean de Meuns Pygmaliongeschichte ist länger als das 59 Strophen zählende Werk von Ovid und stellt

Pygmalion als talentierten Künstler dar. Ovid stellt ihn nur als zypriotischer Mann vor, der eine Statue

4 Essaka Joshua: Pygmalion and Galatea: the history of a narrative in English Literature. Aldershot: Ashgate 2001, S. xix. 3

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macht und dessen Beruf nicht erwähnt wird. Doch der Meun'sche Pygmalion könnte auch eine wichtige Vorlage für Agnes und Ruby Sparks sein. Eventuelle Abweichungen dieser späteren Werken vom Ovidstoffes gehören also schon auch zur Pygmaliongeschichte. Ein weiteres Beispiel hiervon könnte sein, dass Shaws Eliza Doolittle, im Gegensatz zu Pygmalions Statue, einen eigenen Willen hat und nicht nur dem von Higgins folgt. Dies spiegelt sich in Ruby Sparks wider, die zwar von Calvin

geschöpft ist, jedoch selbst bestimmen will, was sie macht. Die zwei gegenwärtige Werken sollten also auch danach beurteilt werden, ob sie mit weiteren literarischen Werken im Pygmalionkontext

übereinstimmen oder ob sie davon abweichen. Danach kann untersucht werden, was sie damit bewirken.

In dieser Arbeit wird pro Zeitalter erwähnt, wie die Pygmaliongeschichte sich entwickelt hat, und werden die gegenwärtigen Werke der Pygmaliongeschichte, mit Bezug auf diese Entwicklungen, in Verbindung gebracht. Anschließend werden die zwei Werke selbst untersucht und ihre Wirkung im Pygmalion-Kontext betrachtet.

Die Forschungsfrage ist also zweifach:

Inwiefern können Ruby Sparks und Agnes als gegenwärtige Verarbeitungen der Pygmaliongeschichte, einschließlich der Entwicklungen im Werk, gesehen werden?

Was bewirken die Verarbeitungen in Ruby Sparks und Agnes als neuere Werke im Pygmalion-Kontext? Pro Werk werden einige wichtige Passagen ausgearbeitet. Anhand dieser Passagen werden Ruby Sparks und Agnes im Kontext des Pygmalionstoffes betrachtet.

Der Pygmalion-Kontext kann expliziter oder eher implizit im Text anwesend sein. Die Untersuchung hat deswegen einen intertextuellen Charakter.

Intertextualität ist kein festes System mit nur einer Definition. Es gibt mehrere Ansätze für Intertextualität. Einer davon ist der des Bakhtin, der das Konzept von Dialogizität gegenüber Monologizität in Texten hervorhob, aber dabei vor allem auf intratextuelle, nicht auf intertextuelle Bezüge fokussierte. Julia Kristeva hat den wirklichen Begriff der Intertextualität geprägt. Sie definiert Intertextualität wie folgt:

Wir nennen jene textuelle Inter-Aktion INTERTEXTUALITÄT, die sich im Innern eines einzelnen Textes produziert. (…) Intertextualität [ist] eine Annahme die angibt, in welchem Maße ein Text die Geschichte liest und sich in ihr einschreibt.5

5 Julia Kristeva: Probleme der Textstrukturation. In: Ihwe, Jens (Hrsg.): Literaturwissenschaft und Linguistik II, Frankfurt am Main 1971, S. 500.

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Dieser Theorie zufolge ist aber kein Text nicht intertextuell. Der Begriff ¨Intertextualität¨ wurde danach mehr als ¨systematische[r] Oberbegriff für die verschiedenen Formen konkreter Bezüge zwischen Einzeltexten¨ benutzt.6 Es wird davon ausgegangen, dass jeder Text eine Reaktion auf vorhergegangene Texte ist. Für Barthes können damit nicht nur literarische, sondern auch literarische, sogar nicht-sprachliche Texte gemeint sein, während Personen wie Harold Bloom oder Laurent Jenny sich auf literarische Texte fokussieren.7

Gérard Genette gliedert Intertextualität in fünf Unterkategorien. Zuerst nennt er Intertextualität selbst, dies sei die ¨Kopräsenz zweier oder mehrere Texte¨. Dann folgen Paratextualität (Bezüge zwischen Text und Dingen wie Titel und Vorwort) und Metatextualität (Kommentare auf einen Prätext). Als Letztes nennt er Hypertextualität, das einen anderen Text zur Folie macht und Architextualität als ¨Gattungsbezüge eines Textes¨.8

Pfister macht einen Unterschied zwischen sechs qualitativen Kriterien für die Intensität intertextueller Verweise. Das erste ist Referentialität, was die Frage stellt inwieweit der eine Text den anderen thematisiert. Ein zweites ist Kommunikativität. Dies ist das Maß indem ein Autor oder Leser sich der intertextuellen Bezüge bewusst ist. Drittens nennt er Autoreflexivität. Dies betrachtet, inwieweit ein Text die intertextuelle Bedingtheit und Bezogenheit reflektiert. Auch nennt er Strukturalität. Dies ist die syntagmatische Integration von Prätexten in den Text. Hierzu zählen auch Formen wie Parodie, Kontrafaktur und Adaption. Das fünfte Kriterium ist Selektivität. Hiermit wird bestimmt, inwiefern ein Element aus dem Prätext pointiert ausgewählt ist. Zuletzt gibt es dann noch Dialogizität: Dieses Kriterium fragt, inwiefern der ursprüngliche und der neue Zusammenhang ¨in semantischer und ideologischer Spannung zueinander¨9 stehen. Das heißt, eine ¨Textverarbeitung gegen den Strich des Originals¨10 oder das Zitieren eines Textes, der den Prätext relativiert, sind im Sinne der Dialogizität Fälle von starker Intertextualität, während das bloße Übersetzen des Prätextes in eine andere Sprache oder eine reine Imitation weniger Intertextualität beinhalten.11 Des Weiteren spielen noch zwei quantitative Kriterien eine Rolle: erstens die Dichte und Häufigkeit der intertextuellen Bezüge, zweitens die Zahl und Streubreite der Prätexte.12

6 Ulrich Broich und Manfred Pfister (Hg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen: Niemeyer 1985, S. 10. 7 Vgl. Ebd., S. 13-14. 8 Vgl. Ebd., S. 17. 9 Ebd., S. 29. 10 Ebd. 11 Vgl. Ebd. 12 Vgl. Ebd., S. 26-30. 5

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Darüber hinaus kann mehr oder weniger markiert werden, dass auf Prätexte verwiesen wird. Der Titel kann dabei eine Auskunft sein, die auch hier relevant ist: Die meisten direkten Verarbeitungen der Pygmaliongeschichte heißen auch ¨Pygmalion¨. Ein Charakter kann aber auch durch das Lesen eines Buches auf einen Prätext verweisen. Es muss aber nicht auf die Prätexte verwiesen werden: auch wenn die Intertextualität nicht markiert wird, könnte es in einem Text noch Intertextualität geben.13

Letztendlich machen Pfister und Broich einen Unterschied zwischen Einzeltextreferenz und Systemreferenz. Ersteres gibt an, dass Texte sich eher auf einen Einzeltext oder eine Serie davon beziehen. Systemreferenz ist der Bezug auf ein größeres System.14

Die Werke in dieser Arbeit werden anhand von dieser letzten Intertextualität-interpretation von Pfister und Broich analysiert. Diese Theorie bietet gute Ansätze um die verschiedenen intertextuelle Bezüge ausarbeiten zu können. Vor allem wird auf Dialogizität geachtet, weil dieses Kriterium am meisten zeigt, was die Veränderungen der neuen Texte im Pygmalion-Kontext bewirken, während ein Kriterium wie Kommunikativität für diese Arbeit weniger interessant wäre.

Anhand dieser Kriterien wird untersucht, wie der Pygmalionstoff sich durch die Jahrhunderte geändert hat und wie Ruby Sparks und Agnes in diesen Kontext passen. Hierbei wird vor allem darauf geachtet, wie die Frauen- oder Statuenfigur, sich entwickelt: Ovids Pygmalion ist ein Misogyn, der die Statue als Ersatz für wirkliche Frauen entwirft, aber die Statuenfigur wird nicht in allen Verarbeitungen als Ersatz oder sogar als Statue dargestellt. Es kann also gefragt werden, ob und wie das Material des Pygmalion sich in diesem Sinne geändert hat. Die gegenwärtigen Werke könnten sich dann dieser Tendenz anpassen oder eher für sich stehen im größeren Pygmalionkontext.

In der Film- und Literaturkritik wurden Agnes und Ruby Sparks schon mit Pygmalion in Verbindung gebracht. Es wurde aber noch nicht ausgearbeitet, wie sie sich genau zu dieser Geschichte – und ihren verschiedenen Erscheinungsformen – verhalten. Diese Arbeit sollte deswegen auch von besonderem Interesse sein für diejenigen, die eine weitere Ausarbeitung der Pygmaliongeschichte in Agnes oder in

Ruby Sparks suchen. Im nächsten Kapitel werden die gegenwärtige Werke zuerst kurz

zusammengefasst, bevor die verschiedenen Pygmalionverarbeitungen pro Zeitalter behandelt werden.

Zusammenfassung Agnes und Ruby Sparks

In Agnes begegnet der Ich-Erzähler, der in der Bibliothek an einem Werk über Luxuseisenbahnwagen 13 Vgl. Ebd., S. 31-47.

14 Vgl. Ebd., S. 48-58.

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arbeitet, der viel jüngere Physikstudentin Agnes. Sie verlieben sich ineinander. Er erzählt Agnes, dass er Autor ist und Kurzgeschichten geschrieben hat, dass diese Geschichten aber immer künstlich blieben. Einige Zeit später bittet Agnes ihn, eine Geschichte über sie zu schreiben, ein Porträt, ¨damit ich weiß, was du von mir hältst¨.15 Er fängt in der Vergangenheit an, aber rasch ¨überholt¨ er die Gegenwart und erreicht die Zukunft. Danach fängt er an, über die Zukunft von ihm und Agnes zu schreiben. Was er schreibt wird Wirklichkeit. Er beschreibt Ereignisse und Agnes führt sie aus. So bestimmt er unter anderem, dass Agnes zu ihm einzieht. Als Agnes im Gegensatz zu ihrer literarischen Verarbeitung schwanger wird, wird er böse auf sie und sie trennen sich. Als sie dann jedoch eine Fehlgeburt hat, kommen sie wieder zusammen. Agnes verliert sich danach mehr und mehr in der Geschichte, bis sie wahrscheinlich Selbstmord begeht, nachdem der Ich-Erzähler sie in der Geschichte tot geschrieben hat.16

Ruby Sparks handelt von dem jungen Autor Calvin Weir-Fields, der nach seinem durchaus gepriesenen

Debütroman vor zehn Jahren kaum mehr etwas publiziert hat. Er träumt von einem Mädchen, dem er im Park begegnet, und ist endlich wieder inspiriert. Er schreibt jetzt über sie und ihre Beziehung zum Protagonisten, den er nicht nur zufälligerweise Calvin nennt. Er nennt sie Ruby Sparks und verliebt sich in sie. Als er eines Tages aufsteht und Frühstück machen will, ist sie plötzlich wirklich geworden. Sie denkt, dass sie und Calvin in einer Beziehung sind, und weiß nicht, dass er sie geschrieben hat. Danach leben sie eine Zeit lang glücklich miteinander. Weil Ruby aber Calvins Geschöpf ist, kann er sie ändern, falls er das möchte. Zuerst möchtet er das nicht, bald fürchtet er aber, dass sie ihn verlassen wird, und schreibt deshalb, dass sie sich ohne ihn unglücklich fühlt. Danach versucht er immer mehr Kontrolle über sie zu gewinnen, bis alles zum Einsturz kommt.17

Diese zwei Werke arbeiten beide auf verschiedene Weise mit der Pygmaliongeschichte. In Ruby Sparks wird die Kreation eines Künstlers, wie bei Pygmalion, lebendig. Er kann aber noch immer bestimmen, wie sie sich verhält, auch wenn er versucht, das nicht zu tun. Das ist unter anderem in eine Szene zu sehen, in der Calvin und Ruby einander noch nicht so lange kennen. Als Calvin schreibt, dass Ruby französisch sprechen kann, spricht sie plötzlich französisch ohne eine Miene zu verziehen. Sie bemerkt nicht einmal, dass sie eine andere Sprache spricht. In Agnes könnte das Motiv umgekehrt gesehen werden: Eine lebendige Frau lässt sich mehr und mehr von einem Künstler formen. Der Ich-Erzähler 15 Peter Stamm: Agnes. 6. Auflage. Frankfurt am Main: Fischer 2011, S. 50.

16 Vgl. Stamm.

17 Vgl. Jonathan Dayton und Valerie Faris, dir. Ruby Sparks. Fox Searchlight Pictures, 2012. Film.

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betrachtet Agnes, seine Freundin, auch tatsächlich als seine Schöpfung und plant ihre Zukunft.18 In beiden Werken ist Kontrolle aber ein Thema: die schöpfenden Männer haben Kontrolle über die geschöpften Frauen. Wie verhalten diese Werke sich zu der literarischen Verarbeitung der

Pygmaliongeschichte davor, vor allem in Bezug auf die Kontrolle des Mannes und die Freiheit der Frau?

Pygmalion in der Antike

Die wichtigste Verarbeitung der Pygmaliongeschichte in der Antike ist die ovidische. Diese Erzählung ist nicht die einzige über Pygmalion in der Antike. Der zypriotische Bildhauer, der sich in ein Bild von Venus verliebte, wurde später auch bei Clemens Alexandrinus (150-211 n. Chr.) und Arnobius (ca. 300 n. Chr.) thematisiert. Arnobius bezeichnet Pygmalion als König von Zypern. Die beiden

charakterisieren Philostephanus von Kyrene (ca. 200 v. Chr.), einen Verfasser zyprischer Geschichten, als Gewährsmann.1920

Ovid, der ungefähr 200 Jahre später lebte21, ist deswegen auch nicht der erste, der über Pygmalion schrieb. Seine Geschichte ist aber die bekannteste über Pygmalion: Es ist die Geschichte der Pygmalion seine Berühmtheit zu verdanken hat.22 Bei Ovid ist Pygmalion kein König, auch wird er nicht als professioneller Bildhauer dargestellt. Die Statue sollte hier auch nicht Venus verkörpern, sondern eine perfekte, aber doch menschliche Frau. Diese ovidische Geschichte bildet die allgemeine Grundlage auf der viele weitere Verarbeitungen basiert sind. Auch Zoe Kazan, die das Screenplay für Ruby Sparks geschrieben hat, hat erwähnt, die Pygmaliongeschichte dafür verwendet zu haben.23 Dennoch gibt es zwischen dem ovidischen Pygmalion und den zwei gegenwärtigen Werken auch viele Unterschiede. Ovids Pygmalion kreiert seine Statue vor allem weil er eine Alternative zu den Propoetiden schaffen will. Diese Frauen verweigerten Venus' Göttlichkeit und wurden dafür bestraft: Ihre Körper und Reputationen wurden zum Gemeineigentum. Damit waren sie die ersten Prostituierten der Geschichte. ¨As their sense of shame withdrew and the blood ceased to flow in their faces, it was but a small step 18 Ebd., S. 62.

19 Vgl. Annegret Dinter: Der Pygmalion-Stoff in der europäischen Literatur. Rezeptionsgeschichte einer Ovid-Fabel. In: Studien zum Fortwirken der Antike, Band 11. Heidelberg: Winter 1979, S. 13-14.

20 Vgl. Victor Stoichita: The Pygmalion Effect: From Ovid to Hitchcock. Chicago: University of Chicago Press 2008, S. 7-8.

21 Vgl. W.R. Johnson: Introduction. In: Ovid, Metamorphoses. Indianapolis: Hackett 2010, S. xiii. 22 Vgl. Dörrie, S. 11.

23 Channing Davisson:VIDEO: Q&A with Filmmakers and Stars of “Ruby Sparks”

http://www.filmlinc.com/blog/entry/video-qa-with-filmmakers-and-stars-of-ruby-sparks (22.05.2015).

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for them to turn into unyielding granite.¨24 Pygmalion hat erfahren, wie diese Frauen lebten, und war, weil sie ihren Körper prostituierten, von Frauen ¨wie die Natur sie gemacht hat¨ angeekelt.25 Die Propoetiden wurden von Venus zu Prostituierten gemacht:

Pygmalion is motivated (...) because of his revulsion to real women with heir innate vices. That is what we are told by the narrator, Orpheus, and yet the explanation does not quite gel with the punishment of those women who had denied that Venus was a goddess. The Propoetides were forced by divine intervention to acquire those very vices Pygmalion abhorred.26

Die Propoetiden haben sich selbst also nicht dafür entschieden, zu Prostituierten zu werden. Nichtsdestotrotz ist Pygmalion von sie angeekelt. Deswegen weigert er sich zu heiraten. Um seine sexuelle Instinkte zu unterdrücken, formt er seine ideale Frau aus Elfenbein als Ersatz für die Propoetiden.

Pygmalion wird als Misogyn dargestellt, da er alle Frauen außer seine eigene Statue hasst. Er setzt Frauen ¨dem bösen Beispiel des Propoetides gleich¨27 und lebt deswegen ohne Frau, bis seine Statue lebendig wird. In Gegensatz zu anderen Gegnern der Frauen, wie Narziß oder Hippolytos, wird er nicht für seine Misogynie bestraft. Er wird sogar dafür belohnt, weil sich sein Hass nicht gegen die Göttin, sondern gegen deren Feindinnen, die Propoetiden, richtet.28 Weil er aber schon Frauen im Allgemeinen hasst, ist er ein Misogyn. W.R. Johnson sagt: ¨This clever and very influential tale is capable of various interpretations, but the reader who senses, beneath its soft erotic shimmer, not a little sour misogyny ironically prettified may be close to the truth of Pygmalion. It is the sort of ´happy´ love story that Ovids Orpheus might contrive.¨29

Pygmalion schafft seine Frau also aus misogyner Perspektive. Sie soll als Ersatz für die von ihm gehassten Frauen dienen. Seine Statue ist so schön und sieht so lebensecht aus, dass er nicht glauben kann, dass sie nur Elfenbein ist. Er fühlt sie und glaubt das ihr Fleisch weich ist. Er küsst sie und hat das Gefühl, dass sie die Küsse erwidert. Er fürchtet sogar, dass das Fleisch einen blauen Fleck

bekommen wird, wenn er nicht aufpasst.30 Er schmückt die Statue, gibt ihr luxuriöse Kleider und legt sie in ein Bett.

Nachdem Pygmalion Venus eine Färse geopfert hat und sie um ein Mädchen wie seine Statue gebeten

24 Paula James: Ovid´s Myth of Pygmalion on Screen: In Pursuit of the Perfect Woman. Continuum: London 2011, S. 10. 25 Vgl. Johnson, S. xxxii.

26 James, S. 13. 27 Dörrie, S. 14. 28 Vgl. Ebd., S. 24. 29 Johnson, S. xxxii.

30 Vgl. Ovid: Pygmalion. In: Metamorphoses. Übers. Von Stanley Lombardo. Indianapolis: Hackett 2010, S. 274.

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hat, kehrt er zurück nach Hause zu seiner geliebten Statue. Er küsst sie und fühlt, dass ihre Lippen warm sind. Er betastet sie und fühlt, dass das Fleisch nachgibt und es weich ist wie Bienenwachs. Während er nochmals die Statue betastet, fühlt er ihren Herzschlag und ist sich dann sicher, dass sie lebendig ist.31 Interessant an dem Vergleich mit Bienenwachs ist, dass es nach eigenem Willen geformt werden kann. Die Statue ist also buchstäblich eine formbare, nicht nur eine geformte, Frau. Ob

Pygmalions Statue innerlich auch so leicht geformt werden könnte, erwähnt Ovid nicht. Die

Formbarkeit der Frauenfigur ist später aber oft ein Thema bei Verarbeitungen von Pygmalion. Auch bei

Ruby Sparks ist das ein Thema: Als Ruby lebendig wird, möchte Calvin sie zuerst nicht ändern, weil er

moralische Bedenken hat. Später ändert er aber doch die Eigenschaften von Ruby, die ihm nicht gefallen. Auch er formt und verändert Ruby also nach seinem Willen. Er fühlt sich aber schuldig darüber, dass er so viel Macht über Ruby hat, während Pygmalion darüber nicht nachdenkt.

Auch der Erzähler in Agnes versucht, seine Freundin zu formen, nur etwas weniger direkt. Er kann es nicht leiden, dass Agnes ab und zu etwas macht, was er nicht geplant hat. Deshalb versucht er sie zu überreden das zu machen, was er will. In beiden Werke wird so thematisiert wie die Paare sich

zueinander verhalten. Diese Balance zwischen Pygmalionfigur und Statuenfigur ist in Agnes und Ruby

Sparks ein wichtiges Thema, wobei es das in Ovids Geschichte noch nicht ist: Ovid erzählt vor allem,

wie Pygmalion sich in die Statue verliebt, noch bevor sie lebendig geworden ist. Sobald sie lebendig ist, hat Pygmalion bekommen, was er will, und die Geschichte ist zu ende. Die Statue wird passiv dargestellt und bekommt nicht die Möglichkeit zu sagen, was sie davon hält, seine Geliebte zu sein. Hier besteht also eine Spannung im Sinne der Dialogizität von Pfister zwischen den zwei

gegenwärtigen Werke und Ovids Metamorphosen: Die Perspektive der Frau kommt bei Ovid (noch) nicht zur Sprache, während sie bei Agnes und Ruby Sparks schon thematisiert wird und durch den Vergleich mit der Sichtweise vom Erzähler (bei Agnes) und Calvin Weir-Fields (bei Ruby Sparks) auch problematisiert wird.

Nach Plato gibt es, wenn man die Kunst des Erschaffens von Bildern, oder eidolopoiiké, betrachtet, einen Unterschied zwischen eikastiké (Kopie) und phantastiké (Simulacrum). Der Wert eines

Simulacrums besteht nicht nur darin, etwas zu ähneln, sondern es hat selbst Wert, indem es sich in die Welt projektiert und dort selbst existiert. Nach Stoichita ist Pygmalions Statue keine einfache Kopie, sondern sie ist so ein Simulacrum wie von Plato beschrieben.32 Er nennt Pygmalion die erste große

31 Vgl. Ebd., S. 275. 32 Vgl. Stoichita, S. 1-2.

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Geschichte über Simulacra in westlicher Kultur.33 Ovids Pygmalion bildet die Statue nicht als Kopie einer schönen Frau, sondern erfindet sie selbst und sorgt auf diese Weise dafür, dass sie ihre eigene Existenzberechtigung hat. Bei Ruby Sparks und Agnes ist diese Thematik auch zurückzufinden.

Ruby Sparks ist ein Simulacrum von einem Mädchen, das Calvin in seinem Traum begegnet. Äußerlich ist ihr das Mädchen gleich, ihr Charakter wird aber von Calvin zugefügt. Er bestimmt wie sie heißt, wo sie herkommt und was für eine Geschichte sie hat. Wie Pygmalions Statue hat sie eine eigene

Existenzberechtigung sobald sie lebendig ist: Sie ist einzigartig in der Welt. Agnes ist, bevor sie dem Erzähler begegnet, werder eine eikastiké, noch eine phantastiké. Sie ist eine lebendige, junge Frau, die einzigartig ist in der Welt. Nachdem der Erzähler aber eine Kopie von ihr macht, ist sie nicht mehr einzigartig und es vermischen sich die wirkliche und die fiktive Agnes miteinander. Der Erzähler schreibt eine fiktive Agnes. Diese Figur ist fast eine Kopie von der lebendigen Agnes, aber dann stößt der Erzähler mit dieser fiktiven Agnes in der Zukunft. Agnes versucht danach, eine Kopie von der fiktiven Agnes zu werden. Ihre eigene Existenzberechtigung lehnt sie letztendlich ab, um eine völlige Kopie von der fiktiven Agnes werden zu können.

Pygmalion bittet Venus um eine Frau, die seiner Statue ähnelt, vor allem weil er sich nicht traut zu sagen dass er eigentlich die Statue selbst begehrt34. Am liebsten möchte er aber die Statue selbst lieben können. In Ruby Sparks könnte Calvin in dieser Weise als moderner Pygmalion betrachtet werden: Sobald er Ruby schreibt, schreibt er sie schon als ob sie seine Freundin wäre. Er bemerkt sogar, dass er sich in sie verliebt hat und eine Freundin wünscht wie Ruby. Dies wird in Träumen gezeigt, in denen er mit ihr spricht und sie ihm sagt, dass sie ihn für immer lieben wird. Als sie dann lebendig geworden ist, glaubt sie auch, Calvins Geliebte zu sein, und sein Wunsch ist erfüllt.

Nach Stoichita fungiert Ovids Pygmaliongeschichte als ¨song of the hope of resurrection¨35: Die Geschichte wird von Orpheus gesungen, nachdem er seine Eurydike, die von einer Schlange gebissen wurde, verloren hat. In Pygmalions Geschichte wird eine Statue, eine künstliche Frau, zum Leben erweckt. Für Orpheus gibt es deswegen Hoffnung, dass auch Eurydike wieder zum Leben erweckt werden könnte.36 In den zwei gegenwärtigen Werken die hier untersucht werden, funktioniert die Geschichte aber nicht mehr so. Eher wird hier darauf fokussiert, dass Agnes und Ruby nicht frei in

33 Vgl. Ebd., S. 3. 34 Vgl. Ebd., S. 16. 35 Ebd., S, 9. 36 Vgl. Ebd., S. 9. 11

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ihrem Handeln sind. Agnes kann immer selbst nachdenken und hat selbst eine Wahlmöglichkeit,

entscheidet sich aber, seit sie den Ich-Erzähler kennt, dafür, dass er für sie bestimmen soll. Ruby Sparks ist, sobald sie real ist, ein wirkliche Person mit einer eigenen Sichtweise und es gibt mehrere Szenen wo sie selbst weiß, was sie machen will, und selber nachdenkt. Calvin kann sie aber immer wieder ändern, immer ablehnen was sie will, indem er sie wieder neu schreibt. In diesen Werken scheint also weniger Hoffnung thematisiert zu werden, sondern eher die fehlende Freiheit. Bei Ovid wird das noch nicht thematisiert, so stehen die Werke in diesem Sinn in Ideologischer Spannung zueinander.

Von Stoichita könnten die Propoetiden als ¨in malo example of female impudence¨37 gesehen werden. Sie sollen sich nicht so verhalten wie sie es tun und werden dafür bestraft. Die Nachricht: Frauen sollten sich im Allgemeinen nicht so verhalten wie die selbstsicheren Propoetiden. Besser sollten sie schüchtern sein und leicht erröten, so wie die Statue. Vor allem Ruby Sparks spielt weiter mit dieser Thematik: Calvin will Ruby einerseits die Freiheit geben, zu machen was sie will. Er will sie nicht ändern, denn ¨sie ist schon perfekt¨38 und er fühlt sich als wäre es nicht korrekt, sie zu ändern. Sobald sie sich nicht verhält wie er es will oder wie er es sich vorgestellt hat nimmt er es ihr jedoch übel. Diese Thematik, nicht damit zufrieden zu sein, was der Partner macht, wird natürlich in mehreren Filmen aufgegriffen. Der Unterschied in Ruby Sparks ist, dass Calvin Ruby sie ändern kann, wenn er das will. In Agnes kommt eine Frau vor, die in der Geschichte eine ähnliche Funktion hat wie die Propoetiden: Louise. Zwar ist sie keine versteinerte Prostituierte wie die Propoetiden, aber Agnes könnte gegen Louise abgesetzt werden wie die Statue gegen die Propoetiden. Louise wirkt sexuell etwas lockerer als Agnes (Agnes hat, bevor sie den Erzähler kennenlernte, überhaupt noch keine sexuelle Erfahrung gemacht) und kann so als Gegensatz zu Agnes gesehen werden. Louise verurteilt Agnes und ihre Freundinnen, weil sie sich bei einem Halloween-Umzug amüsieren und nennt Agnes abwertend ¨deine kleine Freundin (...) mit der Wollunterwäsche¨.39 Sonst ist sie frech und nimmt kein Rücksicht auf andere.40 Zuletzt versucht sie immer den Erzähler zu verführen, sogar wenn der Erzähler mit Agnes zusammen ist, und das obwohl sie ihn nicht liebt. Sie ist eine ganz andere Person als Agnes und wirkt auch auf den Erzähler so. Durch den Kontrast zu Louise wird Agnes so, wie bei Ovid, vorgestellt als die ¨andere Frau¨, eine bessere Alternative gegenüber Louise. Im Gegensatz zu Pygmalion, wo die Propoetiden von Pygmalion gehasst werden, scheinen Louise und der Erzähler einander gern zu

37 Ebd., S. 9.

38 Dayton und Faris, TC: 00:39:11-00:39:15. 39 Stamm, S. 98.

40 Vgl. Ebd., S. 97.

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mögen, also braucht er keinen Ersatz für sie. Eher ist Louise ein Ersatz für Agnes, denn er geht erst auf ihre Anspielungen ein, als er und Agnes einige Zeit getrennt sind. Dennoch kann Louise als Folie für Agnes gesehen werden, wie die Propoetiden das für die Statue von Pygmalion sind.

Stoichita betont, dass Ovids Pygmalion nicht absichtlich die perfekte Frau kreiert: Er fühlt sich, als ob die Kunst ihn übertrifft, als ob sie selbst ein Leben hat. Er ist darüber verwundert.41 Dies ist auch bei

Ruby Sparks zu sehen. Ruby ist plötzlich da, als Calvin eines Tages hinunter kommt, und er erschrickt.

Auch sobald er von ihr schreibt, bevor er ihr also bewusst begegnet ist, ist er aber schon von ihr beeindruckt. ¨She's complicated¨, sagt er, ¨that's what I like most about her¨.42 Obwohl Ovid's Pygmalion die Statue nicht bewusst so kreiert, versucht er schon bewusst die Statue lebendig zu machen, indem er Venus darum bittet. Er opfert zu diesem Zweck eine Färse an Venus. Nach

Stoichita43 ist es die Seele des Tiers, die später in Pygmalions Statue zieht. Die Statue muss also von etwas animiert werden, um lebendig zu werden. In den gegenwärtigen Verarbeitungen ist dies nicht länger der Fall. Obwohl Ruby Sparks einem ähnlichen Verlauf der Geschichte folgt wie Pygmalion, ist hier nicht wie bei Pygmalion von Animation die Rede. Hier wird nicht gezeigt wie, der Autor versucht, das Mädchen lebendig zu machen, denn er glaubt nicht, dass das möglich ist. Dass er überhaupt in eine fiktive Frau verliebt sein kann lehnt er ab: Er fühlt zwar, dass er sich in sie verliebt hat, akzeptiert aber nicht, dass er das auch wirklich ist. Der wahre Konflikt, der bei Ovid endete, sobald die Statue lebendig wurde, fängt für Calvin erst an, nachdem Ruby lebendig geworden ist. Eher wird in Ruby Sparks darauf fokussiert, was Calvin erwarten kann, sobald sie lebendig ist, was bei Ovid noch keine Rolle spielte.

Nach Dörrie drehte sich das ursprüngliche Interesse an Pygmaliongeschichten vor allem um Pygmalion und nicht um die Statue: ¨die Statue, obwohl sie die Individualität eines Menschen annimmt, bleibt außerhalb aller Betrachtung und Wertung.¨44 Ihre eigene Perspektive kommt in Ovids Geschichte fast nicht vor: Nur ein Paar Verse beziehen sich auf sie. Sie fühlt, dass sie geküsst wird, errötet und schaut nach oben, zum Himmel und zu Pygmalion.45 Mehr hat sie in Ovids Geschichte nicht zu tun. Weil sie zugleich den Himmel und ihren geliebter Pygmalion sieht, fallen Liebesbeginn und Lebensbeginn zusammen. Das Schicksal diese Mädchens ist also Pygmalion,46 eine wirkliche Wahl hat sie nicht. Hier

41 Vgl. Stoichita, S. 13-14.

42 Dayton und Faris, TC: 00:15:45-00:15:52. 43 Vgl. Stoichita, S. 16. 44 Dörrie, S. 33. 45 Vgl. Ovid: Pygmalion, S. 275. 46 Vgl. Dörrie, S. 23-24. 13

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zeigt sich auf den ersten Blick ein Unterschied zu Agnes und Ruby, aber bei näherem Betrachten stellt sich heraus, dass die beide Frauen doch nicht so viel freier sind als Pygmalions Statue. Agnes ist schon eine Person und hat einen eigenen Willen. Sie hat im technischen Sinne die Chance, nicht zu machen, was der Erzähler von ihr verlangt. Letztendlich verhält sie sich aber oft so, wie der Erzähler es von ihr erwartet, bis sie letztendlich verschwindet. Vielleicht hat sie dann schon Selbstmord begangen, so wie ihr fiktives Gegenstück.

Ruby hat noch einen eigenen Willen, als Calvin sie gerade erst geschrieben hat und sie lebendig geworden ist. Solange er sie nicht verändert, behält sie diesen eigenen Wille auch. Sobald etwas an ihr Calvin aber nicht gefällt, kann er sie verändern. Einen wirklichen freien Willen, der konfliktär mit seinem Wille sein könnte, hat sie also nur, wenn das von Calvin erlaubt wird.

Zusammenfassend wird Pygmalion in der Antike vor allem als Mann dargestellt, der eines Tages, zu seinem eigenen Erstaunen, eine schöne Frau aus Marmor baut und sich in sie verliebt. Die Statue ist ein Simulacrum einer schönen und guten Frau, und wirkt so als Gegensatz zu den Propoetiden, die von Pygmalion gehasst werden. Dass sie zum Leben erweckt wird, sollte für Hoffnung sorgen. Die Statue ist stark abhängig von Pygmalion: Einen eigenen Wille scheint sie nicht zu haben oder zu brauchen. Verglichen mit Ovids Statue wirkt auch Agnes als Alternative für eine andere Frau. Aus ihrer

Verschriftlichung spricht eher Unfreiheit als Hoffnung. Wie Pygmalion verliebt Calvin Weir-Fields sich in Ruby Sparks, als sie noch nicht lebendig geworden ist. Ruby ist ein Simulacrum einer schönen und guten Frau für Calvin, wie die Statue das für Pygmalion ist. Auch ihre Geschichte sorgt aber nicht direkt für Hoffnung: Calvin hat immer Macht über sie. Obwohl die beiden Frauen aus den

gegenwärtigen Erzählungen im Gegensatz zu der Statue eine eigene Perspektive haben, sind sie oft doch der Meinung ihren jeweiligen Pygmalionfiguren ausgeliefert.

Der Pygmalionstoff im Mittelalter

Im Mittelalter wird Pygmalion auf verschiedene Weisen aufgenommen. Nach Arnulf von Orleans ¨habe Pygmalion die Statue mißbraucht, als wäre sie eine lebende Frau.¨47 Er hat sie in dieser Auslegung also nicht wirklich zum Leben erweckt: das lebendig werden ist nur Bildsprache. John of Garland, der 1195-1272 lebte, verstand die Geschichte wieder anders: eine Frau, die sich im Bett verhielt als sei sie von

47 Dörrie, S. 33.

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Stein, wurde durch Pygmalions Kunst der ehelichen Technik beweglicher.48 Wie bei Philostephanus von Kyrene ist Pygmalion hier eine Art Künstler, wenngleich einer der sich sehr vom üblichen Pygmalion unterscheidet.

Als Geschichte finden wir Pygmalion unter anderem im Rosenroman. Dieser im 13. Jahrhundert geschriebene Versroman beschreibt einen Traum. Der erste Teil des Romans ist geschrieben von Guillaume de Lorris. Im zweiten Teil, zwischen 1275-80 dazu geschrieben von Jean de Meun, ist die Pygmaliongeschichte zurückzufinden. Während Pygmalion bei Ovid noch nicht als Bildhauer

beschrieben wurde, sondern nur als Mann der eine Statue schöpft, ist der Meun'sche Pygmalion ein sehr talentierter Bildhauer. Es wird in 369 Strophen erwähnt, wie er eine Statue schöpft und sich in sie verliebt. Es wird auch beschrieben, wie Pygmalion versucht, seine Statue lebendig zu machen, indem er für sie musiziert.49 Er versucht sie sogar zu heiraten, indem er ihr einen Ehering anlegt: ¨He put gold rings on her fingers and said, like a fine, loyal husband: Fair sweet one, I here take you as a wife, and I become yours and you become mine.¨50 In diesem Sinne unterscheidet sich die Meun'sche Geschichte auch von der des Ovid, wo Pygmalion und die Statue erst heiraten, nachdem die Statue lebendig geworden ist. Das Schenken eines (Ehe)Rings an eine Statue war im Mittelalter aber nicht

ungewöhnlich.51 Die Propoetiden, die bei Ovid schon noch eine Rolle spielten, werden bei Jean de Meun nicht verarbeitet.52 Der Antrieb für Pygmalion, eine perfekte Frau zu kreieren, basiert also bei Meun nicht auf seinem Hass auf die weniger perfekten Propoetiden. Die Statue ist für diesen

Pygmalion deswegen auch kein Ersatz. Eher wird eine Geschichte erzählt von einem Künstler, der sich an etwas bindet, was er selbst geschaffen hat, und dafür bestraft werden sollte. Dass die Statue hier lebendig wird ist also keine Belohnung, sondern eher ein böser Zauber von Venus.53

Vor dem 13. Jahrhundert existierten keine Illustrationen von der Pygmaliongeschichte. Diese Abbildungen wurden erst im Roman de la Rose gemacht.54 Es gibt von der Meun'schen Geschichte dann auch recht viele Illustrationen, nicht zuletzt weil Meuns Pygmalion so fokussiert ist auf Sicht: In diesen Illustrationen, wie im Text, wird vor allem hervorgehoben, wie die Statue aussieht, wenn sie

48 Vgl. Ebd.

49 Vgl. Stoichita, S. 21-24, 49.

50 Jean De Meun: Roman de la Rose. Z. 21016-24, zitiert in Stoichita, S. 44.

51 Vgl. Marian Bleeke: Versions of Pygmalion in the Illuminated Roman de la Rose (Oxford, Bodleian Library, Ms. Douce 195): The Artist and the Work of Art. In: Art History 33 (2010), S. 35-36.

52 Vgl. Stoichita, S. 22. 53 Vgl. Dörrie, S. 35-36. 54 Vgl. Stoichita, S. 21.

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zum Leben erweckt wird. Es wird weniger darauf fokussiert, wie sie sich anfühlt, was bei Ovid eine größere Rolle spielte.55 Bei Ovid wird das Betasten der Statue als wichtig für das lebendig Machen der Statue gesehen: Er fühlt, dass das Fleisch weich wird, sobald er sie betastet, und er fühlt erst, dass sie warm ist, sobald er sie küsst56. Sein Tastsinn hat ihn zuvor aber getäuscht, denn auch bevor die Statue lebendig wurde, schien das Fleisch weich und beweglich. De Meuns Pygmalion fokussiert nur auf Sicht und lässt sich dadurch nicht täuschen, auch wenn er die Statue trotzdem zu heiraten versucht.Dieses Fokussieren auf Sicht ist auch in Agnes zu sehen. Auch in Agnes wird zuerst beschrieben, wie sie aussieht, erst später spricht der Erzähler mit ihr:

Seitdem Agnes sich mir gegenüber gesetzt hatte, konnte ich mich nicht mehr konzentrieren. Ihr Äußeres war nicht auffallend, sie war schlank und nicht sehr groß, ihr braunes Haar war

schulterlang und dicht, ihr Gesicht bleich und ungeschminkt. Nur ihr Blick war

außergewöhnlich, als könne sie mit den Augen Worte übermitteln57.

Der Erzähler kann nicht anders, als zu Agnes hinüber schauen. Er ist nur noch darauf fokussiert, wie sie aussieht, und kann nicht weiter arbeiten, bis er mit ihr gesprochen hat. Nicht nur wird aber erwähnt wie Agnes aussieht, sondern auch ihr eigener Blick ist ein Thema. Agnes scheint in diesem Sinne also aktiver daran beteiligt zu sein, dass der Erzähler von ihr beeindruckt ist. Er sieht sie nicht nur, er wird auch von ihr betrachtet, während die Statue bei de Meun nur von Pygmalion betrachtet wurde.

Calvin Weir-Fields schreibt Ruby Sparks erst nachdem er in einem Traum ein Mädchen in einem Park gesehen hat. Sie ist sozusagen seine Muse. Erst nachdem er sie danach wirklich beschrieben hat, wird sie lebendig. In der Szene wird er morgens wach und wird er sich bewusst dass er verschlafen hat. Er beeilt sich und versucht noch einiges zu tun bevor er weggehen kann, aber dann ist sie plötzlich da. Er hört sie das erste Mal als sie anbietet, mit Calvins Hund Scotty Gassi zu gehen. Danach sieht er sie und denkt, dass er ¨batshit¨ geworden ist. Sie ist aber auch tastbar, denn nachdem er erschrocken auf den Boden sackt, betastet sie ihn um sicherzustellen, dass er in Ordnung ist. Das Betasten sorgt bei Calvin aber nicht für ein euphorisches Gefühl: Die einzige Folgerung die er daraus ziehen kann, ist dass er entweder noch träumt oder dass er den Verstand verliert.58

Für Calvin ist vor allem wichtig, dass er Ruby sehen kann: Nachdem sie ihn einmal berührt hat, schaut

55 Vgl. Reinier Leushuis: Pygmalion´s Folly and the Author´s Craft in Jean de Meun´s Roman de la Rose. In: Neophilologus 90 (2006), S. 524-526.

56 Vgl. Ovid, S. 275.

57 Stamm, S. 13-14, hervorhebung von mir. 58 Vgl. Dayton und Faris, TC: 00:23:55-00:24:38.

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er vor allem nach ihr. ¨Are these by any chance yours?¨59 fragt er sie, über einen BH, den er den Tag zuvor in seinem Haus gefunden hat. ¨Of course they are,¨ erwidert sie, ¨who else would they belong to? Are you seeing someone else?¨60 worauf er erwidert dass sie die einzige sei die er im Moment sieht. Hier wird mit zwei verschiedene Bedeutungen von Sehen im Englischen gespielt: ¨seeing other people¨ und ¨seeing someone/something¨, also mit anderen potentiellen Partnern umgehen, oder

etwas/jemanden sehen. Die Sicht wird auch hier wieder hervorgehoben. Von Calvin wird also, wie bei Jean de Meun, auf das Sehen und nicht auf Tastsinn fokussiert.

Im Rosenroman wird darauf eingegangen, wie die Statue zum Leben erweckt wird. Pygmalion versucht sie mit Musik zu beleben, weil damals gedacht wurde, dass Leib und Seele durch Musik vereint werden können und dass es einen Zusammenhang gibt zwischen Musik und dem Herzschlag. Der Versuch, die Statue durch Musik zum Leben zu erwecken, kommt bei Ovid nicht vor, weil hier der Tastsinn

wichtiger war.61 Sowohl bei Ovid als auch bei Jean de Meun konnte wirkliche Animation aber nicht ohne Götter stattfinden. Auch der Meun'sche Pygmalion kann seine Geliebte Statue deswegen erst lebendig sehen. nachdem er Venus' Tempel besucht hat.62 In Agnes und Ruby Sparks wird auf verschiedene Weisen darauf eingegangen, wie die Fiktion lebendig wird. In Agnes wird die fiktive Agnes ¨lebendig¨, indem die reale Agnes das macht, was der fiktiven Agnes vorgeschrieben wurde. In diesem Sinne wird die reale Agnes fiktiv (indem sie sich mehr und mehr so verhält wie die fiktive Agnes) und die fiktive Agnes wird ¨lebendig¨. Agnes wird selbst nicht animiert, denn sie lebt schon. Sie wird nur mehr und mehr von der Fiktion bestimmt. Die fiktive Agnes wird in weiterem Sinne schon durch Agnes animiert: Agnes muss ihr Leben geben, oder zumindest verschwinden, sodass sie als Fiktion weiterleben kann. Mit Göttern hat das aber nichts zu tun. In Ruby Sparks wird schon eine fiktive Frau lebendig, aber auch hier findet das schon ohne göttliches Eingreifen statt. Wie es genau stattfindet, wird nicht erwähnt. Eines Tages ist sie einfach lebendig, ohne dass Calvin dafür etwas anderes hat machen müssen, als sie zu schreiben. Auch Calvin, der Ruby geschrieben hat, versteht nicht, wie es hat passieren können. ¨She just appeared¨, sagt er zu Harry. ¨I don't know how. It's love, it's magic!¨.63 Obwohl Calvin schon bereit ist zu glauben, dass Ruby durch mehr als logisch

Erklärbares lebendig geworden ist, kommen auch hier die Götter, oder Gott, dabei überhaupt nicht ins Spiel.

59 Ebd., TC: 00:26:24-00:26:27. 60 Ebd., TC: 00:26:29-00:26:39. 61 Vgl. Stoichita, S. 51.

62 Vgl. Ebd., S. 52.

63 Dayton und Faris, TC: 00:38:27-00:38:30.

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Der eigene Wille der Statue ist auch bei Jean de Meun nicht zurückzufinden: Sobald die Statue lebendig wird, kann Pygmalion sie glücklich in seine Arme schließen. Ob die Statue selbst dadurch auch glücklicher wird, wird nicht erwähnt. So schreibt Bleeke:

In both the Metamorphoses and the Roman de la Rose, agency, initiative, and desire clearly belong to Pygmalion. His desire for the sculpture begins as soon as he sees it and

he immediately begins to treat it like a human being, while it remains entirely unresponsive. Its eventual animation rests on his initiative as he prays to Venus. 64 Nach Bleeke liegt die Initiative also völlig bei Pygmalion, und nicht bei der Statue. Es gibt im

Mittelalter aber auch die sogenannten Ringgeschichten. In einer davon, De Gestis Regum Anglorum aus das 12. Jahrhundert, steckt ein junger Mann seinen Ehering an den Finger einer Skulptur, während er mit seinen Freunden Ball spielt. Obwohl er den Ring nur in Verwahrung an ihre Finger gesteckt hat, glaubt die Statue, jetzt mit der Mann verheiratet zu sein, und kommt zu ihm ins Bett. In einer weiteren Geschichte verschenkt ein Mann absichtlich einen Ring an eine Skulptur, vergisst danach aber, dass er das gemacht hat. Die Statuen verfolgen danach die Männer und bestehen darauf, dass die Männer sie geheiratet haben. In diesen Geschichten, sagt Bleeke, haben die Statuen eine aktive Rolle: Initiativ und sogar Verlangen liegen hier bei den Skulpturen.65

Zusammenfassend ist Pygmalion im Mittelalter in verschiedenen Werken, aber vor allem im zweiten Teil des Rosenromans zurückzufinden. Im Rosenroman wird die Geschichte ungefähr so erzählt wie von Ovid, nur liegt der Fokus anders. Der Autor, Jean de Meun, fokussiert mehr auf Sichtbarkeit der Statue und weniger auf Fühlbarkeit. Dies spiegelt sich in den zwei gegenwärtigen Werken Agnes und

Ruby Sparks wider, wo von den Protagonisten auch vor allem auf das Sehen fokussiert wird. Erst später

betasten sie die von ihnen geformte Frauen. Sonst heiratet Pygmalion die Statue schon, bevor sie lebendig wird. Auch wird die Statue als schöne Frau an sich gesehen und nicht unbedingt als

Alternative für andere Frauen. Noch immer wird die Perspektive der Statue kaum erwähnt. In einigen ¨Ringgeschichten¨ bekommen die Statuen aber, statt Pygmalion selbst, eine aktivere Rolle. Im

Folgenden wird die Pygmaliongeschichte im 16. bis 19. Jahrhundert untersucht. In dieser Zeit bekommt die Statue eine noch aktivere Rolle.

64 Bleeke, S. 36. 65 Vgl. Ebd.

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Der Pygmalionstoff vom 16. - 19. Jahrhundert

Während die Statue bei Ovid noch direkt auf Pygmalion blickte sobald sie zum Leben erweckt wurde, ändert sich dies im Laufe der Zeit. Um 1530 malt Jacopo da Pontormo, vielleicht mit Mitarbeit von Angelo Bronzino, das Gemälde Pygmalion. Auf diesem wird eine Szene gezeigt, wo die Statue eher ins Weite guckt. Damit scheint sie selbst wählen zu können, ob sie Pygmalions Frau oder doch eher die des Betrachters sein möchte. Sie gehört also nicht automatisch zu Pygmalion, weil er nun mal ihr Schöpfer ist.66 Sonst wird eine Färse verbrannt, als Opfer an Venus.

Um 1719 entsteht ein Gedicht, das Voltaire zugeschrieben wird. Hiermit versucht er, die Schauspielerin Adrienne Lecouvreur zu gewinnen. Er selbst ist in diesem Gedicht derjenige, der dafür sorgen kann, dass seine Geliebte zum Leben erweckt wird. Dafür wartet er nicht auf die Götter. Voltaire verweist hierbei aber doch wieder auf Ovid, wenn er in seinem Gedicht sagt, dass seine Geliebte zugleich leben und ihn lieben sollte: ¨qui n'aime point, est-il donc anime?¨67 68

Im Laufe des 18. Jahrhunderts werden mehrere Werke veröffentlicht, in denen die Perspektive der Statue, und nicht nur die des Künstlers, eine Rolle spielt. In Boureau-Deslandes' Pigmalion ou la statue

animée (1741) läuft die Statue, nachdem sie lebendig geworden ist, nachts durch Pygmalions Atelier

und nimmt danach ihren Platz auf dem Sockel wieder ein. Erst später bemerkt auch Pygmalion, dass sie lebendig geworden ist.69 In Bodmers Pygmalion und Elise (1747) ist sie ein ¨Naturkind¨70 und trägt sogar einen Name. Bis dann war die Statue oft namenlos. Boureau-Deslandes Statue hat nicht gelernt, sich gegen die freie Liebe zu stellen, während Bohmers Elise keine Verdorbenheiten hat: Sie ist nicht von anderen erzogen, wie Menschen das sind, und hat diese menschliche Verdorbenheiten deswegen auch nicht.71 So entsteht für Pygmalion die Möglichkeit, die schon lebendige Frau weiter zu formen. Auch wird immer weniger auf das Mitwirken von Venus fokussiert: Es ist jetzt die ¨Liebesglut des Pygmalion¨,72 und nicht sie, die die Statue zum Leben erweckt. Auch beim Rousseau'sche Pygmalion (1762/3) ist das der Fall. Dieser Pygmalion braucht die Göttin nicht mehr: Pygmalion besitzt jetzt selbst die Kraft, das Wunder zu vollziehen. ¨Die Inbrunst seiner keuschen Liebe ist so groß, daß sich ihm nicht nur den Stein sich ihm so hingibt, wie das Material dem Künstler, sondern daß er Leben gewinnt. 66 Vgl. Dörrie, S. 40-41.

67 Vgl. Ebd., S. 45.

68 P. Didot und Jules Didot (Hrsg.): Pièces indédites de Voltaire. Paris, 1820, S. 105. 69 Vgl. Stoichita, S. 115. 70 Dörrie, S. 49. 71 Vgl. Ebd. 72 Ebd., S. 52. 19

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Pygmalion erzeugt nicht nur ein schönes Bild, er ruft einen Menschen ins Leben¨73

Der Boureau-Deslandische und der Rousseau'sche Pygmalion rufen schon noch die Götter an. Rousseaus Pygmalion ruft, sobald er fühlt wie seine Galathée lebendig wird: ¨Dieux! je sens la chair palpitante repousser le ciseau!¨74 Er fragt damit aber nicht die Göttern, seiner Galathée das Leben zu geben, denn das hat er schon selbst gemacht. Eher werden die Götter noch aufgerufen, die Artisten zu inspirieren.75 Bei Rousseau bekommt die Statue auch einen Namen, der danach noch oft benutzt wird, um auf Pygmalions Braut zu deuten: Galathée (in späteren Werken oft Galatea). Damit wird sie immer wichtiger neben Pygmalion. Sie ist nicht länger nur seine Braut, ihre Existenz ist selbst schon wichtig. Sie selber versteht auch, dass sie Pygmalion gleich ist. Sobald sie lebendig geworden ist, betastet sie zuerst sich selbst und sagt ¨C´est moi¨.76 Dann betastet sie eine weitere Statue, ¨Ce n´est plus moi¨77 und als letztes betastet sie Pygmalion: ¨encore moi¨.78 Sie versteht, dass sie jetzt eine lebendige Frau ist, ein Mensch, wie Pygmalion, und nicht länger eine Statue.

Indem Galathée Pygmalion als ¨encore moi¨ bezeichnet, zeigt sie auch, sich selbst nicht als etwas anderes zu sehen als Pygmalion: Die beiden sind für sie gleich. Sie sind jetzt beide lebendige

Menschen, während die anderen Statuen noch immer nur Statuen sind. Das Lebendigsein beinhaltet für sie, dass sie Pygmalion gleicht: Er ist nicht Meister über sie. Hiermit wird Galathée aktiver dargestellt als zuvor bei Ovid und Jean de Meun, wo sie überhaupt noch keine Stimme hatte, geschweige denn dass sie damit sagen könnte, dass sie und Pygmalion gleich wären. Hierin gleicht die Statue immer mehr den gegenwärtige Figuren Agnes und Ruby Sparks, die, auch wenn sie sich manchmal von ihren jeweiligen Geliebten bestimmen lassen, eine eigenen Sichtweise haben und diese auch zeigen.

Pygmalions Statue bekommt mehr und mehr eine eigenen Willen. Dies ist auch zu sehen in Lagrenée´s zwei Gemälden La Sculpture: Pygmalion amoureux de sa statue; Venus l´anime (1773) und Pigmalion,

dont Venus anime la Statue (1777). Hier kniet Pygmalion vor seiner lebendigen Statue und schaut ihr

zärtlich in die Augen. Die Statue reagiert auf ihn, guckt liebevoll zurück und bewegt sich in die Richtung von Pygmalion. Nicht nur wird hier gezeigt, wie Pygmalion die Statue liebt, sondern auch, wie sie ihn zurück liebt, indem sie selbst daran beteiligt ist. Vor allem in dem 1777 vollendeten Werk ist zu sehen wie er ihren Herzschlag fühlt. Eine gebrochene Büste liegt im Vordergrund um noch

73 Ebd., S. 56.

74 Jean-Jacques Rousseau: Pygmalion, scene lyrique. In: Collection complète des oeuvres, Genève, 1780-1789, vol. 8. http://www.rousseauonline.ch/pdf/rousseauonline-0056.pdf (15.05.2015). S. 195. 75 Vgl. Stoichita, S. 21. 76 Rousseau, S. 199. 77 Ebd. 78 Ebd., S. 200. 20

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deutlicher zu machen was die lebendig gewordene Statue, jetzt also eine Frau, nicht mehr ist: eine Statue aus Marmor.79

Schon kommt immer mehr Galateas Perspektive in Frage, bis ins späte 19. Jahrhundert wird sie aber nicht sehr ausgeprägt dargestellt. Sie ist wie eine Blume oder ein Kind, unschuldig und rein.80 ¨Part of the infantilization of Galatea is the restriction of her knowledge;¨ so Joshua, ¨her naivety epitomizes the simplicity regarded as appropriate for both classical beauty and for women¨ (…) ¨Galatea´s body and her identity are created to [Pygmalion´s] specifications. The statue is a living doll who embodies the fantasies of the sculptor.¨81 Noch nicht wird also davon ausgegangen, dass Galateas eigene Perspektive abweichen könnte von der des Pygmalion.

Giorgio Vasari schrieb in 1879 wie die Mona Lisa entstanden sein soll. Hier ist eine interessante Version der Pygmaliongeschichte zu erkennen. Francesco del Giacondos Ehefrau, die von da Vinci abgebildet wurde, ist ohne Zweifel sehr schön. Nicht sie, das ¨flesh¨, ist es aber, was Leonardo da Vinci (und Vasari) interessiert hat, so Stoichita, sondern das ¨flesh made painting¨82, also wie der lebendige Frau zu einem nicht lebendigen Gemälde wurde, das durch da Vincis Technik doch fast lebendig aussah, mit leuchtenden Augen und perfekten Nasenlöcher, und ihre Kehle, an der man, wenn man genau hinsieht, einen Herzschlag erkennen konnte.83 In da Vincis ¨flesh made painting¨ wird Agnes gespiegelt: Sie kann gesehen werden als ¨flesh made narrative¨, indem sie von einer realen Frau zu eine künstlichen, fiktiven Frau wird.

Auch Vasaris the Life of Andrea Sansovino enthält eine Parallele zu Agnes: Andreas Schüler Jacopo Sansovino sollte eine Bacchus-Statue machen und hat seinen Assistent, Pippo de Fabbro, Tage lang nackt im Regen als Modell stehen lassen. Danach, so beschreibt Vasari, wurde er wahnsinnig:

And this he showed one day that it was raining in torrents, when, Sansovino calling out ¨Pippo!¨ and he not answering, the master afterwards saw him mounted on the summit of a chimney on the roof, wholly naked and striking the attitude of his Bacchus. (…) Many other amusing follies of that kind poor Pippo played, but above all he was never able to forget the Bacchus that Sansovino had made, save only when he died, a few years afterwards.84

Pippo del Fabbro starb bevor die Statue geformt werden konnte. Die Statue wurde gelobt, zum Großteil

79 Vgl. Stoichita, S. 146. 80 Vgl. Joshua, S. 135. 81 Ebd., S. 136. 82 Stoichita, S. 53. 83 Vgl. Ebd., S. 53. 84 Ebd., S. 59. 21

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weil es so naturgetreu gemacht wurde, dass es aussah, und sich anfühlte wie ein lebendiger Körper. Stoichita: ¨Pippo del Fabbro is, so to speak, destined – one might even be tempted to say predestined – to become Bacchus. And what´s more: the life of Bacchus – the ¨life¨ of a masterpiece – already implies, albeit still implicitly – the death of Pippo, the death of the model.¨85 Man könnte in diesem Sinne behaupten, dass Pippo nicht nur starb bevor, sondern auch damit die Statue geformt werden konnte. Hieran angelehnt muss auch Agnes als Modell für die Geschichte sterben. Sie muss sterben sodass ihre Geschichte sich entfalten kann. So gesehen könnte es sein, dass sie an einer Form von ¨Pippo´s Syndrome¨ gelitten hat, wobei sie, wie Pippo, versuchte, nicht nur die fiktive Agnes nachzuahmen, sondern sie zu werden,und deswegen fühlte, dass auch sie sterben musste.

Vasari schrieb schon: ¨he was never able to forget the Bacchus that Sansovino had made¨, implizierend, dass das wirklich interessante an dieser Geschichte nicht Leben und Tod eines Modells sei, sondern die Geburt und das Leben eines Kunstwerks.86 Auch für Agnes scheint hierauf der Fokus zu liegen: Sie stirbt, um der fiktiven Agnes das Leben zu geben.

Am Ende des 19. Jahrhunderts entstehen mehrere Narrative, in denen Galatea zuerst lebendig wird und dann, oft nachdem sie enttäuscht ist oder jemanden enttäuscht hat, wieder zur Statue wird.

Auch wird sie unabhängiger von Pygmalion und fängt langsam an, sich selbst zu bestimmen. Ihre Perspektive kann jetzt schon von der des Pygmalion abweichen. In Franz von Suppés Operette Die

schöne Galathée (uraufgeführt 1865) verliebt der junge Bildhauer Pygmalion sich in eines seiner

Kunstwerke. Er bittet Venus, sie lebendig zu machen, aber die Statue hat einen eigenen Willen und verliebt sich nicht direkt auch in ihn. Sie verführt Pygmalion, seinen Diener Ganymed und einen Kunstliebhaber, Mydas. Pygmalion gefällt dies aber überhaupt nicht. Er dachte, dass Galathée nur ihn lieben würde. Er fragt Venus, die Metamorphose rückgängig zu machen. Dadurch wird sie wieder zu Marmor.87

In Sir W.S Gilberts Pygmalion and Galathea ist Pygmalion verheiratet, bevor seine Statue lebendig wird. Als Galathea bemerkt, dass sie die Beziehung zwischen Pygmalion und seiner Frau gefährdet, verwandelt sie sich zurück in Marmor.88 In dieser Verarbeitungen des Pygmalionstoffes zeigt sich schon, dass die Statue immer mehr eine eigene Rolle bekommt. Pygmalion ist nicht der einzige, der etwas über sie zu sagen hat, und es wird bei Suppé sogar mit der Idee gespielt, ob die Statue, weil sie 85 Ebd., S. 65.

86 Vgl. Ebd., S. 69.

87 Vgl. Engelbert Hellen: Franz von Suppe (1819-1895): Die schöne Galathée.

http://www.klassika.info/Komponisten/Suppe/Operette/1865_01/index.html (12.04.2015). 88 Vgl. Dörrie, S. 58.

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eben von Pygmalion geschaffen ist, auch sein Besitz ist und ob sie das bleibt. Es ist weniger klar, ob Pygmalion noch etwas über seine Statue zu sagen hat, nachdem sie lebendig geworden ist.89

Zusammenfassend entstehen in dieser Zeit mehr und mehr Geschichten, die Galatea einen eigenen Willen geben und sie nicht nur in Abhängigkeit von Pygmalion vorstellen. Die Statue muss nicht mehr unbedingt Pygmalions Braut sein. Während bei Ovid die Perspektieve von Galatea überhaupt noch nicht zur Rede kam, bekommt sie diese im 18. Jahrhundert und gleicht Pygmalion so mehr. Ihre Meinung und ihre Liebe zu Pygmalion wird wichtiger. Bis in das späte 19. Jahrhundert wird aber nicht davon ausgegangen dass ihre Perspektiven von der des Pygmalion abweichen könnte. Bei Rousseau bekommt die Statue den Namen Galathée, womit sie danach oft angedeutet wird. Pygmalion braucht oft keine Götter mehr um seiner Statue Leben einzuhauchen, sondern macht sie selbst lebendig, indem er sie liebt. Weiterhin entsteht die Möglichkeit, die belebten Statuen weiter zu formen. In Folgenden wird der Pygmalionstoff im 20. und 21. Jahrhundert betrachtet. Hier wird diese Perspektive sich noch weiter ändern.

Der Pygmalionstoff im 20. und 21. Jahrhundert

1911 wird G. B. Shaws Pygmalion veröffentlicht. In diesem Drama versucht der Sprachwissenschaftler Henry Higgins dem ungebildeten Blumenmädchen Eliza Doolittle eine bessere Aussprache des

Englischen beizubringen, sodass sie für eine Herzogin gehalten werden könnte. Eliza wird verglichen mit Pygmalions Statue sehr unterschiedlich dargestellt: Die Statue errötet wenn sie Pygmalion sieht und scheint keine eigene Stimme zu haben, während Eliza Doolittle das sehr wohl hat. In dieser Weise ist sie anders als die ursprüngliche Statue bei Ovid. Professor Higgins unterrichtet sie und ist, wie Pygmalion, von ihr beeindruckt. Er liebt aber nicht sie, wie der Ovidische Pygmalion seine Statue, sondern nur seine eigene Schöpfung: ein Mädchen, das spricht wie von höheren Klassen. Die

Thematisierung passt in die Entwicklung, dass die Pygmalionfigur häufiger als Unterrichter dargestellt wird, von dem die Frauenfigur lernen könnte. Eliza und Higgins zeigen aber, dass dies nicht so einfach ist: Die Pläne von Higgins scheitern letztendlich. Nicht, weil er Eliza nicht gut unterrichtet hat, sondern weil er sie als Besitz sieht anstatt als Person.90

89 Georg Kaiser wird in 1944 auch eine Geschichte schreiben, wo die Statue, Chaire genannt, wieder zu Marmor wird. Chaire macht das aber nicht selbst, sondern wird von Athena zurück verwandelt. Vgl. Dinter, S. 147.

90 Vgl. George Bernard Shaw: Pygmalion. Minneapolis: Filiquarian Publishing LLC 2007.

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Hier wird eine Frau nicht aus Stein gehauen, aber schon von einem Mann kreiert oder geformt. Seine Anstrengung, sie zu bilden, wird thematisiert. Anstatt des buchstäblichen formens verlegt ¨Bildung¨ sich jetzt also nach Unterricht. Wie der originale Pygmalion ist Higgins ein Mann, der Macht über diese Frau hat und sich nicht fragt ob dies gerechtfertigt ist. Dies wird beispielsweise im zweiten Akt gezeigt, als Eliza zu Higgins kommt um sie zu unterrichten:

PICKERING [in good-humored remonstrance] Does it occur to you, Higgins, that the girl has some feelings?

HIGGINS [looking critically at her] Oh no, I don't think so. Not any feelings that we need bother about. [Cheerily] Have you, Eliza?91

Interessanterweise betrachtet Higgins Eliza, bevor er sie unterrichtet hat, ungefähr wie man

normalerweise eine Statue betrachten würde: als etwas ohne Gefühle. Darüber hinaus behandelt er sie, wie Eliza es selbst ausdruckt, als Dreck. ¨Be off with you; I don´t want you¨92 sagt er, wenn sie zu ihm kommt, und fragt seinen Freund Pickering ¨shall we ask this baggage to sit down or shall we throw her out of the window?¨93 Dies steht in starkem Kontrast dazu, wie die Pygmalionfigur sich bis dahin oft gegenüber der Statue verhielt: liebevoll und beeindruckt von ihr. Higgins sieht in ihr aber nur eine Chance, zu zeigen, wie gut er unterrichten kann. Er hat kein Interesse an ihr, nur an dem Experiment, ob er ihr beibringen kann, wie eine Herzogin zu sprechen, und dadurch seine Wette mit Kolonel Pickering gewinnen. In diesem Sinne weicht er stark ab von dem früheren Pygmalion, der zwar nicht mit der Möglichkeit rechnete, dass die Statue ihn nicht zurück liebte, aber zumindest Gefühle für die Statue hatte bevor und nachdem sie lebendig wurde. Auch Eliza steht aber im Kontrast mit der üblichen Frauenfigur bei Pygmalion: sie hat eine eigene Stimme und benutzt diese auch, oft um zu zeigen dass sie mit Higgins nicht einverstanden ist. Auch ist sie aktiver an ihrem Los beteiligt: Sie selbst kommt zu Higgins, um sich unterrichten zu lassen. Dies ist eine wichtige Entwicklung für die Frauenfigur in diesem Kontext: Eliza zeigt mehr Möglichkeit zu Selbstbestimmung als die Frauenfigur das bis dann getan hat.

Am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts wird Galatea öfter als Protagonistin dargestellt. In mehrere Verarbeitungen wird ihr, oft von weibliche Autoren, noch eine extra Dimension gegeben: Sie ist sich nicht nur ihrer Lage bewusst, sie wünscht sogar eine Statue geblieben zu sein oder wieder eine Statue zu werden.94 Dies sollte dafür sorgen, dass sie wieder unsterblich wird, denn als lebendige Frau 91 Ebd., S. 43. 92 Ebd., S. 33. 93 Ebd. 94 Vgl. Joshua, S. 143. 24

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ist sie das nicht. Sie denkt aber auch, dass sie als Statue freier sein könnte als sie das nun ist. Galatea erfährt hier also ein Gefühl der Unfreiheit, weil sie sich noch immer dem Willen von Pygmalion zu fügen hat. Dies zeigt unter anderem Emily Hickey in ihrem Galatea-Sonnet:

He saw, and gaz´d, and lov´d exceedingly, Yea, lov´d me into life. He little knew I, who was his and he and myself too, Had other life in store for him and me, Art´s life of splendid immortality (…) Why did he win for me this mortal breath95

Hickeys Galatea zeigt, dass ihre Pläne von denen des Pygmalions abweichen. Obwohl sie akzeptiert, dass Pygmalion sie liebt, will sie nicht nur das Objekt von Pygmalions Liebe sein. Sie lamentiert, dass er sie ¨zum Leben geliebt hat¨. Genevieve Taggard lässt Galatea in Galatea again sogar fragen die Metamorphose rückgängig zu machen: ¨Let me be marble, marble once again¨96 und nennt ihr neue Lebendigkeit eine ¨große sterbliche Fehde¨. Sie spricht davon ihren Schöpfer zu versteinern, wenn er sie bei ihm behalten will:

(…) I will not care,

But only turn on you a marble stare

And stun you with the quiet gaze of stone.97

Damit versucht sie, selbst über ihr Leben zu bestimmen. In R. M. Montgomery´s Galatea to Pygmalion wird dieses Sentiment weiter thematisiert:

It was a male intrusion to evoke

Me from the marble with a chisel stroke. Alone there in my virgin tenement I was serene, untroubled, quite content - With no possessive one to say, ´Do this!´,

´Stay here!´, ´Go there!´, or, ´Come, my love, a kiss!´98

Obwohl Galatea lebendig geworden ist, von ihrem Sockel kommen und selbst nachdenken kann, erfährt Galatea bei Montgomery weniger Freiheit als lebendige Frau, als sie als Statue erfuhr. Lieber

95 Emily H. Hickey: A Sculptor and Other Poems, zitiert in Joshua, S. 140. 96 Genevieve Taggard: Words for the Chisel, zitiert in Joshua, S. 142. 97 Ebd.

98 Roselle Mercier Montgomery: Many devices. Zitiert in Joshua, S. 143.

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würde sie, gleich wie die oben genannten Statuen, wieder zu Marmor, zu der Statue, die Pygmalion ursprünglich geschöpft hat, werden. Dies spiegelt sich in Agnes wider, die sich teils von dem Erzähler bestimmen lässt. Nicht will sie das aber, damit sie damit freier würde, sondern vor allem, weil sie wissen will, was er von ihr und von der Beziehung hält.

Die oben behandelte Statuen bedauern nicht nur ihren Verlust an Freiheit, sondern beklagen auch, dass sie als lebendige Frauen nicht länger unsterblich sind. Das Verlieren der Unsterblichkeit ist bei Agnes auch ein Thema. Sie möchte in einem Porträt beschrieben werden, damit sie nicht vergessen wird. Sie will selbst auch gelesen werden: Als Physikerin möchtet sie, dass alle, die nach Kristallen suchen, ihren Namen finden. Auch interessiert sie sich für Stonehenge, weil es vielleicht gebaut wurde um eine Spur zu hinterlassen, was Agnes auch machen möchte.

Zusammenfassend könnte gesagt werden, dass die Statue oder anderswie geformte Frau im 20. Jahrhundert eine aktivere Rolle bekommt als sie zuvor hatte. Galatea, wie sie inzwischen oft genannt wird, hat eine eigene Meinung und ihre Gefühle werden neben denen des Pygmalions weniger

abgewertet. Sie ist nicht automatisch Pygmalions Besitz weil er sie nun mal geschaffen hat, sondern hat selbst auch Autonomie. Sie wird öfter als zuvor als Protagonistin dargestellt. In einigen Gedichte bedauert sie, dass sie lebendig gemacht wurde: Dadurch ist sie weniger frei und verliert ihre Unsterblichkeit.

Der Pygmalionstoff in Agnes

Wie ist die Pygmalion-Thematik in Agnes zurückzufinden? Der Erzähler verfasst ein literarisches Porträt von Agnes, das ihr Leben zusammen mit ihm bestimmt. Er zweifelt aber auch, ob er bestimmte Passagen schreiben sollte, ob Agnes einverstanden wäre. So schreibt er eines Tages, als Agnes in der Bibliothek ist, dass Agnes ihn in der Geschichte heiratet. Er macht das ohne sich zu fragen, was Agnes davon hält, denn er denkt ihre Gefühle schon erraten zu haben.99 Danach streicht er es aber wieder.

Die Pygmalion-Thematik zeigt sich auch in der Kontrolle, die der Erzähler über Agnes haben will. Der Erzähler sagt zu Agnes, er habe nie Geschichten über lebende Personen geschrieben, denn ¨in der Geschichte selbst muss man frei sein.¨100 Als Agnes ihn bittet, eine Geschichte über sie zu schreiben, um zu wissen, was er von ihr hält, möchte er das eigentlich nicht: ¨´Ich weiß nie, was dabei

99 Vgl. Stamm, S. 80-82. 100 Ebd., S. 49.

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herauskommt´, sagte ich, ´Ich habe keine Kontrolle darüber´.¨101 Weil sie also eine lebendige Person ist, traut er sich nicht, über sie zu schreiben und die Kontrolle zu verlieren. Sie hat ihren eigenen Willen und das passt nicht in seine Geschichten. Dies verweist darauf, wie Pygmalion sich gegenüber seiner Statue verhält. Diese Kontrolle scheint vor allem in späteren Erzählungen, wie der von Suppé, ein Thema zu sein: Suppés Pygmalion will die Kontrolle haben und sobald er sie verliert, wünscht er Galatea wieder zu Marmor. Auch der Shaw´sche Higgins kann es jedoch nicht leiden, dass Eliza Doolittle einen eigenen Willen zur Schau stellt. In früheren Verarbeitungen kam die Kontrolle aber überhaupt nicht vor: Pygmalion hatte auch hier Macht über Galatea, sie hatte aber keine Chance dagegen zu protestieren.

All diese erwähnten Pygmalionfiguren haben Macht über ihre jeweiligen Statuenfiguren. So auch

Agnes´ Erzähler. Diese Macht versucht er genau auszuüben nachdem die zwei verabredet haben, dass er

sie schreiben wird: Wenn Agnes ihn bittet, schon mit der Geschichte anzufangen, sagt er, er wolle zuerst zusammen das Feuerwerk anschauen. Sie interessiere sich nicht für Feuerwerk, sagt sie, aber dann nimmt der Erzähler einfach ein Blatt Papier und schreibt: ¨Am Abend des dritten Julis gingen wir

auf die Dachterrasse und schauten uns gemeinsam das Feuerwerk an¨102 Obwohl dies wahrscheinlich harmlos, vielleicht sogar witzig gemeint ist, bekommt er auf diese Weise doch noch das, was er will, auch wenn Agnes damit eigentlich nicht einverstanden war. Agnes verhält sich in dieser Weise wie die Statuen von Ovid und Jean de Meun: Sie fügt sich ihrer Pygmalionfigur und protestiert nicht.

Agnes folgt danach der Geschichte des Erzählers meistens ziemlich direkt. Das macht sie nicht nur, damit die Geschichte stimmt. Schon immer, sagt sie, haben Bücher eine große Macht über sie gehabt. Sie fühlt sich, als ob sie sich selbst in den Büchern wiederfinden kann, und identifiziert sich mit den beschriebenen Personen. Auch hier identifiziert sie sich mit der Person der Agnes, versucht ihrem Muster zu folgen und zu machen, was der Erzähler vorschreibt. Der Erzähler und Agnes möchten beide die Geschichte selbst erleben: "Dann schrieb ich am Computer ein paar Szenen und sagte Agnes, was sie zu tun habe und spielte selbst meine Rolle. Wir trugen dieselben Kleider wie in der Geschichte, machten wie meine Figuren einen Ausflug in den Zoo oder gingen ins Museum."103

Der Erzähler scheint seine Geschichte wichtiger zu finden als seine Geliebte selbst. Dies zeigt sich, als sie sagt, dass sie schwanger ist. Er erwidert, dass Agnes in der Geschichte nicht schwanger wird:

101 Ebd., S. 50. 102 Ebd., S. 51. 103 Ebd., S. 68.

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