Universiteit van Amsterdam
Faculteit der Geesteswetenschappen Master Letterkunde Duits
Begeleitung: Assoc. Prof. Dr. Carla Dauven-‐van Knippenberg Zweitleserin: Assis. Prof. Dr. Elke Huwiler
Abgabetermin: 16. Juni 2014 Prüfungstermin: 23. Juni 2014
Identitätskrisen in der Nachwendezeit
Ein Vergleich der Frauenfiguren in Judith Schalanskys Der Hals der Giraffeund Monika Marons Endmoränen
Bettina Merten Matrikelnummer: 0362530
1 Inhaltsverzeichnis
Einleitung 2
1 Personenkonstellation des Romans Der Hals der Giraffe 7 1.1 Die Protagonistin: Der Darwinismus als Zielstellung 10 1.2 Mutter und Tochter: Die Aufzucht der Jungen 13 1.3 Die Ehe: Eine Zweckgemeinschaft 17 1.4 Die künstlerische Antagonistin: Ein humaner Gegensatz 19 1.5 Liebesbeziehungen: Eine unmögliche Liebe 20
2 Personenkonstellation des Romans Endmoränen 23 2.1 Die Protagonistin: Die ewige Schriftstellerin 25 2.2 Mutter und Tochter: Eine Freundschaft 29 2.3 Die Ehe: Ein langjähriges Projekt 31 2.4 Die künstlerische Antagonistin: Ein labiler Gegensatz 33 2.5 Liebesbeziehungen: Inspirierende Begegnungen 35
3 Die Problematik der beiden Protagonistinnen innerhalb eines Systems 41
3.1 Übereinstimmungen 41
3.1.1 Entwicklungsstagnation 43 3.1.2 Die künstlerischen Antagonistinnen 45
3.1.3 Mutter-‐Tochter-‐Problematik 48
3.2 Unterschiede 49
3.2.1 Das Ich im System 52 3.2.2 Die Funktion der Natur für das Ich 53 3.2.3 Die Beispielhaftigkeit der Frauenfiguren in Endmoränen 55
4 Identitätskrise durch das System 57 4.1 Inge Lohmark: Ein Untergang 57 4.2 Johanna: Eine Selbstfindung 58
Schlussfolgerung 60
Bibliographie 62
Danksagung 65
2
Einleitung
Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist der Vergleich von zwei Romanen, Der Hals der Giraffe (2011)1 von Judith Schalansky und Endmoränen (2002)2 von Monika Maron, in
Bezug auf die Entwicklung der beiden Protagonistinnen in der Nachwendezeit. Diese beiden Romane haben autobiografische Züge, daher ist der unterschiedliche
biografische Hintergrund beider Autorinnen in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) und der Nachwendezeit interessant und spielt eine wichtige Rolle bei dem
Vergleich beider Romane. Beide Autorinnen sind in der DDR geboren und aufgewachsen und setzen sich in ihren Romanen mit Fragen von Identitätsfindung und –bildung
auseinander. In dem Roman Der Hals der Giraffe spielt außerdem das ostdeutsche Bildungssystem eine entscheidende Rolle, daher wird kurz darauf eingegangen. Judith Schalansky wurde 1980 in der DDR geboren. Ihre Eltern arbeiteten beide als Lehrer in der DDR, daher ist sie mehr oder weniger mit dem sozialistischen
Bildungssystem verbunden. Außerdem hat sie einen Teil ihrer Kindheit in der DDR erlebt. In ihrem Roman Der Hals der Giraffe ist die Protagonistin ebenfalls eine Lehrerin. Inge Lohmark, so der Name der Protagonistin, unterrichtete bereits in der DDR die Fächer Biologie und Sport. Die Vermittlung der reinen Biologie, des Darwinismus, stand für die Lehrerin immer schon an erster Stelle. Um nicht zu sagen, der Darwinismus wurde ihre Religion. Während der sozialistischen Diktatur hat sie ihre Identität in der totalen Hingabe an den Darwinismus gefunden. Seit 1990 hat sie Schwierigkeiten, sich der liberalen Gesellschaft und den humaneren Unterrichtsmethoden anzupassen. Das deutsche Bildungssystem musste nach dem Ende des zweiten Weltkrieges neu gestaltet werden. In den Nachkriegsjahren fand in ganz Deutschland eine
Entnazifizierung statt, die das nationalsozialistische Gedankengut aus der deutschen Gesellschaft verbannen sollte. Ab 1949, dem Gründungsjahr der DDR, kümmerte sich die Sowjetunion um das Bildungswesen des ostdeutschen Satellitenstaates und so nahm der Einfluss der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) auf das allgemeine
1 Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe. Bildungsroman. Berlin: Suhrkamp Verlag, 2011. (Im folgenden zitiert
mit Endmoränen und Seitenzahl)
2 Monika Maron: Endmoränen. Roman. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2002. (Im folgenden zitiert mit
3 Leben in dem neugegründeten Staat zu. Das Ziel der KPdSU für die Schüler der DDR wurde „’den Schülern ein festes Verhältnis zum sozialistischen Staat zu vermitteln’.“3 Es
wurden sowjetische Pädagogikbücher aus dem Russischen ins Deutsche übersetzt, in denen unter anderem der richtige Umgang mit Kindern, die Beziehung des Lehrers zu seinen Schülern oder die wahre Autorität des Lehrers beschrieben wurden.
Die Autorität des sowjetischen Lehrers in der Schule ist eine bewusste Anerkennung der führenden Rolle des Pädagogen in Unterricht, Bildung und Erziehung durch die Schulkinder. Die Autorität des sowjetischen Lehrers, der die
heranwachsende Generation im kommunistischen Geiste erzieht, beruht nicht auf der körperlichen oder
wirtschaftlichen Überlegenheit des Lehrers. [...] Die
Autorität des sowjetischen Lehrers beruht einzig und allein auf dem gründlichen und vielseitigen Wissen […] des Lehrers[.]4
Von nun an sollten alle Bürger der DDR von Staat und Schule zu sozialistischen Persönlichkeiten erzogen werden, ganz im Sinne von Marx, Engels und Lenin. Die Sowjetunion diente als großes pädagogisches Vorbild. Die Sozialistische Einheitspartei Deutschland (SED)5 erstellte einen zentralen Lehrplan, an den sich alle Schulen zu
halten hatten, und alle Lehrer sollten dieselben Inhalte ihres Fachs vermitteln. So
entstand ein strenges, homogenes Bildungssystem, ganz den Lehren des Marxismus und Leninismus entsprechend.6 Für eine individuelle Entwicklung der Schüler war kein
Platz.
3 Florian Bunke: „Wir lernen und lehren im Geiste Lenins...“. Ziele, Methoden und Wirksamkeit der politisch-‐
ideologischen Erziehung in den Schulen der DDR. Oldenburg: BIS, 2005. S. 16.
4 Nikolaj. A. Petrow: Autorität und persönliches Vorbild des Lehrers. In ihrer Bedeutung für die kommunistische
Erziehung. Übers. nach der 2. verbesserten und ergänzten Auflage. Berlin: Volk und Wissen Volkseigener Verlag, 1954 S. 92.
5 Die SED ist 1946 durch eine Zwangsverbindung von der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und der
Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) gegründet worden und stand immer sehr eng in Verbindung mit der Sowjetunion.
6 Florian Bunke: „Wir lernen und lehren im Geiste Lenins...“. Ziele, Methoden und Wirksamkeit der politisch-‐
4 Nach dem Fall der Mauer mussten einige Schulfächer in den neuen Bundesländern komplett umgestaltet oder abgeschafft werden und es kamen neue dazu. Dieses Mal, um das sozialistisch-‐kommunistische Gedankengut loszuwerden.
Die naturwissenschaftlichen Fächer, wie z. B. das Fach Biologie, sind jedoch geblieben wie sie waren. Die Inhalte waren vor der Wende dieselben wie nach der Wende, denn die Naturwissenschaften waren keiner Ideologie zuzuordnen. Schalanskys Protagonistin musste die Inhalte ihres Fachs also nicht ändern. Der Darwinismus blieb weiterhin ihre Religion und Darwin ihr „Diktator“. Sie konnte sich nach dem politischen Wandel nicht von ihren festen, autoritären Unterrichtsmethoden befreien und blieb diesen für den Rest ihres beruflichen Lebens treu.
Die Autorin des zweiten Romans ist Monika Maron. Sie wurde 1941 in Berlin geboren. Im Jahre 1951 zieht sie mit ihrer Familie von West-‐Berlin nach Ost-‐Berlin. Als Schülerin engagierte sie sich in den ersten Jahren der Diktatur aktiv bei der Freien Deutschen Jugend (FDJ) und später in der Partei, der SED. Sie war nicht nur von sich aus für einige Jahre eng mit dem Machtsystem der DDR verbunden, sondern auch wegen ihres
Stiefvaters. Karl Maron war nämlich von 1955 bis 1963 Innenminister der DDR. In den Jahren danach wurde Monika Maron freie Schriftstellerin. Im Jahr 1990 veröffentlichte sie ihren Roman Stille Zeile sechs, in dem sie mit dem politischen Machtsystem der DDR abrechnet. Sie setzt sich mit ihrer Vergangenheit und der ihres Stiefvaters auseinander und offenbar hat sie mit diesem Roman den Weg freigemacht für die Suche nach ihrer neuen Identität als Schriftstellerin.7
Die Protagonistin in Stille Zeile sechs heißt Rosalind und ist nicht von ungefähr eine Schriftstellerin, die die Memoiren eines in der DDR wichtigen Funktionärs, Herbert Beerenbaum, schreiben soll. Im Laufe des Romans kommt es zu einer Konfrontation zwischen den Beiden, die für ihn letztendlich in den Tod führt. Zugleich ist diese
Konfrontation für die Schriftstellerin Monika Maron eine Befreiung aus ihrer Schuld und ihrer persönlichen Verstrickung und die ihrer Eltern in das realsozialistische System.
7 Siehe: Chronologische Übersicht über Leben und Werk. In: Monika Maron. Wie ich ein Buch nicht schreiben
kann und es trotzdem versuche. Hrsg. Von Winfried Giesen. Frankfurt am Main: Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Januar 2005. S. 6f.
5 Beerenbaums Tod ist sozusagen das Ende der DDR und die Befreiung aus dem System. Der Tod wirkt hier wie eine Katharsis für Rosalind und Monika Maron. Dabei gilt zu beachten, dass der Roman 1990 publiziert wurde.
In Marons Endmoränen geht es nicht mehr um eine Abrechnung mit dem System, sondern vielmehr um das Leben nach der Wende und die erneute Selbstfindung der Protagonistin Johanna. In beiden Romanen spielt die DDR noch eine wichtige Rolle, denn beide Protagonistinnen Inge Lohmark und Johanna sind in diesem Land geboren,
aufgewachsen und haben in der Diktatur gelebt und gearbeitet. Viel wichtiger in beiden Romanen ist jedoch, was das sozialistische System mit seinen normalen Bürgern, den Schriftstellern oder den Lehrern gemacht hat. Und was aus diesen Menschen, also den Protagonistinnen beider Romane, nach der Wende geworden ist.
Das wirft folgende Untersuchungsfrage auf: Inwiefern bietet die ostdeutsche Literatur nach der Wende unterschiedliche Lösungen zur weiblichen Identitätsfrage? Zwei weit auseinander liegende Positionen rücken dabei ins Blickfeld. Zum einen die Position von Inge Lohmark und Johanna, Vertreter der älteren Generation, die den Großteil ihres Lebens in der DDR verbracht haben. Zum anderen die Position ihrer Kinder, die nur einen kleinen Teil ihres Lebens in der DDR gelebt haben. Die
Tochtergeneration beider Frauen lebt länger in der neuen globalisierten Welt, als dass sie in der sozialistischen Diktatur gelebt hat. Daher folgt vor allem eine Analyse der beiden Protagonistinnen der vorliegenden Romane.
In den ersten beiden Kapiteln werden die beiden Romane anhand von
Personenanalysen vorgestellt. Wobei als erstes auf die jeweilige Protagonistin eingegangen wird. In drei weiteren Abschnitten werden die Beziehungen zu den Töchtern, Ehemännern und den beiden Antagonistinnen geschildert. Darüber hinaus werden die Liebesbeziehungen der Protagonistinnen beschrieben.
Im dritten Kapitel folgt eine genaue Gegenüberstellung der beiden Romane. Wobei sowohl auf die Gemeinsamkeiten, als auch auf die Unterschiede detailliert eingegangen wird. Die Gemeinsamkeiten werden in drei Abschnitte unterteilt und beinhalten jeweils die Entwicklungsstagnation beider Protagonistinnen, die kreativen Antagonistinnen und die Mutter-‐Tochter-‐Problematik. Die Unterschiede beider Romane
6 werden ebenfalls in drei Teilbereiche gegliedert und behandeln das Ich im System, die Funktion der Natur für das Ich und die Beispielhaftigkeit der Frauenfiguren in
Endmoränen.
Im abschließenden Kapitel beziehe ich mich auf die unterschiedliche
Identitätskrise beider Protagonistinnen und im Schlussteil wird versucht ,eine Antwort auf die Untersuchungsfrage genauer zu formulieren.
7
1 Personenkonstellation des Romans Der Hals der Giraffe
Die in Greifswald geborene Autorin hat sich große Mühe gegeben, ihren vierten Roman wie eine alte DDR-‐Ausgabe aussehen zu lassen. Das Buch ist in graue Leinen gebunden und das Skelett einer Giraffe fällt direkt auf. Außerdem hat sie für diesen Roman viele DDR-‐Biologiebücher gelesen.8
Dass die Autorin eine Vorliebe für die Biologie hat, lässt sich nicht nur aus den anschaulichen Bildern und Zeichnungen verschiedener Quallen, Tierembryos oder Rindergenerationen schließen, sondern auch aus den Biologiebegriffen die jeweils oben rechts auf jeder rechten Seite stehen und eine Art Überschrift formen. Ebenso der Nachname ihrer Hauptfigur, Lohmark, ist eine Anspielung auf einen großen Mitbegründer der modernen Biologie.9 Jean-‐Baptiste-‐Pierre-‐Antoine de Monet,
Chavelier de Lamarck war ein französischer Biologe und Botaniker und veröffentlichte zu Beginn des 19. Jahrhunderts sein Werk Philosophie zoologique, das „die erste
ausformulierte Evolutionstheorie [ist], [...] noch lange vor Charles Darwin[.]“10
Der Roman ist in drei Teile gegliedert. Naturhaushalte, Vererbungsvorgänge und Entwicklungslehre heißen die kapitelartigen Abschnitte, die gleich die Assoziation mit Charles Darwin hervorrufen, einem der Begründer unserer heutigen Biologie. Es sind ebenfalls die Themenbereiche der Biologie, die Inge Lohmark, die Protagonistin des Romans, in ihrer neunten Klasse behandelt. Inge Lohmark ist Biologie-‐ und
Sportlehrerin am Charles-‐Darwin-‐Gymnasium in einer Kleinstadt im vorpommerschen Hinterland. Sie hat die letzte neunte Klasse an diesem Gymnasium. Es gibt in der Stadt keinen Nachwuchs mehr, da viele junge Menschen nach dem Fall der Mauer 1989 weggezogen sind. Dadurch wird die Kleinstadt zunehmend zu einer Geisterstadt, in der die Natur immer weiter vorrückt. Genau wie einst die DDR, zerfällt jetzt auch langsam die Kleinstadt in der Inge Lohmark lebt, die Schule an der sie arbeitet und ihr Leben.
8 Maike Albath: Biologie zwischen zwei Buchdeckeln. In: Cicero (13.9. 2011)URL:
http://www.cicero.de/salon/biologie-‐zwischen-‐zwei-‐buchdeckeln/42980 (zuletzt eingesehen am 14.6.2014).
9 Ulrich Rüdehauer: Verloren in der Bildungssteppe. In: taz.de (19.9.2011) URL: http://www.taz.de/Judith-‐
Schalanskys-‐Hals-‐der-‐Giraffe/!78373/ (zuletzt eingesehen am 14.6.2014).
10 Susanne Spengler: Die drei Rollen der Inge Lohmark aus ‘Der Hals der Giraffe’ von Judith Schalansky.
8 Inge Lohmark ist eine große Vertreterin des Darwinismus11. Ihren Unterricht und ihr
Leben probiert sie nach den Darwinschen Theorien und Naturgesetzen einzuteilen und nachzuleben. Sie vergleicht ihre Schüler mit Tieren, die dominiert werden wollen. Außerdem lag „[d]er Leistungswille [...] nun mal in der Natur des Menschen. Und den Naturgesetzen war nicht zu entkommen.“12 Sie und ihr Mann, haben sich gemäß des
Naturgesetzes der Anpassung, zu Zeiten der DDR und nach der Wende angepasst. Er war vor der Wende Besamungstechniker in einer LPG13 und nach der Wende hat er eine
Straußenzucht angefangen. Die australischen Laufvögel passen sich ebenso gut an die kahle, vorpommersche Landschaft an, wie Inge Lohmark und ihr Mann es tun. Die Umgebung Inge Lohmarks jedoch, ob es die verfallene Kleinstadt oder ihre eigene Tochter ist, hält sich nicht an das Naturgesetz der Fortpflanzung.
Der Leser erlebt das Schuljahr durch die Augen der Lehrerin. Der Roman ist zwar nicht in der Ich-‐Form geschrieben, aber durch innere Monologe und Kommentierungen der Protagonistin nimmt man als Leser teil an ihrem Leben und bekommt so einen Einblick in ihre Denkwelt. Dem Leser wird in drei Epochen der Schulalltag Inge
Lohmarks geschildert. Diese Epochen sind jeweils ein Schultag. Der erste Tag im Roman ist direkt nach den Sommerferien, der zweite Schultag ist irgendwann im Herbst und der dritte ist ein Frühlingstag.
„Bildungsroman“ lautet der Untertitel des Romans. Das ist ziemlich ironisch, denn in einem Bildungsroman macht die Hauptfigur eine Entwicklung durch. Hinzu kommt, dass die Hauptfigur oft noch jung ist. Schalanskys Protagonistin ist um die fünfzig Jahre alt und ist eher am Ende ihrer persönlichen Entwickelung. Ihre Schule muss in vier Jahren schließen, weil es keinen Nachwuchs mehr gibt, aber die Lehrerin weigert sich über eine Alternative nachzudenken. Etwas anderes als ein Gymnasium kommt für Inge
11 Das ist die Theorie, die nach dem britischen Naturforscher Charles Darwin genannt wurde, wobei Begriffe
wie Evolution durch natürliche Auslese und Survival of the Fittest (dt.: Überleben des am besten Angepassten) eine bedeutende Rolle spielen. Diese Begriffe sind ebenso ein Leitmotiv in Schalanskys Roman und werden auch in der vorliegenden Arbeit vielfältig im Zusammenhang mit der Protagonistin besprochen.
12 Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe. Bildungsroman. Berlin: Suhrkamp Verlag, 2011 (Im folgenden zitiert
als Der Hals der Giraffe mit Seitenzahl), S. 105.
13 Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft, das war ein Zusammenschluss von Bauern und anderen
Beschäftigten zur gemeinsamen landwirtschaftlichen Produktion. Solche Produktionsgenossenschaften waren in der DDR und in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts auch in den anderen sozialistischen Staaten sehr
verbreitet. Vgl. Die DDR – eine deutsche Geschichte. Wirkung und Wahrnehmung. Hrsg. Detlev, Brunner. Mario, Niemann. Paderborn, 2011.
9 Lohmark nämlich keinesfalls in Frage. Sie ist hier am Ende ihrer Schulkarriere
angelangt. Ihren Schülern gewährt sie auch keinen Raum für eine eventuelle Entwicklung. So finden nie Diskussionen oder Debatten in ihrem Unterricht statt. Hierdurch wird den Schülern jede Art einer persönlichen Entwicklung und Entfaltung genommen. Ihren Unterricht gestaltet sie daher eher theoretisch als praktisch und es herrscht absolute Disziplin. Sie ist keineswegs selbstkritisch, denn nach dreißig Jahren Erfahrung als Lehrerin ist der Unterricht gut -‐ so wie er ist. Von Kritiken an der Art und Weise wie sie unterrichtet hält sie daher gar nichts, denn „[i]hr Unterricht war gut. Ihre Schüler waren gut. [...] Was zählte, war das Ergebnis. Und ihre Ergebnisse waren gut. Der Zensurenspiegel lag über dem Landesdurchschnitt.“14 Das Einzige, was für Inge
Lohmark zählt, sind die Ergebnisse und was sie ihren Schülern beibringt.
Sie ist zwar Klassenlehrerin, hält aber nichts von Gefühlen und hat darum auch keinen Kontakt zu ihren Schülern außerhalb des Unterrichts. Also kommen ihre Schüler auch nicht auf sie zu oder nehmen sie ins Vertrauen, wenn es Probleme in der Klasse gibt. Nur für Erika macht sie eine Ausnahme. Diese Schülerin nimmt sie einmal in ihrem Auto mit in die Schule. Sie entwickelt besondere Gefühle für dieses Mädchen. Gefühle, die weiterführen als eine Lehrer-‐Schüler-‐Beziehung.
Inge Lohmark ist eine sarkastische, distanzierte Frau, die ebenso wenig Bezug zu ihren Kollegen hat, wie zu ihren Schülern. Ab und an wird sie im Lehrerzimmer in ein
Gespräch mit ihren Kollegen Kattner, Thiele oder der Schwanneke verwickelt, am liebsten aber würde sie diesen Gesprächen aus dem Weg gehen.
Judith Schalansky lässt ihre Protagonistin im Schulalltag auch über Wolfgang, ihren Mann und Claudia, ihre Tochter sprechen. Die Ehe mit Wolfgang ist gescheitert. Der frühere Besamungstechniker und sie haben sich nicht mehr viel zu sagen und gehen sich eher aus dem Weg. Die neue Leidenschaft in seinem Leben ist seine Straußenzucht. Für Inge Lohmark ist die Ehe mit Wolfgang nur noch eine Art Zweckgemeinschaft. Claudia sieht sie sehr selten, denn sie wohnt bereits länger als ein Jahrzehnt in Amerika und hat den Kontakt zur Mutter mehr oder weniger abgebrochen. Wichtige
Geschehnisse, die im Leben ihrer Tochter stattfinden, erfährt Inge Lohmark per Email.
10 Der Roman endet mit dem Aufruf des Schuldirektors Kattner. Er bittet die Protagonistin während ihrer Unterrichtsstunde in sein Zimmer und teilt ihr mit, dass sie als
Klassenlehrerin versagt hat. In ihrer Klasse wurde ein Mädchen von ihren
Klassenkammeraden sehr schikaniert. Inge Lohmark ist weder eingeschritten, noch hat sie etwas dagegen unternommen. Daraufhin fährt sie zu Wolfgang und seinen Straußen. Es kommt aber nicht zu einer Begegnung der beiden Ehepartner.
1.1 Die Protagonistin : Der Darwinismus als Zielstellung
Die Hauptperson die Judith Schalansky in ihrem Roman erschaffen hat, ist eine sehr komplexe, ambivalente Person. Schon in der ersten Unterrichtsstunde nach den
Sommerferien erfährt der Leser, was die Protagonistin Inge Lohmark von ihren Schülern hält. „Die Kollegen kapierten einfach nicht, dass sie nur ihrer eigenen Gesundheit
schadeten, wenn sie auf die Schüler eingingen.“15 Sie stuft ihre Schüler gleich als
gesundheitsschädlich ein. Außerdem findet sie, dass es „[...] nichts als Blutsauger [sind], die einem jede Lebensenergie raubten.“16
Jedoch weckt die Lehrerin in manchen Situationen doch ein wenig Sympathie beim Leser. Vor allem wenn sie den ganz normalen Schulalltag mit Fachbegriffen der Biologie sarkastisch und witzig veranschaulicht.
Man musste höllisch aufpassen. Ehe man sich versah, diskutierte man im Unterricht allerlei Blödsinn. Frühstücksvorlieben. Ursachen der Arbeitslosigkeit. Haustierbeerdigungen. Plötzlich wurden alle putzmunter, und die Stunde war gelaufen. Man musste halsbrecherische Überleitungen bauen, sich zurück zu den Ökosystemen hangeln, wo gerade aufgekratzte Kinder sofort wieder leere Gesichter bekamen.17
15 Der Hals der Giraffe, S. 9. 16 Ebd. S. 9.
11 Der gewisse scharfsinnige Humor, den Schalansky ihrer Protagonistin gegeben hat und der in manchen Situationen hervortritt, lässt Inge Lohmark wenigstens ein bisschen menschlich wirken. Manchmal bekommt sie einen Schwächeanfall oder wird sehr müde während ihres Unterrichts, das sind ebenfalls sehr menschliche Eigenschaften.
Hauptsächlich ist jedoch festzustellen, dass Schalanskys Protagonistin eine arrogante und verbitterte Frau ist, die in allen Bereichen ihres Lebens tragisch gescheitert ist. Ob das als Lehrerin, Mutter oder Ehefrau ist. Das liegt wohl vor allem daran, dass sie nicht in der Lage ist, Beziehungen zu führen. Weder zu ihren
Mitmenschen und Schülern, noch zu ihrer Familie. Sie ist immer ein sehr kühler und distanzierter Mensch. Dazu kommt noch ihre biologisch-‐darwinistische
Weltanschauung, der sie in ihrem Unterricht sowie ihrem Privatleben eifrig nachstrebt. Eigentlich ist sie „[e]ine Darwinistin, die vom Aussterben bedroht ist [.]“18
Am Anfang des Schuljahres teilt Inge Lohmark jeden ihrer Schüler in eine Art Biologietabelle nach Art, Gattung und Ordnung ein. Sie merkt sich die physischen Merkmale der Schüler oder vergleicht sie mit Pflanzen, nur so kann sie sich ihre Namen einprägen. „ Saskia [...] Zwanghafte Fellpflege. Ellen Dumpfes Duldungstier. Gewölbte Stirn und Kaninchenblick. [...] Erika Das Heidekraut. [...]“19 Ebenfalls ist sie der Meinung,
dass ihre Schüler natürliche Feinde20 sind und in der Klasse herrscht das Survival of the
Fittest-‐Gesetz.21 Es überleben nur diejenigen, die sich am Besten anpassen. Sie bleibt
ihren Kindern gegenüber immer auf einer gewissen Distanz und sie geht nie auf private Dinge ein. Sowohl während des Unterrichts als auch außerhalb des Unterrichts hält sie diesen Abstand. Wenn ein Schüler oder eine Schülerin eine unpassende Antwort gibt, macht sie denjenigen oder diejenige sofort mundtot.22
Diese von ihr bevorzugte Distanz zu ihren Schülern tritt besonders in den Vordergrund, wenn sie gezwungenermaßen mit dem Schulbus mitfährt. Inge Lohmark steht an der Haltestelle förmlich daneben, wenn eine Gruppe von Schülern ihrer Klasse Ellen, das Opfertier, schikaniert. Sie beobachtet die Kinder und sieht genau, was die
18 Volker Hage: Das Unberührbare. In: KulturSpiegel 10 (26.9.2011), URL:
http://www.spiegel.de/spiegel/kulturspiegel/d-‐80607632.html (zuletzt eingesehen am 14.6.2014).
19 Der Hals der Giraffe, S. 20. 20 Ebd. S. 202.
21 Ein 1864 durch Herbert Spencer geprägter Begriff. Charles Darwin hat diesen Begriff für seine
Evolutionstherie gebraucht und er bedeutet das Überleben der bestangepassten Individuen.
12 Gruppe dem Mädchen antut. Anstatt hier einzugreifen und verantwortungsvoll zu
handeln, wendet sie sich ab und steigt in den Bus. Obwohl die Lehrerin des Öfteren gesehen hat, dass Ellen geärgert und schikaniert wurde von ihren Klassenkameraden, hat sie nichts dagegen unternommen, oder ist gar eingeschritten. Sie ist der Meinung, Ellen sei selbst Schuld daran, dass sie schikaniert werde. „Wenn sie so mutlos schaute, brauchte sie sich nicht zu wundern.“ Obendrein „machte man sich immer nur selbst [zum Opfer].“23 Es ist bereits das zweite Mal, dass Inge Lohmark nichts gegen
Schikanierungen in ihrer Klasse unternimmt und es damit für sie persönliche Folgen hat. Weitere natürliche, persönliche Vorgänge wie z. B. den intimen Geschlechtsakt oder die Geburt eines Kindes sieht Inge Lohmark eben als plastische, wissenschaftliche Bereiche der Biologie. Nicht etwa als etwas Liebevolles oder Wundervolles. Die sexuelle
Aufklärung bringt sie ihren Schülern als „Schmusen, steifes Glied, Samenerguss. [...] Hygiene, Erkrankung, Verhütung“24 nahe. Die Geburt ist ihr zufolge, „nichts als die
hormongesteuerte Trennung von Mutter und Kind.“25
In den Unterrichtsstunden der Lohmark steht sie selbst an höchster Stelle und die Schüler weit unter ihr. Es herrscht immer Disziplin, Ruhe und Ordnung und sie behält die absolute Kontrolle über ihre Schüler. Leistung ist das, was zählt. An manchen Stellen tritt vielleicht sogar subtil eine gewisse Sehnsucht nach der DDR bei ihr hervor. So hat sie die Gewohnheiten, die ihr noch aus der sozialistischen Erziehung und Schulbildung vertraut sind, übernommen „Inge Lohmark siezte ihre Schüler ab der neunten Klasse.“ 26
Denn in diesem Alter hätten sie ihre Jugendweihe, eine für die DDR typische Tradition oder Feier, bei der Jugendliche symbolisch ins Erwachsenenalter aufgenommen werden. Während ihres Biologieunterrichtes benutzt sie gerne Abbildungen aus alten
sozialistischen Biologiebüchern, denn die Biologiebücher heute zeigten nur schön polierte Bilder und keine „Albinos, Haarmenschen, Fellmädchen, Bartfrauen, die Dame
ohne Unterleib.“27
Ihre Sportstunde gestaltet sie am liebsten nach dem Vorbild der einstigen
23 Der Hals der Giraffe, S. 71. 24 Ebd. S. 126.
25 Ebd. S. 128. 26 Ebd. S. 12. 27 Ebd. S. 108.
13 Sportfeste der DDR.28 Zu Beginn der Sportstunde lässt sie ihre Schülerinnen in einer
abfallenden Reihe wie Leistungssportler antreten und ruft ihnen „Sport frei!“29 zu.
Des Weiteren lassen die inneren Monologe den Leser erfahren, dass sie aber auch einmal für einen kurzen Moment an eine Flucht aus der DDR gedacht hat.
Alle machten sich vom Acker. Nichts hatten sie begriffen. Wer die Welt verstehen wollte, musste zu Hause damit anfangen. In der Heimat. Unserer Heimat. [...] Abhauen war ja keine Kunst. Das hatte sie immer den anderen überlassen. Es hatte nur eine ganz kurze Zeit gegeben, in der sie mit dem Gedanken spielte. Aber das war lange her. Sie war geblieben. Freiheit wurde überbewertet. Die Welt war entdeckt, die meisten Arten bestimmt. Man konnte getrost zu Hause bleiben.30
Sie hatte also kurz mit dem Gedanken gespielt, die DDR, ihre Heimat hinter sich zu lassen. Hat es aber nicht getan. Sie ist geblieben, sie ist dem System treu geblieben und ihrem Beruf als Lehrerin. Sie ist sogar nach dem Fall der Mauer nicht in den Westen gegangen.
1.2 Mutter und Tochter: Die Aufzucht der Jungen
Inge Lohmark hat seit der Entbindung ihrer Tochter keine mütterlich-‐warme Mutter-‐ Tochterbeziehung zu Claudia. Während der Entbindung, will sie das Kind endlich loswerden und „[i]hren Körper [...] wieder für sich haben.“31 Das ist der Anfang der
tragischen Mutter-‐Kindbeziehung. Inge Lohmark ist unfähig sich liebevoll um Claudia zu
28 In der DDR wurden massenhafte Turn-‐ und Sportfeste von dem Deutschen Turn-‐ und Sportbund (DTSB)
veranstaltet. Im Vordergrund standen immer die Sportler, ihre Leistungen und die Sportkultur der DDR. Sie hatten aber auch immer einen politischen Hintergrund. Es gab diese Sportfeste u.a. für Leistungssportler, für diese galten jene Veranstaltungen als sportliche Höhepunkte ihrer Karriere. Für Kinder und Jugendliche wurden die Sportfeste jedoch im kleineren Rahmen organisiert. Im Allgemeinen waren diese Sportfeste immer ein großes Vergnügen für die Teilnehmer.
29 Der Hals der Giraffe, S. 58. 30 Ebd. S. 41f.
14 kümmern. Wenn sie das Aussehen ihrer Tochter beschreibt, vergleicht sie Claudia gar mit einem Insekt. „[...] Claudia sah aus wie eine Larve. Ein blasses, dünnhäutiges Gespenst.“32
Wahrscheinlich geht diese scheinbare Unfähigkeit zu lieben aus der Beziehung zu ihrer eigenen Mutter hervor. Die wenigen Erinnerungen, die sie an ihre Mutter hat, sind sehr kaltherzig, ja fast emotionslos.
Eine einfältige Frau. Kühl. In ihrer Jugend vielleicht einmal reizvoll. Später aber war ihre Schönheit nichts als eine kühne Behauptung gewesen. Sie war bestenfalls gepflegt. [...] Wächserner Glanz. Eine Eiskönigin. Augen wie
böhmisches Glas. Kunstvoll, durchsichtig, ohne Grund. Zum Glück war sie tot.33
Sie ist also nicht in der Lage es bei ihrer Tochter besser zu machen. Auffällig ist dazu noch, dass sie kein einziges Mal positiv über ihre Tochter redet. Sie kann die Frage ihrer Tochter, ob sie schön sei, nicht einmal bestätigen.
Ob sie schön sei, hatte Claudia sie mal gefragt. Was sollte man denn darauf antworten? Du siehst lustig aus. Breites Gesicht, dunkle Sommersprossen, leichter Überbiss. Lustig war doch nett. Ein faltiger Batzen, hässlich wie die
Nachgeburt. Wer hatte das gesagt? Ihre Mutter. [...] Oder hatte sie das zu Claudia gesagt?34
Zwar ist sich die Protagonistin hier nicht mehr sicher, wer dies zu wem gesagt hatte. Es könnte also ihre eigene Mutter zu ihr gesagt haben, oder sie könnte es zu Claudia gesagt haben. Aber es ist, wie dem auch sei, ein Indiz für eine sehr negative Beziehung zwischen Mutter und Tochter beider Generationen.
Auf die Art und Weise wie Inge Lohmark von ihrer Tochter berichtet, wird es fast schon legitim, dass Claudia sich so sehr von der eigenen Mutter verfremdet. Sie wohnt
32 Der Hals der Giraffe, S. 106. 33 Ebd. S. 123.
15 schon seit vielen Jahren in den Vereinigten Staaten und kommuniziert nur noch
sporadisch und förmlich mit ihrer Mutter. Inge Lohmark war nur einmal zu Besuch in Amerika. Seitdem haben sich Mutter und Tochter nicht mehr gesehen und scheinbar auch kein Bedürfnis mehr, miteinander zu reden. Es ist aber für die Lehrerin
gewissermaßen eine Kränkung, dass Claudia so weit weggezogen ist. Ihre Tochter hat sie verlassen, sie ist ihr abhanden gekommen. Für Inge Lohmark ist auch deutlich, dass sie nie Enkelkinder haben wird. Claudia hat nämlich nicht vor, sich an das Naturgesetz der Fortpflanzung zu halten. „Es sah schlecht aus mit Enkelkindern. Claudia war schon fünfunddreißig. Der Eisprung fand nicht mehr regelmäßig statt.“35
Gegen Ende des Romans wird für den Leser in einer Schlüsselszene36 eindeutig,
warum die Tochter die Mutter verlassen hat. Inge Lohmark hatte ihre Tochter in ihrer Klasse und wusste, dass ihre Tochter Opfer von Schikanierungen war. Einmal eskaliert die ganze Situation. Eines Tages wird Claudia in der Klasse ihrer Mutter von ihren Mitschülern so drangsaliert, dass sie nur noch den Schutz ihrer Mutter suchte. Diese wies sie jedoch vor allen Mitschülern eiskalt zurück und dachte nur an ihren Unterricht, den sie nicht zu unterbrechen hatte.
Sie [Claudia] sah mitgenommen aus. […] Die Haare vorm verheulten Gesicht. […] Sie selbst [Inge Lohmark] stand mit dem Rücken zur Klasse, schrieb etwas an die Tafel, als Claudia plötzlich aufschrie. Markerschütternd. Unglaublich laut. Sie dreht sich um. […] Sie wimmerte: Mama. Ihre ausgebreiteten Arme. […] Ein Stoß. Von sich weg. Was wollte sie von ihr? Claudia fiel. Blieb liegen. Weinte immer noch. Wie sie da auf dem Boden lag. [...] Natürlich war sie ihre Mutter. Aber zuallererst ihre Lehrerin. […] Es war Unterricht. Sie war Frau Lohmark.37
Inge Lohmark scheitert hier in zwei Dingen. Erstens in der Rolle der Mutter. Claudia zeigt durch ihre ausgestreckten Arme, dass sie ihre Mutter braucht und will. Sie sucht
35 Der Hals der Giraffe, S. 72.
36 Dietmar Jacobsen: Wer den längeren Hals hat, lebt auch länger. In: Poetenladen (29.1.2012), URL:
http://www.poetenladen.de/jacobsen-‐judith-‐schalansky.htm (zuletzt eingesehen am 14.6.2014).
16 den Schutz und die Nähe ihrer Mutter. Inge Lohmark kann ihrer Tochter dies nicht bieten. Sie ist nicht fähig sich aus ihrer Rolle der Lehrerin zu befreien und sich in diesem Moment um ihre Tochter zu kümmern. Sie stößt ihre eigene Tochter auf eine
unmenschliche Art von sich, dass sie stürzt und lässt sie vor der ganzen Klasse liegen. Obwohl die Dozentin immer von Instinkten und natürlichen Trieben in ihrem Unterricht predigt, scheint sie den natürlichen Muttertrieb nicht zu besitzen. Sie scheitert hier an ihrem eigenen Glauben, ihrer eigenen Biologie.
Außerdem denkt sie, dass „Claudia sicher nicht darunter gelitten [hatte],“38 als sie
zu ihr in die Klasse kam. Nein Inge Lohmark hat bereits ihre Pflicht erfüllt als sie Claudia zur Welt gebracht hat und sie gefüttert und großgezogen hat.39
Des Weiteren versagt sie als Lehrerin. Sie sieht, dass etwas in ihrer Klasse
geschieht und handelt nicht. Sie tut nichts. Sie stellt niemanden der Schüler zur Rede um aufzuklären, warum sie eine ihrer Schülerinnen so behandeln. Es scheint, als ob sie nicht daran interessiert ist, was hinter ihrem Rücken in der Klasse passiert. Für sie zählt nur das, was sie ihren Schülern vermittelt. Die reine Biologie. Atavismus. Fluchtverhalten. Lamarckismus.40
Wie bereits erwähnt, hat sie bei Ellen nichts unternommen und damals bei ihrer eigenen Tochter auch nicht. Sie ist nicht in der Lage, aus ihren Fehlern zu lernen. Oder ist es kein Fehler, Probleme41 in der Klasse, die deutlich Auswirkungen auf die Betroffenen haben,
nicht zu lösen und einfach wegschauen? Und das zweimal. Die Darwinschen
Naturgesetzte gelten nicht nur in der Biologie, sondern auch in ihrer Klasse. Allerdings nicht für sie, nur für ihre Schüler. Inge Lohmark hat ihre eigenes System erschaffen, in dem sie die Diktatorin ist und die Regeln bestimmt. Jeder muss sich an ihre Regeln halten. Für Schüler, die dies nicht tun, ist kein Platz.
38 Der Hals der Giraffe. S. 154f. 39 Vgl. Ebd. S. 165.
40 Das sind jeweils drei der Biologiefachbegriffe, die als Überschrift auf jeder rechten Seite des Romans stehen. 41 Vgl. Der Hals der Giraffe. S. 154.
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1.3 Der Ehe: Eine Zweckgemeinschaft
Die Protagonistin hat generell ein kompliziertes Verhältnis zu Männern. Nur zu ihrem Vater hatte sie eine liebevolle Beziehung. Als dieser gestorben ist, sind ihre Haare innerhalb einer Woche ganz weiß geworden. Diese Tatsache hat sie emotional also sehr berührt, des Weiteren bemüht sie sich sehr, emotional nicht abhängig von anderen Personen zu werden.
Ihren Schülern lehrt sie unter anderem dass, „Männer [...] Nicht-‐Frauen [sind], deshalb mussten sie sich auch so viel einfallen lassen: Erfindungen und Kriege.
Geheimdienstüberwachung. Reden auf dem Schulhof. Straßenumbenennungen. Straußenzucht.“42 Dem Mann an sich werden vor allem negative Eigenschaften
zugeschrieben. Außerdem bringt sie einen der entsetzlichsten Fakten einer Diktatur in Verbindung mit der neuen Leidenschaft ihres Mannes. Die Geheimdienstüberwachung und die Straußenzucht. Ist das Feminismus? Oder geht dies aus der eigenen Frustration über ihre zwei missglückten Ehen hervor?
Auffallend ist, dass Inge Lohmark kein einziges Mal im Roman auf ihren Ehemann Wolfgang trifft. Es wird nur aus der Perspektive der Protagonistin über die Ehe der Beiden berichtet. Wolfgang und sie wohnen zwar noch in einem Haus, haben sich aber schon lange nichts mehr zu sagen.
Wie immer war Wolfgang schon bei seinen Straußen und hatte einen halb gedeckten Frühstückstisch hinterlassen. Ein paar Krümel verrieten den Platz seiner
Nahrungsaufnahme. Auf ihrem Stuhl lag ein Knäuel. Ein zusammengeknüllter grüner Overall, ein Unterhemd, blaue Sportsocken. Seine Art, um frische Wäsche zu bitten.43
Auf diese Art kommuniziert Wolfgang mit seiner Frau und sie hat diese Art der
Kommunikation akzeptiert.
Wie bereits erwähnt, hat Wolfgang zu Zeiten der DDR als
Rinderbesamungstechniker gearbeitet und nach der Wende hat er eine Straußenzucht
42 Der Hals der Giraffe, S. 122. 43 Ebd. S. 88.
18 angefangen. Dadurch, dass er die exotischen Laufvögel nach Mecklenburg-‐Vorpommern geholt hat, ist er eine lokale Berühmtheit geworden und hat sich so den Veränderungen seiner Zeit angepasst.
Wolfgang Lohmark war der Held der Regionalbeilage. Schließlich gehörte er zu denen, die es noch einmal geschafft hatten. Vom ehemaligen Veterinärtechniker der niedergegangen Tierproduktion zum Freizeitbauern, der exotische Tiere dickfütterte, von denen man tolle Fotos machen konnte: [...] Strauße im Trab, Strauße beim Balztanz, Strauße im Schnee.44
Inge Lohmarks Ehemann führt eine neue ‚Liebesbeziehung’ zu seinen Straußen. Für die Riesenvögel ist er unentbehrlich geworden. „Das ging so weit, dass sich seine Hennen nur noch decken ließen, wenn er daneben stand.“45 Er ist also viel intimer mit den
Straußen als mit seiner Frau, denn die beiden Ehepartner kommen sich schon lange nicht mehr näher. Dabei erscheinen die Tiere auch viel weiblicher als Inge Lohmark selbst. Wenn sie die Tiere beschreibt, gibt sie ihnen menschliche und sehr feminine Eigenschaften wie getuschte Wimpern und einen schlingernden Gang46. Sie hat die Tatsache, dass Wolfgang eine neue Liebe gefunden hat, also mehr oder weniger
akzeptiert.
Was die gemeinsame Tochter und seine Kinder betrifft, ist er genauso unfähig eine gute Beziehung mit ihnen zu führen, wie seine Frau. Seine ältesten Kinder haben jeden Kontakt zu ihm abgebrochen und mit Claudia hat er ebenso wenig Kontakt. „Claudia fehlte Wolfgang nicht.“47 Er hat mit seiner Straußenzucht einen Ersatz für die
verlorenen Kinder gefunden. Die Strauße brauchen ihn, sie sind abhängig von ihm. Sie könnten sich ohne Wolfgang gar nicht fortpflanzen. Dies lässt fast vermuten, dass seine beiden Berufe, von vor sowie nach der Wende, ein Indiz dafür sind, dass er wohl fähig dazu ist, Nachwuchs zu zeugen und großzuziehen. Ob dies nun Rinder oder Strauße
sind.
44 Der Hals der Giraffe, S. 89f. 45 Ebd. S. 88.
46 Ebd. S. 88. 47 Ebd. S. 123.
19 Die Beziehung zwischen Inge und Wolfgang Lohmark basierte noch nie auf Liebe. Wegen seiner Tierliebe hat sich Inge Lohmark für Wolfgang interessiert, nicht etwa weil sie verliebt in ihn war. „Dass er mit Tieren gut konnte, hatte ihr immer an ihm gefallen. Was war das schon, Liebe? Ein scheinbar wasserdichtes Alibi für kranke Symbiosen.“48
Inge Lohmark hatte während ihrer Ehe mit Wolfgang mal eine Affäre mit einem anderen Mann. Sie wurde sogar schwanger, hat aber abgetrieben und ihrem Mann nie etwas
davon erzählt.49
Gemeinsame Hobbys haben die beiden Ehepartner auch nicht mehr. Früher haben sie zusammen Vögel beobachtet, da schätzte Wolfgang Inge noch sehr. Er hatte damals sogar seine erste Frau für sie verlassen. Diese Gefühle sind lange her. Die beiden Ehepartner leben nebeneinander her, anstatt miteinander. Sie führen nur noch eine Zweckgemeinschaft.
1.4 Die künstlerische Antagonistin: Ein humaner Gegensatz
Im Kontrast zu Inge Lohmark steht ihre Kollegin, die Schwanneke.50 Hier ist die
Tatsache zu bemerken, dass Karola Schwanneke die einzige Frau im Buch ist, mit der Inge Lohmark ein Gespräch führt. Sie ist die einzige weibliche Kollegin Lohmarks, die der Leser kennenlernt. Auch ihr Name ist an dieser Stelle erwähnenswert, denn es ist das Wort Schwan zu erkennen. Hiermit stellt die Autorin ihrer Protagonistin einen weiteren schönen, eleganten Vogel gegenüber. Die Protagonistin scheitert wieder an einem normalen Umgang mit ihrem Gegenüber.
Karola Schwanneke ist eine heitere, sehr emotionale Frau. Sie ist viel freundlicher zu den Schülern und lässt sich in der Oberstufe duzen. Etwas, was Inge Lohmark gar nicht verstehen kann. Die jüngere, sympathische Lehrerin hat keine Kinder und ihr Mann hat sie im Stich gelassen.51 Trotzdem fällt es ihr leicht, einen guten Kontakt zu ihren
Schülern zu haben, auch außerhalb des Unterrichts. Sie hat Empathie, ist menschlich
48 Der Hals der Giraffe, S. 98. 49 Vgl. Ebd. S. 164.
50 Vgl. Ebd. S. 13. 51 Vgl. Ebd. S. 14.