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Ansatze einer kognitionpsychologisch orientierten politischen Bildung

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-Marinus H. van IJzendoorn

Ansätze einer kognitionspsychologisch orientierten

politischen Bildung

1. Einleitung

Im Mittelpunkt dieses Beitrags steht die Frage, weshalb eine kognitionspsychologische oder aber koanitiv-entwicklungs-tneoretische Politikdidaktik erstrebenswert erscheint. Ferner wird zur Diskussion gestellt, nach welchen globalen pädago-gisch-didaktischen Grundsätzen eine solche Politikdidaktik zu strukturieren wäre. Die inhaltliche Ausfüllung dieser Struk-tur muß allerdings eine Aufgabe für die Zukunft bleiben.

Es mag überraschen, daß in der Überschrift dieses Beitrags von "Ansätzen" die Rede ist. Wurde doch namentlich in den Vereinigten Staaten bereits in Hülle und Fülle Curriculum-material konstruiert, das im Rahmen der sogenannten "Social studies" verwendet wird, und das sich auf die Stimulierung der moralischen Urteilsentwicklung richtet. Konnte nicht die-ses (teils audiovisuelle) Material, das wiederholt auf seine Effektivität im Zusammenhang mit der Förderung der moralischen Urteilsentwicklung hin überprüft wurde, in die europäischen Länder introduziert werden, um der überholten theorielosen und weitgehend auf Informationsübermittlung ausgerichteten politikaidaktischen Praxis neue Impulse zu geben?

Bevor man sich jedoch entschließt, der bestehenden politi-schen Bildung mit Hilfe dieses Materials in größerem Umfang eine neue Gestalt und einen neuen Inhalt zu geben, muß die merkwürdige Auffassung über Politik bedacht werden, die dem

spezifisch amerikanischen Enthusiasmus, mit dem die "social studies" in "raoral education" umgezaubert werden, zugrunde liegt. Politische Phänomene wie Water- und Billygate-Affären gehen fortwährend auf das Konto des "moralischen Bankerotts", dem das amerikanische Volk angeblich zum Opfer gefallen ist. iNicht nur Politiker und politische Kommentatoren, sondern auch Sozialwissenschaftler interpretieren diese Erscheinungen als moralische Dilemmata, in denen die Akteure eine falsche Wahl getroffen hätten (cf. LICKONA 1979). Dadurch entsteht ein Sputnikeffekt auf moralischer Ebene: ebenso wie der

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(Mathematxk- und Physik-) Unterricht in den sechziger Jahren eine Schlüsselstellung beim Erschließen und "Raffinieren" menschlichen Potentials einnehmen sollte, um den "kognitiven Rückstand" gegenüber der Sowjetunion aufzuholen, so soll der-selbe (Social studies-) Unterricht in den siebziger und acht-ziger Jahren das "moralische Defizit" beheben. 'Von Sputnik bis Watergate1 (HINTJES/ SPIECKER 1979).

Es ist jedoch sehr fraglich, ob wichtige politische Phäno-mene so einfach auf rein individuell-moralische Ursachen zu-rückgeführt werden können. Die Reduktion von Politik auf Mo-ralitat hat gesellschaftlich gesehen gefährliche Seiten, wie WEBER am Anfang dieses Jahrhunderts bereits aufzeigte. Psycho-logisch gesehen entspricht eine solche Reduktion nicht den vorhandenen empirischen Erkenntnissen, wie wir hier im weite-ren noch zeigen werden.

Unser Zweifel an der Effektivität des Ersetzens von "social studies" durch "moral education" im Zusammenhang mit der Lo-sung wichtiger aktueller politischer Probleme bedeutet je-doch keineswegs, daß wir vom Nutzen moralischer Curricula für die politische Bildung nicht überzeugt seien. Aufgrund des vorhandenen theoretischen und empirischen Beweismaterials er-scheint vielmehr ohne weiteres die These zulassig, daß poli-tische Bildung zumindest teilweise als moralische Erziehung interpretiert werden sollte. Daß jedoch moralische Erziehung politische Bildung völlig ersetzen konnte (und umgekehrt, siehe FELLSCHES 1977), ist eine These, die auf einem reduk-tionistischen Denkfehler beruht, wie wir in den folgenden Punkten noch nachweisen werden.

2. Zusammenhang zwischen Kognition, Moralitat und politischem Bewußtsein

Im folgenden wird KOHLBERGs Theorie der moralischen Urteils-entwicklung als bekannt vorausgesetzt (s. VAN IJZENDOORN 1930).

Namentlich in den Vereinigten Staaten wurden mehrere For-schungsprojekte durchgeführt, in denen der Zusammenhang zwi-schen kognitionspsychologizwi-schen Variablen sowie Kognition und Moralitat einerseits und politischem Bewußtsein und/oder po-litiscnem Verhalten andererseits untersucht wurde. Einige davon werden wir hier summarisch besprechen um aufzuzeigen, daß es durchaus nutzlich ist, das Problem der Politikdidaktik von kognitionspsychologischer Perspektive aus zu betrachten, una um außerdem zu zeigen, daß die kognitionspsychologischen Variablen sich nicht völlig mit politischem Bewußtsein decken.

HAAN et al. untersuchten z.B. das Niveau des moralischen Urteilens von Teilnehmern an dem sogenannten "Free Speech Movement". Daraus ging hervor, daß der größte Teil der poli-tisch aktiven Studenten prinzipiell oder prakonventioneil-moralisch urteilten, wahrend die prakonventioneil-moralischen Konventionalisten

(Stufe 3 und 4) bedeutend in der Minderzahl waren (FISHKIN et al. 1973). Aus einer anderen Untersuchung von HAAN et al.

(1968) ergab sich, daß die Respondenten mit radikaleren po-litischen Ansichten entweder prakonventionell oder prinzi-piell urteilten. Die konservativeren Respondenten argumentier-ten dagegen häufiger auf konventionellem Niveau über

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inorali-sehe Dilemmata. FONTANA und NOEL konstatierten in ihrer Be-fragung der Mitglieder des Lehrkörpers der Universität einen positiven Zusammenhang zwischen moralischem Niveau und poli-tischem Aktivismus. In der Gruppe von Studenten ließ sich Qieser Zusammenhang jedoch nicht feststellen. Es zeigte sich vielmehr, daß eine kritische politische Einstellung dort nicht mit einer prinzipiellen Moralitat einherging. Wohl aber argu-mentierten die konservativer eingestellten Studenten vor allem auf konventionellem Niveau und kaum auf prakonventio-nellem Niveau. Auch FISHKIN et al. (1973) fanden eine hohe positive Korrelation zwischen politischem Konservatismus und moralischem Konventionalismus und eine negative Korrelation zwischen erstgenannter Varibale und einer prinzipiellen Mora-litat. Prakonventionelle Versuchspersonen optierten dagegen häufiger für einen gewaltsamen Radikalismus. SULLIVAN/

QUARTER (1972) zeigten unter Berücksichtigung der schwer ein-zuordnenden hybriden Subkategorien, daß Moralitat linear po-sitiv mit dem Umfang der Progressivitat politischer Attitüden zusammenhangt. DOBERT/ NUNNER-WINKLER (1975) legten dar, daß prinzipielle Moralitat tatsachlich häufiger mit kritischem Verhalten gegenüber den bestehenden gesellschaftlichen Ver-haltnissen verknüpft werden kann als Konventionalitat. KÜHN et al. (1977) stellten fest, daß Moralitat und Kognition linear positiv mit politischem Bewußtsein korrelierten, wobei die Korrelation zwischen Kognition und politischem Bewußt-sein großer war als die zwischen Moralitat und politischem Bewußtsein. EISENBERG-BERG (1979) fand unter ihren weiblichen Respondenten eine positive Korrelation zwischen dem Maß der Progressivitat ihres politischen Bewußtseins und ihrem Niveau moraliscnen Argumentierens. Bei den mannlichen Respondenten

ließ sich ein solcher Zusammenhang nicht feststellen.

TSUJIMOTO (1979) fand heraus, daß Konventionellsten häufiger als Prä- und Postkonventionalisten dazu neigten, gesellschaft-liche Ungerechtigkeit zu personifizieren, d.h. Individuen die Schuld an politisch-gesellschaftlichen Problemen aufzubürden.

Zu allen vorgenannten Forschungsberichten kann jedoch die Randbemerkung gemacht werden, daß namentlich die Variable "politisches Bewußtsein" in fragwürdiger Weise umschrieben und/oder operationalisiert wird. So brachten es FISHKIN et al. fertig, politisches Bewußtsein mit der Reihe beliebter Slo-gans wie "kill the pigs", "make love not war" zu operationali-sieren. KÜHN et al. schrankten den Begriff "politische Ein-stellung" ein auf die Haltung gegenüber Regierungsformen wie Demokratie, Oligarchie u.a. Zur Erhebung dienten lediglich vier kurze Fragen.

Aus einer Untersuchung, die der Autor unter Berliner Schu-lern vornahm und in aer eine mehr verantwortete Operationali-sierung des Begriffes "politische Attitüde" angewandt wurde, ergab sich allerdings, daß ein linear positiver Zusammenhang zwischen dem Niveau moralischen Argumentierens und der Pro-gressivitat politischen Bewußtseins festgestellt werden konn-te. Es stellte sich übrigens heraus, daß das kognitive Niveau bedeutend weniger mit dieser Attitüde zusammenhing (VAN IJZENDOORN 1979).

Kurz gesagt, mit Bezug auf die Konvergenz in den Ergebnis-sen der vorher erwähnten Forschungsprojekte - die sehr diver-gierende Untersuchungsdesigns anwandten - darf konkludiert

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werden, daß namentlich das Niveau des moralischen Argumentie-rens für das politische Bewußtsein von Bedeutung ist. Die Re-sultate in bezug auf den Zusammenhang zwischen kognitivem Niveau und politischem Bewußtsein decken sich nicht. Weiter-fuhrende Forschungen sollten in diesem Punkt Aufschluß bieten. Die Entwicklungen im theoretischen Bereich zeigen jedoch, daß es auf jeden Fall entscheidend auf den Übergang von konkret-zu formal-operationalem Argumentieren ankommt, wenn ein mehr "sophisticated" politisches Bewußtsein angestrebt wird, das tatsächlich imstande ist, die Komplexität gesellschaftspoli-tischer Probleme zu berücksichtigen (ADELSON 1975; CRAIN/ CRAIN 1974; HARTEN Ί977; MERELMAN 1976; VAN IJZENDOORN 1978).

Aus dem gesammelten Forschungsmaterial kann außerdem gefol-gert werden, daß die kognitiv-entwicklungstheoretischen Va-riablen - Moralitat und Kognition - nie mehr als einen Teil der Varianz aer Variable "politisches Bewußtsein" erklaren können. Die Korrelationen schwanken zwischen .20 und .50 mit einigen beträchtlichen Abweichungen nach oben oder nach unten. Das heißt, daß in fast keinem Falle mehr als 25 % der totalen Varianz durch diese Variablen erklart wird. Politisches Be-wußtsein kann daher wahrscheinlich nicht nur mit Hilfe kog-nitionspsychologischer Faktoren erklart werden; von Wichtig-keit scheinen außerdem auch emotionale Faktoren, die die Per-zeption politischer "Tatsachen" zu einem erheblichen Teil be-einflussen können und damit indirekt zur Konstitution eines politischen Bewußtseins beitragen. SARAT (1975) fand z.B. heraus, daß vor allem das Angstniveau (u.a. bestimmend für den Grad des Selbstvertrauens) die Entwicklung des politischen Argumentierens beeinflußte. Der Autor stellte fest, daß die Entwicklung der Identität im Sinne von ERIKSON auf das poli-tische Bewußtsein der von ihm untersuchten Gruppe von Adoles-zenten Einfluß nahm. (VAN IJZENDOORN 1978). MERELMAN (1976) setzte aus theoretischen Gründen voraus, daß psychodynamische Faktoren wie Sexualrollen-Entwicklung, Impulskontrolle und das Ausmaß der emotionalen Loslosung vom Elternhaus (vgl. DOBERT/ NUNNER-WINKLER 1975) zusammen mit den mehr kognitiven Faktoren zu einer auskristallisierten politischen Ideologie fuhren. Dies alles weist auf eine Beschranktheit einer rein kognitionspsychologisch orientierten Politikdidaktik hin. Man sollte denn auch in Zukunft eine Integration dieser Auffas-sung mit mehr gruppen- und psychodynamisch-orientierten An-schauungsweisen einer Didaktik politischer Bildung anstreben.

3. Jie Notwendigkeit einer kognitionspsychologischen Politik-didaktik

Wenn auch vorher bereits aufgezeigt wurde, daß kognitions-psychologische Variablen einen Teil der Varianz politischen Bewußtseins erklaren, so kann man doch zur Diskussion stel-len, ob eine Politikdidaktik diese Einsicht berücksichtigen sollte. Auch abgesehen von dem Problem, daß die Forschung bis jetzt noch nicht schlussig aufweisen konnte, ob die mora-lische und die kognitive Urteilsentwicklung wirkliche "kau-sale" Faktoren sind oder eher als Epiphanomene oder viel-leicht sogar als Folgen einer bestimmten Ebene politischen Bewußtseins betrachtet werden sollten, ist Skepsis angebracht

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gegenüber der Möglichkeit, auf indirekte Weise, d.h. mittels Beeinflussung der Kovarianten, die Entwicklung des politi-schen Bewußtseins zu fordern. Es ist ja durchaus möglich, daß die Entwicklung politischen Bewußtseins eine völlig eigene Dynamik hat, die nur in sehr spezifischer Weise stimuliert werden kann. Zumindest ist noch kein empirisches Beweismate-rial vorhanden, das den Schluß zulaßt, daß das politische Be-wußtsein sich stufenartig und mittels Zerstörung der zeit-lichen Aquilibrien entwickelt. Anders ausgedruckt, es ist noch die Frage, ob sich politisches Bewußtsein einreihen laßt in die Gruppe von kognitionspsychologischen Variablen, von denen mehr oder weniger feststeht, daß sie sich in der von PIAGET beschriebenen Weise entwickelt. Es ist durchaus denkbar, daß kognitionspsychologische Variablen z.B. mit Nasenbohren oder Daumenlutschen ziemlich stark zusammenhangen, ohne daß man dabei auf den Gedanken käme, einen solchen Zusammenhang als Argument für eine Beeinflussungsstrategie zu betrachten, die die Veränderung der vorgenannten Variablen bewirken konnte.

Dennoch kann im theoretischen Bereich die These vertei-digt werden, daß die kognitionspsychologischen Variablen für das politische Bewußtsein von größerer Bedeutung sind als z.B. für Daumenlutschen und Nasenbohren. Wir haben an anderer Stelle eingehend erläutert, daß formal-operationales Denken eine notwendige Voraussetzung ist für eine kritische politi-sche Einstellung, da essentielle politipoliti-sche Mythen (z.B. die Mythe der Chancengleichheit) aufrecht erhalten bleiben, weil viele die Fähigkeit zu probabilistischem Denken nicht besit-zen. Auf gleiche Weise ist nachgewiesen worden, daß prinzi-pielle Moralitat eine absolute Bedingung ist für eine funda-mentale Systemkritik aus Prinzipien heraus, die von zufällig vigierenden Gesellschaftsformationen relativ unabhängig sind una dadurch als ein "Tertium comparationis", als ein relativ autonomes Meßinstrument fungieren können. Moralische Begrün-dungen auf den Stufen 3 und 4 können lediglich zu immanenter Systemkritik fuhren, wobei Dysfunktion des Systems auf Indi-viduen zurückgeführt werden muß, die dann als Storfaktoren wirken.

Kurz gesagt, wir können auf jeden Fall theoretisch plausi-bel machen, aaß Moralitat und Kognition einen "Grenzeffekt" für die Entwicklung des politischen Bewußtseins hervorrufen können. Konkret-operationales Denken und konventionelle Ur-teile können aie Entwicklung in Richtung auf ein kritisches politisches Bewußtsein hemmen, weil sie die Komplexität und die Reichweite der politischen Kritik erheblich einschränken. Dort, wo die Bedingungen für eine weiterfuhrende politische Entwicklung nicht vorhanden sind, wäre es ratsam, eine Auf-hebung derartiger Hemmungsfaktoren in der Bedingungensphare zu versuchen, bevor man sich zu einer direkteren Beeinflus-sung entschließt. Dies spricht für eine Politikdidaktik, die als Ausgangspunkt in erster Linie die Stimulierung der mora-lischen und kognitiven Entwicklung anstrebt. Diese Stimulie-rung konnte den erforderlichen Raum für die Entwicklung des politischen Bewußtseins schaffen, das sonst bald seine Gren-zen erreicht hatte. Daß ein solcher Grenzeffekt nicht imagi-när ist, zeigen Untersuchungen von FAUST/ ARBUTHNOT (1978) una WALKER/ RICHARDS (1979) auf. Diese Forscher stellten fest, daß moralische Erziehung ihre Effektivität verliert, sobald

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die kognitive Bedingung für eine höhere moralische Entwick-lung nicht mehr erfüllt wird. FAUST/ ARBUTHNOT konstatierten, daß Versuchspersonen, die auf Stufe 3 ihr urteil abgaben, nicht gleichermaßen Nutzen aus einem moralischen Curriculum zogen. Diejenigen, die konkret-operational argumentierten, machten infolge der Intervention kaum Fortschritte. Dagegen profitierten diejenigen, die auf formal operationalem Niveau argumentierten, in hohen Maße von dem moralischen Curriculum. Diese letzte Gruppe ließe sich denn auch als die Gruppe von moralischen "underachievers" bezeichnen, weil ihre moralische Entwicklung hinter der "kognitiven Grenze" zuruckblieb. Ein gleicher Grenzeffekt wurde auch von WALKER und RICHARDS re-gistriert, die über eine Curriculumintervention die moralische Entwicklung einer Anzahl von Versuchspersonen zu stimulieren versuchten. Sie konkludierten: "Exposure to high levels of moral reasoning will not produce transitions unless the cognitive prerequisites have been attained" (S. 102).

Es ist eviaent: Wenn Moralitat und Kognition sich zu poli-tischem Bewußtsein so verhalten wie Kognition zu Moralitat

(una "role-taking" zu Kognition), dann ist auch in politi-schen Bildungskursen ein derartiger Grenzeffekt zu erwarten. Auch wegen dieses Grenzeffekts sollte eine Politikciaaktik aie Stimulierung der kognitiven und moralischen Entwicklung inkorporieren.

4. Pädagogisch-didaktische Prinzipien im Zusammenhang mit der kognitiven Entwicklung

PIAGET hat sich in mehreren Aufsätzen mit den pädagogisch-didaktischen Konsequenzen seiner Kognitionspsychologie aus-einandergesetzt. Er zeigte sich darin als ein begeisterter Anhanger einer selbständigen pädagogischen Disziplin, die u.a. aufgrund der psychologischen Erkenntnis Curriculummaterial für die Unterrichtspraxis entwickeln und evaluieren sollte. Diese pädagogische Disziplin sei durchaus nicht als eine Art angewandter "Psychologie zu verstehen, sie habe vielmehr ein vollkommen eigenes Forschungsprogramm zu entwickeln. Im Hin-blick auf seine zahlreichen Äußerungen über Bildung und Er-zienung wäre es völlig verfehlt, Piaget als Reifungstheore-tiker zu bezeichnen, der absichtlicher Beeinflussung psychi-scher Phänomene in seinem System keinen Raun gegeben hatte. Im Gegenteil, er gibt wiederholt an, wo s.E. Möglichkeiten zu bewußtem pädagogischem Eingreifen vorliegen, obwohl er zu-gleich vor einem opportunistischen Pragmatismus warnt, der wissenschaftliche Erkenntnisse nur dann als interessant be-rücksichtigt, wenn sie kurzfristige praktische Ergebnisse ver-sprechen.

Ein erster Ausgangspunkt für eine kognitionspsychologische Didaktik bildet die Erkenntnis, daß der Mensch sich in akti-ver Auseinandersetzung mit der Umwelt entwickelt, wobei

"aktiv" aarauf hindeutet, daß die Umwelt nicht nur immer bes-ser kopiert, sondern auch mittels eines Prozesses von Akkomo-dation und Assimilation allmählich konstruiert wird. Dadurch, daß Umwelterfahrung nur aktiv konstruiert werden kann, ist es nach PIAGET unmöglich, dem Kind durch positiven Unterricht von weitgehend verbalistischer Art, der nur fix und fertige

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Bilder der Wirklichkeit vermittelt, etwas Neues über die Rea-lität beizubringen.

Diese These wird z.B. durch die Forschungen über die Aneig-nung des Konstanzbegriffes von Inhelder und Sinclair (1969) auch empirisch gestutzt. Es gelang diesen Forschern nicht, praoperationale Kinder mittels Training im konkret-operatio-nalen Begriffsapparat (die Worter "lang", "kurz", "voll", "leer") auf eine höhere kognitive Stufe zu bringen, wenn auch die Kinder die angewandten Termini tadellos definieren konn-ten. Nur aktives Experimentieren der Kinder mit Versuchsver-fahren zu Konstanzproblemen führte bei einer Anzahl von ihnen zu einer größeren kognitiven Erkenntnis. Kinder sollten die Gelegenheit bekommen, selber die Dialektik zwischen Akkomoda-tion - d.h. Angleichung eigener Denkstrukturen an die For-derungen der Realität - und Assimilation - d.h. Angleichung der Realität an das Erfassungsniveau, z.B. Phantasiespiel -in Gang zu br-ingen. Unterricht, der dem K-ind zu wenig Raum für selbständige Verarbeitung des Stoffes bietet, forciert den Akkomodationsprozeß auf Kosten der assimilativen Aktivi-täten. Dies kann nur zu oberflächlichen, nicht-strukturellen Änderungen im Denken fuhren und zu Scheinlernprozessen, die lediglich auf geschicktem Umgehen mit neuen Begriffsapparaten beruhen.

Nun laßt sich allerdings fragen, was wir uns unter den Be-griffen "Aktivität" und "aktive Schule" vorzustellen haben, wenn es sich um Adoleszenten handelt. Impliziert dieser Be-griff eine Art Werkunterricht, in dem die Schuler sich nur mit Malen, Kneten und Basteln beschäftigen? Nach PIAGET bezieht sich die Notwendigkeit eines aktiven Umgangs mit der konkre-ten Objektwelt nur auf die Schuler, die sich auf pra- und konkret-operationaler Ebene befinden. Auf formal-operationalem Niveau reicht das Abstraktionsvermögen der Schuler aus, um frei von den konkreten Objekten mit deren begriffsentsprechen-den Symbolisationen zu manipulieren. Diese verbale Manipula-tion soll dann jedoch nicht völlig von der Lehrkraft gelenkt werden, sondern sich relativ spontan entfalten können.

" der Begriff der Aktivität (ist) doppeldeutig und kann entweder im funktionellen Sinn einer auf dem Interesse fußen-den Verhaltensweisen oder aber im Sinn einer Handlung als Be-zeichnung einer äußeren oder motorischen Operation verstanden werden. Doch nur die erste dieser beiden Bedingungen charak-terisiert die aktive Schule auf allen Stufen (man kann im ersten Sinn, beim reinen Denken aktiv sein), wahrend die zwei-te vor allem für die Kleinkinder von Bedeutung ist, und r.it zunehmendem Alter an Bedeutung abnimmt" (PIAGET 1972, S. 166). Es handelt sich - anders gesagt - nicht so sehr un eine kon-krete Aktivität, als vielmehr um eine konstruktive Tätigkeit, die auf verschiedenen kognitiven Niveaus eine spezifische Form annimmt.

Neben konstruktiver Tätigkeit spielt in PIAGETs Didaktik-auffassungen der Begriff "Kooperation" eine zentrale Rolle. Kooperation bildet das wichtigste "Mittel" zur Aufhebung des kindlichen Egozentrismus auf kognitiver und moralischer Ebene. Der kognitive Egozentrismus kann anhand der Vorstellung, die ein Kind vom Mond hat, veranschaulicht werden. Im Anfang glaubt das kleine Kind, der Mond folge ihm überall hin, als handele es sich um ein Lebewesen, das die Absicht hat ihm zu

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folgen ("Animismus"). Die Phase geht vorüber, wenn das Kind mit der Unmöglichkeit konfrontiert wird, daß der Mond allen Menschen folgt, auch wenn sie sich in entgegengesetzter Rich-tung bewegen. Diese Kontradiktion wird ihm erst bewußt, wenn es sich in die Perspektive seines Mitmenschen einzufühlen vermag. Manchmal kann ein Kind trotz dieser Rollenubernahme-Fähigkeit dennoch imstande sein, das vertraute Bild des "fol-genden" Mondes zu behalten, weil es voraussetzt, daß die un-zähligen Strahlen jeder für sich einen Menschen "betreuen". Schließlich leuchtet dem Kind jedoch ein, daß die große Ent-fernung vom Mond bis zur Erde die Ursache der scheinbaren

"Allgegenwartigkeit" bildet (PIAGET 1973). Der Dezentrierungs-prozeß wird durch die Kooperation in Gang gebracht, vor allem durch freie Zusammenarbeit mit Altersgenossen. Nur durch Kooperation kann das Kind lernen, die verschiedenen Perspek-tiven auf die Realität, wie diese in einem Gruppengesprach hervortreten, zu differenzieren und logisch koordiniert in seine "Wahrnehmung" zu beziehen (PIAGET 1935; SMEDSLUND 1966).

übrigens unterscheidet PIAGET seinen Kooperationsbegriff von all demjenigen, was im traditionellen Unterricht mit Zu-sammenarbeit bezeichnet wird. Diese Form erzwungener Zusam-menarbeit, die schnell verpönt ist, sobald z.B. von Leistungs-proben die Rede ist, darf nicht mit PIAGET's Ideal von

"Selbstverwaltung" der Schule durch die Schuler und den Lehr-körper auf einen Nenner gebracht werden (PIAGET 1934).

Nur wenn die Schuler in der Schule auf allen Niveaus völlig selbständig ihre eigenen Interessen vertreten und verteidigen können, kann man von einem wahren kooperativen Lernfeld sprechen. Damit macht PIAGET jedoch die Lehrkraft nicht über-flüssig. Diese hat eine entscheidende Aufgabe in der Organi-sation des Lernprozesses zu erfüllen, sie bringt Probleme ein, beschafft die Lernmittel, behalt die Gruppendynamik im Auge und kommt vor allem immer wieder mit Gegenbeispielen, wenn die Gruppe sich allzu schnell mit der vorgeschlagenen Losung eines Problems zufrieden gibt. Die Lehrkraft problematisiert soviel wie möglich die vorläufigen Erkenntnisse, zu denen die Gruppe gekommen ist (PIAGET 1973) . Die beiden zentralen päda-gogisch-didaktischen Prinzipien - konstruktive Tätigkeit und Kooperation - sieht PIAGET in Theorie und Praxis des FREINET-Unternchts am besten realisiert (PIAGET 1972, S. 79).

Aus welchem Grunde sind die beiden genannten Prinzipien so wichtig für die Stimulierung der kognitiven Entwicklung? Konstruktive Tätigkeit und Kooperation bewirken eine sehr ein-gehende Konfrontation des Kindes mit Widersprüchen im eigenen Denken, in der Umwelt und zwischen den eigenen Auffassungen und den Auffassungen anderer. Die Konflikterfahrungen, die solche Konfrontationen mit Widersprüchen mit sich bringen, können das zeitliche Gleichgewicht, in dem sich Akkomodations-und Assimilationsprozesse befanden, gründlich zerstören Akkomodations-und nach einer der beiden Seiten ausschlagen lassen. Wenn es einen Konflikt gibt zwischen den vorherrschenden Erkenntnissen und einer kontradiktorischen Erfahrung mit Aspekten der Außenwelt, wird das möglicherweise zu einer "majorierenden Aquilibrie-rung", d.h. einer akkommodativen Entwicklung in Richtung auf ein höheres kognitives Niveau fuhren. Wenn von einem Gegen-satz zwischen verschiedenen kognitiven SubStrukturen oder zwi-schen einer Substruktur und der Gesamtstruktur die Rede ist,

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werden eher assimilative Tendenzen in den Vordergrund treten und eine gleichmaßigere Entwicklung auf mehreren Teilgebieten hervorrufen (Aufhebung von "decalages") (PIAGET 1976).

An einem Beispiel soll veranschaulicht werden, welche Fak-toren dabei eine Rolle spielen. LANGER (1969) konfrontierte kleine Kinder mit 10 runden Glasperlen, von denen 7 rot und 3 blau waren. Kinder, die die Klasseninklusion beherrschen, können aufgrund verschiedener Merkmale der Glasperlen ver-schiedene Klassenarten bilden, ohne die Klassifikationsdimen-sionen zu verwechseln. Sie sind imstande, zwischen den inten-siven Qualitäten (Farbe, Form) und den exteninten-siven Qualitäten

(Zahlbarkeit) zu unterscheiden. Kinder im Alter von 4 - 7 Jahren sind jedoch kaum fähig, vorauszusagen, welche Kette langer werden wurde: eine Kette von runden oder eine Kette von roten Glasperlen. Meistens verabsolutiert das Kind die auffälligste intensive Qualität (Farbe) und schließt daraus, daß die roten Glasperlen die längere Kette bilden. In einer Ubergangsphase sind die Kinder unsicher, welche Qualitäten relevant sind, und entscheiden sich mal für die roten, mal für die runden Glasperlen. Wenn in dieser Phase die Kinder die Möglichkeit erhalten, selber aktiv mit den Glasperlen zu experimentieren, dann sind sie fähig, die Qualitäten zu diffe-renzieren und koordiniert in ihre Schlußfolgerung einzube-ziehen. Manche Kinder waren aber auch nach aktivem Arbeiten mit dem Material und nach Konfrontation mit dem Gegensatz

zwischen der eigenen Voraussetzung und dem Resultat, das sich nach dem Experimentieren als "richtig" ergab, nicht in der Lage, ihr ursprüngliches Urteil zu revidieren (zu akkommodie-ren). LANGER stellte fest, daß namentlich emotionale Wider-stande in diesem Punkt eine Hemmung bilden für eine rationale Perzeption und Beurteilung eines Gegensatzes. PIAGET erwähnt in diesem Kontext sogar den psychoanalytischen Verteidigungs-mechanismus der Verdrängung und behauptet außerdem, daß der Gegensatz nur dann perzipiert und verarbeitet werde, wenn er sich mit einem relevanten Bedürfnis verbinden lasse (PIAGET 1976, S. 33). So können viele Gegensatze unter der Ober-flache weiterschlummern, weil ihre Existenz keine praktischen Konsequenzen mit sich bringt.

Die Kinder sollten auch kognitiv imstande sein, einen Ge-gensatz als GeGe-gensatz zu erfahren. So zeigten INHELDER/ SINCLAIR (1969) auf, daß Kinder, denen die Gelegenheit gebo-ten wird, mit dem Gießen von Flüssigkeit in verschiedene ge-formte Glaser zu experimentieren, sich tatsächlich den Kon-stanzbegriff aneignen. Sie müssen sich dann aber in einer Ubergangsphase von Prä- zu konkret-operationalem Denken be-finden, weil sie auf rein praoperationalem Niveau die Kontra-diktionen zwischen den eigenen Voraussetzungen und den Ergeb-nissen des praktischen Experimentierens nicht perzipieren. Man konnte ihr Denken als naiv-dialektisch bezeichnen, weil sie für ihre Person akzeptieren, daß etwas gleichzeitig ein Merkmal p und ein Merkmal p nicht aufweisen kann. RIEGEL stellt gerade wegen dieses vermeintlich "dialektischen" Cha-rakters das kindliche Denken dem sogenannten verfremdeten formal-logischen Denken der Erwachsenen als Muster hin. Wir haben in einem anderen Kontext nachgewiesen, daß dies unrich-tig ist (vgl. GOOSSENS/ VAN IJZENDOORN 198O). Kinder müssen, um einen Gegensatz überhaupt als solchen wahrzunehmen, ein

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gewisses Problembewußtsein besitzen und empfanglich sein für Denkmuster auf einem höheren Niveau als dem, auf dem sie sich selber befinden. Die Aufnahmefähigkeit für n+1 Strukturen kommt auch darum zustande, weil die kognitive (und moralische) Entwicklung sehr ungleichmäßig verlauft: abhangig von seinen praktischen Erfahrungen und Interessenbereichen kann ein Kind sich in einem Teilbereich in einer praoperationalen Phase be-finden, wahrend es sich in einem anderen Teilbereich in einer konkret-operationalen Phase bewegt (decalage). Kognitive Ent-wicklung bedeutet in einem solchen Falle die Erweiterung der konkret-operationalen Fähigkeiten auf andere Objekte.

Konstruktive Tätigkeit ist nicht nur im Zusammenhang mit den assinilativen Prozessen relevant, sondern auch im Zusam-menhang mit emotionalen Faktoren, die die Perzeption und Ver-arbeitung von Gegensätzen fordern oder verhindern. Direkte Beschäftigung mit eineir Gegensatz, z.B. durch experimentelle Überprüfung einer falschen Prognose, kann den emotionalen Widerstand gegen das Entstehen eines Disaquilibriums durch-brechen. Kooperation dagegen eröffnet Möglichkeiten auf Ge-gensatze im eigenen Denken oder zwischen der Außenwelt und aem eigenen Denken zu stoßen. Durch Zusammenarbeit wird auf natürliche Art und Weise eine Konfrontation mit verschiedenen Perspektiven auf die Wirklicnkeit veranlaßt.

In diesem Zusammenhang ist besonders die Kooperation zwi-schen Altersgenossen wirkungsvoll, da in einer solchen Gruppe mehrere, nicht allzu weit voneinander entfernte kognitive

(Zwischen-) Stufen mit all ihren Möglichkeiten zur Konfronta-tion mit n+1 Denkstrukturen für jedes einzelne Gruppenmitglied vertreten sind.

5. Pädagogisch-didaktische Prinzipien im Zusammenhang mit der moralischen Urteilsentwicklung

Die bereits genannten Prinzipien der /laximalisierung von Möglichkeiten zur Kooperation und zu konstruktiver Tätigkeit sowie zu einer Maximalisierung der Anzahl von Konflikt- und WiderSpruchserfahrungen, ohne daß sich die Beteiligten wegen Angst- und Abwehrmechanismen der diskrepanten Information verschließen, verlieren ihre Gültigkeit nicht, wenn es um die pädagogisch-didaktische Beeinflussung moralischer Urteilsent-wicklung geht. Zahlreiche Forschungsprojekte haben die Effek-tivität moralischer Curricula aufgezeigt, die auf den vorge-nannten Prinzipien gründen. So stellt LOCKWOOD (1978) nach einer umfassenden Übersicht über "moral education research" fest, daß die Gruppendiskussionen über moralische Dilemmata zu signifikanten Fortschritten im moralischen Urteilen fuhren können. Besonders die etwas niedriger eingestuften Versuchs-personen machten dabei die größten Fortschritte. Wenn wir die Möglichkeit eines statistischen Regressionseffekts einen Au-genblick außer acht lassen, so kann dieses Ergebnis auf die positiven disaquilibrierenden Wirkungen der gemachten Kon-flikterfahrungen zurückgeführt werden. In der Diskussion über die moralischen Dilemmata sind alle Bestandteile für ein gutes moralisches Curriculum enthalten.

Die Beteiligten verarbeiten aktiv und kooperativ die in den Dilemmata implizit vorhandenen Konflikte zwischen den

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ver-schiedenen mehr oder weniger berechtigten Ansprüchen und For-derungen der Hauptpersonen. Die Diskussionsgruppen sollten vom moralischen Entwicklungsniveau der Teilnehmer her ziem-lich heterogen zusammengestellt werden. So besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, daß jedes Gruppenmitglied mit den n+1 Ar-gumentationen konfrontiert wird, die es auch wirklich als unterschiedlich von den eigenen Begründungen perzipieren kann. Besitzt der Gruppenleiter außerdem noch die Fähigkeit, ein relativ warmes und schützendes Gruppenklima zu schaffen, so werden Angst- und Abwehrmechanismen die Perzeptionen kaum noch blockieren oder verzerren können (vgl. HEIDBRINK 1979).

Ein großer Nachteil solcher Curricula ist jedoch, daß sie in aem Strom der Alltagserfahrungen von Kindern im Unterricht ein isoliertes Moment bilden. Die Alltagserfahrungen ent-sprechen im allgemeinen nicht den Erfahrungen, die sie wah-rend der Schulstunde "moral education" machen. Wahwah-rend die Schuler wahrscheinlich nur in einem "moral curriculun" ein-gehend mit n+1 Argumentationen konfrontiert werden, ist es durchaus möglich, daß sie in der übrigen Unterrichtszeit mit n-1 Argumentationen in Berührung kommen. Partizipierende Ob-servationsstudien in bezug auf den heimlichen Lehrplan boten durchaus kein rosiges Bild vom Tun und Treiben in der Schule, woweit man dieses von der Perspektive des Schulers aus be-trachtet (HENRY 1971/ JACKSON 1968/ VAN IJZENDOORN 1978). So charakterisierte JACKSON das Verfahren in der Schule mit 3 Begriffen, und zwar "the crowds", "the praise" und "the power". Damit will er ausdrucken, daß der Unterricht eine Gruppe von Altersgenossen in einen beschrankten Raum zusammen pfercht und sie zwingt, ein relativ uniformes Lernangebot zu konsumieren, wobei sich Evaluationen und Verhaltenssteuerung in den Händen einer Person, nämlich der Lehrkraft befinden. Die Lehrkraft ist eine Art "Proviantmeister", der die spär-lichen Mittel (Belohnungen, Privilegien) auf autokratische Weise unter die Schuler verteilt. Die Schule hat in dieser Hinsicht eine große Ähnlichkeit mit einer "zwangsorientierten Institution", in der die Rede ist von "Anwendung willkürlicher persönlicher Macht durch den Stab ohne Rucksicht auf festge-legte Regeln" oder auf eine "instrumenteil austauschorien-tierte Institution", in der Tauschhandel zwischen dem Stab und einer kleinen Elite aus der Gruppe von Partizipanten stattfindet, ohne daß die Gruppe als Ganzes darauf Einfluß ausüben konnte (vgl. KOHLBERG/ SCHARF/ HICKEY 1978, S. 1O3). Kurz gesagt, die Institution ist von der Perspektive der Par-tizipanten aus gesehen auf einem (pra-)konventionellen Niveau moralischen Urteilens situiert. Die Frage ist berechtigt, ob solche Institutionen, die vorwiegend auf niedriger moralischer Ebene funktionieren, dennoch fähig sind, Schuler in die höhe-ren Stufen moralischen Argumentiehöhe-rens einzufühhöhe-ren. Das Bild des Tropfens auf dem heißen Stein drangt sich uns in diesem Zusammenhang bald auf. Es liegt daher auf der Hand, bei der Einfuhrung moralischer Curricula vor allem auch die moralische Ausstrahlung zu beachten, die die Institution selber auf struktureller und vielfach nicht-intentionaler Ebene hat. KOHLBERGs "Gerechte Schul-Kooperative" (KOHLBERG/ WASSERMAN/ RICHARDSON 1978/ WASSERMAN 1978/ HERSH/ PAOLITTO/ REIMER 1979) konnte hierbei als Muster dienen. Eine prinzipielle Gerech-tigkeitsstruktur der Unterrichtsinstitution, in der das

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mora-lische Curriculum einen Platz bekommt, konnte verhindern, daß die Institution selber vorzeitig einen Grenzeffekt in der moralischen Urteilsentwicklung verursacht.

6. Zusammenfassung und Konklusion

Zusammenfassend können wir feststellen, daß eine kognitions-psychologische Didaktik von folgenden Gestaltungsprinzipien ausgeht:

1. Maximall·slerung der Anzahl von Möglichkeiten zur Koopera-tion, vor allem in relativ homogenen Altersgruppen; 2. Stimulierung der Möglichkeit zu konstruktiver Tätigkeit

non-verbaler oder aber verbaler Art, abhangig vom Alter der Zielgruppe;

3. Erweiterung der Anzahl kognitiver und moralischer Konflikt-und Widerspruchserfahrungen im Rahmen einer angstreduzie-renden Gruppensphare;

4. Optimalisierung der Gerechtigkeitsstruktur der Bildungs-institution, so daß der "heimliche" Lehrplan n+1 statt n-1 Erfahrungen ermöglicht.

Wir haben oben bereits erörtert, daß eine Politikdidaktik diese kognitionspsychologischen Grundsatze allein schon wegen der Aufhebung eines möglichen Grenzeffektes inkorporieren sollte. Die Möglichkeiten zu einer differenzierteren politi-schen Attitüde und die Bedingungen dafür sollten in erster Linie politischer Bildung als Richtschnur dienen, ehe man sich zu der eigentlichen pädagogischen Beeinflussung der Ent-wicklung der politischen Einstellung entschließt.

Wie diesem letzten Aspekt der Politikdidaktik Gestalt und Inhalt zu verleihen wäre, ist eine Frage, deren Beantwortung den Rahmen dieser Arbeit überschreitet. Wohl aber kann im voraus auf das Problem aufmerksam gemacht werden, das das Prinzip der konstruktiven Tätigkeit für die Politikdidaktik im engsten Sinne aes Wortes impliziert: Aaf welche Weise konnte überhaupt im Unterricht die Forderung realisiert wer-den, daß die Schuler praktische Erfahrungen mit dem Losen "lebensechter" politischer Probleme sammeln, ohne daß dabei jedoch die Grenze der Kompetenz von Schule und Lehrkraft über-schritten wird7

Die Möglichkeiten zu intensiver aktiver Beteiligung am poli-tischen Geschehen sind in einer parlamentarischen Demokratie wesentlich geringer - insbesondere für die jüngere Generation als die Möglichkeiten zu aktivem Experimentieren mit der Welt der physischen Objekte ("kognitive Aktivitäten") oder

auch als die Möglichkeit praktische Erfahrungen mit interin-aividuellen Konflikten und Interessengegensätzen zu machen

("moralische Aktivitäten"). Moglicherweise ist diese Diskre-panz eine aer Ursachen der bestehenden "politischen decalage"

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71 -7. Literatur

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