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Verwobene Geschichten. Rückblicke auf die DDR in Familiengeschichten: Eugen Ruges In Zeiten des abnehmenden Lichts und Marion Braschs Ab jetzt ist Ruhe

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Sommersemester 2015

Masterarbeit Literary Studies: German Begleiterin: Dr. A.S. Seidl

Zweitleserin: Prof. Dr. N. Colin Universität von Amsterdam Abgabetermin: 30.06.2015 Prüfungstermin: 15.07.2015

Verwobene Geschichten

Rückblicke auf die DDR in Familiengeschichten: Eugen Ruges In

Zeiten des abnehmenden Lichts und Marion Braschs Ab jetzt ist Ruhe

T.J.T. Westveer thom.westveer@student.uva.nl

(2)

Inhaltsverzeichnis

Seite:

Inhaltsverzeichnis 1

Rückblicke aus dem Nachhinein 3

1. Der ‚neue‘ DDR-Roman 6

2. Generationenromane 13

2.1 Was ist ein Generationenroman? 13

2.2 Vorläufer: Väterliteratur? 17

2.3 Identität und Erinnerungsarbeit 19

2.4 Das Potenzial? 22

3. Generationen 25

3.1 Das Entstehen einer Generation 25

3.2 Gedächtnis und Erinnerung 26

3.3 Generation Wende und ihre Werke 30

4. Ruge und Brasch 35

4.1 Ruges „DDR-Buddenbrooks-Roman“ 35

4.2 Brasch: nur die Tochter überlebt 38

4.3 Ein erster Vergleich 41

5. Rekonstruktion und Entheroisierung 43 5.1 Brasch: Rekonstruktion und Identitätssuche 43

5.2 Ruge: Entheroisierung und Verfall 46

(3)

6. Geschichte und Geschichten 53

6.1 Das Problem der Geschichte 53

6.2 Brasch: die persönlichen Geschichten verdienen ihren Platz 54 6.3 Ruge: aus Geschichten Geschichte machen 58

6.4 Zwischen Geschichte und Geschichten 62

Verwobene Geschichten 65

(4)

3

Rückblicke aus dem Nachhinein

Mauerfall, Wende, Wiedervereinigung: das Ende der DDR, jetzt schon über 20 Jahre her. Die großen Brennpunkte der rezenten deutschen Geschichte liegen schon über zwei Jahrzehnte zurück und haben schon ihre Plätze im Gewebe der Geschichte gefunden. Jedoch sind in den letzten Jahren erstaunlich viele Romane erschienen, in denen trotz alledem die DDR-Zeit im Mittelpunkt des Interesses steht. Eine nachträgliche DDR-Literatur scheint erhalten zu bleiben? In dieser Arbeit werden zwei Romane, in denen eine Geschichte vor dem

Hintergrund der DDR erzählt wird, Eugen Ruges In Zeiten des abnehmenden Lichts1 (2011) und Marion Braschs Ab jetzt ist Ruhe2 (2012) untersucht. Diese beiden Romane sind sich im

manchem Hinblick ähnlich, weisen zum Teil aber auch erhebliche Unterschiede auf.

Sowohl Ruge (geboren 1954) als auch Brasch (geboren 1961) verarbeiten in ihren Romanen bis zu einem bestimmten Grade ihre eigenen Familiengeschichten. Die Familiengeschichten der beiden Autoren sind fest in der Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verankert. Eugen Ruges Vater Wolfgang Ruge war ein bekannter DDR-Historiker, Marion Braschs Vater Horst Brasch war zwischen 1966 und 1969 stellvertretender Kulturminister. Somit hat die Geschichte ihrer Heimat, die Geschichte der DDR, die sich allmählich ihr Ende nähert, den Familiengeschichten der beiden Autoren weitgehend geprägt. Stellen die Romane für die Autoren vielleicht eine Abrechnung mit dem Staat ihrer Väter dar?

Sowohl Ruge als Brasch gehören zur dritten Generation der DDR, zu einer Art von ‚Zwischengeneration‘, wie Aleida Assmann und Ute Frevert es in ihrer Einleitung zu

Geschichtsvergessenheit - Geschichtsversessenheit3 nennen: „Zwischen diesen zwei oder drei Generationen stehen wir selber und bilden eine Art Scharnier zwischen den lebendigen und den vermittelten Erinnerungen.“4

Ruge und Brasch gehören zu dieser Zwischengeneration. Sie wuchsen in der DDR auf und haben das Leben vor DDR-Zeiten nicht gekannt, anders als ihre Eltern (2. Generation) und Großeltern (1. Generation). Die (Groß-)Eltern wussten, was vorher gewesen war und hofften auf ein besseres Leben im neuen Staat. Sie waren bereit, für ihre kommunistischen Ideale zu kämpfen, weil sie die Vorgeschichte kannten. Die Kinder hingegen kannten nur die DDR mit ihren Fehlern. Es sind eben oft Autoren dieser Generation,

1

Eugen Ruge: In Zeiten des abnehmenden Lichts. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2012.

2 Marion Brasch: Ab jetzt ist Ruhe. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2013.

3 Aleida Assmann u. Ute Frevert: Geschichtsvergessenheit - Geschichtsversessenheit. Stuttgart: Deutsche

Verlags-Anstalt 1999. S. 14.

(5)

4 die in den letzten Jahren Werke veröffentlicht haben, in denen sie auf die Zeit der DDR

zurückblicken.5

Diese unterschiedlichen Sichtweisen mehrerer Generationen treten auch in den beiden

Romanen hervor. Sie können ihrem Genre nach als ‚Generationenromane‘ bezeichnet werden. Sie ähneln sich also in diesem Punkt, weisen aber doch Unterschiede auf. Welche

Generationen werden in den beiden Romanen beschrieben und was sind ihre Überzeugungen? Wie ist es mit dem eigenen Leben der beiden Autoren, inwiefern lassen sich

autobiographische Züge zurückfinden? Bei Brasch stehen grundlegend nur zwei Generation im Mittelpunkt des Interesses: die Eltern und die Kinder. Bei Ruge hingegen werden vier Generation beschrieben: die Großeltern, die Eltern, die Kinder und die Enkelkinder. Doch gibt es hier ebenfalls eine deutliche Zäsur zwischen den Eltern einerseits und den Kindern

anderseits.

Das Genre des Generationenromans hat in den letzten Jahren an Popularität gewonnen. Diese Tendenz wird sowohl von Friederike Eigler in ihrer Studie Gedächtnis und Geschichte in

Generationenromanen seit der Wende6 als auch von Aleida Assmann in ihrem Aufsatz

Geschichte im Familiengedächtnis7 und von Julian Reidy in seiner Studie Rekonstruktion und

Entheroisierung. Paradigmen des Generationenromans in der deutschsprachigen

Gegenwartsliteratur8 hervorgehoben. Die Forscher vertreten teilweise ähnliche Sichtweisen

bezüglich des Genres des Generationenromans, doch manchmal zeugen ihre Studien auch von erheblichen Unterschieden. Wie lassen sich die Romane Ruges und Braschs nun mit diesen Theorien des Generationenromans verknüpfen?

Ein weiterer prägnanter Punkt ist die Verknüpfung von kollektiver Geschichte und

persönlichen Geschichten. Ruge und Brasch verarbeiten in ihren Büchern den Verfall ihrer Familien, sie beschreiben also ihre Familiengeschichten, ihre persönlichen Geschichten. Diese

5 Diese Autorengeneration wird auch von Cordula Stenger in ihrem Aufsatz Simple Storys aus dem Osten? Wie

eine Generation junger Autoren und Autorinnen ihre Erfahrungen in Literatur verwandelt beschrieben, wobei sie sich auch auf Karl Mannheims Generationskonzept bezieht. Vgl. CordulaStenger: Simple Storys aus dem Osten? Wie eine Generation junger Autoren und Autorinnen ihre Erfahrungen in Literatur verwandelt. In: Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 52 (1) 2003. S. 389-415.

6 Friederike Eigler: Gedächtnis und Geschichte in Generationenromanen seit der Wende. Berlin: Erich Schmidt

2005.

7 Aleida Assmann: Geschichte im Familiengedächtnis. Private Zugänge zu historischen Ereignissen. In: Neue

Rundschau 2007 (1). S. 157-176.

8

Julian Reidy: Rekonstruktion und Entheroisierung. Paradigmen des Geneartionenromans in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Bielefeld: Aisthesis Verlag 2013.

(6)

5 sind aber eng mit der kollektiven Geschichte, der Geschichte der DDR, verknüpft. Es sind verwobene Geschichten, es entsteht eine Wechselwirkung zwischen persönlicher und

kollektiver Geschichte. Wie wird nun aber diese Verknüpfung, diese Wechselwirkung in den beiden Romanen reflektiert? Und wie verhalten sich die Familiengeschichten mit der

politischen Geschichte? Gibt es eine Abrechnung mit der oder eher einen Rückblick auf die DDR?

Ein Vergleich zwischen den Romanen Ruges und Braschs im Hinblick auf die oben

genannten Theorien bezüglich des Generationenromans sowie der Wechselwirkung zwischen kollektiver Geschichte und persönlichen Geschichten wirft die folgende Fragestellung auf: Wie wird die Geschichte der DDR in diesen beiden Familienromanen mithilfe von

Familiengeschichten reflektiert und wie werden in den beiden Romanen die Geschichte der DDR und die Familiengeschichten miteinander verknüpft?

Im ersten Kapitel wird der literaturhistorische Kontext der beiden Werke – die Literatur nach der Wende, eine Art nachträgliche DDR-Literatur – eingeführt. Das Genre des

Generationenromans sowie die verschiedenen Theorien bezüglich dieses Genres werden im zweiten Kapitel vorgestellt. Das dritte Kapitel ist dem Begriff der Generation und vor allem der spezifischen Generation der Autoren der beiden Romane gewidmet. Im Anschluss werden die beiden Romane sowie ihre Autoren vorgestellt. In einem nächsten Schritt werden diese dann hinsichtlich des Genres des Generationenromans miteinander verglichen. Abschließend wird die Verknüpfung und Wechselwirkung zwischen kollektiver Geschichte und

persönlichen Geschichten in Bezug auf die beiden Romane reflektiert.

Es ist davon auszugehen, dass die Romane Ruges und Braschs sich zum Teil ähneln,

vornehmlich hinsichtlich der Tatsache, dass in beiden Romanen eine Familiengeschichte, die sich über mehrere Generation ausbreitet und große Teile der deutschen Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts umfasst, erzählt wird. Andererseits ist anzunehmen, dass die Romane sich eben in der Art und Weise, in der die Familiengeschichten erzählt werden, und bezüglich der damit verbundenen Wirkung der Romane unterscheiden. Es muss sich aber herausstellen, inwiefern dies sich mit den bisherigen Theorien zum Generationenroman verknüpfen ließe.

(7)

6

1. Der ‚neue‘ DDR-Roman

Mittlerweile schon seit fast 25 Jahren gibt es die DDR nicht mehr. Nach Mauerfall und Wende wurde sie, obwohl immer von Wiedervereinigung die Rede war, im Grunde genommen in die BRD aufgenommen. Alles, was direkt oder indirekt mit der DDR zu tun hatte, scheint schon seit längerem Vergangenheit zu sein. Dennoch tritt die DDR immer noch in literarischen Werken auf und scheint so manchmal wieder zum Leben zu kommen,

zumindest in der Literatur. Die DDR mag dann schon längst verschwunden sein, als literarisches Thema wird ihr weiterhin durchaus noch Bedeutung zugemessen. Bleibt die Tradition der DDR-Literatur doch irgendwie noch erhalten? Auch die Romane Ruges und Braschs stehen so gewissermaßen noch in der Tradition der DDR-Literatur. Sie blicken aus einer Retrospektive auf die Zeit der DDR und zugleich auf deren Auflösung zurück. Auch wenn sie erst über zwanzig Jahre nach der Wende erschienen sind, beschäftigen sie sich mit dieser ehemaligen DDR und deren Auflösung, sie fußen noch in der Tradition der DDR-Literatur, wenn man diese nicht nur als die in der damaligen DDR produzierten DDR-Literatur, sondern vielmehr als die Literatur, die sich thematisch mit der DDR beschäftigt, versteht.9 Wolfgang Emmerich schreibt hierzu in seinem Standardwerk zur DDR-Literatur, die kleine

Literaturgeschichte der DDR10: „Von allen möglichen Themen war die DDR selbst immer der

DDR-Literatur liebstes Kind.“11 Aus dieser Perspektive kann die DDR-Literatur auch nach der Wende und der Auflösung der DDR noch weiter existieren, indem das Thema DDR immer noch in literarischen Werken angesprochen wird. Vielleicht ist das der ‚neue‘ DDR-Roman?

Schon kurz nach der Wende sind zahlreiche Romane, in denen sich die Autoren mit der DDR und deren Verfall auseinandersetzten, erschienen. Aber auch im neuen Jahrhundert sind noch viele literarische Werke veröffentlich worden, die sich mit diesem Thema beschäftigen.12 Kurz nach der Wende, nach einem solchen tiefgreifenden Ereignis war das verständlich. Doch, weshalb entstehen solche Werke auch jetzt noch, über zwanzig Jahre nach der Wende?

9

Kurt Rothmann beschreibt die DDR-Literatur in seiner kleine[n] Geschichte der deutschen Literatur als „eine durch ihre Stoffe und Motive zu definierende Literatur“. Kurt Rothmann: Kleine Geschichte der deutschen Literatur. Stuttgart: Reclam 2009. S. 383.

10 Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Berlin: Aufbau Verlag 2009 (4. erweiterte

Auflage).

11

Ebd. S. 487.

12 In einem Spiegel-Artikel aus 2011 werden neben Ruges In Zeiten des abnehmenden Lichts noch vier weitere

Romane, die sich im Nachhinein mit der DDR auseinandersetzen, beleuchtet. Darüber hinaus ließen sich noch viele weitere Beispiele nennen. Vgl. Volker Hage: Nur die Natur ist gerecht. In: Der Spiegel 41, 2011. S. 140-144.

(8)

7 Weshalb gibt es weitere 25 Jahre nach dem Mauerfall noch eine so große Nachfrage?

Wolfgang Emmerich gibt hierfür folgende Erklärung:

Aber einig konnten sich alle DDR-Bürger ohne Ausnahme darin sein, daß sie durch die Wende in eine Situation des Übergangs, des Vorübergehens, ja auch des Abbaus geraten waren. Eine solche Situation des stets schon wieder flüchtigen Augenblicks war nicht dazu angetan, bedeutende Literatur hervorzubringen, jedenfalls nicht unmittelbar, nicht in diesem Augenblick. Auch die früheren großen Krisen und Katastrophen der Neuzeit hatten sich nicht im Zeitpunkt ihres Geschehens in große Literatur verwandelt, vielmehr waren jeweils Jahre oder gar Jahrzehnte ins Land gegangen, ehe diese ans Licht trat. Insofern war (und ist) es eine falsche Erwartung, der Zeit der welthistorischen Wende im Osten auch gleich noch eine ebenso

weltbewegende Literatur abzuverlangen.13

Laut Emmerich könne „bedeutende Literatur“ nicht, wie schon die erst spätere Entstehung wichtiger literarischer Werke nach früheren großen Ereignissen gezeigt habe, gleichzeitig mit den jeweiligen Ereignissen entstehen, sondern erst im Nachhinein. In dieser Hinsicht ist es deshalb auch nicht erstaunlich, dass erst in den letzten Jahren, also ungefähr zwei Jahrzehnte nach der Wende, Romane wie die beiden hier vorgeführten Beispiele entstanden sind. Wie Emmerich behauptet, benötige die Literatur sogar einen gewissen zeitlichen Abstand zu den historischen Ereignissen, um überhaupt über diese berichten zu können.

Die DDR hat sich über ihr eigenes Ende und die Wende hinaus also noch als Thema in der Literatur erhalten können. Diese Literatur ließe sich womöglich als ‚nachträgliche‘ DDR-Literatur bezeichnen. Denn obwohl nach der Wende auch für die bisherige DDR-DDR-Literatur das Ende nahe war, lebt sie gewissermaßen jedoch als literarisches Thema weiter, auch wenn diese Literatur sich in vielen Punkten von der DDR-Literatur abgrenzt. Zur

Kontextualisierung dieser nachträglichen DDR-Literatur werden im Folgenden anhand Wolfgang Emmerichs kleine Literaturgeschichte der DDR kurz die wichtigsten Etappen der Entwicklung der DDR-Literatur um die Wende und darüber hinaus skizziert.

Die Wende hat ein Umdeuten des bisherigen Literaturverständnisses in der DDR hervorgebracht. Neben dem politischen Umbruch von einer Diktatur zu einem demokratischen Staat, der letztendlich in Form mehrerer neuen Bundesländer in die Bundesrepublik Deutschland aufgenommen wurde, verloren auf einmal auch die vorher geltenden kulturellen und literarischen Strukturen ihre Gültigkeit. Vor der Wende hatte die

(9)

8 Literatur in der DDR eine eigene Funktion und eine gefestigte und selbstverständliche

Position innerhalb der Gesellschaft und des Staates gehabt, doch nach der Wende und der Wiedervereinigung musste sie ihre Stelle im neuen Deutschland gegenüber der westdeutschen Literatur begründen und verantworten. In der DDR hatte die Literatur vor allem in der ersten Zeit nach der Gründung der DDR eine wichtige Funktion im Rahmen des Aufbaus des sozialistischen Staates: „Schon dadurch, daß die SED der Literatur zentrale

sozialpädagogische Aufgaben übertrug, die von der Mehrzahl der Autoren zunächst emphatisch angenommen wurden, gewann die schöne Literatur einen herausgehobenen Status.“14

Die Schriftsteller der DDR sollten also als Musterbeispiele und ihre Werke als Wegbereiter für den neuen sozialistischen Staat fungieren. Vor allem in den ersten Jahren hatte man die Hoffnung, dass es die Möglichkeit gäbe, die DDR zu einem richtigen sozialistischen Arbeiterparadies zu entwickeln. Auch später als die Hoffnungen ein wenig relativiert und von der Realität eingeholt worden waren, behielten manche, darunter bekannte Schriftsteller wie Christa Wolf, Heiner Müller, Stefan Hermlin oder Volker Braun den

utopischen Glauben an die Möglichkeit eines richtigen sozialistischen Staates.15

Doch neben dieser Gruppe von Schriftstellern, die dem Kurs der Partei in ihrer Literatur mehr oder weniger treu blieben, gab es auch eine wachsende Gruppe von Schriftstellern, die dem Staat eher kritisch gegenüberstanden. Während die parteitreuen Schriftsteller eine feste Position in der DDR hatten, wurden die kritischeren Autoren meistens von der Zensur eingedämmt. Nur wer seine Kritik zwischen den Zeilen versteckte, so dass diese vom Zensor übersehen wurde, konnte seine Werke noch veröffentlichen. Eines der bekanntesten Beispiele war Christa Wolf. Obwohl sie sich zwischen den Zeilen in ihren Werken manchmal kritisch über die DDR äußerte, wurde sie auch als einer der wichtigsten DDR-Schriftsteller gefeiert und konnte deshalb ihre Werke veröffentlichen. Für die Leser hatte diese implizite, zwischen den Zeilen kritische Literatur eine wichtige Funktion: „Kritische DDR-Literatur schuf und vollzog eine Ersatzöffentlichkeit anstelle einer nicht zugelassenen Presse- und

Medienöffentlichkeit, wie sie für demokratische verfaßte Gesellschaften konstitutiv ist.“16

Doch wer sich öffentlich kritisch dem Staat gegenüber äußerte, wurde erpresst. Man durfte seine Werke nicht mehr veröffentlichen und wurde von der Staatssicherheit überwacht, weil man eine Bedrohung für den Staat wäre. Viele kritische Schriftsteller versuchten ihre Werke

14 Ebd. S. 12. 15

Vgl. Ebd. S. 457.

(10)

9 dann im Westen zu veröffentlichen. Manche verließen auch die DDR, wie zum Beispiel Thomas Brasch und später Monika Maron, oder wurden, wie im Jahre 1976 Wolf Biermann, sogar schon vom Staat zwangsausgebürgert.17

Diese gefestigten Strukturen, die Funktion der Literatur für den Staat sowie die

Unmöglichkeit, sich kritisch über die DDR zu äußern, waren nun nach der Wende auf einmal verschwunden: „Schon das eine Jahr vom Herbst 1989 bis zum Vereinigungstag 1990 stürzte gerade im Bereich der Kultur – und im besonderen der Literatur – fast alles über den Haufen, was bis dahin galt.“18

Jetzt herrschte die Presse- und Meinungsfreiheit des Westens. Ein Neubeginn stand bevor. Doch was sollte nun aus der DDR-Literatur werden? Emmerich beschreibt diese Problematik auf folgende Weise:

Der Zusammenbruch des Systems DDR-Literatur nötigte […] die Schriftsteller dazu, sich auf radikal veränderte, ihnen weitgehend unbekannte Verhältnisse einer freien und nur bedingt sozialen Marktwirtschaft einzustellen. […] Das bisherige

Selbstverständnis der Autorenrolle wurde fragwürdig, ja, mehr oder weniger hinfällig.19

Nicht nur das politische und ökonomische System veränderte sich mit der Wende, auch die Menschen selbst hatten sich an die neuen Verhältnissen zu gewöhnen und anzupassen, insbesondere auch die Schriftsteller, denn ihre bisher gefestigte Position war auf einmal verschwunden, sie mussten sich jetzt an den westlichen Maßstäben messen können.

Es kam folglich zu einem Verlust der Position und Funktion der Literatur sowie des

Schriftstellers. Hinzu kam noch die Tatsache, dass sich die DDR-Literatur jetzt nicht mehr so deutlich von der BRD-Literatur abgrenzen konnte, da der Staat, mit dem ihr Dasein ja eng verknüpft gewesen war, nun nicht mehr existierte. Es gab jetzt ein vereintes Deutschland und die beiden unterschiedlichen Literaturen aus Ost und West mussten nun auch

zusammenfinden. Denn obwohl vor allem in den ersten Jahren nach der Trennung von DDR und BRD meistens noch von einer einheitlichen deutschen Literatur gesprochen wurde, hatten sie sich doch zu zwei unterschiedlichen deutschen Literaturen entwickelt, die nach der Wende aufeinander trafen.20 Das bekannteste Beispiel des Zusammenstoßes dieser zwei Literaturen

17 Vgl. Ebd. S. 253. 18 Ebd. S. 435. 19 Ebd. S. 456. 20 Vgl. Ebd. S. 523.

(11)

10 war der „deutsch-deutscher Literaturstreit“21, 22

, auf dem hier aber nicht näher eingegangen werden wird.

Wichtig bleibt vor allem, dass, obwohl jetzt meistens von der deutschen Literatur im

Allgemeinen gesprochen wird, ohne noch zwischen Ost und West zu unterscheiden, es keine einzige einheitliche deutschsprachige Literatur gibt und wohl auch nie so geben wird, zumal es des Weiteren auch noch die österreichische und schweizerische deutschsprachige Literatur gibt. Aber auch die deutsche deutschsprachige Literatur ist nicht einheitlich, außer vielleicht in sprachlicher Hinsicht. Sie beschäftigt sich mit einer Vielfalt von Themen, aus

unterschiedlichen Kontexten entnommen.23 Emmerich sagt dazu:

Die deutschsprachige Gegenwartsliteratur existiert in einer Vielzahl zueinander offener Szenen. Eine davon wird noch für längere Zeit die sich verändernde regionale ostdeutsche Szene auf den Spuren der einstigen DDR-Literatur sein.24

Auch wenn die DDR längst Geschichte ist, wird ein Teil der literarischen Szene sich immerhin noch mit ihr beschäftigen. Dieser Teil der Literatur könnte man, nach Emmerich, „auf den Spuren der einstigen DDR-Literatur“ sehen, also als eine Art Nachfolger, eine nachträgliche DDR-Literatur. Die DDR-Literatur hat sich somit teilweise noch erhalten, denn, obschon die Funktion und Position der ehemaligen DDR-Literatur verschwunden sind, ist die DDR als literarisches Thema weiterhin von Bedeutung, auch jetzt noch, über zwei Jahrzehnte nach der Wende.

So könnte man die Vielzahl der in den letzten Jahren veröffentlichten Romane, in denen das Thema DDR verhandelt wird, als ‚neue‘ DDR-Romane bezeichnen. Was sind aber die allgemeinen Tendenzen dieser ‚nachträglichen‘ Literatur, dieses ‚neuen‘ DDR-Romans? Wie Wolfgang Emmerich sieht in der DDR-Literatur der Nachwendezeit erstens

21 Ebd. S. 462.

22 Dieser deutsch-deutscher Literaturstreit drehte sich vornehmlich um Christa Wolfs erst nach der Wende

veröffentlichte Erzählung Was bleibt (1990), in der Christa Wolf sich literarisch mit ihrer Überwachung durch die Staatssicherheit auseinandersetzt. Kurz darauf wurde mit der Veröffentlichung der Stasi-Akten aber bekannt, dass Christa Wolf selbst ebenfalls für kurze Zeit als informeller Mitarbeiter für die Staatssicherheit gearbeitet hatte. Ihr wurde nun vorgeworfen, erst nach der Wende ihre Erzählung über die Staatssicherheit veröffentlicht zu haben und gleichzeitig selbst auch für die Staatssicherheit tätig gewesen zu sein. Christa Wolf: Was bleibt. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Verlag 2012.

23

Diese Auffassung wird auch von Iris Radisch in ihrem Essay Zwei getrennte Literaturgebiete. Deutsche Literatur der neunziger Jahre in Ost und West hervorgehoben. Vgl. Iris Radisch: Zwei getrennte

Literaturgebiete. Deutsche Literatur der neunziger Jahre in Ost und West. In: DDR-Literatur der neunziger Jahre. Text + Kritik Sonderband. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. München: Edition Text + Kritik 2000. S. 13-26.

(12)

11 eine Tendenz zur Verwendung (auto-)biographischer Elemente. Die Schriftsteller beschreiben das Leben einer Person im Gewebe der Vergangenheit oder versuchen auch ihren eigenen Wurzeln nachzugehen. Von dieser Tendenz zeugen, wie in dieser Arbeit gezeigt werden wird, auch die Romane Ruges und Braschs. Wichtig bleibt aber vor allem die Fokussierung auf die DDR als literarisches Thema. Zum einen gibt es literarische Werke, in denen ein Bild der Vergangenheit, ein Bild der DDR skizziert wird. Andererseits gibt es auch Autoren, die versuchen, in ihren Werken mit der DDR-Zeit und vor allem mit der Generation ihrer Väter abzurechnen. Als Musterbeispiel hierfür gilt Monika Marons Roman Stille Zeile Sechs25 (1991), dessen Protagonistin Rosalind Polkowski sich als Schreibhilfe dem ehemaligen DDR-Politiker Herbert Beerenbaum ausleiht. Obwohl sie sich eigentlich vorgenommen hatte, dabei nicht ihren Kopf zu verwenden, denn: „Ich werde nicht mehr für Geld denken“26

, bekommt sie immer mehr den Drang, mit Beerenbaum und der von ihm verkörperten DDR-Staat abzurechnen. Doch scheint ein solches Abrechnen mit der DDR in den im letzten Jahrzehnt erschienenen Romanen eben nicht mehr im Mittelpunkt des Interesses zu stehen, sondern geht es vielmehr nur um eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, um die Wiedergabe desjenigen, das einmal gewesen ist.

Eine letzte von Emmerich angesprochene Tendenz ist die Fokussierung der ‚nachträglichen‘ DDR-Literatur auf Orte außerhalb der ehemaligen DDR.27 Während die DDR-Literatur sich früher fast ausschließlich auch in der DDR abspielte, bricht sie jetzt aus ihren Grenzen aus und umfasst nun weitere Teile der Welt.28 So reist die Protagonistin Johanna in Monika Marons Roman Ach Glück29 (2007) auf der Suche nach der verschollenen Künstlerin Leonora Carrington nach Mexiko und erzählt Christa Wolf in Stadt der Engel oder The Overcoat of

Dr. Freud30 (2010) von ihrer Zeit in Los Angeles. Außerdem spielt auch Ruges Roman spielt teilweise in Mexiko. Dennoch gilt das nicht für alle im letzten Jahrzehnt erschienenen ‚neuen‘ DDR-Romane. So spielt zum Beispiel Uwe Tellkamps Roman Der Turm31 (2008) nur in der ehemaligen DDR.

25

Monika Maron: Stille Zeile Sechs. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2006.

26 Ebd. S. 24.

27 Vgl. Emmerich 2009. S. 505.

28 Obwohl schon einige in der DDR erschienenen literarischen Werke zum Beispiel in der Antike spielen, wie

Christa Wolfs Erzählung Kassandra (1983). Christa Wolf: Kassandra. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Verlag 2008.

29 Monika Maron: Ach Glück. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2011.

30 Christa Wolf: Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch

Verlag 2012.

(13)

12 Der ‚neue‘ DDR-Roman hat also vor allem seine Auseinandersetzung mit der DDR als

literarisches Thema als Kennzeichen. Zwar lassen sich einige Tendenzen, wie der Bezug auf (auto-)biographische Elemente und die größere Ausbreitung der Schauplätze der Romane erkennen, aber im Allgemeinen zeichnet sich der ‚neue‘ DDR-Roman vornehmlich aufgrund seines literarischen Themas – die DDR – aus.

(14)

13

2. Generationenromane

Die Romane Braschs und Ruges ähneln sich insofern, als dass sie beide die Geschichte einer Familie darstellen und dabei nicht nur auf eine, sondern auf mehrere Generationen

fokussieren. Man könnte diese beiden Werke also als Familien- oder als Generationenroman bezeichnen.32 Aber was sind eigentlich Generationenromane und in welcher Tradition sind sie verwurzelt? Wie funktionieren die Generationenromane im Hinblick auf das Gedächtnis? Und was ist ihr Potenzial, was macht die Generationenromane so beliebt? Diese Fragen werden anhand der bisherigen Forschung zum Genre des Generationenromans im Folgenden erläutert werden.

2.1 Was ist ein Generationenroman?

Der Generationenroman wird in der Forschung, je nachdem welche spezifischen Kennzeichen dem Genre zugeschrieben werden, unterschiedlich gewertet und definiert. Im Allgemeinen kann man aus dem Begriff ‚Generationenroman‘ schon schließen, dass es bei diesem Genre um Romane geht, in denen die Beziehungen zwischen unterschiedlichen Generationen im Mittelpunkt des Interesses stehen. Ein Generationenroman beschreibt also eine Geschichte, die über mehrere Generationen verbreitet abläuft. Doch, wenn es um eine spezifischere Beschreibung dieses Genres geht, gibt es verschiedene Ansätze. Einige unterschiedliche Positionen bezüglich des Generationenromans, von Friederike Eigler, Aleida Assmann und Julian Reidy – die sich vornehmlich auf Generationenromane, die nach der Wende entstanden sind, beziehen – werden im Folgenden kurz erläutert.

Friederike Eigler untersucht in ihrem Buch Gedächtnis und Geschichte in

Generationenromanen seit der Wende das Genre des Generationenromans im Hinblick auf die

Wende und die Wiedervereinigung Deutschlands, da nach der Wende viele dieser Generationenromane erschienen sind. Sie sieht diese Generationenromane „als genuin literarische Beiträge zum kulturellen Gedächtnis der neuen Bundesrepublik.“33 Eigler unterscheidet hierbei zwei Typen. Zum einen gebe es Romane, in denen eine

Familiengeschichte einfach nacherzählt werde, ohne dass der Prozess des Erinnerns

32

In der Forschung hat sich mittlerweile der Begriff ‚Generationenroman‘ durchgesetzt, zumal der Begriff ‚Familienroman‘ nach Freuds Werk Der Familienroman der Neurotiker eine eher negative Konnotation erhalten hat. Deshalb wird in dieser Arbeit ebenfalls der Begriff ‚Generationenroman‘ angewendet werden. Vgl. Reidy 2013. S. 7.

(15)

14 angesprochen werde, wie zum Beispiel Thomas Manns Buddenbrooks34 (1901). (Zwar kein Wenderoman, aber immerhin eines der bekanntesten Beispiele eines Generationenromans.) Zum anderen gebe es aber auch Romane, in denen eine Familiengeschichte mühsam erforscht und rekonstruiert werde. Als Beispiel für eine solche rekonstruierte Familiengeschichte sieht Eigler Christa Wolfs Kindheitsmuster35 (1976). Eigler beschränkt sich in ihrem Buch auf diesen letzten Typ, den rekonstruierenden Generationenroman, den sie folgendermaßen beschreibt:

Die narrative Struktur dieses Genres liegt in der nachträglichen Rekonstruktion einer Familiengeschichte begründet. Die rekonstruierte Vergangenheit geht weit hinter die Geburt der Erzählfiguren zurück […]. Vielmehr kommt es zu komplexen narrativen Konstellationen, die den mehrfach vermittelten und gebrochenen Zugang der

nachgeborenen Erzählerfiguren zur familiären Vergangenheit literarisch umsetzen.36

Für Eigler stellen Generationenromane also eine „nachträglich[e] Rekonstruktion einer Familiengeschichte dar“, die sich über mehrere Generationen verteilt und sich nicht nur auf die Generation des Erzählers beschränkt. Da der Erzähler die Familiengeschichte über seine eigene Generation hinaus rekonstruiert, hat er, laut Eigler, zu dieser Familiengeschichte nur einen „mehrfach vermittelten und gebrochenen Zugang“. Manche Elemente der

Familiengeschichte sind dem Erzähler nur über Erzählungen anderer Familienmitglieder oder über Erinnerungsobjekte bekannt. Der Erzähler hat also nur beschränkt Zugang zur

Geschichte und muss sich diese Geschichte Teil für Teil rekonstruieren, wobei dieser Rekonstruktionsprozess, so Eigler, auch in den unterschiedlichen Romanen reflektiert wird.

Auch Aleida Assmann beschreibt den Generationenroman in ihrem Essay Geschichte im

Familiengedächtnis als eine Rekonstruktion der (eigenen) Familiengeschichte. Diese

Generationenromane entfernen sich laut Assmann von der Idee des Traditionsbruchs der Moderne. Hingegen lasse sich auf den Generationenroman die Idee einer Kette, nach den Auffassungen Friedrich Schillers, welche vor der Moderne Geltung hatte, anwenden.37 Assmann sieht als Thema des Generationenromans „die Fokussierung auf ein fiktives oder autobiographisches Ich, das sich seiner Identität gegenüber der eigenen Familie und der deutschen Geschichte vergewissert.“38 Assmann betont also ebenfalls die Suche nach der

34

Thomas Mann: Buddenbrooks. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2010.

35 Christa Wolf: Kindheitsmuster. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Verlag 2007. 36 Ebd. S. 60.

37

Vgl. Assmann 2007. S. 158.

(16)

15 eigenen „Identität“ im Generationenroman, wobei man versucht, sich in die Tradition der eigenen Familiengeschichte sowie der gemeinsamen (deutschen) Geschichte einzugliedern. Es geht laut Assmann um eine „existentielle Verschränkung von Individuum, Familiengeschichte und nationaler Geschichte“39

, die im Generationenroman über die Rekonstruktion der Familiengeschichte erreicht wird.

Julian Reidy hingegen beschreibt in seinem Buch Rekonstruktion und Entheroisierung teilweise eine andere Auffassung des Genres des Generationenromans. Für ihn sind damit generell „Prosatexte gemeint, in welchen intergenerationelle Konstellationen ein

Strukturprinzip bilden.“40

Es geht also wiederum um Romane, in denen eine Geschichte über mehrere Generationen beschrieben wird. Auch er folgt, zumindest teilweise, Eiglers

Beschreibung des Generationenromans als einen Rekonstruktionsprozess. Andererseits aber behauptet Reidy, dass diese Idee der Rekonstruktion heutzutage nicht mehr für das ganze Genre zutrifft, sondern, dass in der Gegenwartsliteratur vielmehr zwei unterschiedliche Typen des Generationenromans unterschieden werden sollten:

Aktuelle Generationenromane können einerseits faktual grundierte Rekonstruktionen von (Familien-)Geschichten zur Darstellung bringen, welche oft eine

‚selbstreferenzielle Dimension‘ aufweisen und (selbst-)therapeutische oder

identitätsbildende Wirkungsabsichten portieren; andererseits aber wird sich zeigen, dass Generationalität in gewissen Generationenromanen, die ich als postheroisch bezeichne, in gleichsam ahistorsicher Weise funktionalisiert ist und mithin andere, gerade auch gegenwarts- und zukunftsbezogene Erkenntnisinteressen im Vordergrund stehen.41

Reidy unterscheidet also neben Generationenromane, die sich, wie Eigler behauptet, um „Rekonstruktionen von (Familien-)Geschichten“ bemühen, auch Generationenromane, die er als „postheroisch“ kennzeichnet. Die ‚rekonstruierten‘ Generationenromane sind, so Reidy, eher auf Fakten basiert und haben eine „(selbst-)therapeutische oder identitätsbildende“ Funktion, sie blicken zurück, um die Geschichte und somit die Identität des Erzählers zu erforschen und zu begründen. Die „postheroischen‘ Generationenromane hingegen haben nach Reidy „auch gegenwarts- und zukunftsbezogene Erkenntnisinteressen“.42

39 Reidy 2013. S. 160. 40 Ebd. S. 40.

41

Ebd.

42 Als Beispiele ‚rekonstruktiver‘ Generationenromane nennt Reiyd u.a. Monika Marons Pawels Briefe und

Stephan Wackwitzs Ein unsichtbares Land. Als Beipiele ‚post-heroischer‘ Generationenromane sieht er z.B. Judith Zanders Dinge, die wir heute sagen und Peggy Mädlers Legende vom Glück des Menschen. Vgl. Ebd. S. 5-6.

(17)

16 Reidy beschreibt den ‚postheroischen‘ Generationenroman nach Ulrike Jureits Begriff der „postheroischen Generation“43

. Mit diesem Begriff werden diejenigen Generationen

bezeichnet, die sich nicht mehr mit wichtigen historischen Ereignissen, zum Beispiel Kriege, verknüpft fühlen, sondern sich eher um „lebensweltliche Bezugsgrößen wie ökonomische und soziale Bedingungen“44

kümmern. Aber wo liegt die Grenze zwischen historischer und postheroischer Generation?

Angehörige der postheroischen Generationen - gemeinhin werden die 68er als ‚letzte historische Generation des 20. Jahrhunderts‘ bezeichnet, d.h. als letzte Generation, die sich ‚an historischen Bezugsereignissen orientierte‘ und sich ‚als politische Kraft mit Erneuerungsanspruch verstand‘ - machen sich, so Ulrike Jureit etwas polemisch, ‚mehr Gedanken um ihr Outfit als um den Welthunger‘.45

Nach Jureit ist die letzte „historische Generation“, die sich noch „an historischen

Bezugsereignissen“ orientiert und für eine Sache politisch eingesetzt hat, die Generation der 68er gewesen. Spätere Generationen, eben diese „postheroischen Generationen“, machten sich laut Jureit „mehr Gedanken um ihr Outfit als um den Welthunger“, d.h. sie kümmerten sich mehr um ihr eigenes individuelles Leben, als um gemeinsame Ereignisse. Dies wird als eine „Entheroisierung des Generationenbegriffs“46

angedeutet. Es geht darum, dass die neueren – eben diese „postheroischen“ – Generationen nicht mehr das Bedürfnis haben, als Helden in die Geschichte einzugreifen und sie zu verändern. Ebenso dominiert im

‚postheroischen‘ Generationenroman „kein diachrones Interesse an Familiengeschichte(n)“47

, wie im rekonstruktiven Pendant. Man ist nicht mehr interessiert daran, die Familiengeschichte vom Anfang an vollständig, gemäß ihrer zeitlichen Abfolge, zu beschreiben. Im Gegensatz dazu geht es im ‚postheroischen‘ Generationenroman, so Reidy, nicht mehr um eine diachrone, sondern eher um eine synchrone Perspektive: „Vielmehr werden entschieden synchrone private und gesellschaftliche Problemkomplexe im Hinblick auf ihre Verflechtung mit den Genealogien der Protagonisten thematisiert.“48

Im ‚postheroischen‘

Generationenroman wird also auf einige „private und gesellschaftliche Problemkomplexe“ fokussiert, die dann in Bezug auf die Unterschiede zwischen den verschiedenen Generationen beschrieben werden. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Im ‚rekonstruktiven‘

43 Ulrike Jureit: Generationenforschung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006. S. 96. 44 Reidy 2013. S. 16.

45 Ebd. S. 16-17. 46

Heinz D. Kittsteiner: Die Generationen der Heroischen Moderne. Zur kollektiven Verständigung über eine Grundaufgabe. In: Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs. Hg. v. Ulrike Jureit u. Michael Wildt. Hamburg: Hamburger Edition 2005. S. 200-219, hier S. 216.

47

Reidy 2013. S. 20.

(18)

17 Generationenroman geht es um die Diachronie, um die zeitliche Entwicklung der

Familiengeschichte über mehrere Generationen, wohingegen im ‚postheroischen‘

Generationenroman eher die Synchronie, die Beschreibung von einem Ereignis und dessen Auswirkung auf die unterschiedlichen Generationen, im Mittelpunkt des Interesses steht.

2.2 Vorläufer: Väterliteratur?

Auch hinsichtlich möglicher Vorläufer der Generationenromane bestehen unterschiedliche Sichtweisen, vor allem bezüglich einer möglichen Verknüpfung vom Generationenroman mit der Väterliteratur der 70er und 80er Jahre. Mit dem Begriff der Väterliteratur werden

literarische Werke bezeichnet, die sich mit der Kriegsvergangenheit der Eltern der Erzähler auseinandersetzen. In dieser Väterliteratur werden also ebenfalls mehrere Generationen beschrieben. Sowohl Friederike Eigler als Aleida Assmann sehen den Generationenroman als eine eigenständige, nicht mit der Väterliteratur zu verknüpfende Gattung.49

Eigler sieht den Unterschied zwischen Väterliteratur und Generationenroman darin, dass die Väterliteratur sich auf „Auseinandersetzung mit bzw. Distanzierung von der Generation der Kriegsteilnehmer“50

beschränke, wohingegen der Generationenroman eine „erweiterte historische Perspektive“51

vermittle. Der Unterschied beruht also vornehmlich auf der beschriebenen Zeitspanne, welche beim Generationenroman größer ist als in der

Väterliteratur. Des Weiteren behauptet Eigler, dass die Generationenromane „von einem hohen Grad an Distanz und Reflexion zeugen“52

und sich außerdem um eine „Annäherung an die eigenen Vorfahren“ 53

bemühen. Im Generationenroman geht es somit nicht mehr um die in der Väterliteratur vorherrschende Abrechnung mit und die Abgrenzung von der Generation der Eltern, den Bruch, sondern eher um eine Annäherung an die Familiengeschichte. Das Verhältnis des Erzählers zur Familiengeschichte im Generationenroman unterscheidet sich somit von demjenigen in der Väterliteratur.

Assmann sieht den Unterschied zwischen Väterliteratur und Generationenroman ebenfalls im Verhältnis des Erzählers zur Familiengeschichte:

49 Laut Reidy ist die Väterliteratur in der bisherigen Forschung fast nie als Vorbereiter des Generationenromans

betrachtet worden: „In der Regel werden mögliche Bezüge zwischen der Väterliteratur und den aktuellen Generationenromanen mit kurzen, wegwerfenden Formulierungen übergangen.“ Ebd. S. 22.

50 Eigler 2005. S. 25. 51 Ebd.

52

Ebd.

(19)

18 In der Väterliteratur geht es immer um diese Sollbruchstelle, sie ist der Ort, wo das Drama der deutschen Nachkriegsgeschichte von Schuld und Anklage, Verstrickung und Auflehnung exemplarisch ausagiert wird. Im Familienroman dagegen weitet sich die erzählte Zeit zu einer drei (und mehrere) Generationen umspannenden

Retrospektive. […] Nach der Väterliteratur, die performativ den Bruch zwischen den Generationen vollzog, steht hinter dem Familienroman das Problem der Kontinuität in Gestalt langfristiger Verstrickungen, Übertragungen und Verschränkungen, die sich z.T. hinter dem Rücken der Familienmitglieder herstellen.54

Laut Assmann geht es beim Generationenroman vor allem um „Kontinuität in Gestalt

langfristiger Verstrickungen, Übertragungen und Verschränkungen“, also um die große Linie der Familiengeschichte, um eine diachrone Perspektive. In der Väterliteratur hingegen steht nach Assmann vor allem die „Sollbruchstelle“ im Mittelpunkt des Interesses, es geht um den Bruch zwischen den Vätern, die als Mittäter des Zweiten Weltkriegs gesehen werden, und den Kindern, die versuchen, sich (radikal) von ihren Eltern abzugrenzen. Man könnte sagen, dass in der Väterliteratur, im Unterschied zum Generationenroman, Assmanns Meinung nach eher eine synchrone Perspektive aufgeworfen wird. Dies würde sich dann auch in der Anzahl der Generationen, welche in den Erzählungen angesprochen werden, zeigen, denn in der

Väterliteratur geht es prinzipiell um den Konflikt zwischen zwei Generationen, den Eltern und den Kindern, wohingegen im Generationenroman, so Assmann, „sich die erzählte Zeit zu einer drei (und mehrere) Generationen umspannenden Retrospektive“ ausdehne. Die Geschichten im Generationenroman sollten also im Vergleich zur Väterliteratur, wo es meistens um den Konflikt zwischen nur zwei Generationen geht, auf mehreren

unterschiedlichen Generationen ausgedehnt sein.

Wo bei Eigler und Assmann der Generationenroman als eine neue literarische Gattung ohne Verknüpfung zur Väterliteratur vorgestellt wird, vertritt Julian Reidy einer anderen Meinung. In Bezug auf Assmanns Unterscheidung von Väterliteratur und Generationenroman schreibt er:

Insgesamt befremdet an Assmanns Äußerungen zu den Generationenromanen der Gegenwartsliteratur die Tatsache, dass sie fast ausnahmslos auch auf die Väterliteratur anwendbar wären und mithin die zur Anwendung gebrachten

Differenzierungskriterien vollkommen unscharf sind.55

54

Assmann 2007. S. 160.

(20)

19 Laut Reidy könnte man die Väterliteratur sehr wohl als Vorgänger des Generationenromans verstehen, da viele Kennzeichen des Generationenromans „fast ausnahmslos auch auf die Väterliteratur anwendbar wären“. Er behauptet, dass die meisten Kennzeichen, die

gattungsspezifisch für den Generationenroman genannt werden, in der Regel auch schon für die Väterliteratur zutreffend sind. So gebe es zum Beispiel auch Väterbücher, in denen mehrere Generationen angesprochen und ebenfalls dokumentarische Materiale verwendet werden.56 Deshalb schließt Reidy, dass man die Väterliteratur, im Gegensatz zu den Auffassungen Eiglers und Assmanns, tatsächlich als Vorgänger des gegenwärtigen Generationenromans sehen könnte:

Kurzum: Die literarische Auseinandersetzung mit den ‚Brüche[n], Widersprüche[n] und Diskontinuitäten familiärer Genealogien‘ ist nicht eine Innovation der ‚neueren Generationenromane‘, wie Eigler glaubt. Nun soll hier nicht behauptet werden, dass sich der Generationenroman seit den Zeiten der Väterliteratur nicht verändert hat und dass es gleichsam eine ungebrochene Tradition von der Väterliteratur bis zum neueren Generationenroman gibt.57

Zwar, so Reidy, kann man nicht unbedingt von einer „ungebrochene[n] Tradition von der Väterliteratur bis zum neueren Generationenroman“ sprechen, aber trotzdem können nicht alle Kennzeichnen des Generationenromans, wie das Zeigen von „Brüche[n], Widersprüche[n] und Diskontinuitäten“, als Innovationen dieses Genres gesehen werden. Manche dieser Kennzeichen lassen sich schon in Werken der Väterliteratur beobachten.

2.3 Identität und Erinnerungsarbeit

Das Genre des Generationenromans wird auch mit dem Gedächtnis und der Erinnerung in Verbindung gesetzt und als eine Form der Erinnerungsarbeit gesehen. Vor allem diejenigen Wissenschaftler, die den Generationenroman als eine Art von Identitätssuche verstehen, wie zum Beispiel Aleida Assmann, betonen die Funktion des Gedächtnisses und der Erinnerung für die im Generationenroman erzählten Familiengeschichten.58 Assmann beschreibt die Familiengeschichten, diese verbindenden Elemente einer Familie, aber ebenso die nationale

56 Vgl. Ebd. S. 29. 57 Ebd. S. 35-36.

58 Zur Beschreibung dieses schwierigen Zusammenhangs zwischen persönlicher Geschichte, Familiengeschichte

und nationaler Geschichte unterscheidet Aleida Assmann (zusammen mit Jan Assmann) drei Typen von Gedächtnis: kulturelles Gedächtnis, kommunikatives Gedächtnis und kollektives Gedächtnis. Das kulturelle Gedächtnis umfasse die Identität einer Nation und sei nach Assmann relativ stabil, da es auf Traditionen, wie zum Beispiel Gedächtnisorte, zurückgreifen könne. Das kommunikative Gedächtnis stelle das Gedächtnis einer bestimmten Generationenfolge dar und sei weniger stabil. Das kollektive Gedächtnis zum Schluss sei eher politisch geprägt. Diese Begriffe werden in dieser Arbeit nicht weiter eingeführt werden. Vgl. Eigler 2005. S. 43.

(21)

20 Geschichte, die den Zusammenhang einer Nation bilden sollte, wie zuvor erwähnt wurde im Sinne Friedrich Schillers als eine Kette.59 Das Individuum sei in dieser Kette eingebettet, werde in eine solche Kette hineingeboren: „Das individuelle Leben ist immer schon […] eingegliedert in Überindividuelles, ohne das es gar nicht entstehen und sich nicht entwickeln könnte.“60

Es ist eben diese Kette, die einem etwas Festes gibt, einen Rahmen sozusagen: „Die individuellen Lebensgeschichten sind nach Schiller vergänglich, unvergänglich dagegen ist allein die Kette, der Zusammenhang der Generationen, Geschlechter, Nationen und

Kulturen.“61

Diese Kette bleibt, sie ist „unvergänglich“, im Gegensatz zu den „individuellen Lebensgeschichten“. In Bezug auf den Generationenroman, so Assmann, ist diese Kette „eine Fessel, die die Gegenwart an die Vergangenheit bindet.“62 Es gibt also eine Retrospektive, wobei zur Deutung der Gegenwart auf die Vergangenheit zurückgeschaut wird.

Auf der Suche nach seiner Identität versucht das Individuum sich dieser „unvergänglich[en] Kette, seiner Familiengeschichte, zu nähern. Dies ist, so Assmann, eben eines der wichtigsten Kennzeichen des Generationenromans:

Diese im Rückblick auf Verstehenwollen ausgerichtete Haltung ist keineswegs mit Verzeihen gleichzusetzen, sondern kann ebenso der Ablösung dienen. Grundlage ist dabei die existentielle Verschränkung von Individuum, Familiengeschichte und nationaler Geschichte, die ein wichtiges Strukturmerkmal des Familienromans ist.63

Wichtig ist es, sich mit seiner Familiengeschichte auseinander zu setzen. Das Individuum ist Teil dieser Geschichte. Die Familiengeschichte ist aber ringsum auch schon wieder Teil eines größeren Ganzen, nämlich einer sozialen und historischen Wirklichkeit. Die unterschiedlichen Teile sind ineinander eingebettet, sie konstituieren eben diese Schiller’sche Kette. Es ist diese „existentielle Verschränkung von Individuum, Familiengeschichte und nationaler

Geschichte“, die laut Assmann „ein wichtiges Strukturmerkmal des Familienromans“ darstellt. Hierin unterscheidet sich der Generationenroman nach Assmanns Auffassung von der Väterliteratur, denn wo in der Väterliteratur vor allem der Bruch zwischen zwei

Generationen, der der Kinder und der der Eltern, den Kern formt, geht es im Generationenroman eher um das „Verstehenwollen“. Man versucht sich seiner Familiengeschichte zu nähern und diese zu verstehen, wohingegen man sich in der

59 Vgl. Assmann 2007. S. 157-158. 60 Ebd. S. 157. 61 Ebd. S. 158. 62 Ebd. S. 161. 63 Ebd. S. 160.

(22)

21 Väterliteratur vor allem darum bemüht, sich von dieser Familiengeschichte abzugrenzen. Diese schwierige Haltung der eigenen Familiengeschichte gegenüber – sollte man sich unbedingt von ihr abgrenzen oder dürfte man sich trotzdem für sie interessieren – ist für die deutsche Situation nach dem Zweiten Weltkrieg kennzeichnend, was teilweise auch die vielen Bemühungen, sich in der Literatur mit der eigenen Familiengeschichte auseinanderzusetzten, erklärt.

Die schwierige Lage des deutschen Familiengedächtnisses in Bezug auf die Zeit des Nationalsozialismus und des Holocausts wird in der soziologischen Studie Opa war kein

Nazi64 (2002) von Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschuggnall reflektiert. Wichtig im Zusammenhang mit dem Generationenroman ist vornehmlich ihr Begriff der „kumulative[n] Heroisierungen“65

. Hiermit wird gemeint, dass die Generation der

Kriegsteilnehmer – Generell die Generation der (Groß-)Eltern – von den nachkommenden Generationen immer weniger als Mitläufer oder sogar Täter, sondern immer mehr als ‚Helden‘, als anti-nazistisch dargestellt werden, auch wenn dies eigentlich nicht stimmt. Welzer sieht hier den Einfluss der Familienloyalität:

Offenbar lassen die Loyalitätsbindungen des Familienzusammenhangs es gar nicht zu, dass ein Vater oder Großvater sich als eine Person zeigt, die einige Jahrzehnte zuvor Menschen getötet hat. […] Im Familiengedächtnis sind die Kriegserinnerungen in Form von Geschichten repräsentiert, die sich nach jenen Vorstellungen der

nachfolgenden Generationen umformen lassen, die diese von den erzählenden Zeitzeugen haben – und so werden sie erinnert und weitererzählt.66

Die nachfolgenden Generationen verharmlosen also in gewissem Maße die Kriegsteilnahme ihrer Vorfahren, und dies desto stärker, je größer der zeitliche Abstand zu dieser Generation wird. Dies geschehe, so Welzer, beiläufig und manchmal sogar absichtslos.67

Welzers Begriff der „kumulative[n] Heroisierungen“ lässt sich von Julian Reidys im Hinblick auf die gegenwärtigen Generationenromane eingeführten Begriff der „Entheroisierung“68

abgrenzen. Während Welzer, wie eben skizziert wurde, mit seinem Begriff der „kumulative[n] Heroisierung“ darauf hinweist, dass die Kriegsvergangenheit eigener

64 Harald Welzer, Sabine Moller u. Karoline Tschuggnall: Opa war kein Nazi. Nationalsozialismus und

Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2002.

65 Ebd. S. 54. 66 Ebd. S. 52. 67

Vgl. Ebd.

(23)

22 Familienmitglieder von späteren Generationen immer mehr umgedeutet wird und diese

Familienmitglieder deshalb eine Art von Heroisierung erfahren, weist im Gegensatz dazu Reidys Begriff der „Entheroisierung“ – wie sie für Reidys oben erwähnten Typus des ‚postheroischen‘ Generationenromans zutreffend ist – eben auf eine „Entheroisierung“ der vorgängigen Generationen. Die Vorgängergenerationen werden aus einer immer größeren zeitlichen Distanz beschrieben und werden so zu immer abstraktere historische Personen und deshalb immer weniger zu Familienhelden. In der Analyse wird sich zeigen werden, welche dieser beiden Begriffe – Welzers „kumulative Heroisierungen“ oder Reidys „Entheroisierung“ – für die beiden hier vorgestellten Romane zutreffend ist. Zwar hat sich Welzers Studie auf die Nachwirkungen des Zweiten Weltkriegs fokussiert, aber trotzdem könnten die von ihm erarbeiteten Theorien auch auf Nachwirkungen der DDR-Vergangenheit angewendet werden.

2.4 Das Potenzial?

Was macht nun aber die Kraft des Generationenromans im Vergleich zur Biographie aus? Denn in Biographien, wie in Generationenromanen, werden doch ebenfalls die Geschichten von Personen oder Familien erzählt. Wo liegt nun aber das Potenzial des

Generationenromans? Was macht ihn denn so einzigartig? Wie vorher gezeigt wurde, bezeichnet der Begriff ‚Generationenroman‘ ein eher heterogenes Genre, das sich im Spannungsfeld zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen persönlicher und nationaler Geschichte und nicht zuletzt zwischen den Generationen abspielt. Aber im Vergleich zur Biographie tritt noch ein weiteres Merkmal zu Tage, wie Friederike Eigler beschreibt: „Das Genre des Generationenromans steht aufgrund dieser zeitgeschichtlichen Verankerung in besonderem Maße im Spannungsfeld zwischen Fiktionalität und

Referenzialität.“69

Einerseits ist der Generationenroman eng mit der Vergangenheit, mit der zeitlichen Wirklichkeit – mit Fakten also – verbunden, kennt eine „zeitgeschichtlich[e] Verankerung“, wie die Biographie, und referiert an tatsächlich geschehene Ereignisse. Andererseits aber unterscheidet sich der Generationenroman von der Biographie, indem im Generationenroman eben nicht nur Fakten, sondern auch Fiktionen eingewoben werden. Im Generationenroman gibt es also ein Wechselspiel zwischen Fakt und Fiktion, ein

„Spannungsfeld zwischen Fiktionalität und Referenzialität“. Deshalb wird dieses Genre eben auch als ‚Roman‘ gekennzeichnet.

(24)

23 Auch Aleida Assmann sieht in dieser Vermischung von Fakten und Fiktionen das Eigene des Generationenromans:

Das Wort [Generationenroman, d. Verf.] bezieht sich hier weniger auf die literarische Gestaltgebung […], als auf den konstruktiven Charakter der Erinnerungsarbeit

zwischen Finden und Erfinden, zwischen historischer Prägung und imaginativer Umformung.70

Eben diese Vermischung von Fakt und Fiktion repräsentiert also die im Generationenroman geleistete Erinnerungsarbeit. Wie oben erwähnt wurde, zeichnet sich der Generationenroman laut Assmann durch die Rekonstruktion der eigenen Familiengeschichte aus. Diesen

„konstruktiven Charakter der Erinnerungsarbeit“ sieht Assmann im Generationenroman in der Verwendung von sowohl Faktischem als Imaginativem, im Spannungsfeld „zwischen Finden und Erfinden, zwischen historischer Prägung und imaginativer Umformung“.

Als letztes Merkmal möchte hier noch der Bezug des Generationenromans auf die Generationen genannt werden, denn im Generationenroman geht es prinzipiell um die Darstellung einer oder mehrerer Geschichten über mehrere Generationen hinweg. Julian Reidy äußert hierzu Folgendes:

Denn‚ [n]icht die Frage, ob es so etwas wie Generation und Generationen gibt, gilt es […] zu analysieren, sondern in welcher Weise und mit welchem Interesse ihr

Vorhandensein jeweils deklariert oder konstruiert wird‘ - die Vielfalt dieser Interessen und Konstruktionen in den aktuellen Generationenromanen legt den Schluss nahe, dass die Gegenwartsliteratur tatsächlich zum ‚Experimentierfeld‘ wird, wo sie sich des Konzepts […] der Generation annimmt.71

Laut Reidy liegt das Eigene des Generationenromans in Bezug auf Generationen in der Frage, „in welcher Weise und mit welchem Interesse ihr Vorhandensein jeweils deklariert oder konstruiert wird“, wie also in diesen Romanen die Generationen verwendet werden und was ihre Funktion in Bezug auf Identität ist. Denn es geht nicht darum, dass es Generationen gibt, sondern dass sie zu bestimmten Zwecken auf unterschiedliche Art und Weise in den

gegenwärtigen Generationenromanen Anwendung finden. Diese Idee der Literatur als „Experimentierfeld“ erklärt auch die Existenz unterschiedlicher Sichtweisen bezüglich des Genres des Generationenromans, wie in diesem Kapitel gezeigt wurde.

70

Assmann 2007. S. 168.

(25)

24 Abschließend sollte noch erwähnt werden, dass das Genre des Generationenromans sich nicht spezifisch auf eine bestimmte zeitliche Periode, in der die Geschichte sich abspielt,

beschränkt. Vielmehr gibt es Generationenromane zu unterschiedlichen Perioden. So gibt es Generationenromane, in denen die Familiengeschichten sich um den Zweiten Weltkrieg herum abspielen, aber auch Generationenromane, in denen eben auf die Zeit der ehemaligen DDR fokussiert wird, wie in den Romanen Ruges und Braschs. In solchen Romanen hat aber auch der Zweite Weltkrieg weiterhin seinen Platz, wenn auch manchmal nur auf dem

Hintergrund. So geben diese Generationenromane oft einen breiten Überblick über die

deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts. Ein Beispiel eines solchen Generationenromans, in dem ein größer Teil der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts verhandelt wird, ist Monika Marons Pawels Briefe72 (1999), der auch von Reidy als Beispiel eines

‚rekonstruktiven‘ Generationenromans analysiert wird. In diesem Roman versucht die Protagonistin die Geschichte ihres Großvaters, der 1942 im Konzentrationslager gestorbene Pawel Iglarz, zu rekonstruieren. Gleichzeitig aber beschreibt sie auch die Generation ihrer Eltern und rekonstruiert ihr eigenes Leben im Rahmen ihrer Familiengeschichte. Eben eine solche Beschreibung mehrerer Generationen sorgt dafür, dass Generationenromane manchmal einen ziemlich breiten Zeitraum umfassen.

(26)

25

3. Generationen

Im Generationenroman werden Familiengeschichten über mehrere Generationen verbreitet beschrieben, so dass unterschiedliche Perspektiven vermittelt werden können. Der Begriff ‚Generation‘ lässt sich aber nicht nur bezüglich des Inhaltes auf den Generationenroman anwenden, sondern kann auch im Hinblick auf ihre Autoren benutzt werden. So sind die beiden in dieser Arbeit vorgestellten Romane von Autoren einer bestimmten Generation verfasst worden. Diese Generationszugehörigkeit hat einen erheblichen Einfluss auf die einzelnen Werke. Im Folgenden wird der Begriff ‚Generation‘ in Bezug auf diese Autorengeneration näher betrachtet werden.

3.1 Das Entstehen einer Generation

Bevor aber von bestimmten Generationen die Rede sein kann, sollte man sich zuerst fragen, was nun eine Generation eigentlich ist. Was bedeutet also dieser Begriff ‚Generation‘, wie lässt er sich definieren? Und wie kann man von einer bestimmten Generation sprechen? Welche Kriterien machen also eine Generation aus? Im Duden Universalwörterbuch73 wird der Begriff ‚Generation‘ unter anderem folgendermaßen gedeutet: „Gesamtheit der Menschen ungefähr gleicher Altersstufe (mit ähnlicher sozialer Orientierung u. Lebensauffassung).“74

Es geht also um eine Gruppe von Menschen, die ungefähr das gleiche Alter haben, aber sich auch bezüglich ihrer gesellschaftlichen Lage und ihrer „Lebensauffassung“ mehr oder weniger ähneln.

Damit entsteht jedoch noch nicht direkt eine Generation, wie Cordula Stenger in ihrem Artikel Simple Storys aus dem Osten?, basierend auf Karl Mannheims Generationstheorie75, äußert:

Der Mannheimschen idealtypischen Konstruktion zufolge benötigt die lockere Generationslagerung (also die biografische Übereinstimmung einiger weniger Jahrgänge) ein wichtiges Element, damit ein Generationszusammenhang entstehen kann. Er bildet sich nicht einfach durch gemeinsame Überzeugung, ähnliche Lebensstrategien oder ein vergleichbares Problembewußtsein, sondern durch eine - übereinstimmende oder kontroverse - Fokussierung auf zentrale Ereignisse.76

73

Duden: Deutsches Universalwörterbuch. Mannheim : Dudenverlag 2011.

74 Ebd. S. 699.

75 Karl Mannheim: Das Problem der Generationen. In: Karl Mannheim. Wissenssoziologie. Auswahl aus dem

Werk. Hg. v. Kurt H. Wolff. Neuwied am Rhein: Luchterhand 1970.

(27)

26 Bloß eine ungefähre Übereinstimmung der Lebensalter reicht also nicht aus, um einen

Generationszusammenhang entstehen zu lassen. Dafür benötige man, nach Mannheim, „ein wichtiges Element“, ein prägendes Ereignis, ein historisches Moment eben, wie zum Beispiel einen Krieg oder eine Revolution.

Nimmt man zum Beispiel die Generation der Autoren der im vorigen Kapitel erwähnten Väterliteratur, dann könnte man als „wichtiges Element“ für die Konstitution dieser

Autorengeneration die Nachwirkungen des Zweiten Weltkrieges betrachten. Das Bindemittel dieser Generation ist ihr Wille, sich von der Generation ihrer Eltern, die sie als Mitläufer oder sogar als Mittäter des NS-Regimes sehen, abzugrenzen, mit dieser Generation zu brechen. Ihre Literatur, die Väterliteratur, ist diesem Bruch mit der Generation der Eltern gewidmet. Was sich aber auch an dem oben erwähnten Beispiel zeigen lässt, ist die Tatsache, dass eine Generation sich des Öfteren von einer anderen (vorgängigen) Generation abgrenzt, sich eben durch den Unterschied zu einer oder mehreren anderen Generation(en) ausmacht. Eine Generation könnte sich sozusagen aus der Opposition einer anderen Generation gegenüber bilden, so wie in der linguistischen Theorie Ferdinand de Saussures die Bedeutung eines Zeichens nur in seiner Opposition zu den anderen Zeichen besteht.77 Neben Mannheims zentrales historisches Ereignis könnte man also auch den Willen, sich von anderen Generationen zu unterscheiden, als konstitutives Element einer Generation betrachten.

3.2 Gedächtnis und Erinnerung

Eine Generation bildet sich also aufgrund eines Zusammenhangs, der im Hinblick auf ein historisches Ereignis zwischen verschiedenen ungefähr gleichaltrigen Menschen entstehen kann. Sie hat ihre eigene Sichtweisen und Auffassungen und bricht manchmal mit ihren Vorgängern. Gleichzeitig stellt diese Generation aber auch eine Verbindung zwischen den Vorgängern und den Nachfahren dar, wie Aleida Assmann und Ute Frevert in der Einleitung zu ihrem Buch Geschichtsvergessenheit. Geschichtsversessenheit erläutern:

Beide gehören wir einer Zwischengeneration an: Unsere Eltern und Großeltern zählen noch zu den Zeitgenossen des NS-Regimes, ihre Erfahrungen und Erinnerungen sind in unser persönliches Geschichtsbild eingegangen. Unsere Kinder können sich dieser Zeit nur noch über Dokumentationen und Repräsentationen nähern; sie sind auf Medien, Museen, Geschichtsunterricht und Gedenkstätten angewiesen. Zwischen

(28)

27 diesen zwei oder drei Generationen stehen wir selber und bilden eine Art Scharnier zwischen den lebendigen und den vermittelten Erinnerungen.78

Sie nennen ihre eigene Generation in Bezug auf die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg eine „Zwischengeneration“, indem sie zwischen den Generationen ihrer Eltern und

Großeltern, „Zeitgenossen des NS-Regimes“ und der Generation ihrer Kinder stehen. Den Mitgliedern der „Zwischengeneration“ wurden noch Kriegserinnerungen aus erster Hand, von ihrer Eltern und Großeltern, ermittelt. Die Kinder dieser „Zwischengeneration“ hingegen „können sich dieser Zeit nur noch über Dokumentationen und Repräsentationen nähern“, sie haben keinen Zugriff auf direkte Quellen, auf „Zeitgenossen“ mehr. Deshalb ist die

Generation, die zwischen einerseits Großeltern und Eltern und andererseits Kindern steht, eben eine „Zwischengeneration“, sie formt „eine Art Scharnier zwischen den lebendigen und den vermittelten Erinnerungen“ ihrer eigenen Generation bzw. der Generation ihrer Kinder. Mittelpunkt des Interesses in diesem Zusammenhang bildet der Unterschied zwischen „den lebendigen und den vermittelten Erinnerungen“, also zwischen denjenigen Erinnerungen, deren Ereignisse man selbst Zeuge war, und denjenigen Erinnerungen, die man über Berichte anderer Personen erfahren hat. Diese letzte Kategorie lässt sich dann noch näher einteilen, je nachdem man die Erinnerungen von Zeitzeugen der Ereignisse oder über andere Wege, wie zum Beispiel Bücher, Dokumentarfilme oder auch Nachfahren der Zeitgenossen, erfahren hat.

Des Weiteren lässt sich an den Unterschied zwischen „den lebendigen und den vermittelten Erinnerungen“ die Idee eines „Primat[s] der Erfahrung“79

verknüpfen. Dieser „Primat der Erfahrung“ wird von Aleida Assmann in ihrem Essay Wem gehört die Geschichte?80

angesprochen. Assmann behauptet, dass in der Gegenwartsliteratur die eigene Erfahrung eine immer wichtigere Rolle bekommen hat:

Zu Aufmerksamkeit, Sprachvermögen und Phantasie als den primären Antriebskräften der Literatur tritt in diesem Fall [in der Erinnerungsliteratur, d. Verf.] noch die eigene Erfahrung hinzu, die zum Anstoß oder Rohstoff der Literatur wird. Eigene Erfahrung ist per definitionem unveräußerlich; man kann sie nicht wie eine Information

übertragen und sich einverleiben. Was man nicht selbst in den Knochen hat, kann man nicht nachträglich in diese Knochen injizieren. Unter dem Primat der Erfahrung endet die Fähigkeit zur Aneignung.81

78 Assmann u. Frevert 1999. S. 14-15. 79

Aleida Assmann: Wem gehört die Geschichte? Fakten und Fiktionen in der neueren deutschen

Erinnerungsliteratur. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 36 (1) 2011. S. 213-225, hier S. 215.

80

Ebd.

(29)

28 Während bisher also vor allem „Aufmerksamkeit, Sprachvermögen und Phantasie“ als die wichtigsten „Antriebskräfte der Literatur“ galten, beansprucht die „eigene Erfahrung“ in der gegenwärtigen Erinnerungsliteratur eine immer größere Rolle, sie wird, so Assmann, sogar „zum Anstoß oder Rohstoff der Literatur“. Mit der eigenen Erfahrung wird also gearbeitet, sie wird zum Ausgangspunkt der literarischen Arbeit. Und diese eigene Erfahrung ist authentisch, sie ist „unveräußerlich“. Während vorher in der Literatur ein Autor im Prinzip sich jedes mögliche Thema aneignen konnte, um es literarisch zu verarbeiten, kommt heutzutage die eigene Erfahrung, sogar der „Primat der Erfahrung“ im Spiel. Hiermit endet aber, so

Assmann, „die Fähigkeit zur Aneignung“, man kann sich nicht mehr jedes mögliche Thema aneignen, sondern sollte sich mit einem Thema, bezüglich dessen man sich auf seine eigene Erfahrung berufen kann, auseinandersetzen.

Diese wachsende Rolle der eigenen Erfahrung, des „Primat[s] der Erfahrung“, hat laut Assmann eine neue Art von Erinnerungsliteratur entstehen lassen, die sie folgendermaßen charakterisiert:

Ich möchte die neue Erinnerungsliteratur […] als einen neuen Erinnerungsschub und eine späte Antwort auf die Gewaltsgeschichte des 20. Jahrhunderts ernst nehmen. Diese Literatur bezeugt, dass das, was die Elterngeneration durch Euphemismen, Schweigen, Schuldabwehr und andere Selbstimmunisierungsreflexe eigekapselt und von sich fern gehalten hatte, dennoch auf subkutanem Wege an die zweite und dritte Generation weitergeleitet worden ist. Es ist diese nicht weitergereichte aber

weitergeleitete Geschichte, mit der sich die Autorinnen zum Teil auf sehr persönliche Weise auseinandersetzen.82

Assmann behauptet also, dass die neue Erinnerungsliteratur „eine späte Antwort auf die Gewaltsgeschichte des 20. Jahrhundert“ ist und sich durch eine Fokussierung auf die „nicht weitergereichte aber weitergeleitete Geschichte“ auszeichnet. Die Geschichte des 20.

Jahrhundert wird vor allem vom Ersten und Zweiten Weltkrieg geprägt, deren Auswirkungen auch auf das Familiengedächtnis Einfluss gehabt haben. Die Elterngeneration, selbst

Mitläufer, sogar Mittäter oder doch wenigstens Zeitgenossen des NS-Regimes, haben versucht, die Erinnerungen an diese Periode zu verschönern oder sogar auszublenden. Trotzdem aber wurden sie „auf subkutanem Wege an die zweite und dritte Generation

weitergeleitet“. Diese Generation wird also mit einer Kluft zwischen diesen „auf subkutanem Wege“ weitergeleiteten Geschichte und der Geschichte, so wie sie von ihren Elterngeneration

(30)

29 übertragen wurde, konfrontiert. Laut Assmann setzen die Autoren in der neuen

Erinnerungsliteratur sich mit eben dieser Kluft, vornehmlich bezogen auf die „weitergeleitete Geschichte“, auseinander.

In diesem Sich-Auseinandersetzen mit der von der vorgängigen Generationen verschwiegenen oder verschönerten Erinnerungen liegt nach Assmann die Bedeutung dieser neuen

Erinnerungsliteratur:

Die Bedeutung dieser Gattung besteht darin, die zerstörerische Wucht der großen Geschichte in ihrem Niederschlag auf Einzelgeschichten und individuelle Schicksale zu vergegenwärtigen und sich dabei vornehmlich auf jene Erfahrungen zu

konzentrieren, die bislang weder in die historischen Darstellungen noch in das kollektive Gedächtnis der Gesellschaft eingegangen sind.83

Neben dieser Fokussierung „auf jene Erfahrungen […], die bislang weder in die historischen Darstellung noch in das kollektive Gedächtnis eingegangen sind“, diese verschönerten bzw. verdrängten Erinnerungen, liegt das Ziel dieser Erinnerungsliteratur, so Assmann, vor allem in der Auseinandersetzung mit der zum Teil schwierigen Geschichte des 20. Jahrhunderts und deren Auswirkung „auf Einzelgeschichten und individuelle Schicksale“, also auf die

Lebensgeschichten einzelner Personen, aber ebenfalls Familien.

Und diese Erinnerungsliteratur wird vornehmlich von der Nachkriegsgeneration, von dieser „Zwischengeneration“84

vorangetrieben, denn sie befindet sich in der Lage, zwischen der Generation der Zeitgenossen – die Generation ihrer Eltern und Großeltern – und den nachfolgenden Generationen – vor allem diejenige ihrer Kinder – eine Brücke zu schlagen. Sie formt die Verbindung zwischen den Generationen, eben diesen „Scharnier“85

, wie Assmann und Frevert es genannt haben. Assmann geht in ihrem Essay Geschichte im

Familiengedächtnis sogar noch einen Schritt weiter, indem sie sagt:

Es ist die Aufgabe der zweiten und dritten Generation, diese streng getrennten

Überlieferungen des Familiengedächtnisses und unseres heutigen historischen Wissens zusammenzuführen, und der Familienroman ist die Gattung, in dem diese

Erinnerungsarbeit auf immer wieder neue Weise vollzogen wird.86

83 Ebd. S. 217. 84 Assmann u. Frevert 1999. S. 14. 85 Ebd. S. 15. 86 Assmann 2007. S. 169.

(31)

30 Für sie ist es also sogar „die Aufgabe der zweiten und dritten Generation“, dieser

Nachkriegsgeneration, sich mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts und deren Auswirkungen auf die Lebensgeschichten von Individuen und Familien auseinanderzusetzen. Es geht dann vor allem darum, die Kluft zwischen den historischen Ereignissen und dem

Familiengedächtnis zu zeigen und „diese streng getrennten Überlieferungen des

Familiengedächtnisses und unseres heutigen historischen Wissens zusammenzuführen“. Laut Assmann ist der Familien- oder Generationenroman eben die literarische Gattung, in der diese Autorengeneration sich mit dieser Problematik auseinandersetzt.

3.3 Generation Wende und ihre Werke

Eine Generation besteht also aus Personen ungefähr gleichen Alters, die sich aufgrund eines wichtigen Ereignisses miteinander verbunden fühlen. Als Beispiel wurde oben die Generation der Kinder der Zeitgenossen des Zweiten Weltkriegs genannt. Für die in dieser Arbeit im Mittelpunkt des Interesses stehenden Werke ist es aber nicht mehr direkt den Zweiten Weltkrieg, sondern sind es eher die Wende, das Ende der DDR und die Wiedervereinigung Deutschlands, die als prägendes Element einer Generation von Schriftstellern gesehen werden kann, denn, wie Cordula Stenger schreibt: „Die Vereinigung Deutschlands ist für diese junge Generation das erste Ereignis welthistorischer Bedeutung, das sie unmittelbar erfahren hat.“87 Die Wende ist aber nicht das einzige bindende Element dieser erst nach dem Zweiten

Weltkrieg geborenen Generation. Es ist diese Generation, die „mit der Selbstverständlichkeit der deutschen Teilung“88

, der Existenz zweier deutschen Staaten aufgewachsen ist. Für sie gab es kein vorher, kein vereintes Deutschland, sondern nur die Tatsache „des Hineingeboren-Seins in das Lebenssystem der DDR“89

, wie Stenger im Hinblick auf die in der DDR

aufgewachsenen Autoren äußert. Für diese Generation war die DDR einfach immer schon da, sie haben es gar nicht anders gewusst. Und sogar der Bau der Mauer war für den größten Teil dieser Generation ein Ereignis, dass sie nur unbewusst mitbekommen haben.

Ein anderer wichtiger Punkt dieser erst einige Jahre nach der Wende geborenen

Autorengeneration ist, wie Stenger sagt, die Tatsache, dass diese Autoren „in ihrer Mehrheit erst nach der Wende zu veröffentlichen anfingen.“90

Sie scheinen also gewissermaßen unbewusst auf dieses eine Ereignis gewartet zu haben, um sich dann aber im Rückblick mit

87 Stenger 2003. S. 391. 88 Ebd. 89 Ebd. S. 390. 90 Ebd. S. 391.

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