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Ostalgie aus Plaste - Die Bedeutung der Kunststoffindustrie für den Alltag und die Konsumgesellschaft der DDR

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Sommersemester 2014/2015 Universiteit van Amsterdam dr. C. Morina & dr. M. J. Föllmer Autor: Ramone de Bruin

Den Haag, 15. Juni 2015

Ostalgie aus Plaste

Die Bedeutung der Kunststoffindustrie für den Alltag und die

Konsumgesellschaft der DDR

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Inhaltsverzeichnis

1. Einführung 2

1.1 Problemstellung 2

1.2 Fragen und Zielsetzung 5

1.3 Forschungsstand 8

2. Ein neues Material 11

2.1 Nachkriegszeit 11

2.2 Die Chemiekonferenz von 1958 15

2.3 Popularisierung des neuen Materials 19

2.4 Materiale 24

3. Konsumgüter und Produzenten 29

3.1 Produkte 29

3.2 Betriebe und Marken 36

4. Mode und Design 41

4.1 Designer 41 4.2 Stil 47 5. Schluss 52 5.1 Zusammenfassung 52 5.2 Fazit 56 5.3 Ausblick 58 6. Quellenangabe 60 7. Anhang A 63

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1. Einführung 1.1 Problemstellung

Sie tragen Namen wie Sonja PLASTIC, Ostprodukte-Versand und Ossiladen und nennen sich Ostprodukte-Shops. In ihrem Sortiment führen sie Produkte aus der ehemaligen DDR, von Körperpflege-Produkten wie Badusan Duftschaumbad und Ersatzteilen für den Trabi bis zu dem mittlerweile weltweit bekannten Hühnereierbecher. Fast 20 Jahre nach der

Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten ist die Nachfrage nach Ostalgieprodukten groß und lässt sich damit anscheinend gut Geld verdienen. Viele Shops sehen die Nachfrage von Jahr zu Jahr steigen und verschicken mittlerweile jeden Tag hunderte Pakete über die ganze Welt. Der Grund dafür lässt sich laut Michael Woizik, Eigentümer des DDR-Ladens Ost-Best, kultig nicht giftig, einfach erklären: ‚‚Die Ostwaren stellen ein Stück Geschichte dar, Geschichte zum Anfassen. Für viele Menschen verbunden mit Erinnerungen und Bauchgefühl.‘‘1

Viele DDR-Produkte erleben also offensichtlich eine Art Wiedergeburt als Kultobjekte der aktuellen Retromode und als greifbare Erinnerung an das eigene Leben in der DDR. Einst aber, waren sie das Farbenfrohe Versprechen des heranwachsenden ostdeutschen Staates und das Resultat einer hoffnungsvollen Kompromisse zwischen Funktionalität, Politik und Konsum.

Nachdem Ende 1989 die Berliner Mauer gefallen war und sich auch andere Grenzstellen zwischen Ost und West öffneten, wurden die Einwohner der jeweiligen Staaten mit einer ganz anderen Produktkultur konfrontiert. So waren im ostdeutschen Alltag vor allem viele

Produkte aus Kunststoff zu erkennen, welche für westdeutsche Verhältnisse fast überrepräsentiert erschienen. Obwohl ein Eindruck wie dieser natürlich auch etwas übertrieben und über die Jahre zu einem Klischee geworden sein könnte, ist nicht zu

verneinen, dass die DDR sowohl im ostdeutschen wie im westdeutschen Gedächtnis an eine spezifische Produktkultur verbunden werden kann. Dieses Phänomen kann einerseits erklärt werden, indem man nicht vergessen sollte, dass viele dieser Gegenstände aus ‚Plaste‘ heutzutage immer noch in Haushalten benutzt werden und damit den Untergang der DDR überleben konnten. Andererseits gab es, im Gegensatz zum kapitalistischen Westen, nur ein beschränktes Sortiment von Alltagsartikeln. Auf diese Weise konnte schließlich die politisch gewollte und generationsübergreifende gemeinsame Erfahrung einer materiellen Kultur in der

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DDR gewährleistet werden.2 Das Resultat davon ist, dass bestimmte Kunststoffgegenstände, wie zum Beispiel der bereits genannte Hühnereierbecher, sofort mit der DDR in Verbindung gebracht werden, weil diese dort Jahrzehnte lang in den Kaufhäusern und in fast allen Haushalten zu finden waren. Mittlerweile sind viele dieser Produkte zu gewollten Sammlerstücken geworden und werden sie, zum Beispiel durch die obengenannten Webshops, in großen Mengen über die ganze Welt verkauft.

Man sollte die Warenwelt der DDR jedoch nicht nur auf oberflächige Weise als Kitsch- und Kultobjekte betrachten, wie es leider häufig der Fall ist. Die farbigen und manchmal witzig aussehenden Gegenstände sind nämlich gleichzeitig von großem historischen Wert, da diese vieles über die Alltagskultur der DDR aussagen können. Sie aktivieren und verkörpern ein kulturelles Gedächtnis, indem sie eine bereits vergangene Wirklichkeit wieder greifbar machen und etwas aussagen über die Zeit worin sie entstanden sind. Das Material eines Objekts sagt zum Beispiel vieles aus über den technischen und wirtschaftlichen Zustand der Produktion zu der Zeit indem es fabriziert wurde. Der ursprüngliche Verkaufspreis verrät wiederum welchen Stellenwert ein Produkt zu seiner Zeit hatte und wie die finanzielle Lage der Gesellschaft war. Die Erscheinung neuer Dinge, oder gerade das Verschwinden

bestimmter Produkte, kann ebenfalls deuten auf soziale, kulturelle und wirtschaftliche Veränderungen. Schließlich sind auch persönliche Änderungen und Gebrauchsspuren an Gegenständen interessant, da sie ebenfalls etwas aussagen über die individuelle Nutzung und den Stellenwert eines Objekts. So besehen sollte man Gebrauchswaren nicht nur auf ihre Effizienz und ihre Ästhetik beurteilen, sondern sie betrachten als historische Quellen welche uns aufschlussreiche Informationen über bereits vergangene Zeiten und Gesellschaften bieten können. Gerade deswegen möchte die vorliegende Arbeit sich auf ein Material richten, das ‚‚[…] wie kein anderes polarisierende Emotionen an sich binden konnte, das wie kein anderes mit gesellschaftlichen und politischen Aufladungen versehen war und sich mit einer

Vehemenz und Geschwindigkeit durchgesetzt hat, die bisher unbekannt war‘‘3

: Die

ostdeutsche Plaste. Der heutige Status der Plaste im Rahmen der DDR-Kultur, wurde nämlich bereits in den frühen Jahren der DDR von mehreren Faktoren beeinflusst. Einerseits gab es bereits günstige historische Voraussetzungen, indem das Grundgebiet der DDR schon eine lange Tradition der chemischen Industrie kannte. Andererseits haben auch die beschränkten finanziellen Möglichkeiten und der politische Kurs der SED ihren Stempel auf die

2 Vgl. Katja Böhme, Andreas Ludwig: Alles aus Plaste, Versprechen und Gebrauch in der DDR. Köln 2012. S. 7. 3 Ebd. S. 9.

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Entwicklung der Plastindustrie in der DDR aufgedrückt. Bis heute gibt es aber leider nur wenige Publikationen, welche sich ausführlich mit der Kunststoffproduktion der DDR auseinandersetzen und diese auch zu deuten versuchen. Gerade weil dieses Material einen solchen Zentralen Platz im Alltag einnahm und daher omnipräsent war, lehnt es sich wie kein anderes für eine Betrachtung der DDR aus einem unkonventionellen doch äußerst

informativen Blickwinkel. Das neue Material läuft nämlich wie ein roter Faden durch die Geschichte der DDR und wurde auf vielen unterschiedlichen Ebenen dieser Gesellschaft verwendet.

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1.2 Fragen und Zielsetzung

Die vorliegende Arbeit wird sich mit der Frage beschäftigen welche Bedeutung die

Kunststoffindustrie für die DDR hatte: Wie hat sich die Einführung der neunen Materiale auf die Alltags- und Konsumkultur der DDR ausgewirkt und wie lässt sich daran die

Vereinbarung zwischen Funktionalität, Politik und Konsum erörtern?

Da die obenstehende Forschungsfrage dieser Arbeit logischerweise in sich selbst zu komplex ist um ohne weiteres zu beantworten, ist es wichtig sich mit den relevanten Teilthemen vertraut zu machen und zu erfahren ob und inwiefern sie einen Einfluss auf die Entwicklung der ostdeutschen Plastindustrie hatten. Im nächsten Kapitel soll daher erst einmal kurz auf die historischen Voraussetzungen, mit als Schwerpunkt die Nachkriegszeit, eingegangen werden. Die Gründung eines neuen Staates auf einem Grundgebiet mit einer langen und erfolgreichen Tradition in der chemischen Industrie hat schließlich einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Kunststoffindustrie der DDR gehabt. War der Start der chemischen Industrie der DDR daher aber tatsächlich so erfolgreich wie man vielleicht erwarten sollte, oder gab es bereits in diesem Stadium Beschränkungen? Der darauffolgende Absatz wird sich mit dem Warum und der Popularisierung des ‚neuen‘, so ausführlich geplanten und erhofften, Industriezweigs beschäftigen. Warum wurde 1958 genau die berühmte Chemiekonferenz in Leuna gehalten und was war ihr eigentliches Ziel? Wie wurden die neuen Materiale der DDR Gesellschaft gegenüber vermarktet und wie versuchte man die Leute dafür zu begeistern? Waren die Bürger die DDR anfangs auch so erfreut über die neuen Materiale wie sich die SED-Führung erhoffte, oder stand man ihnen eher skeptisch und misstrauisch gegenüber? Dann drängt sich natürlich die Frage auf um welche chemischen Produkte es sich nun tatsächlich handelte. Was waren diese neuen farbenfrohen Wundermateriale? Worauf genau lag der Schwerpunkt der ostdeutschen Kunststoffindustrie und wieso? In dem dritten Kapitel wird tiefer eingegangen auf die konkreten Endprodukte und Konsumgüter. In welchen Bereichen des Alltags war die Plaste besonders stark vertreten und welche Marken spielten dabei eine wichtige Rolle. Um noch ein wenig tiefer auf die jeweiligen Produkte einzugehen, soll auch untersucht werden wie man die ostdeutschen Plasterzeugnisse am besten charakterisieren könnte und ob man vielleicht sogar von einem bestimmten Stil sprechen könnte. Außerdem sollten die

wichtigsten Designer und Grundleger der ostdeutschen Formgestaltung in diesem Kapitel nicht unbesprochen bleiben. Schließlich werden die gesammelten Erkenntnisse am Ende der Arbeit nochmals zusammengefasst und bewertet um eine befriedigende Antwort auf die Forschungsfrage geben zu können. Zuletzt sollte auch noch ein kleiner Ausblick geboten

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werden, indem die Plastprodukte im Rahmen der heutigen Zeit und des kulturellen

Gedächtnisses betrachtet werden. Welchen Stellenwert haben sie ein Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall noch?

Durch die Beantwortung der Forschungsfrage hofft diese Arbeit natürlich an erster Stelle ein besseres Verständnis der Auswirkung der Kunststoffindustrie auf die Alltags- und

Konsumkultur der DDR bieten zu können, welches einen Beitrag zu einem besseren und vollständigeren Bild der DDR-Geschichte liefern könnte. Betrachtungen aus einem anderen Blickwinkel haben schließlich fast immer eine ergänzende und aufschlussreiche Wirkung auf das bereits bestehende Wissen zu einem Thema und können zu neuen Einsichten führen. Darüber hinaus lehnt sich diese Forschung äußerst gut für eine kleine ‚Case Study‘ zum kulturellen Gedächtnis nach den Kulturwissenschaftlern Jan und Aleida Assmann.4 Jan Assmann umschreibt das kulturelle Gedächtnis in seinem Werk Kultur und Gedächtnis5 wie folgt:

Das kulturelle Gedächtnis hat seine Fixpunkte, sein Horizont wandert nicht mit dem fortschreitenden Gegenwartspunkt mit. Diese Fixpunkte sind schicksalhafte Ereignisse der Vergangenheit, deren Erinnerung durch kulturelle Formung (Texte, Riten,

Denkmäler) und institutionalisierte Kommunikation (Rezitation, Begehung,

Betrachtung) wachgehalten wird. Wir nennen das »Erinnerungsfiguren«. […] Im Fluß der Alltagskommunikation bilden solche Feste, Riten, Epen, Gedichte, Bilder usw. »Zeitinseln«, Inseln vollkommen anderer Zeitlichkeit bzw. Zeitenthobenheit. Im kulturellen Gedächtnis weiten sich solche Zeitinseln zu einem Erinnerungsraum »retrospektiver Besonnenheit«. […] In kultureller Formgebung kristallisiert kollektive Erfahrung, deren Sinngehalt sich in der Berührung blitzartig wieder erschließen kann, über Jahrtausende hinweg.6

Die Materialkultur der DDR, die in dieser Arbeit so zentral steht, hat schließlich zahlreiche tastbare Gegenstände hinterlassen, wovon manche in der heutigen Gesellschaft als die obengenannten ‚Zeitinseln‘ und Relikte kultureller Formung fungieren. Die Zweiteilung Deutschlands und ganz besonders die ostdeutsche DDR, sind zwei Beispiele von den Fixpunkten wovon Assmann in seinem Aufsatz spricht. Ein wichtiges Merkmal des

kulturellen Gedächtnisses das Assmann nennt, ist die sogenannte ‚Identitätskonkretheit‘ oder ‚Gruppenbezogenheit‘. Damit wird gemeint, dass das kulturelle Gedächtnis das Wissen einer Gruppe aufbewahrt, worauf diese Gruppe ein Bewusstsein ihrer Einheit und Eigenart basiert.

4 Jan und Aleida Assmann sind zwei deutsche Ägyptologen und Kulturwissenschaftler, welche mit ihrer Theorie des kulturellen Gedächtnisses international bekannt wurden.

5 Jan Assmann: Kultur und Gedächtnis. Frankfurt, 1988. 6 Ebd. S. 12.

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Es gibt eine scharfe Grenze zwischen dem Eigenen und dem Fremden und die Gegenstände des kulturellen Gedächtnisses zeichnen sich deswegen vor allem in einer ‚Identifikatorischen Besetztheit‘ aus. Entweder identifizieren die Mitglieder einer Gruppe sich im positiven Sinne mit diesen Gegenständen, oder gerade im negativen Sinne.7 Einerseits erinnert die DDR an eine schlechte Zeit worin Bürger in einem kommunistischen ‚Unrechtsstaat‘ lebten,

andererseits wächst die sogenannte ‚Ostalgie‘ und mit ihr die Nachfrage nach Geschichten und Gegenstände aus dieser Zeit. Das kulturelle Gedächtnis ist nämlich nicht zeitlos und passt die Gruppengeschichte immer an die aktuellen Bedürfnisse und Umstände einer Gruppe an. Dabei sind die ‚Speicher‘ des kulturellen Gedächtnisses, in diesem Falle die DDR-Relikte, nicht neutral, indem sie das kulturelle Gedächtnis einer Gruppe auch wesentlich bestimmen und auch selber von bestimmten Schichten dieser Gruppe bestimmt werden. Es gibt also eine deutliche Wechselwirkung zwischen dem kulturellen Gedächtnis, seinen ‚Speichern‘ und der Gruppe. Im Rahmen der DDR- Geschichte bestehen viele ‚Speicher‘, oder ‚Zeitinsel‘ des kulturellen Gedächtnisses aus Kunststoff Sachen, variierend von Trabi und Gurkenhobel bis zum Hühnereierbecher. Trotz ihren Unterschieden in Form, Farbe und Zweck sind sie alle, in größerem oder geringerem Maße, eine Zeitkapsel und Speicher der DDR-Kultur und damit von großem Wert für Historiker und andere Forscher.

7 Vgl. S. 13-14.

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1.3 Forschungsstand

Die Zweiteilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg und vor allem die Entstehung einer kommunistischen Diktatur in der Form der DDR, gehören wohl zu den Themen aus der rezenten deutschen Geschichte, worüber seit den letzten Jahrzehnten am meisten geschrieben wird. Ereignisse wie der Bau der Berliner Mauer, unzählige Fluchtversuche von Ost nach West und die rasch verschlechternde finanzielle Lage in der DDR sind bereits ausführlich beschrieben und untersucht, wodurch man als Leser und Forscher meist über eine breite Auswahl an Quellen verfügt. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit zu der Kunststoffindustrie der DDR und die daraus entstandenen Gebrauchsgegenstände ist die Lage aber etwas anders. Zu den Themen Kunststoff, Kunststoffindustrie und Konsumgütern aus diesem Materialen gibt es bis heute nur relativ wenige Quellen und ist es sogar schwierig richtige ‚Meilensteine‘ in diesem Forschungsfeld anzuweisen da es diese nicht richtig gibt.

Das wichtigste Werk in diesem Feld, wo die Kunststoffindustrie in die Warenwelt übergeht, ist mit Sicherheit der Ausstellungskatalog der Ausstellung Alles aus Plaste8 des

Dokumentationszentrums Alltagskultur der DDR in Eisenhüttenstadt. Dieser, über 200 Seiten dicke, Katalog erschien von der Hand von Katja Böhme und Andreas Ludwig und war

gedacht um die obengenannte Ausstellung zwischen 2012 und 2013 zu begleiten. Dieses Werk spricht fast alle relevanten Themen zu der Kunststoffproduktion in der DDR an und bietet neben einem ausführlichen historischen Rahmen auch recht detaillierte Beschreibungen und Beispiele von Konsumgütern der DDR aus Kunststoff, welche in der Ausstellung zu sehen waren. Geschichte, Technik und Enderzeugnis werden in diesem Werk also zusammengebracht, wodurch es eine recht vollständige Basis innerhalb dieses

Forschungsfeldes bietet. Katja Böhme hat auch noch einige andere Aufsätze verfasst, worunter 50 Jahre Chemiekonferenz der DDR – Metaphorik eines Versprechens und Durchdringung des Alltags9 und Utopie aus dem Spritzgussautomaten – Sozialistische Moderne und Kunststoffe im Alltag der DDR10, in denen sie weniger auf die einzelnen Produkte eingeht aber das Aufkommen der Plastindustrie und die darauffolgende

Produktwende auf begreifbare Weise und anhand von authentischen Beispielen erläutert.

8

Katja Böhme, Andreas Ludwig: Alles aus Plaste, Versprechen und Gebrauch in der DDR. Köln 2012 9 Andreas Ludwig, Katja Böhme: 50 Jahre Chemiekonferenz der DDR - Metaphorik eines Versprechens und Durchdringung des Alltags. In: WerkstattGeschichte 50, 2008. S. 25-32.

10

Katja Böhme: Utopie aus dem Spritzgussautomaten – Sozialistische Moderne und Kunststoffe im Alltag der DDR In: Uwe Fraunholz, Anke Woschech (Hg.): Technology Fiction – Technische Visionen und Utopien in der Hochmoderne. Bielefeld, 2012. S. 221-246.

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Ein anderer Autor der sich mit diesen Themen auseinander gesetzt hat ist der deutsche Wirtschaftshistoriker Rainer Karlsch. Von seiner Hand erschienen mehrere Werke zu der (Kunststoff-) Industrie der DDR, die aber meist einen bestimmten Fokus haben und deshalb nur teilweise brauchbar sind für eine Forschung nach dem Einfluss der Kunststoffindustrie auf die Gesellschaft und Produktwelt. Das Werk Die Chemie muss stimmen. Bilanz des Wandels 1990-200011 handelt zum Beispiel vor allem von der Entwicklung großer Teile der

chemischen Industrie Sachsen-Anhalts und Sachsens und dessen Integration in den

Weltkonzern Dow Chemical halbwegs der Neunzigerjahre. Trotzdem bietet dieses Werk ein sehr interessantes einführendes Kapitel, worin die Entstehung der deutschen chemischen Industrie von dem Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Wiedervereinigung hundert Jahre später ausführlich beschrieben wird. Dies bietet einen ausgezeichneten historischen Rahmen und damit ein gutes Verständnis der Entstehung eines Industriezweiges woraus die spätere ostdeutsche Plastindustrie entstehen konnte. Außerdem enthält das Kapitel viele interessante Tabellen zu den Kapazitäten unterschiedlicher Betriebe, ihre jährlichen Produktionszahlen, die wichtigsten Plandaten des Chemieprogramms usw. Zwei weitere Aufsätze von Karlsch sind als Teil größerer Publikationen erschienen, nämlich „Wie Phönix aus der Asche?“ Rekonstruktion und Strukturwandel in der chemischen Industrie in beiden deutschen Staaten bis Mitte der sechziger Jahre,12 in welchem das Chemieprogramm 1958 besprochen wird und ‚‚Sozialistisches Weltniveau‘‘: Spitzenleistungen in Technik, Produktion und Wissenschaft?,13

worin der Umgang mit der sowjetischen Besatzungszone und dessen Einfluss auf die ostdeutsche Industrie erläutert werden.

Außer diesen Werken gibt es noch zahlreiche Quellen worin die Industrie der DDR und die Kunststofferzeugung angesprochen werden, doch meist ist dies nur faktisch und begrenzt, da es als Rahmengestaltung eines anderen Themas fungiert. Eine Forschung nach den direkten Folgen der ostdeutschen Kunststoffindustrie auf die Warenwelt und Gesellschaft, worin vor allem die Endprodukte, also die tatsächlichen Gegenstände, ihren Einfluss auf die damalige Gesellschaft und ihre Rolle in unserer Gesellschaft, scheint es noch kaum zu geben. Im Gegensatz zu den bestehenden Publikationen formt der plasterzeugende Industriezweig und

11 Rainer Karlsch, Ray Stokes: Die Chemie muss stimmen. Bilanz des Wandels 1990-2000. Leipzig, 2000.

12 Rainer Karlsch: „Wie Phönix aus der Asche?“ Rekonstruktion und Strukturwandel in der chemischen Industrie in beiden deutschen Staaten bis Mitte der sechziger Jahre, in: L. Baar/D. Petzina (Hrsg.): Deutsch-deutsche Wirtschaft 1945 bis 1990. Strukturveränderungen, Innovationen und regionaler Wandel. Ein Vergleich. St. Katharinen, 1999.

13

Rainer Karlsch: ‚‚Sozialistisches Weltniveau‘‘: Spitzenleistungen in Technik, Produktion und Wissenschaft? In: Thomas Großbölting: Friedensstaat, Leseland, Sportnation? DDR-Legenden auf dem Prüfstand. Berlin: Ch. Links Verlag, 2009. S. 3.

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dessen Ursprung in dieser Arbeit nur der historische Rahmen der nötig ist um tiefer auf die Produkte und die Gesellschaft eingehen zu können. Die Herausforderung besteht deshalb darin die bereits Erforschten losen Elemente dieses unterbeleuchteten Themas

zusammenzufügen und auf diese Weise die DDR-Gesellschaft aus einem neuen Blickwinkel war zu nehmen, wobei die komplexe Beziehung zwischen Funktionalität, Politik und Konsum zentral steht.

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2. Ein neues Material 2.1 Nachkriegszeit

Trotz allen Kriegsverlusten erschien die Lage für den Wiederaufbau der ostdeutschen

Industrie anfangs gar nicht so schlecht. Die nun zur Sowjetischen Besatzungszone gehörenden Länder Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt gehörten nämlich schon seit Jahrzehnten zu den, auf industriellem Gebiet, höchstentwickelten Gebieten Deutschlands. Viele Betriebe aus dieser Gegend zeichneten sich durch ihren hohen technologischen Stand aus und brauchten die Konkurrenz mit anderen Produzenten nicht zu scheuen. Objektive aus Jena,

Büromaschinen aus Sömmerda und Flugzeuge aus Dessau sind nur einige Beispiele von Betrieben die vor dem Zweiten Weltkrieg weltweit begehrte Exportgüter produzierten. Durch diese günstigen Voraussetzungen war das Gebiet der DDR aber auch während des Krieges von größter Bedeutung für die deutsche Industrie, aber vor allem für die chemische Industrie. Durch die Einführung eines Vierjahrplanes 1936 sollte die Wirtschaft des Deutschen Reiches rundum 1940 kriegsfähig und möglichst selbstversorgend sein. Der Fokus lag vor allem auf die Herstellung von Treib- und Brennstoffen, sowie synthetisches Benzin und Briketten. Um die von dem Regime geforderten Mengen zu erzeugen, musste unteranderem die

Braunkohlegewinnung enorm ausgebreitet und vielen neue Hydrierwerke erzeugt werden.14 Obwohl das NS-Regime die chemische Industrie durch seine Autarkiepolitik einerseits steigerte, gingen gleichzeitig auch viele gute Dinge verloren. So verlies die chemische Industrie unter den Nationalsozialisten den Weg der internationalen technischen

Entwicklungen. Die Industrie stand nun im Rahmen der Kriegsführung und es ging daher weniger darum inwiefern ein Produkt noch konkurrenzfähig war.15 Kosten noch Mühe wurde gescheut um das Land auf den vorstehenden Krieg vorzubereiten. Im Rahmen der

Rüstungsindustrie des Dritten Reiches gab es in den Dreißigerjahren trotzdem auch viele wichtige Entwicklungen in der Kunststoffindustrie, wie zum Beispiel die Produktion von PVC und der ersten synthetischen PeCe-Faser. Die Herstellung dieser und anderer

Kunststoffe fand vor allem innerhalb des sogenannten ‚Chemiedreiecks‘ (Halle, Merseburg, Bitterfeld) statt. Viele Dieser Betriebe waren außerdem Teil der I.G. Farben, welches während des Krieges das größte Chemieunternehmen Europas und sogar das viertgrößte der Welt war.

14 Vgl. Rainer, Ray Stokes: Die Chemie muss stimmen. Bilanz des Wandels 1990-2000. Leipzig, 2000. S. 10. 15

Vgl. Rainer Karlsch: ‚‚Sozialistisches Weltniveau‘‘: Spitzenleistungen in Technik, Produktion und Wissenschaft? In: Thomas Großbölting: Friedensstaat, Leseland, Sportnation? DDR-Legenden auf dem Prüfstand. Berlin: Ch. Links Verlag, 2009. S. 3.

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So produzierte die I. G. Farben unter anderem synthetisches Benzin, künstliches Gummi und Sprengstoffe für die Wehrmacht.16

In den Jahren nach 1945 fand der mühsame Wiederaufbau der chemischen Industrie des zertrümmerten Deutschlands statt und ergaben sich, trotz der erfolgreichen Vergangenheit, viele Probleme bei der Wiederingangsetzung der chemischen Industrie auf dem Grundgebiet der DDR. Einerseits waren natürlich viele Werke durch alliierte Bombenangriffe zerstört oder schwer beschädigt, wodurch die Produktionskapazität bedeutend beschränkter war als zu Zeiten des Dritten Reiches. Andererseits wurde das besiegte Deutschland mit hohen

Reparationen belastet, wobei auch die chemische Industrie nicht gespart wurde. Vor allem die Sowjetunion eignete sich große Mengen an Betrieben und brauchbaren Maschinen zu, welche zum größten Teil auch Richtung Osten verschleppt wurden. ‚‚Bis Mitte 1948 wurden 9281 Betriebe in Volkseigentum überführt, darunter bedeutende Werke des […] IG-Farben-Konzerns, des Mannesmann-IG-Farben-Konzerns, […] des Siemens-IG-Farben-Konzerns, des AEG-Konzerns und des Krupp-Konzerns.‘‘17 Demzufolge hatte die DDR die höchsten Reparationsleistungen des 20. Jahrhunderts geleistet, sogar mehr als die Sowjetunion anfangs von ganz Deutschland zusammen gefordert hatte. Obwohl die totalen Reparationen der DDR durch die Sowjetunion ‚nur‘ auf 4,3 Milliarden Dollar geschätzt wurde, sollte man mindestens mit dem Vierfachen rechnen.18Ein beikommendes Problem war außerdem, dass nicht nur Maschinen in hohem Tempo von den Alliierten demontiert wurden, sondern, dass auch ein riesiger

Technologietransfer von Ost nach West stattfand. Viele Betriebe verließen das Gebiet der DDR und nahmen ihren Sitz in der Bundesrepublik, wobei sie auch wertvollen Mitarbeiter wie Ingenieure und Fachkräfte mitnahmen. Im September 1953 gab es bereits 3.436 dieser sogenannten ‚Zugewandertenbetriebe‘ mit rund 190.000 Angestellten. 19

Sich bewusst von diesen ungünstigen Entwicklungen, legte die Sowjetunion großen Wert auf eine rasche Erholung der chemischen Industrie innerhalb ihrer, durch die Gründung der DDR nun erweiterten, Einflusszone. Um dies zu bewirken, beließ die Sowjetunion ca. 200 Betriebe

16

Vgl. http://www.mz-web.de/bitterfeld/erfindung-aus-bitterfeld-der-siegeszug-des-pvc,20640916,26028376.html

17 Erich Honecker: Geschichte der DDR, Abriß. Berlin 1978, S. 138. 18

Vgl. Rainer Karlsch: Allein bezahlt? Die Reparationsleistungen der SBZ/DDR 1945-53. Berlin 1993, S. 232. 19 Vgl. Johannes Bähr: Die Firmenabwanderung aus der SBZ/DDR und aus Berlin-Ost (1945-1953), in: Wolfram Fischer, Uwe Müller, Frank Zschaler (Hrsg.): Wirtschaft im Umbruch. St. Katharinen, 1997. S. 229-249; Peter Hefele: Die Verlagerung von Industrie- und Dienstleistungsunternehmen aus der SBZ/DDR nach

Westdeutschland unter besonderer Berücksichtigung Bayerns (1945 - 1961), Beiträge zur Unternehmensgeschichte Bd. 4. Stuttgart 1998.

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als sogenannte Sowjetische Aktiengesellschaft (SAG) unter sowjetischer Verwaltung in Deutschland. Unter ihnen waren auch große chemische Werke wie Leuna, Buna und Elektrochemische Werke Bitterfeld, welche von enormer Bedeutung für die spätere

Kunststoffindustrie der DDR sein würden.20 Um diesen und andere Prozesse in gute Bahnen zu lenken und sich von einer richtigen Entnazifizierung, Entmilitarisierung und

‚Demokratisierung‘ der sowjetischen Besatzungszone versichern zu können, wurde Juni 1945 die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) aufgerichtet. Unter Leitung der SMAD begann der Aufbau der zerstörten Wirtschaft mit Einbegriff der

Wiederingangsetzung der Industrie. Anfangs lag der Fokus noch vor allem auf der Herstellung von Stickstoff, Briketten und Gummi und auf die Gewinnung von Kohle und Braunkohle.21 Dies alles sollte 1948, nach einem Entschluss der 1946 gegründeten

Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), jedoch plangemäß und nach sowjetischem Modell stattfinden. Die sorgfältig aufgebauten Handelsbeziehungen mit dem Westen

Deutschlands und Westeuropa wurden dabei vernachlässigt, da der Fokus nun auf den Markt der osteuropäischen Länder und die Sowjetunion verlegt wurde. Doch nicht nur der Export erlitt Schwierigkeiten, sondern auch der Import von Steinkohle und Halbfabrikaten sorgte dafür, dass die chemische Industrie mit wachsenden Mängeln zu kämpfen hatte.22

Die Kunststoffindustrie war besonders schwer betroffen, da viele Rohstoffe zu Beginn der Nachkriegszeit nicht oder kaum vorhanden waren. Schlimmer aber war die Tatsache, dass ca. 90% der Duroplastindustrie als Wiedergutmachungsbezahlung ‚‚[…] für die durch den faschistischen Überfall anderen Völkern zugefügten Schäden [...]‘‘23

demontiert worden war. In dieser Phase der ostdeutschen Plastindustrie wurde daher notgedrungen sehr viel

improvisiert und mit Ersatzstoffen gearbeitet, was die Qualität der frühen Produkte negativ beeinflusste. Die Anstrengungen um die Plastindustrie wieder aufzubauen blieb aber nicht ohne Resultat. Anfang 1946 wurde zum Beispiel die Produktion von PVC und PS wieder aufgenommen und gegen 1949 konnten sogar wieder Phenolharze aus dem Grundgebiet der DDR geliefert werden. Bis Ende der 40er-Jahre war die Plastindustrie im Vergleich zu den anderen Industriezweigen etwas vernachlässigt was Fortschritte und Neuentwicklungen in der Produktionsweise und dem Kunststoffassortiment angeht. Mit der Einführung des ersten Fünfjahrplanes 1951, wurde nun aber endlich begonnen mit einem ‚Neuaufbau‘ der

20 Vgl. F. Welsch: Geschichte der chemischen Industrie. Berlin 1981. S. 171-172. 21

Vgl. Ebd. S. 171.

22 Vgl. Rainer Karlsch, Ray Stokes: Die Chemie muss stimmen. S. 21. 23 Ebd. S. 216.

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ostdeutschen Plastindustrie. Dies äußerte sich am deutlichsten in einer bedeutenden

Sortimentserweiterung des Plastsortiments um mit dem internationalen Angebot mithalten zu können. Im letzten Jahre des ersten Fünfjahrplanes, konnte sich die Plastindustrie der DDR endlich wieder auf die Produktion von fünf wichtigen Stoffen verlassen: Polyvinylchlorid (PVC), Polystyren (PS), Polyamid (PA), Phenoplaste (PF) und Harnstoff-Formaldehyd-Kondensationsprodukte (UF). Zu dieser Zeit experimentierten die Leuna-Werke zusätzlich auch schon mit Produkten auf der Basis von heißhärtenden Epoxidharzen und im

Stickstoffwerk Piesteritz wurden die ersten Versuche zur Produktion von organischem Glas durchgeführt. Außerdem waren die wichtigsten Produzenten und Verarbeiter von

Plastprodukten nun in der Vereinigung Volkseigener Betriebe (VVB) Plasta untergebracht. 24 Auf diese Weise wurden kleine und große Betriebe aus der Kunststoffindustrie miteinander verbunden und konnte der Staat sie einfacher steuern und kontrollieren. Gleichzeitig konnte man mithilfe dieser Struktur viel effektiver und daher ökonomischer arbeiten, indem man zum Beispiel verschwenderische Parallelentwicklungen rechtzeitig aufmerken und verhindern konnte. Kostbare Rohstoffe wurden auf diese Weise gespart, wodurch auch der ungewünschte Import aus dem kapitalistischen Westen so viel wie möglich beschränkt werden konnte. Es ist jedoch nicht zu verneinen, dass der technologische Stand der DDR, bereits im ersten Dezennium nach Kriegsende, den Entwicklungen im Westen hinterherhinkte. Die absurden Reparationskosten der Sowjetunion, die großangelegte Firmenabwanderung ostdeutscher Betriebe in den Westen und die beschränkten Ressourcen zufolge der Kriegszerstörungen waren dafür die wichtigsten Ursachen. Dabei verlor die DDR unter Zwang der Sowjetunion auch ihre starke Handelsposition ebenso wie ihre Absatzgebiete in Westdeutschland und Westeuropa. Trotzdem gelang es der DDR in einem überraschend hohen Tempo einen wirtschaftlichen Wiederaufbau durchzuführen, wobei der Zustrom von über vier Millionen Flüchtlinge sicherlich von großer Bedeutung war.25 Doch war es bereits zu spät, das westdeutsche Wirtschaftswunder noch zu überholen?

24 Vgl. Ebd. S.217.

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2.2 Die Chemiekonferenz von 1958

Ein weiteres Erbe der DDR war die Nutzung von Kohle als primärer Rohstoff für die

chemische Industrie. Alternativen dafür gab es in den Fünfzigerjahren noch kaum, doch dies war nicht nur der DDR vorbehalten. Auch die Industrie der Bundesrepublik stützte zu dieser Zeit noch hauptsächlich auf den Gebrauch von Kohle. Da die ostdeutsche chemische Industrie aber so viel Kohle verbrauchte, wurden andere Industriezweige gezwungen vernachlässigt, wodurch die Innovation der gesamten Industrie der DDR stagnierte.26 Als die Russen die Sputnik 1 am 4. Oktober 1957 erfolgreich lancierten, wurde der ganzen Welt unverkennbar deutlich, dass die Sowjetunion der USA, was die Raumfahrttechnik anging, zumindest ebenbürtig war. Nach diesem Erfolg, bekam die chemische Industrie im Osten Europas eine große Anregung und wurde unter Anderem zwischen der DDR und der Sowjetunion ein Abkommen getroffen, das den Austausch von Chemiegütern zwischen den beiden Ländern beinhaltete. Unter dem Namen ‚SU-Sonderprogramm‘ lieferte die DDR Kunststoffe, Pflanzenschutzmittel und Fasern und bekam dafür chemische Grundstoffe, Holz, Stahl und Aluminium. Außerdem wurden von den Buna Werken und dem Elektrochemischen Kombinat Bitterfeld die Kunststoff- und Karbidkapazitäten erweitert.

Infolge dieser günstigen Veränderungen und der Einsicht, dass es mit der eigenen Industrie immer weiter Bergab ging, verabschiedete die Plankommission der DDR im November 1958 in Leuna ein Chemieprogramm. Unter dem Slogan ‚;Chemie bringt Brot, Wohlstand und Schönheit‘‘, wurde die Verdopplung der chemischen Produktion bis 1965 vorsehen. Obwohl das Verhindern eines weiteren Zurückfallens der eigenen Industrie das wichtigste Ziel des Chemieprogramms war, spielten auch andere Faktoren eine wichtige Rolle. So sollte ein Umstieg auf die Petrochemie der DDR große Kostenvorteile besorgen und konnte die chemische Industrie auf eine große Tradition, und mittlerweile wieder neue Fachkräfte zurückgreifen. Außerdem wurde die DDR, im Rahmen der Konkurrenz zur BRD und

Westeuropa, zu einer stärkeren Konsumorientierung gezwungen.27 Durch eine Stabilisierung der eigenen Industrie, sollte die DDR vor dem Hintergrund des Kalten Krieges so viel wie möglich unabhängig sein von Importen aus dem kapitalistischen Westen. Gleichzeitig sollte das Angebot von Konsumgütern auf dem eigenen, und dem osteuropäischen, Markt erweitert

26

Vgl. Raymond Stokes: Opting for Oil. The Political Economy of Technological Change in the West German Chemical Industry 1945-1961. Cambridge 1994. S. 50.

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werden und sollte dadurch dem westdeutsche Lebensstandard nicht nur gleichgekommen, sondern ihn überstiegen werden.

Übersicht der wichtigsten Ziele des Chemieprogramms der DDR - 195828 Lage 1958 Plan für 1965 Zuwachs

Gesamte Produktion (Mrd. M.) 8,8 18 105% Synthetische Fasern (1000 t) 6,7 38,9 481% Kunststoffe (1000 t) 93 311 244% Treibstoffe (Mio. t) 2,03 4,2 107% Schwefelsäure (1000 t) 531 1005 89% Synthetischer Kautschuk (1000 t) 86,8 105 25% Stickstoffdünger (1000 t) 320 386 21%

Um diese ambitiösen Ziele zu erreichen, mussten jedoch zuerst stark in die ostdeutsche Industrie investiert werden. Eine der wichtigsten Voraussetzungen war wohl der Bau der enormen Erdölleitung Freundschaft, welche von den sowjetischen Ölfeldern bis in die osteuropäischen Länder, die zu dem Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) gehörten, führte. Um diese großen Mengen sowjetischen Erdöls verarbeiten zu können, wurde bereits Ende 1960 mit dem Bau des Erdölverarbeitungskombinates Schwedt/O. begonnen. Außerdem wurden die bestehenden Leuna-Werke mit einem modernen Produktionskomplex für die Petrochemie erweitert: Leuna II. Hier wurden, aus dem angeführten Erdöl, hauptsächlich Rohstoffe und Zwischenprodukte für die Herstellung diverser Kunststoffe produziert. Mit der Durchführung dieser Maßnahmen wurde endlich ein großer Schritt gesetzt, in die Richtung einer modernen Industrie. Doch anstatt die bereits bestehenden Werke auch auf die

vielversprechende und umweltfreundlichere Petrochemie umzuschalten, oder die Kohlechemie wenigstens langsam abzubauen, entschloss sich die SED-Führung für den gleichzeitigen Ausbau dieser verschmutzenden Industrie. Dieser Entschluss sollte große Folgen für die Entwicklung der ostdeutschen Industrie haben und sie mit einem permanenten Spannungsverhältnis aufhalsen. Mit der Erweiterung der Kohlechemie machte die DDR einen großen Teil ihrer chemischen Industrie von einer altmodischen und langfristig

unverantwortlichen Technologie abhängig, wodurch sie auch in dieser Hinsicht bei ihren

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Tabelle zusammengestellt nach: Rainer Karlsch, Ray Stokes: Die Chemie muss stimmen. Bilanz des Wandels 1990-2000. Leipzig, 2000. S. 26.

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Konkurrenten im Westen zurückblieb.29 In der Bundesrepublik, ebenso wie in anderen westeuropäischen Ländern, gab es natürlich auch eine Übergangsphase, worin alte und neue Technologien nebeneinander verwendet wurden. Der Fokus lag jedoch ganz deutlich darauf, veraltete, verschmutzende und ineffiziente Produktionsweisen möglichst schnell zu ersetzen. Wie vielversprechend das Chemieprogramm 1958 auch präsentiert worden war, wurde bereits nach einigen Jahren deutlich, dass die angestrebten Zahlen innerhalb der festgestellten

Zeitspange nicht erreicht werden konnten und, dass der Wettlauf mit dem Westen, wenigstens in dem Bereich der Chemie, endgültig verloren war. Sogar das, sich mit der

Grundstoffindustrie beschäftigende, Zentralkomitee der SED, meinte Beginn 1961: Das Chemieprogramm existiert nach dem gegenwärtigen Stand der Planung nicht mehr. Wir werden mit absoluter Sicherheit zu einem zweitrangigen Chemieland absinken, wenn die gegenwärtig geplante Entwicklung beibehalten wird. Selbst wenn wir das im Chemieprogramm der DDR ursprünglich vorgesehene Tempo der

Entwicklung beibehalten, würden wir 1965 weiter hinter Westdeutschland zurückliegen als zu Beginn des Chemieprogramms.30

Wo die Grundchemie noch einigermaßen den geplanten Anstieg realisieren konnte, blieben vor allem die neueren Industriezweige weitgehend zurück. So auch die Produktion von Kunststoffen und synthetischen Fasern. Die Erweiterung der Kohlechemie war jedoch nicht der einzige Grund für die strukturellen Probleme der gesamten chemischen Industrie. So wurden viele Grundstoffe noch auf altmodische und kostbare Art und Weise gewonnen. Auch waren viele Produktionsanlagen zu klein, wodurch die Produktionskosten immer relativ hoch blieben. Außerdem dauerte das Bauen neuer Anlagen im Durchschnitt länger als fünf Jahre, wodurch auch diese Anlagen bei der Ablieferung schon wieder veraltet waren. Diese Faktoren besorgten nicht nur der eigentlichen Produktion von Gütern Schwierigkeiten, sondern hatten auch einen ziemlich hohen Preis zur Folge.31 Auch die Plankommission der SED erkannte dieses Problem 1965, während der Endphase des misslungenen ersten Chemieprogramms, und musste konstatieren:

29 Vgl. Raymond Stokes: Chemie und chemische Industrie, S. 292; Wolfgang Mertsching, Die Entwicklung der Mineralölindustrie der DDR, in: Klaus Krug, Hans-Wilhelm Marquart, Zeitzeugenberichte II. Chemische Industrie, Frankfurt/M. 1999, S. 128-143.

30 Rainer Karlsch: „Wie Phönix aus der Asche?“ Rekonstruktion und Strukturwandel in der chemischen Industrie in beiden deutschen Staaten bis Mitte der sechziger Jahre, in: L. Baar/D. Petzina (Hrsg.): Deutsch-deutsche Wirtschaft 1945 bis 1990. Strukturveränderungen, Innovationen und regionaler Wandel. Ein Vergleich. St. Katharinen, 1999. S. 262-303, S. 296-297.

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Ein entscheidender Mangel, der fast in unserer gesamten chemischen Industrie auftritt, besteht in den gegenüber dem Weltstand weit überhöhten Produktionskosten, die sich darin dokumentieren, dass unsere Industriepreise für Chemieprodukte durchweg 2 bis 3 mal höher als die Weltmarktpreise sind.32

Beginn 1964 wurde bereits mit einem zweiten Chemieprogramm begonnen, das bis 1970 dauern sollte. Die für das erste Chemieprogramm geplanten Veränderungen und Ziele, sollten erneut aufgegriffen und diesmal erreicht werden, aber auch dieser Aufwand scheiterte. Im Nachhinein lässt es sich immer einfacher Urteilen, doch es ist deutlich, dass der Anspruch und die Wirklichkeit vom Anfang an weit auseinander lagen. Wie gesagt war der gleichzeitige Ausbau von der Kohle- und Petrochemie wohl der größte Fehler. Dabei lag die Lieferung des sowjetischen Erdöls weit unter den erhofften Zahlen, wodurch die DDR in großem Maße von Importen aus dem Westen abhängig blieb. Schließlich wurde auch der eigene

Technologiestandard weit überschätzt, mit der Folge, dass benötigte Werke oder Maschinen zu spät oder sogar überhaupt nicht geliefert werden konnten. Hierdurch hinkte die ostdeutsche Industrie, der des Westens immer mehrere Jahre hinterher. Wo die chemische Industrie der DDR zu Beginn der 50er Jahre noch überraschend schnell aufgestiegen war, stagnierte sie jetzt komplett und viel sie, im Vergleich mit ihren Konkurrenten, immer weiter zurück.

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2.3 Popularisierung des neuen Materials

Die Chemie gibt uns künstliche Düngemittel und hilft, die landwirtschaftlichen Erträge zu erhöhen; sie gibt Kraftstoffe für Industrie und Verkehr, sie gibt neue Werkstoffe, die für manche Erzeugnisse zweckmäßiger und haltbarer sind als teures Holz und wertvolle Metalle. Die Chemie gibt schließlich farbenfrohe, duftige Gewebe, vielerlei formschöne Haushaltsgeräte, eine schillernde Palette bester leuchtender Farben, und nicht zuletzt hunderte Sorten von Parfum, Creme und Puder.33

Auf diese vielversprechende Weise wurde der neue Industriezweig und die daraus folgende Produktion von Kunststoffgegenständen den Bürgern der DDR, während der

Chemiekonferenz von 1958, zum ersten Male vorgestellt. Der Erste Sekretär des ZK der SED, Walter Ulbricht, versicherte dem ostdeutschen Volk sogar höchstpersönlich, das die neue Plaste auf allen Ebenen für Wohlstand und Modernität sorgen würde, denn ihre Verbreitung war für den Staat nicht nur wirtschaftlich sondern auch ideologisch von größter Bedeutung. Diese sorgfältig geplante Einführung des Materials war nicht ohne Grund, da die Bevölkerung anfangs eher zurückhaltend war. Dieser Argwohn ist gut zu verstehen wenn man bedenkt, dass die bisherigen Erfahrungen mit Kunststoff oft negativ gewesen waren. Vor allem während des Zweiten Weltkrieges wurden Kunststoffe häufig als Ersatzmaterial eingesetzt, welches meist von schlechter Qualität war. Bereits Anfang der Fünfzigerjahre hatte sich der ostdeutsche Staat bemüht den schlechten Ruf der Plaste aufzubessern, in der Form einer Ausstellung mit dem Namen ‚Kunststoffe im neuen Kurs‘, welche 1954 in Berlin stattfand. Hier zeigten Kunststoffproduzenten den Besuchern die mannigfaltigen

Verwendungsmöglichkeiten der Kunststoffe, sowohl für die Industrie als auch für den alltäglichen Gebrauch. Außerdem konnten die Besucher sich nun von der guten Qualität der neuen Plaste überzeugen lassen. Mit der Chemiekonferenz wurde diese Popularisierung erneut aufgegriffen und noch intensiver durchgeführt.

Werbungen und andere Kampagnen waren anfangs vor allem auf Frauen gerichtet, da diese schließlich die wichtigste Verbrauchergruppe von Konsumgütern im Haushaltsbereich formten. In Frauenzeitungen wie Sibylle, Guter Rat und Die Frau von heute, wurden deshalb Anwendungsmöglichkeiten, Gebrauchsweisen und Pflege der Kunststoffware ausführlich behandelt, damit die erste Erfahrung des neuen Gebrauchers sofort so gut wie möglich war und das Produkt durch gute Pflege eine längere Lebensdauer haben würde:

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Marcus Schulte: »CHEMIE GIBT BROT, WOHLSTAND UND SCHÖNHEIT« Die Rolle der chemischen Industrie in der Wirtschaft und im Alltag der DDR Ausgewählte Fernseh- und Hörfunkproduktionen der DDR. DRA Spezial, Band 18. Deutsches Rundfunk Archiv Babelsberg/Wiesbaden, 2008. S. 3.

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Niemand wird in eine Glasschüssel heißes Wasser schütten, ohne sie vorher anzuwärmen, da er weiß, dass sie sonst zerspringt. Ebenso gut sollten wir die Eigenschaften der Plaste kennen, um viel Freude an unseren Haushaltsartikeln zu haben.34

Da der Verkaufspreis der neuen Güter öfters auch höher war als der von den alten Sachen aus Metall, Ton oder Porzellan, lag der Fokus in der Vermarktung vor allem darauf ihre Vorteile gegenüber dem alten Material zu betonen. Ein wichtiger Faktor dabei war Zeit: Durch die neuen pflegeleichten, unzerbrechlichen Plastartikeln, brauchte die moderne Frau weniger Zeit an ihrem Haushalt zu spendieren, wodurch nun auch mehr Zeit übrig blieb für andere Sachen. Dieses Zeitersparnis ließ sich den Frauen gegenüber nicht nur gut vermarkten, sondern war auch der SED äußerst wichtig. Die Frau sollte nämlich aus ihrer traditionellen Roller der Hausfrau brechen und auch einen richtigen Job im Arbeitsleben bekommen. Durch den

intensiven Haushalt, der aus Kochen, Putzen, Waschen, Einkaufen usw. bestand, gab es kaum noch Zeit um als vollzeitige Arbeitskraft eingesetzt werden zu können. Das Institut für

Marktforschung (IfM) hatte nämlich erforscht, dass der ostdeutsche Mann nur 5,7% des gesamten Haushalts übernahm, ein Prozentsatz der im Ausland bedeutend höher lag. Um den Haushalt für die Frau so einfach und so wenig zeitaufwendig wie möglich zu machen,

mussten die Wohnung und die Produkte angepasst werden. Alles sollte extrem pflegeleicht, effizient und einfach gehen, damit so viel wie möglich Zeit übrig blieb für einen Job

außerhalb des Hauses. So sollten Holzböden durch PVC-Böden ersetz werden, Küchen und Anrichten mit Kunststoffplatten bedeckt, Apparate mechanisiert und so viel wie möglich Produkte und Gebrauchsgegenstände effizient gestaltet werden. Laut Forschungen des IfMs, konnten hierdurch bis zu 4,8 Millionen Arbeitsstunden pro Jahr mehr erfüllt werden, als wenn die Frau den größten Teil des Tages mit dem Haushalt beschäftigt wäre.35 Diese extra

Arbeitsstunden waren natürlich von größtem Wert für die ostdeutsche Volkswirtschaft und wurden als unentbehrlich gesehen für das Gelingen der erstrebten sozialistischen Moderne. Nicht nur sollten Männer und Frauen in der DDR gleich sein und besorgten zusätzliche Arbeitskräfte der Wirtschaft einen finanziellen Impuls, sondern die eigene Heimat musste erst auf sozialistische Art und Weise optimal funktionieren. Aus diese Weise konnte sich dann die

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Gerhard Müller: »Mit dem Plast auf Du und Du« In: Guter Rat 1, 1966. S. 19.

35 Vgl. Eli Rubin: East German Plastics: Technology, Gender and Teleological Structures of Everyday Life. In: German History Vol. 25 No. 4. S. 605-607.

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Überlegenheit dieser Ideologie im eigenen Staat und im Ausland bestätigt sehen und wurde gleichzeitig der Beweis dafür geliefert, dass man einer grenzenlosen Zukunft bevor stand. Für die ostdeutsche Politik und Wirtschaft war es jedoch wichtig, dass auch der Rest der Bevölkerung überzeugt und begeistert werden konnte. Dies geschah unter anderem über Rundfunk und Fernsehen aber auch in der Sachliteratur wurde die Plaste den Bürgern aufgedrängt. Auch Kinder wurden bereits im jungen Alter von den großen Vorteilen und unendlichen Möglichkeiten überzeugt, da auch in Jugend- und Schulbüchern Kunststoffe als Material der Zukunft präsentiert wurden. Es dauert nicht lang bis Plaste und Kunststofffasern viele Bereiche der Gesellschaft überherrschen und ihre Vorgänger in den Schaufenstern der Warenhäuser ersetzten. Auch die Inneneinrichtung vieler Häuser untergeht eine

Metamorphose, wo nämlich früher die Anrichte noch aus Holz oder Stein bestand ist sie jetzt durch Sprelacart ersetzt, Glas und Porzellan machen Platz für Geschirr aus Polystyrol und Melaminharz und sogar Kleidungsstücke werden jetzt aus synthetischen Fasern wie Dederon gefertigt.36 Der Gedanke die Grenzen der naturgegebenen Stoffe durch den Gebrauch von Kunststoffen überschreiten zu können, reizte die Phantasie. So erschienen in Büchern zum Beispiel Abbildungen von fremden Welten, wo menschliches Leben unter durchsichtigen, futuristischen Kunststoffkuppeln möglich war. ‚‚»Schöpfungen ohne Grenzen«, »Farbenfrohe Leichtgewichte« und »Schönheit um Prelana« waren Titel im Gefolge des Chemieprogramms, die die Faszination der Autoren über die Kunststoffwelt zum Ausdruck brachten.‘‘37

Trotz der gezielten medialen Aufklärung und Vermarktung der Staatsführung der DDR, war sie sich davon bewusst, dass lange nicht alle Bürger sich ohne weiteres überzeugen ließen. Die alten Materiale hatten sich schließlich über Jahrzehnte bewiesen und die neuen Waren teuer und sahen oft billig aus. Deswegen versuchte man die Unsicherheit und Skepsis auf geschickte Weiße zu umarmen, indem man dieses Gefühl öfters als Ausgangspunkt verschiedener (Schleich)Werbungen nahm, um den Käufer durch gespielte Aufrichtigkeit doch überzeugen zu können:

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Vgl. Katja Böhme, Andreas Ludwig: Alles aus Plaste, Versprechen und Gebrauch in der DDR. S. 26-29. 37 Andreas Ludwig, Katja Böhme: 50 Jahre Chemiekonferenz der DDR - Metaphorik eines Versprechens und Durchdringung des Alltags. In: WerkstattGeschichte 50, 2008. S. 25-32. Hier: S. 29.

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»Können Sie, liebe Leserin, sich vorstellen, daß Sie eine festliche Tafel mit Plasttellern decken? Natürlich nicht. Würden Sie den Plastbecher, aus dem Sie morgens […] trinken, am Feierabend benutzen, um daraus genüßlich Ihren Tee oder Kaffee zu nehmen? Natürlich nicht. Natürlich nicht? Sehen wir uns einmal um, und wir bemerken, daß diese Verneinung gar nicht so selbstverständlich ist. […] Mit dem Plast auf Du und Du – diese Freundschaft will nicht nur mit Vernunft, sondern auch mit dem Gefühl für das Schöne gepflegt werden.«38

Im Laufe der Sechzigerjahre gewinnen die Kunststoffprodukte aber immer mehr an Popularität und verdrängen sie ihre Vorgänger allmählich aus dem Alltag. Letztendlich ging es nämlich nicht nur darum, ob die neuen Materiale tatsächlich besser, schöner oder Pflegeleichter waren, da mit der Einführung dieser Produkte ein richtiger ‚Generationswechsel der Gegenstände‘39

stattfand. Diesen Begriff verwendet Jörg Petruschat für den radikalen Austausch von alten Sachen mit neunen Plastgegenständen, der in vielen Haushalten im Laufe der Sechzigerjahre in der DDR stattfand. Es war nicht länger nur der ostdeutsche Staat der durch das neue ‚Wundermaterial‘ und die dazu gehörigen technologischen Fortschritte den Anschluss an das Weltniveau erworben hatte, so meinte man, denn nun konnte auch jeder Bürger teilnehmen an der Idee einer sozialistischen Moderne, indem er selbst die Plaste in seinem Haushalt verwendete. Sich für Kunststoff zu entscheiden wurde also immer weniger ein Risiko auf die vertraute Qualität der alten Dinge verzichten zu müssen, sondern viel mehr ein Statement: Wer keinen Kunststoff verwenden wollte, war altmodisch!40 Die Staatspropaganda hatte also gewirkt und in nur wenigen Jahren Zeit war aus einem unbekannten, misstrauten Material fast ein Statussymbol geworden, dessen sozialen Drucks man kaum wiederstehen konnte.

Nach und nach fand die Plaste in immer mehr Bereichen ihren weg, bis sie schließlich omnipräsent war, von Küchentisch und Kleidung bis zur Sitzfläche der Parkbank. Damit nahm aber gleichzeitig auch ihre Exklusivität ab und langsam schwand der Traum von einem Material der Moderne. In den Jahren seit der Chemiekonferenz hatten bestimmte Produkte einen festen Platz in der Gesellschaft erobert, indem sie sich durch ihre Qualität, Ästhetik oder Funktionalität bewiesen hatten. Das Versprechen war ja schließlich gewesen, dass die

38 Gerhard Müller: »Mit dem Plast auf Du und Du« In: Guter Rat 1, 1966. S. 19. 39

Jörg Petruschat: Take me plastics In: Renate Lückner-Bien (Hg.): 75 Jahre Burg Giebichenstein 1915-1990. Katalog zur Ausstellung »75 Jahre Künstlerische Ausbildungsstätte Burg Giebichenstein« vom 02.10.-14.10.1990. Halle, 1990. S.229-234.

40

Vgl. Katja Böhme: Utopie aus dem Spritzgussautomaten – Sozialistische Moderne und Kunststoffe im Alltag der DDR In: Uwe Fraunholz, Anke Woschech (Hg.): Technology Fiction – Technische Visionen und Utopien in der Hochmoderne. Bielefeld, 2012. S. 221-246; hier S. 229.

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Plaste kein Ersatz ihrer Vorgänger sein sollte, sondern etwas Besseres. Es gab aber auch viele Produkte die eigentlich völlig sinnlos waren oder, vielleicht noch schlimmer, tatsächlich ein Ersatzartikel. So war echtes Glass zum Beispiel etwas Seltenes in der DDR, weil dafür die Rohstoffe und Maschinerie zu knapp waren. Sicher bei Gläsern und anderem Geschirr, verwendete man anstatt von Glass Polyacryl, das dem richtigen Material zwar sehr ähnlich sah, aber in der Praxis doch ein billiges Imitat war. Dabei bestimmte, im Gegensatz zum Westen, der Staat welche Produkte es zu kaufen gab und deshalb gab es manche Dinge nicht oder musste man sich zufrieden geben mit einer Plastikversion. Das ‚Erwachen‘ aus dem Traum einer unbegrenzten, vielversprechenden Chemie war jedoch nicht nur auf die DDR beschränkt, sondern gab es zum Beispiel auch in der BRD. Erwartung und Euphorie wurden langsam durch eine Haltung von Skepsis und Vergleich ersetzt. Waren die neunen Produkte wirklich so viel besser als die von früher? Im Westen führte dies ab den Siebzigerjahren zu einer Gegenbewegung welche nur noch bestimmte Artikel oder Alternativen kaufte.41 In der DDR gab es diese Gefühle zwar auch, aber konnte man sich eine solche Haltung wegen des beschränkten Angebots einfach nicht leisten: Eine Alternative gab es unter der SED ganz bewusst nicht.

41 Vgl. Andreas Ludwig, Katja Böhme: 50 Jahre Chemiekonferenz der DDR - Metaphorik eines Versprechens und Durchdringung des Alltags. In: WerkstattGeschichte 50. S. 30-32.

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2.4 Materiale

Nun der historische Rahmen, in welcher die Plastindustrie Entstand, bekannt ist und erläutert wurde wie der ostdeutsche Staat den Konsum der neuen Waren stimulierte und propagierte, steigt wahrscheinlich die Neugierde nach den eigentlichen Produkten dieser Industrie. Um Produkte produzieren zu können, brauch man neben einer Industrie aber vor allem ein Passendes Material: Kunststoff. Da es in der DDR eine breite Skala an Kunststoffen gab, welche auf unterschiedliche Weisen erzeugt und verarbeitet wurden, sollte dieses Kapitel mit einer Beschreibung der wichtigsten Plastsorten abgeschlossen werden, bevor die Produktwelt mit ihren Marken und Formgebern angesprochen wird.

Heutzutage werden Kunststoffe in den meisten Ländern hauptsächlich aus Erdöl gewonnen, das sich durch Destillation in verschiedene Stoffe aufteilen lässt. Beispiele von diesen Stoffen sind verschiedene Öle, Rohbenzin und Diesel. Es ist das Rohbenzin aus dem man, nach einem thermischen Spaltprozeß, Kohlenwasserstoffverbindungen gewinnt, aus welchem Kunststoff hergestellt werden kann. Wie bereits erwähnt verwendete die DDR zwar Erdöl als Grundstoff für ihre chemische Industrie, doch blieb sie größtenteils abhängig von Braunkohle, welche in großen Mengen verfügbar war. Erdöl musste schließlich aus der Sowjetunion importiert werden und war daher teuer und seit der Erdölkrise in den Siebzigerjahren wurde es immer schwieriger zu bekommen. Das die Kunststoffproduktion aus Braunkohle verschmutzend war und viel Energie kostete war daher ein mehr oder weniger notwendiges Übel.

Die genauen chemischen Zusammenstellungen der folgenden Kunststoffe sind für diese Arbeit nicht relevant und werden daher nicht besprochen, doch die Begriffe ‚Thermoplast‘ und ‚Duroplast‘ sollten hier noch kurz erklärt werden: Kunststoffe lassen sich auf Basis ihrer Eigenschaften in Thermoplaste und Duroplaste unterscheiden. Thermoplaste sind nur bei einer bestimmten Temperatur formfest und lassen sich bei starker Erhitzung formen, indem das Material langsam flüssig wird. Duroplaste hingegen, lassen sich nach der ersten Aushärtung nicht mehr verformen, auch nicht bei hohen Temperaturen. Wenn ein Gegenstand aus Duroplast zu stark erhitzt wird, verbrennt es einfach und ist danach nicht länger brauchbar.42

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Celluloid

Celluloid ist ein halbsynthetischer Kunststoff der bereits Ende des 19. Jahrhunderts entstand als einer der ersten Thermoplaste. Celluloid wurde in der DDR vor allem gebraucht für die Herstellung von Spielzeug, Brillen, Schalen und Filme. Die Weiße Farbe des Materials machte es zudem sehr geeignet als Ersatz für kostbares Elfenbein. Ein großer Nachteil war die leichte Entzündbarkeit und die beschränkte Lebensdauer, indem das Material nach einiger Zeit verpulverte. Der VEB Eilenburger Celluloidwerk war der wichtigste Standort der ostdeutschen Celluloid Produktion.43

Bakelit

Die Erfindung der Duroplaste Bakelit stammte vom Anfang des 20. Jahrhunderts und hatte sich unter anderem währen des Zweiten Weltkrieges bewiesen. In der DDR wurde Bakelit teilweise unter dem Namen Plastadur hergestellt, mit als wichtigsten Produktionsstandort der VEB Plasta Erkner und Pressmassefabrik Espenhain. Obwohl das Penolharz nicht neutral genug war für eine Verwendung wobei es in Kontakt kam mit Lebensmitteln, war es in anderen Bereichen sehr beliebt. Die gute Isolation und Beständigkeit gegen hohe Temperaturen machten es sehr geeignet für die Elektroindustrie, indem es zum Beispiel für Schalter und Gehäuse elektrischer Apparate verwendet wurde. Auch andere Gebrauchsgegenstände wie Telefone, Aschenbecher und Knöpfe wurden in der DDR aus Bakelit gefertigt. Sogar die Karosserie des Trabants wurde im Zwickauer Werk aus Baumwollmatten und Phenolharz gepresst und sorgte so für billige, leichte und einfach auswechselbare Teile. Der größte Nachteil waren wohl die dunklen Farben in der das Material ausschließlich zu produzieren war.44

Meladur

Meladur ist eine harzartige Pressmasse die in den Dreißigerjahren entwickelt und seit den Fünfzigerjahren in der DDR durch den VEB Stickstoffwerk Piesteritz hergestellt wurde. Obwohl auch ein Duroplast, konnte Meladur im Gegensatz zu Bakelit in hellen frischen Farben produziert werden. Damit war es eins der wichtigsten Materiale für das moderne und futuristische Image der ostdeutschen Kunststoffe. Durch seine Farbenfroheit, Bruchfestigkeit und Leichtigkeit eignete es sich besonders für Geschirr, sowie Teller, Besteck und Frühstückbrettchen. Die Basis für Meladur wurde unter anderem in dem VEB Stickstoffwerk

43 Ebd. S. 42-43.

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Piesteritz hergestellt, wonach es in anderen Werken in seine endgültige Form gepresst wurde. Obwohl das Material relativ teuer war, wurde es wegen seiner Ähnlichkeit mit Porzellan von den DDR Bürgern gern gekauft.45

Polystyrol

Eins der beliebtesten Materiale in der DDR war mit Sicherheit die Thermoplaste Polystyrol. Bereits in den Dreißigerjahren wurde es in dem VEB Chemische Werke Buna produziert, welcher auch während der DDR-Zeit der einzige Hersteller bleiben sollte. Im Laufe der Jahre wurden verschieden Versionen des Materials entwickelt, unter ihnen auch die schaumige Variante Styropor, welche vor allem für Verpackungsmateriale verwendet wurde. Seine Popularität hat Polystyrol an seinen vielen guten Eigenschaften zu danken. So ließ es sich sowohl transparent als undurchsichtig verarbeiten, war es besonders Bruchfest und konnte es mittels kalten Spritzguss in fast jede denkbare Form gegossen werden. Polystyrol wurde deshalb sehr breit verwendet, nämlich zum Beispiel für Büchsen, Gießkannen, Besteck und sogar den guten alten Hühnereierbecher. Durch seine vielen Vorteile ersetzte Meladur andere Kunststoffe wenn Eigenschaften wie große Hitzebeständigkeit keine Rolle spielten, dabei war es auch noch sehr billig. Meladur war damit das Alltagsmaterial der DDR, indem es sich für fast alle normalen Gebrauchsartikel eignete.46

Polamyd

Das aus Steinkohleteer gewonnene Phenol wurde bereits während des Zweiten Weltkrieges für die Rüstungsindustrie verwendet, eine zivile Verwendung kam jedoch erst in den Fünfzigerjahren. Polamyd hat die besondere Eigenschaft, dass aus ihm ein besonders harter, fast unzerbrechlicher Stoff erzeugt werden kann, aber gleichzeitig kann er zu einer dünnen Faser gesponnen werden. In den Dreißigerjahren war Polamyd vor allem unter dem amerikanischen Namen ‚Nylon‘ bekannt, nicht viel später folgte dann das deutsche ‚Perlon‘. In der DDR erschien eine ähnliche Kunstfaser unter dem Namen ‚DEDERON‘, woraus vor allem Strümpfe und Kleidung hergestellt wurden. Doch auch Nylon und Perlon wurden in der DDR produziert. So produzierten die Bunawerke ‚Polamyd AH Schkopau‘ auf der Basis von Nylon und in Leuna ‚Miramid‘ auf Perlonbasis. Die harte Variante von Polamyd wurde als Ersatz für Stahl verwendet und häufig in der Industrie verwendet. So wurden Schrauben, Zahnräder und andere Gegenstände, wo eine hohe Verschleißfestigkeit gewünscht war, aus

45 Ebd. S. 45.

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Polamyd produziert. Sogar manche Alltagsprodukte in der DDR wurden aus diesem Material gefertigt, doch es war meist teuer und seine Eigenschaften eigentlich übertrieben für den normalen Gebrauch.47

Polyvinylchlorid

Das auf der Basis von Braunkohle produzierte Thermoplaste Polyvinylchlorid wurde durch Polymerisation in den Kunststoff PVC umgesetzt. PVC war mit Abstand der meistverwendete Kunststoff der DDR, etwas was deutlich wird wenn man bedenkt, dass es sich in den späten Fünfzigerjahren noch bei mehr als der Hälfte der Plastproduktion um die Herstellung von PVC handelte. Sogar um 1970 war die PVC-Produktion der DDR noch doppelt so hoch wie in anderen europäischen Ländern. Polyvinylchlorid war vor allem ein sehr billiges Material, das sowohl in harter als in weicher Form gefertigt werden konnte. Wegen seiner ausgezeichneten Korrosionsfestigkeit war es ein beliebtes Material für Leitungen und Isolierungen aber auch für Fussbodenbedeckungen, Bürsten und Bekleidungen. Auch kleinere Artikel für den Alltagsgebrauch wurden aus PCV hergestellt, wie zum Beispiel Strohalme und Stifte. Da dieser Kunststoff so häufig verwendet wurde, musste er auch in großen Mengen produziert werden. Dies geschah in den VEB Elektrochemischen Kombinat Bitterfeld, VEB Eilenburger Celluloidwerk und natürlich in den Bunawerken.48

Polyolefine

Den Kunststoff Polyolefine, welcher aus Erdöl gewonnen Gasen erzeugt wird, kann man in zwei Varianten aufteilen. Einerseits das weichere und wachsartige Polyethylen, andererseits das etwas härtere und gegen höhere Temperaturen beständigere Polypropylen. Beide Thermoplaste haben eine sehr hohe Dehnbarkeit und eigneten sich vor allem für einen Gebrauch in Kontakt mit Flüssigkeiten. In der DDR wurden daher Eimer, Flaschen und Lebensmittelverpackungen aus diesen beiden Materialen hergestellt. Obwohl die Produktion von Polyolefine relativ teuer war, nahm sie im Laufe der Sechziger- und Siebzigerjahre stark zu. Je nach ihrem Verwendungszweck kamen Produkte auf Basis von Polyolfine in der DDR hauptsächlich aus Tambach, Schwerin, Sonneberg und Ottendorf-Okrilla.49

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Ebd. S. 65-66. 48 Ebd. S. 67-68. 49 Ebd. S. 69-70.

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Polyurethan

Als Teil des Chemieprogramms 1958 war für 1963 auch der Aufbau einer industriellen Herstellung von Polyurethan vorgesehen. Es wurde jedoch erst Anfang der Siebzigerjahre in dem VEB Synthesewerk Schwarzheide mit der Produktion begonnen, bedeutend später als in den Umringenden Ländern. Der Vorteil von Polyurethan ist, dass es sowohl zu den Duroplasten wie den Thermoplasten gehört und in weicher und fester Form verwendet werden kann. Es ließ sich also breit verwenden und konnte in der Form von Möbelstücken, Matratzen, Schwämme, Sitzflächen aber auch als Klebstoff und Lack in den ostdeutschen Kaufhäusern gekauft werden.50

Die obenstehenden Kunststoffe waren also die wichtigsten ‚Bausteine‘ woraus die DDR ihre sozialistische Moderne zu schaffen versuchte. Teilweise wurden alte Materiale wie Bakelit und Celluloid aufgegriffen und verbessert, aber die fortschreitende Technik der chemischen Industrie brachte auch neuere Plasten wie Polystyrol in den ostdeutschen Alltag. Fest steht, dass die DDR in der Lage war den großen Mangel an traditionellen Materialen, mit Hilfe einer breiten Skala an duro- und thermoplastischen Kunststoffen mit unterschiedlichen Eigenschaften, einigermaßen zu kompensieren.

50 Ebd. S. 71.

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3. Konsumgüter und Produzenten 3.1 Produkte

Als Resultat der Chemiekonferenz 1958 wurde die chemische Industrie in den Mittelpunkt gerückt und sollte das Konsumversprechen der SED gegenüber den ostdeutschen Bürgern gehalten werden. Dem Versorgungsniveau des Westens sollte durch die Einführung von Plastprodukten nicht nur gleichgekommen werden, sondern man sollte merken, dass ‚‚die Überlegenheit der sozialistischen Gesellschaftsordnung der Deutschen Demokratischen Republik gegenüber der Herrschaft der imperialistischen Kräfte im Bonner Staat eindeutig bewiesen wird.‘‘51 Infolgedessen produzierte die DDR unzählige Dinge aus Kunststoff, wodurch die Einrichtung der einzelnen Häuser, aber auch der öffentliche Lebensraum sich stark änderte. Wie bereits erwähnt ersetzten die Plasten ursprüngliche Materiale wie Holz, Metall und Porzellan. Die neuen Produkte waren leicht, farbenfroh und einfach zu pflegen, wodurch sie einem modernen und praktischen Lebensstill entsprachen. Mit ihrer Erscheinung entstanden auch die ersten Selbstbedienungsläden in der DDR und wurden bestehenden Geschäfte für den Verkauf von Plastartikeln spezialisiert. Ende der Fünfzigerjahre fehlte es den Bürgern der DDR vor allem an kleinen Sachen, sowie Wäscheklammern, Nadeln und Rasierklingen. Dies war die Folge des raschen Aufbaus der schweren Industrie, wobei der Schwerpunkt auf die Herstellung der wichtigsten Grundlagen des Staates lag. Kleinere Massenbedarfsartikel wurden einfach zu wenig produziert. Während der Chemiekonferenz introduzierte Walter Ulbricht daher das ‚Programm der 1000 kleinen Dinge‘. Während des darauffolgenden Siebenjahrplans sollten diese Produkte massenhaft hergestellt werden.52 Da logischerweise nicht alle einzelnen Plastprodukte im Rahmen dieser Arbeit besprochen werden können, ist eine Auswahl getroffen von den damals wichtigsten und bekanntesten Produkten und Produktgruppen. Anhand der folgenden Auswahl lässt sich jedoch ein zeitgemäßer Eindruck der ostdeutschen Warenwelt zwischen den frühen Sechziger- und späten Achtzigerjahren formen, wobei vor allem die Diversität der Plastverwendung auffällt.

Verpacken und Aufbewahren

In den Fünfziger- frühen Sechzigerjahren wurden fast alle Lebensmittel und sonstige Produkte noch mit traditionellen Materialen verpackt. Pappbehälter, Blechbüchsen und Holzkisten waren zu der Zeit in jedem Geschäft zu finden. Flüssigkeiten wie Milch, Säfte und

51Thomas Kupfermann: Kuba-Apfelsinen, Bückware und 1000 kleine Dinge. Magdeburg: Weltbild, 2013. S. 13. 52 Vgl. Ebd. S. 18-19.

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Reinigungsmittel noch in Glasflaschen verpackt. Mit der Plastifizierung der ostdeutschen Warenwelt wurden Materiale wie Glas, als Mittel für Verpackungen, jedoch immer mehr durch Kunststoff ersetzt. Glasflaschen waren schwer und zerbrechlich und mussten oft von anderen Betrieben geliefert werden, was Transportkosten und weiteres Verpackungsmaterial mit sich brachte. Kunststoffflaschen waren leicht, fast unzerbrechlich und konnten immer öfter im Gleichen Werk produziert und gefüllt werden. Die neuen Flaschen waren jedoch teurer als ihre Vorgänger, was aber durch Eigenschaften wie Transparenz oder leuchtende Farben kompensiert wurde. Da der Bedarf nach Plastflaschen anfangs nicht gedeckt werden konnte, wurden Verpackungen für ein bestimmtes Produkt öfters temporal aus Glas und Plaste hergestellt, wobei die Glasversion dann nach einiger Zeit verschwand. Dasselbe Verfahren galt für Behälter aus Metall wie Blech und Aluminium.

Meistens änderte sich mit dem Übergang auf Kunststoff auch die traditionelle Form der Verpackungen. In manchen Fällen experimentierte man jedoch bewusst mit dem Erhalt eines klassischen Designs. Im Falle des alten Milchkännchens wurde anfangs zum Beispiel nur das Material von Aluminium nach Plaste geändert und wurden nun neue Farbtöne möglich. Rasch entstand aber die Meinung, dass die traditionelle Form dem neunen Material nicht gerecht wurde, worauf Mitte der Sechzigerjahre ein komplett neues Modell in bunten Farben entworfen wurde. Etwas später folgte der Milchbeutel, eine durchsichtige Tüte, der man, durch eine Ecke abzuschneiden, eine gewünschte Menge Milch entnehmen konnte. Um das Ausgießen zu vereinfachen wurde zusätzlich ein ‚Milchtütenhalter‘ auf den Markt gebracht, welcher bis auf den heutigen Tag ein kulturelles Artefakt der DDR darstellt.53

Fig. 1: Die Entwicklung von Milchbehältern in der DDR. Links Die Kanne aus Aluminium, daneben die Glasflasche und Rechts der Plasteimer und der spätere Milchbeutel.54

53

Vgl. Katja Böhme, Andreas Ludwig: Alles aus Plaste, Versprechen und Gebrauch in der DDR. S. 126-133. 54 Figur zusammengestellt aus: Katja Böhme, Andreas Ludwig: Alles aus Plaste, Versprechen und Gebrauch in der DDR. S. 128-133.

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Stapeln und Mitnehmen

Da die neue Produktwelt aus Plaste, ebenso wie ein moderner Lebensstill mit einer fünftägige Arbeitswoche55, Zeitersparnisse und mehr Freizeit versprachen, entstand für die DDR-Bürger ein neuer Lebensbereich. Auf einmal hatte man jedes Wochenende zwei Tage frei, in denen man sich von der Arbeitswoche erholen konnte, aber auch Aktivitäten außerhalb des Arbeitsplatzes und der eigenen, oft sehr kleinen, Wohnung möglich waren. Kurze Reisen im eigenen Staat war eine der wenigen Möglichkeiten etwas ‚von der Welt‘ zu sehen, wobei der Campingplatz sehr beliebt war. Kunststoff schien dafür ein ausgezeichnetes Material zu sein, da es ja leicht, bruchfest und einfach zu pflegen war. Außerdem hatte zu der Zeit kaum jemand ein eigenes Auto, wodurch das Reisegepäck vor allem auch möglichst platzsparend sein sollte wodurch man es einfach auf dem Fahrrad oder in den öffentlichen Verkehrsmitteln mitnehmen konnte. Ein bekanntes Beispiel dieser praktischen und platzsparenden Produkte war der sogenannte ‚Klappbecher‘, der aus mehreren leicht konischen Ringen bestand, welche man ein- und ausschieben konnte um so einen Becher zu formen oder ihnen gerade zu einer kleinen Dose zu verwandeln. Auch der Deckel des Bechers blieb nicht ungenutzt, so gab es Exemplare mit einem kleinen Spiegel darin oder einem runden Loch, damit der Deckel auch als Eierbecher zu verwenden war.56

Fig. 2: Der Klappbecher im Produktkatalog von 1955/56 mit seinen Varianten. Rechts der Deckel als Eierbecher.57

Auch Geschirr wurde auf praktische Weise formgegeben, damit es sich einfach stapeln und daher transportieren lies. Ein Beispiel davon ist das berühmte ‚Stapelgeschirr‘ aus Meladur, welches aus einer Kaffeekanne, zwei Tassen mit Untertasse und einem Zuckertopf bestand. Die kleineren Teile ließen sich sehr kompakt innerhalb der Kaffeekanne aufstapeln, wodurch

55 Seit 1967 gab es in der DDR die fünftägige Arbeitswoche. 56

Vgl. Katja Böhme, Andreas Ludwig: Alles aus Plaste, Versprechen und Gebrauch in der DDR. S. 134-135. 57 Figur zusammengestellt aus: Katja Böhme, Andreas Ludwig: Alles aus Plaste, Versprechen und Gebrauch in der DDR. S. 135.

Referenties

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