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"Ich bin nicht radikal, sondern analytisch" - Analyse der Sarrazin-Debatte anlässlich Deutschland schafft sich ab

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„ICH BIN NICHT RADIKAL, SONDERN ANALYTISCH“

ANALYSE DER SARRAZIN-DEBATTE ANLÄSSLICH DEUTSCHLAND SCHAFFT SICH AB

Noortje Nieuweboer

Studentnummer: 10769706

Universiteit van Amsterdam

Masterscriptie Duitslandstudies

Begeleider: Dr. Willem Melching

Tweede lezer: Dr. Moritz Föllmer

30/12/2018

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1

Inhalt

1. Die Sarrazin-Debatte – Einleitung ... 2

2. Ursprung der Debatte... 4

2.1 Thilo Sarrazin ... 4

Parteiordnungsverfahren ... 5

Veröffentlichung Deutschland schafft sich ab und andere Bücher Sarrazins ... 5

2.2 Deutschland schafft sich ab ... 6

Kapitel 1 ... 7 Kapitel 2 ... 8 Kapitel 3 ... 8 Kapitel 4 ... 11 Kapitel 5 ... 12 Kapitel 6 ... 12 Kapitel 7 ... 12 Kapitel 8 ... 13 Kapitel 9 ... 14

2.3 Rezensionen Deutschland schafft sich ab ... 14

3. Verlauf der Debatte ... 17

3.1 Diskurs der multikulturelle Gesellschaft und der Integrationsdebatte ... 17

Politik ... 18

Reflektion auf der Debatte ... 20

Der Analytiker Sarrazin ... 22

3.2 Kritik auf Verlauf der Debatte ... 23

Debatte muss anders ... 23

Teilnehmer der Debatte ... 24

Muslimifizierung ... 24

Öffentliche Diskussion unmöglich ... 26

3.3 Meinungsfreiheit ... 27 3.4 Tabus ... 29 Enttabuisierung ... 29 Genetische Argumente ... 30 Das Judengen ... 31 3.5 Reaktion Sarrazin ... 33 4. Konklusion ... 35 Literaturliste ... 37

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1. Die Sarrazin-Debatte – Einleitung

Im Sommer 2018 erschien Feindliche Übernahme: Wie der Islam den Fortschritt behindert und die

Gesellschaft bedroht1, ein Buch von Thilo Sarrazin, das schon wieder ein Bestseller wurde. Sein erster großer Bestseller war das 2010 erschienene Buch Deutschland schafft sich ab, das sofort eine

weitläufige Diskussion auslöste. Deutschland schafft sich ab wurde vom Anfang an durch manche als kontrovers betrachtet. Sarrazin behauptet in dem Buch, dass durch Zuwanderung aus muslimischen Ländern in Kombination mit sinkenden Geburtenraten in Deutschland, die deutsche Identität

verloren gehen wird und, dass der durchschnittliche IQ in Deutschland senken wird. Bundeskanzlerin Angela Merkel reagierte in einem Interview auf Deutschland schafft sich ab, das sie nach eigenen Angaben nicht gelesen hat:

Ich kann die Äußerungen nicht akzeptieren. Sie wirken ausgrenzend. Ganze Gruppen in unserer Gesellschaft fühlen sich dadurch verletzt. Das Thema Integration ist eines der

wichtigsten unserer Zeit. Wir müssen es sachlich diskutieren und dürfen nicht Abneigung und Widerwillen wecken. Das erschwert die Integration anstatt sie zu fördern.2

Auf der Frage, ob Deutschland durch Türken und Muslime „dümmer“ wird, antwortete sie, dass sie das für „Unsinn“ haltet.

Seit dem Zweiten Weltkrieg hat Deutschland sich politisch, ökonomisch und historisch entwickelt. Seit der Wirtschaftskrise ab 2008 wurde deutlich, dass Deutschland die treibende ökonomische Kraft Europas ist. Auch der Umgang mit der eigenen Geschichte entwickelte sich, Deutschland wurde selbstsicherer. Wie in anderen Ländern, wird heute auch in Deutschland versucht, Themen wie Migration, Integration und kulturelle Identität in der Öffentlichkeit zu diskutieren. Auch in Deutschland ist eine Drehung der Diskussion wahr zu nehmen: Nationalismus, Ethnozentrismus und sogar Genetik wurden dabei nicht vermieden. Viele Deutsche ärgern sich an der sogenannten 'politischen Korrektheit' und auch, immer an der Vergangenheit erinnert zu

werden. Gleichzeitig weisen manche anderen gerade auf der Vergangenheit und verurteilen die neue Richtung die diese Debatten gehen. Deutschland hat eine Geschichte bezüglich öffentlicher Debatten rund der Identität und Geschichte Deutschlands. Es gab zum Beispiel die Historikerstreit in den achtziger Jahren über der Rolle und Bedeutung der Holocaust in der Geschichte. Im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhundert wurde die Leitkultur-Debatte geführt, und auch danach wurde das Begriff 'Leitkultur' ab und zu wieder erneut diskutiert.

Da das Buch Sarrazins 2010 erschienen ist, muss man berücksichtigen, dass es damals noch keine erfolgreiche sehr rechte Partei in Deutschland gab, die Partei Alternative für Deutschland war damals noch nicht im Bundestag. Der Höhepunkt der Flüchtlingskrise oder der Fluchtbewegung aus Syrien und viele andere Länder hatten auch noch nicht stattgefunden.

Ich werde die erste Sarrazin-Debatte, anlässlich die Publikation von Deutschland schafft sich ab im Sommer 2010, analysieren. Gilt Deutschland schafft sich ab als enttabuisierend oder zeigen die vielen kritischen Reaktionen, dass man in Deutschland immer noch nicht alles sagen kann? Die krampfhafte politische Korrektheit, die es wegen der Geschichte in Deutschland gibt, wird heute kritisiert. Ändert sich der deutsche Diskurs bezüglich der Multikulti-Gesellschaft jetzt?

1 Sarrazin, Thilo: Feindliche Übernahme: Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht.

München: FinanzBuch Verlag 2018.

2 Külahci, Ahmet: Erfolgreiche Integration ist Bereicherung für unser Land. Interview mit Angela Merkel. Original

in: Hürriyet. URL: https://www.bundeskanzlerin.de/bkin-de/suche/erfolgreiche-integration-ist-bereicherung-fuer-unser-land-647916 (03/09/2010, abgerufen am 13/12/2018).

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3 In dieser Analyse werde ich zuerst die wichtigsten Punkte aus Deutschland schafft sich ab zusammenfassen. Damit wird dann später deutlich auf welchen Punkte in der Debatte meist reagiert wurde, und auf welche kaum oder nicht. Dann werde ich die Debatte analysieren, anhand eines ausgewählten Teils der Reaktionen. Hierfür werde ich unter anderem zwei Bände benutzten:

Sarrazin: eine Deutsche Debatte3 und Die Sarrazin Debatte4, worin Kolumne, Interviews, Artikeln usw. mit Bezug auf Deutschland schafft sich ab gebündelt sind. Ich werde versuchen diese Reaktionen einzuordnen, um so zu suchen nach möglichen Strömungen innerhalb der Debatte. Was sind die Schwerpunkte der Debatte, wer sind die Teilnehmer und was sind ihre Argumente?

3 Abdel-Samad, Hamas; Aly, Götz; Bax, Daniel; u.a.: Sarrazin. Eine Deutsche Debatte. München: Piper 2010. 4 Schwarz, Patrik (Hrsg.): Die Sarrazin Debatte. Eine Provokation und die Antworten. Hamburg: Edel Germany

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4

2. Ursprung der Debatte

Ab und zu entwickelt sich eine weitverbreitete Debatte in Deutschland. Diesmal war es der riesen Bestseller Deutschland schafft sich ab der dazu geleitet hat. Dadurch lässt es sich fragen, wieso es genau dieses Buch war von diesem Autor, das so viele Reaktionen aufgeweckt hat. In diesem Kapitel wird der Kontext gegeben, worin die Debatte entstand und werden Hintergründe über dem Autor und die wichtigste Thesen aus dem Buch gegeben.

2.1 Thilo Sarrazin

Thilo Sarrazin, 1945 geboren in Thüringen, ist der Autor von Deutschland schafft sich ab. Der

auffallende Nachname 'Sarrazin' stammt väterlicherseits von den französischen Hugenotten. Sarrazin studierte Volkswirtschaftslehre an der Universität zu Bonn. Er ist ein ehemaliger SPD-Politiker. In den siebziger Jahren trat er die Sozialdemokratischen Partei Deutschlands bei und ab dann hatte er verschiedene Funktionen im öffentlichen Dienst. Er arbeitete unter anderem als Redenschreiber, als Referatsleiter im Bundesfinanzministerium und als Staatssekretär im Ministerium für Finanzen in Rheinland-Pfalz. Später arbeitete er bei der Deutschen Bahn, war er Finanzsenator im Berliner Senat und war er bis 2010 Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank. Er blieb immer Mitglied der SPD. Seine lange Mitgliedschaft dieser progressiven, linken Partei scheint im Widerspruch zu stehen mit seinen heutigen Standpunkten. In 2009 kam Sarrazin zum ersten Mal ins Gerede durch Aussagen in einem Interview in der Berliner Kulturzeitschrift Lettre International:

Die Türken erobern Deutschland genauso, wie die Kosovaren das Kosovo erobert haben: durch eine höhere Geburtenrate. […] Integration ist eine Leistung dessen, der sich integriert. Jemanden, der nichts tut, muss ich auch nicht anerkennen. Ich muss niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert. Das gilt für 70 Prozent der türkischen und 90 Prozent der arabischen Bevölkerung in Berlin.5

Auf dieser Aussage bekam Sarrazin viel Kritik und er wurde von Rassismus beschuldigt. Auch Lettre

International bekam Kritik, und wurde vorgeworfen, Sarrazin eine Bühne gegeben zu haben für seine

rassistische Auffassungen. Der Herausgeber der Kulturzeitschrift, Frank Berberich, war damit nicht einverstanden. Er sagte, dass die Aufhebung durch andere Medien entstanden ist, die den Artikel skandalisiert haben. Das Interview mit Sarrazin war ein von vierzig Artikeln in der Ausgabe der Zeitschrift, eine Themanummer über Berlin: Berlin auf der Couch – Autoren und Künstler zu 20 Jahren

Mauerfall, und es wurde auf keiner Weise hervorgehoben. Berberich nennt die Reaktion der

Massenmedien „Dilettantismus, politisch-korrekte Phrasen, Irreführung, große Parolen“.6 Nach den

Aussagen in dem Interview mit Lettre International stand die Position Sarrazins bei der Deutschen Bundesbank, wo er während des Interviews arbeitete, auf der Kippe. Doch konnte die Bank ihm nicht entlassen. Nach langem Drängen der Bundesbank trat er letztendlich zurück. Dabei bekam er

finanzielle Vorteile bezüglich seiner Pension, was bei manche nicht auf guten Boden fiel. Zum Beispiel Stephan Kramer von dem Zentralrat der Juden Deutschlands sagte:

5 Berberich, Frank: Klasse statt Masse. Von der Hauptstadt der Transferleistungen zur Metropole der Eliten. In:

Lettre International 86 (Herbst 2009) S. 197-201. URL: http://www.zukunftskinder.org/wp-content/uploads/2016/06/Thilo-Sarrazin-Klasse-statt-Masse.pdf (Abgerufen am 25/11/2018).

6 Hübner, Wendelin: Interview mit Frank Berberich: Dilettantismus, Phrasen, Irreführung, Parolen. In: Lettre

International 26/09/2009. URL:

http://web.archive.org/web/20091026052317/http://www.visdp.de/post/220739692/dilettantismus-phrasen-irrefuhrung-parolen. (Abgerufen am 06/07/2018).

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5 Die Chance sei verpasst worden […] mit einem Rauswurf Sarrazins eine klare Linie zu ziehen, dass solcher Rassismus in unserer Gesellschaft nicht tolerierbar sei. Statt dessen gebe es nun einen faulen Kompromiss, der eine Schande für das ganze Land sei.7

Parteiordnungsverfahren

Zwei Abteilungen der SPD, Kreisverbände Berlin-Spandau und Berlin Alt-Pankow, betrieben aus Anlass der Äußerungen Sarrazins in Lettre International ein Parteiordnungsverfahren. Die

Abteilungen betrachteten die Äußerungen als rassistisch und unvereinbar mit den Werten der SPD. Mit einem Parteiordnungsverfahren kann ein Parteimitglied im äußersten Fall von der Partei

ausgeschlossen werden. Das Verfahren wurde aber durch die Berliner SPD-Landesschiedskommission abgewiesen. Nachdem Deutschland schafft sich ab 2010 tatsächlich erschien, wurde ein neues Parteiordnungsvorfahren getrieben, diesmal durch den landesweiten SPD-Parteivorstand. Das Ziel war, Sarrazin von Mitgliedschaft der SPD auszuschließen. Sarrazin bekam aber von vielen SPD-Mitgliedern Unterstützung, und deshalb hielten Generalsekretärin Andrea Nahles und

Parteivorsitzende Sigmar Gabriel es für notwendig, die Mitglieder der Partei mit einem Brief und mit Aussagen in den Medien davon zu überzeugen, es sei rechtmäßig Sarrazin von der SPD

auszuschließen. In dem Brief Warum die SPD einen Thilo Sarrazin in ihren Reihen nicht dulden kann in

Der Zeit sagte Gabriel:

Wem es bei der Botschaft "neues Leben nur aus erwünschten Gruppen" nicht kalt über den Rücken läuft, der hat wohl nichts begriffen. Thilo Sarrazin muss sich entscheiden, ob er dafür wirklich in Anspruch genommen werden will. Die SPD jedenfalls will sich damit nicht in Verbindung bringen lassen. Wer uns empfiehlt, diese Botschaft in unseren Reihen zu dulden, der fordert uns zur Aufgabe all dessen auf, was Sozialdemokratie ausmacht: unser Bild vom freien und zur Emanzipation fähigen Menschen. Und wer uns rät, doch Rücksicht auf die Wählerschaft zu nehmen, die Sarrazins Thesen (oder dem, was davon veröffentlicht wurde) zustimmt, der empfiehlt uns taktisches Verhalten dort, wo es um Grundsätze geht – und darüber jenen Opportunismus, der den Parteien sonst so häufig vorgeworfen wird.8

In dem Brief distanzierte Gabriel sich von Sarrazin und sprach auch die Mitglieder, die mit den Ideen Sarrazins einverstanden waren, an. Er sagt, die Prinzipien der Partei seihen ihn wichtiger als die Popularität der SPD unter der Wählerschaft. Sarrazin reagierte, dass seine Ideen nicht im

Widerspruch mit den Statuten und Werten der Sozialdemokratische Partei Deutschlands stehen. Das Parteiordnungsverfahren scheiterte und das bedeutete eine Niederlage für den Parteivorstand der SPD.

Veröffentlichung Deutschland schafft sich ab und andere Bücher Sarrazins

Das Interview in Lettre International hatte schon heftige Reaktionen verursacht. Nachdem 2010

Deutschland schafft sich ab tatsächlich als Buch erschien, brach eine lange Debatte aus. Das Buch

7 Kramer, Stephan: Sarrazin verlässt freiwillig die Bundesbank. „Das hält auf Dauer keiner durch“. In:

Frankfurter Allgemeine Zeitung (10/09/10). URL: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/2.1763/die-debatte/sarrazin-verlaesst-freiwillig-die-bundesbank-das-haelt-auf-dauer-keiner-durch-11041469.html

(Abgerufen am 06/07/2018).

8 Gabriel, Sigmar: Welch hoffnungsloses Menschenbild! Warum die SPD einen Thilo Sarrazin in ihren Reihen

nicht dulden kann. In: Die Zeit (16/09/10). URL: http://www.zeit.de/2010/38/SPD-Sigmar-Gabriel/komplettansicht (Abgerufen am 27/03/18).

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6 wurde veröffentlicht von der Deutschen Verlags-Anstalt aus München. 21 Wochen lang war das Buch auf Nummer 1 auf der Spiegel-Bestsellerliste. Es wurden mehr als 1,5 Million Exemplare verkauft.

2012 veröffentlichte Sarrazin ein neues Buch: Europa braucht den Euro nicht - Wie uns

politisches Wunschdenken in die Krise geführt hat.9 2014 reagierte Sarrazin mit seinem neuen Buch

Der neue Tugendterror - Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland10 auf den

Kontroversen und der Diskussion bezüglich Deutschland schafft sich ab. Er kritisierte die 'Politische Korrektheit' der deutschen Medien und die Begrenzung der Meinungsfreiheit die er in der Debatte bezüglich Deutschland schafft sich ab erfuhr. August 2018 erschien wieder ein neues Buch von Sarrazin: Feindliche Übernahme: Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft

bedroht. Darin fokussiert er auf den muslimischen Einwohnern Deutschlands und dem Islam an sich.

Die Deutsche Verlags-Anstalt, die Teil der Verlagsgruppe Random House ist, und das seine andere Bücher, worunter Deutschlands schafft sich ab, publiziert hat, verweigerte sein neues Buch zu publizieren. Sarrazin klagte den Verlag hierauf an, wegen Rufschädigung. Schließlich ist das Buch von dem FinanzBuch Verlag der Münchner Verlagsgruppe publiziert worden und wieder ein Bestseller geworden.

2.2 Deutschland schafft sich ab

Deutschland schafft sich ab, mit dem Untertitel Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, gehört zu einem

der meist verkauften deutschen Sachbücher seit der deutschen Einheit in 1990.

Das Buch ist eingeteilt in neun Kapiteln. Die inhaltlichen Kapitel sind eingerahmt in Kapitel über der Geschichte und Zukunft Deutschlands. Sarrazin fängt an mit einem Kapitel über der Geschichte und Entwicklung von Zivilisationen oder Gesellschaften. Das zweite Kapitel handelt von der

erwarteten Zukunft Deutschlands anhand Daten der Demografie und Arbeitsproduktivität. Am Ende des Buches gibt es nochmals ein Kapitel über der Zukunft Deutschlands, jetzt aber nicht sosehr begründet mit Daten, sondern eher eine persönliche Vorstellung von zwei Szenarien die es Sarrazin zufolge in der Zukunft Deutschlands geben könnte. Er stellt sich Deutschland in 100 Jahren vor: das eine Szenario ist sein Traum, das andere sein Alptraum. Die zwischenliegenden Kapitel haben unterschiedliche Themen, die in den Titeln deutlich formuliert werden: Armut und Ungleichheit,

Arbeit und Politik, Bildung und Gerechtigkeit, Zuwanderung und Integration und Demografie und Bevölkerungspolitik. In diesen Kapiteln gibt es viele wissenschaftliche Begründungen in Form von

Tabellen und Grafiken. Im Folgenden werden die wichtigste Punkte aus dem Buch hervorgehoben, so dass deutlich wird worauf genau in den folgenden Kapitel reagiert wird oder nicht reagiert wird.

In der Einleitung erklärt Sarrazin gleich den Titel: „Deutschland sei nur Deutschland durch ihre Einwohner. Die Geburtsrate dieser Einwohner ist aber nur 0,7, und damit schaffen die Deutschen sich ab.“11 Die niedrige Geburtenrate sind aber noch nicht das Schlimmste. „Es würde vielleicht gehen,

wären da nicht die qualitativen demografischen Verschiebungen jenseits der schieren

Nettoreproduktionsrate sowie die Armutsmigration und der Bevölkerungsdruck über Grenzen hinweg.“12 Das Buch handelt sich darum, warum das so ist und was man dagegen machen kann.

Sarrazin geht auch ein auf dem öffentlichen Diskurs bezüglich Themen der Migranten und Integration. Wer Kritik äußert, wird nicht im Ernst genommen. Er nennt in der Einleitung schon ganz konkret was man in Deutschland ihn zufolge nicht sagen darf:

9 Sarrazin, Thilo: Europa braucht den Euro nicht. Wie uns politisches Wunschdenken in die Krise geführt hat.

München: DVA 2012.

10 Sarrazin, Thilo: Der neue Tugendterror. Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland. München:

DVA 2014.

11Sarrazin, Thilo: Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen. München: DVA 2010. S. 8. 12 Ebd., S. 8.

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7 Über die Folgen des Geburtenrückgangs durfte man Jahrzehnte überhaupt nichts sagen, wenn man nicht unter völkische Ideologieverdacht geraten wollte.13

Die sozialen Belastungen einer ungesteuerten Migration waren stets tabu, und schon gar nicht durfte man darüber reden, dass Menschen unterschiedlich sind. […] und das noch so viel Bildung und Chancengleichheit daran nichts ändert. Da diese Grundsachverhalt geleugnet wurde, war jeder Diskussion über zahlreichen Fehlsteuerungen des Sozialstaats der Boden entzogen.14

Es war tabu, darüber zu reden dass wir als Volk an durchschnittlichen Intelligenz verlieren, wenn die intelligenteren Frauen weniger oder gar kein Kinder zur Welt bringen.15

[…] Wahrheiten auszusprechen, gilt als politisch inkorrekt, ja als lieblos und eigentlich unmoralisch – zumindest aber ist es unklug, wenn man in politische Ämter gewählt werden möchte. Die Tendenz des politisch korrekten Diskurs geht dahin, die Menschen von der Verantwortung für ihr Verhalten weitgehend zu entlasten, indem man auf die Umstände verweist, durch die sie zu Benachteiligten oder gar Versagern werden.16

Es fallen hier zwei Begriffe auf, die wichtig sind: tabu und politische (In)Korrektheit. Sich als Deutscher zu identifizieren und sich als Deutscher sorgen um Deutschland zu machen gilt Sarrazin zufolge zum Beispiel als politisch inkorrekt. Europäer, Weltbürger oder stolz auf dem Heimatsdorf darf man sein, aber das Deutsch-Sein soll keinen Teil der Identität worauf man stolz ist sein.

Kapitel 1

Das erste Kapitel trägt den Titel Staat und Gesellschaft. Ein historischer Abriss. Sarrazin behauptet, dass wenn wir über der Gesellschaft oder über gesellschaftlichem Verhalten reden, der Diskurs schon geprägt ist von bestimmten Normen die in der deutschen Gesellschaft gelten, „über dessen

normativen und historisch geprägten Charakter wir uns selten wirklich Rechenschaft ablegen.“17 Im

Kapitel schreibt Sarrazin über der historischen Entwicklung verschiedener Gesellschaften der Welt: von Ägypten zu dem Römischen Reich bis das Europäische Mittelalter und die Reformation. Er fragt sich, warum diese Gesellschaften sich so unterschiedlich und mit so unterschiedlichen

Geschwindigkeiten entwickelt haben. Er blickt auch in der Zukunft und fragt sich ob es Deutschland gelingen wird, das erreichte Niveau zu behalten und weiter zu entwickeln. Dafür braucht Deutschland „Intelligenz, Fleiß und Einsatzfreude“18, und Sarrazin zufolge besitzt nicht jeder diese Qualitäten:

[Es] gibt große Unterschiede in der Mentalität der Völker und Gesellschaften. […] [Das] betrifft auch die normative Innen- und Außenlenkung der Menschen, es betrifft die

Loyalitätsstrukturen, die Maßstäbe sozialen Rangs sowie den Antrieb für Fleiß, Eigeninitiative und materielle Orientierung.19

Am Ende des Kapitels, erklärt Sarrazin worüber Deutschland schafft sich ab geht:

13 Ebd., S. 8. 14 Ebd., S. 9. 15 Ebd., S. 9. 16 Ebd., S. 9. 17 Ebd., S. 23. 18 Ebd., S. 32. 19 Ebd., S. 32.

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8 Alle Untersuchungen zeigen, das Volkswirtschaften, Gesellschaften und Staaten umso

erfolgreicher sind, je fleißiger, gebildeter, unternehmerischer und intelligenter eine

Bevölkerung ist. Deutschland stand auf der Erfolgsleiter immer ziemlich weit oben. Zahlreiche Indikatoren lassen aber vermuten, dass es nach unten geht.20

Das Buch soll zeigen wie sich das äußert und was man dagegen tun kann, und Sarrazin zufolge, tun soll.

Kapitel 2

Das zweite Kapitel heißt Ein Blick in die Zukunft. Realitäten und Wunschvorstellungen. Bezüglich der deutschen Wirtschaft in der Zukunft, schaut Sarrazin zu der Erwerbsbevölkerung. Das ist nämlich ein Punkt worüber er sich Sorgen macht.

Die Quantität ergibt sich aus der demografische Entwicklung, der Zuwanderung und der Erwerbsbeteiligung der Bevölkerung, die Qualität aus deren Sozialisation, dem Bildungsgrad, dem Altersaufbau und – falls es Zuwanderung gibt – aus der Sozialisation und dem

Bildungsgrad der Zugewanderten.21

Anschließend skizziert er die Entwicklungen bis zum Jahr 2050: Wirtschaftsschrumpfung durch Abnahme der Zahl der Erwerbstätigen, Vergreisung und dadurch auch eine Zunahme von dem Sozialprodukt pro Kopf. Sarrazin sagt vorher, dass die Zuwanderung aus Osteuropa, Indien und Fernost stagnieren wird, weil der Wohlstand dort schnell steigt. „So bleibt nur die problematische Zuwanderung aus Afrika sowie Nah- und Mittelost.“22

Kapitel 3

Das dritte Kapitel in Deutschland schafft sich ab heißt Zeichen des Verfalls. Eine Bestandsaufnahme. Sarrazin geht in diesem Kapitel ein auf den verschiedenen Migrantengruppen die es in Deutschland gibt. Sarrazin zufolge gelingt die Integration bei den ehemaligen Gastarbeiter aus Italien, Spanien, Griechenland und Portugal gut, wie auch bei Einwanderer aus Osteuropa und dem Fernen Osten. Er nennt auch die Gruppen bei denen die Integration weniger gut gehe:

Asylanten und Wirtschaftsflüchtlinge insbesondere aus Afrika sind […] schlecht ausgebildet und nicht immer leicht zu integrieren. Sie reihen sich am unteren Ende des Arbeitsmarktes, an dem wir bereits jetzt hohe Unterbeschäftigung haben, oder gehen in die informelle Wirtschaft.23

Sarrazin nennt noch andere Migrantengruppen die Integrationsprobleme haben. Die Migranten sind meistens ehemalige Gastarbeiter und ihre Familien, die seit den sechziger und siebziger Jahren in Deutschland leben, aber auch Flüchtlinge, zum Beispiel Menschen die wegen der Jugoslawienkriege in den neunziger Jahren nach Deutschland geflüchtet sind.

Die Zuwanderer aus dem ehemaligen Jugoslawien, der Türkei und den arabischen Ländern bilden den Kern des Integrationsproblems. Es gibt keinen erkennbaren Grund, weshalb sie es

20 Ebd., S. 34. 21 Ebd., S. 35. 22 Ebd., S. 46. 23 Ebd., S. 59.

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9 schwerer haben sollten als andere Immigranten. Ihre Schwierigkeiten im Schulsystem, am Arbeitsmarkt und generell in der Gesellschaft ergeben sich aus den Gruppen selbst, nicht aus der sie umgebenden Gesellschaft.24

Nachher geht Sarrazin ein auf den Geburtenraten Deutschlands:

Bleiben die Geburtenraten der Migranten über dem deutschen Durchschnitt, setzt sich auch ohne weitere Einwanderung die »Verdünnung« der einheimische Bevölkerung fort.25

Das an sich ist nicht so schlimm, aber da es bei verschiedenen Migrantengruppen Probleme gibt, ist es für Sarrazin doch problematisch.

Gruppen mit der höchsten Bevölkerungsdynamik haben also die niedrigste Bildung und weisen auch die niedrigsten Bildungszuwächse in der Generation der hier Geborenen auf. Damit stellen sie nicht einen Teil der demografischen Lösung, sondern des demografischen Problems da.26

Sarrazin deutet hier auf dem Trend in westlichen Ländern, dass es ein zunehmender Bedarf an einem hochqualifizierten Humankapital gibt. Deutschland, wie andere hochentwickelte Ökonomien, wird immer mehr zu einem Wissensgesellschaft und nur in dem Dienstleistungssektor wird es noch Beschäftigungsmöglichkeiten geben. Für diesen Sektor sind die Anforderungen höher. Sarrazin weist auf verschiedenen Tabellen nach, dass die Bildungsqualifikationen sich in Deutschland nicht mehr verbessern. Es gibt eine niedrige Anzahl Hochschulabsolventen und ein Mangel an Studenten von sogenannten MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik). Daneben verschlechtern auch die Fähigkeiten der Rechtschreibung und des elementaren Rechnen unter Haupt- und Realschüler sich. Dabei sind deutliche Unterschiede zwischen den Bundesländern zu beobachten. Die schlechte Leistungen der Schüler kann man Sarrazin zufolge nicht dem

unterschiedlichen materiellen Input in den Bildungssystemen zuschreiben. Berlin zum Beispiel hat sehr schlechte Leistungen im Haupt- und Realschule, hat aber die wenigsten Schüler pro Lehrer und die Ausgaben pro Schüler sind durchschnittlich.27 Also sollen die Ursache im Bereich der Qualität des

Unterrichts und der Qualität des Schülerbestands gesucht werden. Kinder aus bildungsfernen Milieus oder niedrigen sozialen Schichten haben schlechtere Leistungen. Laut Sarrazin hat das aber keine materiellen Gründe, sondern gibt es bestimmte Unterschichtsphänomene die dafür sorgen, dass ein Teil der Kinder keine besseren Leistungen als ihre Eltern hat und in der unteren Schicht zurückbleibt:

Auch eine Familie, die über einen langem Zeitraum vom Arbeitslosengeld II lebt, kann darauf achten, dass die Kinder sich die Zähne regelmäßig putzen und nicht unbeaufsichtigt

fernsehen, dass regelmäßig gekocht wird und man sich gesund ausgewogen ernährt, dass die Kinder im Park oder auf dem Bolzplatz spielen und sich ausreichend bewegen. Mit Büchern kann man sich in der Leihbücherei eindecken und den Kindern regelmäßig vorlesen.28

In diesem Zusammenhang geht Sarrazin wieder ein auf den niedrigen Geburtenrate von Frauen mit Universitätsabschluss. Der Unterschichtanteil der Bevölkerung wird dadurch ständig wachsen, weil 24 Ebd., S. 59. 25 Ebd., S. 60. 26 Ebd., S. 64. 27 Ebd., S. 74. 28 Ebd., S. 79.

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10 Frauen mit einem großen Abstand zu dem Arbeitsmarkt gerade besonders viele Kinder bekommen. Kinder aus diesen bildungsfernen Milieus zu bilden ist schwieriger und weniger erfolgreich dann bei anderen Kindern. Darauffolgend schreibt Sarrazin den meist kontroversen Absatz in Deutschland

schafft sich ab:

Intelligenz ist […] zu 50 bis 80 Prozent erblich. Deshalb bedeutet ein schichtabhängig unterschiedliches generatives Verhalten leider auch, dass sich das vererbte intellektuelle Potential der Bevölkerung kontinuierlich verdünnt. Dieser qualitative Effekt wirkt sich langfristig entscheidend auf die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft aus.29

Dieser Absatz bekam viele empörte Reaktionen. Die Erblichkeit von Intelligenz ist ein sensibles Thema in Deutschland, weil es vielen erinnert an dem sozialdarwinistischen Rassismus des

Nationalsozialismus. Trotzdem ist es das wichtigste Argument für die bevölkerungspolitischen Ideen Sarrazins. Nach festgestellt zu haben, Intelligenz sei großenteils erblich, schneidet Sarrazin noch ein anderes kontroverses Thema an, wenn er schreibt über Juden und ihren „weit

überdurchschnittlichen wissenschaftlichen und beruflichen Erfolg.“30 Er behauptet, Juden

europäischer Herkunft haben einen um 15 Punkte höheren IQ als der durchschnittliche Mensch, und danach führt er allerhand Fakten auf die damit in Korrelation stehen. Zum Beispiel nennt er die Anzahl Juden die eine Nobelpreise gewonnen haben und die Anzahl Juden an deutsche Universitäten am Anfang des 20. Jahrhunderts. Als Grund für die erhöhte Intelligenz bei Juden nennt er den

außerordentlichen Selektionsdruck:

Eine über Jahrhunderte betriebene Familien- und Heiratspolitik, die dem intellektuellen Element überdurchschnittliche Fortpflanzungschancen gab, führte allmählich zur Ausbildung der überdurchschnittlichen Intelligenz.31

Undeutlich ist, was Sarrazin mit der Reihe von Argumenten über der Intelligenz von Juden sagen will. Versucht er sich einzudecken gegen Beschuldigungen die behaupten, er sei ein Rechtsextremist? Darüber sagte Sarrazin:

Ich bin auf die deutsch-jüdischen Ursprünge der Intelligenzforschung etwas näher eingegangen, weil die Diskussion der genetischen Komponente von Intelligenz häufig auf große emotionale Widerstände stoßt.32

Dass seine Thesen auf großen emotionalen Widerständen stoßen stimmt in der Tat. Ob er positiv oder negativ über der vererbten Intelligenz von Juden spricht ist eigentlich egal, dass es wieder über genetischen Eigenschaften von Juden geht ist für vielen schon unakzeptabel und historisch sehr sensibel. Dieses Kapitel ruft auch die Frage hervor, was Sarrazin zufolge die Lösungen für die dargestellten Probleme sind. Was hätte man denn daran, zu wissen dass Intelligenz zum Teil erblich ist? Sarrazin wird später im Buch zeigen welche Mängel und Fehlentwicklungen „die bestehenden Negativtrends verursachen und Überlegungen anstellen, was man auf dem jeweiligen Politikfeld ändern kann.“33 29 Ebd., S. 91-92. 30 Ebd., S. 94. 31 Ebd., S. 96. 32 Ebd., S. 97. 33 Ebd., S. 101.

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11

Kapitel 4

Im vierten Kapitel, mit dem Titel Armut und Ungleichheit, geht Sarrazin ein auf Armut in Deutschland. Er fragt sich, was Armut in Deutschland eigentlich bedeutet. Auch die Bekämpfung von Armut wird besprochen. Die Definition von dem Begriff Armut wird beschrieben als materieller Not, also an erster Stelle sind das Mangel an Nahrung, Kleidung und Wohnung. Armut in Deutschland kann man aber nicht vergleichen mit Armut in der Dritten Welt. Die Armutsgrenze in Deutschland liegt bei 40 Prozent des mittleren Nettoäquivalenzeinkommen. Auch macht Sarrazin einen Unterschied zwischen relativer und absoluter Armut. Relative Armut bedeutet Armut im Vergleich zum sozialen Umfeld und es sei sozialpsychologisch definiert. Wenn man arm ist in einem reichen Land, ist man besser dran als wenn man Durchschnittsverdiener in einem armen Land ist. „Man versteht auf einmal, weshalb es für viele Türken durchaus lohnend ist, als Arme in Deutschland zu leben.“ 34

Sarrazin führt auch die Armutsdefinition des indischen Ökonom und Philosoph Amartya Sent an: Armut ist nicht einfach Mangel an Geld, sondern vor allem Mangel an Verwirklichungsmöglichkeiten. Sarrazin argumentiert, dass Armut (konkreter: die Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen) „oft begleitet [ist] von einem niedrigen Niveau allgemeiner und beruflicher Bildung, von

Suchtverhalten und von persönlichen Defiziten unterschiedlichster Art.“35 Er bestreitet, dass es

Personen, die in Armut geraten, an Chancen fehlt: „Alles scheint eine Frage externer

Chancenzumessung, und für die sind Staat und Gesellschaft verantwortlich. Gerät jemand in Armut oder Armutsgefährdung, lag es eben am Chancenmangel und nicht an ihm selbst.“36 Daran fügt er zu:

„Andere Ansichten gelten in Deutschland als politisch inkorrekt.“ Sarrazin sagt, in der

Armutsdiskussion werden Individuen zu oft von der Verantwortung ihren Verhalten freigesprochen. Über einem Bericht von der Bundesregierung über Armut sagt Sarrazin: „Diesen Absatz muss man zweimal lesen, um ihn zu verstehen. Offenbar hat bei der Formulierung die politische Korrektheit über die Verständlichkeit gesiegt.“37

Sarrazin zufolge ist nicht die materielle, sondern die „geistige und moralische Armut“38 das

Problem, wodurch zum Beispiel Armen mehr rauchen und trinken und dadurch früher sterben. Darüber sagt er: „Aber solch eine Analyse wäre politisch eben nicht korrekt.“39 Infolgedessen man die

materielle Armut bekämpft, „förder[t man] Passivität, Indolenz sowie die Armut im Geiste und raub[t] den Menschen Stolz und Selbstbewusstsein.“40 Er nennt auch den Begriff Actual capability

oder Fähigkeit zur Teilhabe, dass Gerechtigkeit fordere weil es um die Fähigkeit geht, sich selbst zu helfen. Dabei braucht man keine weiteren materiellen Mittel, sondern Mittel wie Bildung,

Krankenversicherung und Freiheit.

Später bemerkt Sarrazin, dass Haushalten von Empfänger von finanzieller staatlicher

Unterstützung viel mehr Kinder bekommen als Haushalten die unabhängig von staatlichen Transfers leben. Diese Kinder aus „bildungsfernen Unterschichtsfamilien“41 haben eine große Chance, gleich

wie die Eltern von staatlichen Transfers abhängig zu werden und selber auch viel Kinder zu bekommen. Sarrazin zufolge wird das die deutsche Gesellschaft verändern. Außerdem hat die Grundsicherheit auch Einfluss auf den Migranten in Deutschland und ihrer Integrationsbereitschaft. Sarrazin behauptet, diese Migranten würden überhaupt nicht gekommen sein, gäbe es keine

Grundsicherung. Weil der Lebensstandard von einem Transferabhängige größer ist als die von einem 34 Ebd., S. 109. 35 Ebd., S. 113. 36 Ebd., S. 119-120. 37 Ebd., S. 122. 38 Ebd., S. 123. 39 Ebd., S, 124. 40 Ebd., S. 128. 41 Ebd., S. 149.

(13)

12 durchschnittlichen Arbeiter im Herkunftsland, bekümmern die Migranten sich nicht um Arbeit oder Integration.

Kapitel 5

Im fünften Kapitel Arbeit und Politik. Über Leistungsbereitschaft und Arbeitsanreize geht Sarrazin weiter ein auf dem Thema des vierten Kapitels und betont er die problematische Kombination von der deutschen Unterschicht und den Migranten:

Die Probleme einer verfestigten und nicht ausreichend in den produktiven Kreislauf

integrierten Unterschicht überlagern sich zudem mit den ungelösten Integrationsproblemen eines großen Teils der Migranten aus der Türkei, Afrika sowie dem Nahen und Mittleren Osten.42

Kapitel 6

Im sechsten Kapitel Bildung und Gerechtigkeit geht Sarrazin ein auf den Bildungssystemen in Deutschland. Er behauptet unter anderem, dass es heute von Kinder viel zu wenig gelesen wird und er betont wie wichtig lesen, schreiben und rechnen und vor allem Disziplin sind. Obwohl Sarrazin auch in diesem Kapitel wieder hinweist auf der teilweise Erblichkeit von Intelligenz, ist auf diesem Kapitel, das weiter nicht kontrovers ist, kaum bis nicht inhaltlich reagiert worden. Obwohl eine Diskussion über den deutschen Schulsysteme (die Schulsysteme unterscheiden sich pro Bundesland) willkommen ist, weil laut Forschungen die Leistungen deutscher Schüler tatsächlich immer wieder schlechter sind als die von Schüler anderer hochentwickelten westlichen und asiatischen Länder, scheint es als ob dieses Kapitel durch viele Leser und Kritiker überschlagen wurde.

Kapitel 7

Das siebte Kapitel Zuwanderung und Integration handelt dann wieder um die Thesen, wofür

Deutschland schafft sich ab bekannt wurde. Sarrazin werft die politischen Klasse vor, ihre Haltung zu

Migrationsfragen von den Medien diktieren zu lassen. Er nennt die Integrationspolitik Europas unhistorisch, naiv und opportunistisch und die Gastarbeitereinwanderung der sechziger und siebziger Jahren „ein gigantischer Irrtum.“43 Man hätte die Fabriken versetzen müssen, nicht die Arbeiter. Jetzt

braucht Deutschland die Migrantenarbeiter wirtschaftlich nicht mehr.

Erneut geht er ein auf der hohen Geburtenrate der Migranten und der fehlenden Integration von Muslime, die Sarrazin zufolge durch „unzureichende Erfolge […] im Bildungs- und

Beschäftigungssystem, der ganz erhebliche Familiennachzug von Heiratspartnern aus den

Heimatländern, aber auch eine starke Fixierung auf die heimatliche Kultur“44 verursacht wird. Die

„Gesellschaftsbilder und Wertvorstellungen“ bedeuten „Kulturell und zivilisatorisch […] einen Rückschritt.“45 Wenn man sich hierüber auslässt, wird man von Islamophobie beschuldigt. Der

„Rassismusvorwurf“ wirkt in Deutschland „aufgrund der Last der Geschichte besonders gut.“46

Sarrazin zufolge gebe es in Deutschland Parallelgesellschaften, weil bei Migranten nicht ihrer eigener Erfolg durch Bildung und berufliche Leistung das Wichtigste ist, sondern „die Absicherung und Alimentierung durch den deutschen Sozialstaat.“47 Unter muslimischen Migranten gebe es ein

42 Ebd., S. 175. 43 Ebd., S. 259. 44 Ebd., S. 262. 45 Ebd., S. 267. 46 Ebd., S. 290. 47 Ebd., S. 295.

(14)

13 Desinteresse an Integration, weil man eben doch durch Transferleistungen ein höheres Einkommen hat als von Arbeit im Heimatsland. Nur die Bestqualifiziertesten kehren in der Heimat zurück, die niedrig Gebildeten bleiben in Deutschland. Auch weist Sarrazin auf einer erhöhten

Gewaltbereitschaft bei muslimischen Jugendlichen, verursacht durch „falsche Rollenvorbilder, mangelhafte Bildungserfolge und sexuelle Frustration.“48 Sarrazin zitiert mehrmals verschiedene

islamkritische Autorinnen mit Migrationshintergrund wie Necla Kelek, Ayaan Hirsi Ali oder Seyran Ates. Darüber sagt er: „Hätte ich das gesagt [statt sie], so würden mir Unkenntnis, Arroganz und Rassismus vorgeworfen werden.“49

Deutschland soll das Recht haben, selbst zu entscheiden, wen sie in ihrem Gesellschaft aufnehmt. Wie in Einwanderungsländer wie die USA, soll auch Deutschland bestimmte

Anforderungen an Migranten stellen dürfen, auch bezüglich ihre Kultur und Traditionen. Sarrazin erwähnt, dass Länder wie die Niederlande, Belgien und Dänemark schon strengere

Einwanderungsgesetze haben und die rechtsnationale Politik dort schon weiter verbreitet ist. Das liegt daran, dass diese Länder kleiner sind und deswegen ein stärkeres Gefühl der Bedrohung haben als Deutschland.

Die Sozialhilfe die es in Deutschland gibt, gibt es in den Herkunftsländern der Migranten, aber auch in klassischen Einwanderungsländern wie die USA, nicht. Das leitet dazu, dass man in

Deutschland auch ohne integriert zu sein und ohne Arbeit zu haben, ein normales Leben leiten kann: „Wer in Deutschland einwandert, ist versorgt – unabhängig von der eigenen Kraft und

Leistungsbereitschaft.“50

Sarrazin schlagt eine Reihe von Maßnahmen vor, die die Integration verbessern werden. Bei mangelnden Sprachkenntnissen oder wenn man sich nicht anstrengt, Arbeit zu finden, wird man am Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe gekürzt. Kindergartenpflicht wird eingeführt. Zuzug von Ehegatte oder Ehegattin ist nur möglich wenn der in Deutschland lebenden Ehegatte „in den vorangegangene drei Jahren seinen Lebensunterhalt ohne Inanspruchnahme von Grundsicherung bestreiten

konnte.“51 Für weitere Einwanderung wird es sehr restriktive Bedingungen geben, wodurch es nur

die Bestqualifizierten gelingen werdet, in Deutschland einzuwandern.

Sarrazin erwähnt auch noch die Diskussion über der Verwirrung der Begriffe Integration und Assimilation. Ihm zufolge braucht man ein gewisses Maß an Assimilation um zu integrieren. Man muss nicht seine Herkunft verleugnen, aber ganz ohne Assimilation wird die Integration nicht gelingen.

Kapitel 8

Kapitel acht fängt an mit einem vielsagenden Untertitel: Mehr Kinder von den Klugen, bevor es zu

spät ist.52 Sarrazin bespricht wieder die Demografie Deutschlands und Europas, im Vergleich mit

anderen Länder. Er bemerkt, dass, wenn man über Demografie diskutiert, man zwei Gruppen unterscheiden kann: „Die einen fragen: »Wo liegt überhaupt das Problem?«“, „Die anderen sagen: »Man kann doch nichts tun, also braucht man auch nicht darüber zu jammern.«“53 Sarrazin zufolge

sollen die Deutschen ihres Geburtenverhalten radikal ändern, so dass die Oberschicht mehr Kinder bekommt, und die Unterschicht minder.

Ganz am Ende des Kapitels, macht Sarrazin Vorschläge zur Lösung dieses demografischen Problems, und so eine Trendumkehr zu schaffen. Vorab gibt er schon eine Warnung, dass die 48 Ebd., S. 296. 49 Ebd., S. 307. 50 Ebd., S. 321. 51 Ebd., S. 328. 52 Ebd., S. 331. 53 Ebd., S. 346.

(15)

14 Lösungen für vielen sicherlich kontrovers sind. Man sollte „die Attraktivität und die gesellschaftliche Wertschätzung dauerhafte Partnerschaften […] stützen und fördern“.54 Der Anteil der

Ganztagbetreuung in Kindergärten soll ausgebaut werden. „Im Schulsystem ist eine flächendeckende Umstellung auf Ganztagschulen […] notwendig.“55 In der Ganztagschule wird im Gegensatz zu dem

Normalschule Mittagsessen, (Haus-)Aufgabenhilfe und Nachhilfe angeboten, wodurch die Schüler ein großes Teil des Tages auf der Schule verbringen.

Weil Akademikerinnen oft spät Kinder bekommen, bekommen sie oft nicht mehr als zwei Kinder. Deshalb muss „[d]as durchschnittliche Lebensalter, in dem die akademische Ausbildung in Deutschland abgeschlossen wird, […] sinken.“ Auch soll das System des Rentenbeitrags geändert werden, „[so]dass Menschen mit Kindern deutlich weniger und Menschen ohne Kinder deutlich mehr zahlen.“56 Das Kindergeld soll senken und besser in anderen Sachen investiert werden, wie

„Ganztagbetreuung und die Mahlzeiten in Schule und Kindergarten […]. Die Einführung von Schuluniformen könnte zudem die Kosten für Bekleidung senken.“57 So wird das Bekommen von

Kinder für Unterschichtfamilien finanziell weniger attraktiv. Um hochgebildete Frauen zu ermutigen, Kinder zu bekommen, könnte es „bei abgeschlossenen Studium für jedes Kind, das vor Vollendung des 30. Lebensjahres der Mutter geboren wird,“58 eine staatliche Prämie von zum Beispiel 50 000

Euro geben.

Kapitel 9

Kapitel neun, mit dem Titel Ein Traum und ein Alptraum. Deutschland in 100 Jahren, beinhaltet zwei wichtige Thesen. Erstens, dass „jeder Staat das Recht [hat], darüber zu entscheiden, wer in das Staatsgebiet zuziehen darf und wer nicht.“ Zweitens, dass „die westlichen und europäischen Werte und die jeweilige kulturelle Eigenart der Völker [es] wert [sind], bewahrt zu werden.“59 Hiermit zeigt

Sarrazin an welchen Rechten er glaubt.

2.3 Rezensionen Deutschland schafft sich ab

Die auflagenstärkste Zeitung Deutschlands, der Boulevardzeitung Bild hat vor dem Erscheinen von

Deutschland schafft sich ab schon einige Passagen veröffentlicht. Mit den Schlagzeilen THILO SARRAZINS DRASTISCHE THESEN ÜBER UNSERE ZUKUNFT - Deutschland wird immer ärmer und dümmer!60 wird Sarrazins Buch introduziert und wird eine Passage aus der Einleitung zitiert. Anlässlich dieser Vorpublikation und der tatsächlichen Publikation einige Tage später, haben viele prominente Zeitungen und Zeitschriften das Buch rezensiert. Es geht hier nicht um Kolumne oder Reaktionen, sondern um Rezensionen. Im Folgenden gibt es eine Übersicht davon.

In der Berliner Zeitung rezensiert der Mitbegründer der linken Tageszeitung und heutiger Journalist bei verschiedenen deutschen Zeitungen Arno Widmann das Buch Sarrazins. Er nennt

54 Ebd., S. 379. 55 Ebd., S. 381. 56 Ebd., S. 383. 57 Ebd., S. 386. 58 Ebd., S. 389. 59 Ebd., S. 391.

60 Sarrazin, Thilo: THILO SARRAZINS DRASTISCHE THESEN ÜBER UNSERE ZUKUNFT. Deutschland wird immer

ärmer und dümmer! In: Bild (23/08/2010). URL: https://www.bild.de/politik/2010/deutschland-immer-aermer-und-duemmer-13712294.bild.html (Abgerufen am 29/05/2018).

(16)

15 Sarrazin „Ein Besessener. […] Wer sein Buch liest, der denkt an ‘Volksverhetzung‘, an den

Paragraphen 130 des Strafgesetzbuches.“61

In der liberalen Zeitung Die Zeit schreibt der einflussreiche deutsche Historiker Hans-Ulrich Wehler, der auch eine große Rolle spielte in einer anderen großen deutschen Debatte, die Historikerstreit, in seiner Rezension, dass Sarrazin erwarten hätte können, dass es viele Kritik auf

Deutschland schafft sich ab geben würde, weil „solche Zuchtverfahren gerade in Deutschland seit der

Erfahrung mit der NS-Diktatur, die auf diese Weise ihr Ziel der »Rasse-Reinheit« erreichen wollte, zu Recht auf schroffe Ablehnung treffen.“62 Wehlers Meinung nach hätte Sarrazin seine Argumentation

auch ohne den genetischen Aspekt bilden können, und hat er sich auf soziokulturellen und politischen Faktoren begrenzen können.

Rezensenten Widmann und Wehler ziehen also deutlich beide einen Vergleich zwischen Ideen Sarrazins und dem Nationalsozialismus und in mehreren Rezensionen wird ihn vorgeworfen, dass er genetische oder biologische Argumente in seinem Buch verwendet hat. In der Frankfurter Allgemeine

Zeitung fällt Rezensent, Feuilletonredakteur und Herausgeber des Buches Biopolitik: Die Positionen,

Christian Geyer-Hindemith gleich mit der Tür ins Haus mit den ersten Sätze der Rezension:

Thilo Sarrazin hat ein antimuslimisches Dossier verfasst. Das Buch erscheint am Montag und will elementare Lebenszusammenhänge auf den Punkt bringen. Der Punkt ist die Allmacht der Genetik.63

Geyer-Hindemith sagt, dass man verstehen muss, dass das Buch von Argumente auf den Prinzipien von Genetik und biologischem Rassismus handelt:

Tatsächlich ist das Elementare bei Sarrazin das Biologische. Kulturell ist bei ihm ein Deckwort für genetisch. Hat man dies begriffen, liest man Sarrazins Sorge um die ‚kulturelle Identität‘, die ‚kulturelle Substanz‘ und den ‚Volkscharakter‘ Deutschlands mit anderen, den richtigen biologischen Augen.64

Er nennt Deutschland schafft sich ab einen „Entlastungsversuch einer desorientierten Elite. Kein Zweifel, dass es ein Erfolg wird.“65

In der liberalen Zeitung Der Tagesspiegel hat Bruno Preisendörfer, Schriftsteller von unter anderem dem Bestseller Als Deutschland noch nicht Deutschland war - Reise in die Goethezeit, auch eine kritische Rezension über dem Buch Sarrazins geschrieben. Er nennt es problematisch, dass Sarrazin eine biologische Argumentation führt. Sarrazin versuche sich als Geschichtsphilosoph, Anthropologe, Religionshistoriker und Genetiker zugleich darzustellen und er fügt „Bruchstücke der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu einer pseudonaturwissenschaftlichen Weltanschauung.“66

61 Widmann, Arno: Der Fall Sarrazin. In: Berliner Zeitung (28/08/2010). URL:

https://web.archive.org/web/20100831034133/http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/berlin/308194/308195.php (Abgerufen am 29/05/2018).

62 Wehler, Hans Ulrich: Ein Buch trifft ins Schwarze. In: Die Zeit (07/10/2010). URL:

https://www.zeit.de/2010/41/Wehler-Sarrazin/komplettansicht (Abgerufen am 29/05/2018).

63 Geyer, Christian: So wird Deutschland dumm. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (25/08/2010). URL:

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/thilo-sarrazin-deutschland-schafft-sich-ab-so-wird-deutschland-dumm-1999085.html (Abgerufen am 29/05/2018).

64 Ebd. 65 Ebd.

66 Preisendörfer, Bruno: "Intelligenz ist zu 50 bis 80 Prozent angeboren". In: Der Tagesspiegel (27/08/2010).

URL: https://www.tagesspiegel.de/meinung/sarrazins-buch-intelligenz-ist-zu-50-bis-80-prozent-angeboren/1912078.html (Abgerufen am 13/10/2010).

(17)

16 Andrian Kreye schreibt in seiner Rezension in der einflussreichen Süddeutsche Zeitung, dass das Weltbild, dass Sarrazin in seinem Buch darstellt, „von der verführerischen Logik der Demagogie getragen wird.“67 Es werden realistische Probleme oder gesellschaftliche Änderungen dargestellt,

aber Sarrazin spielt auf populistische Weise ein auf den Ängsten der Bürger für diese Änderungen. Die Argumentation Sarrazins greift Kreye zufolge auch zu kurz, weil es komplexe Probleme reduziert zu einfachen Schlussfolgerungen.

Kaum sind in den wichtigsten schriftlichen Medien überwiegend positive Rezensionen zu finden. Eine Ausnahme gibt es in Die Zeit. In der Rezension von Necla Kelek, Aktivistin für Frauenrechte und gegen den Islam in Europa, liest man, dass das Buch Sarrazins ihr wohl gefällt. Sie führt an, dass man über Deutschland schafft sich ab inhaltlich diskutieren soll, statt nur den Autor anzugreifen. Wenn man nur Kritik äußert und alles im Buch gleich ablehnt, dann stellt man sich selber außer der

Debatte. Sie ist auf vielen Punkten mit Sarrazin einverstanden. Sie schreibt: „Mein Fazit: Hier hat ein verantwortungsvoller Bürger bittere Wahrheiten drastisch ausgesprochen und sich über Deutschland den Kopf zerbrochen.“68

Christoph M. Schmidt ist ein deutscher Ökonom, deren Forschungsschwerpunkt auf arbeits- und bevölkerungsökonomischer Fragestellungen liegt. In Handelsblatt hat er eine Rezension in Reaktion auf Sarrazins Thesen und Methoden gegeben. Er warnt, dass statistische Datensätze und Methoden oft nicht richtig benutzt werden, was zu falschen Konklusionen leiten kann. Es fehlt Sarrazin Schmidt zufolge an guten Interpretationen von Daten. „Ohne weitere Interpretation bietet er jedoch keine Erklärung für sein Zustandekommen und somit auch keinen Hinweis auf mögliche Lösungen.“69

Schmidt hat vor allem Schwierigkeiten mit der Konklusion der Sarrazin aus den Daten bezüglich Intelligenz zieht. Dass Migrantenkinder oft einen niedrigeren Bildungsgrad erreichen als deutsche Kinder, kann man nicht einfach zuschreiben an ihrer Ethnie. „Die ethnische Zugehörigkeit erfüllt in den eingesetzten Modellen nur die Rolle eines Platzhalters für die tatsächlichen Ursachen.“

67 Kreye, Andrian: Endlich sagt’s mal einer. In: Süddeutsche Zeitung (03/09/2010). URL:

https://www.sueddeutsche.de/kultur/debatte-um-sarrazin-alles-fuer-ein-aha-erlebnis-1.995422 (Abgerufen am 15/10/2018).

68 Abdel-Samad, Hamed; Aly, Götz; Bax, Daniel; u.a.: Sarrazin: Eine deutsche Debatte. München: Piper 2010. S.

37.

(18)

17

3. Verlauf der Debatte

Die Debatte über dem Buch Sarrazins ist auf verschiedenen Weisen zum Ausdruck gekommen. Es gab Rezensionen, Talkshows, Rundfunkgespräche, Zeitungsartikeln, Kolumne, politische Aussagen und so weiter. Für diese Analyse sind vor allem schriftliche Reaktionen verwendet. Die Teilnehmer der Debatte waren oft Journalisten, aber unter anderem auch Politiker, Wissenschaftler oder Personen die auf eine andere Weise einen Platz in der öffentlichen Debatte hatten. Zu dem Sammeln der Reaktionen sind zwei Bände sehr hilfreich gewesen. Der eine ist Sarrazin: eine deutsche Debatte, November 2010 herausgegeben von Piper Verlag aus München. Die zweite Band ist Die Sarrazin

Debatte, November 2010 herausgegeben von Die Zeit unter der Redaktion von Patrik Schwarz. Diese

Bände beinhalten viele Kolumne, schriftliche Reaktionen und Interviews, die direkt nach dem Erscheinen des Buches publiziert wurden. Die meisten Reaktionen wurden geäußert in bekannten deutschen Zeitungen und Zeitschriften.

Eine Forschung der Universität Erfurt aus 2011, Beyond Sarrazin? Zur Darstellung von Migration

in deutschen Medien am Beispiel der Berichterstattung in SPIEGEL und BILD, hat die Darstellung von

Migration in deutschen Medien untersucht.70 Vor allem die Unterschiede zwischen Bild und Der Spiegel würden analysiert. Natürlich haben diese zwei Medien überhaupt eine sehr unterschiedliche

Art Berichterstattung. In Der Spiegel „zeichnet sich auf den ersten Blick eine eher ausgewogene

Spiegel-Debatte ab.“71 Dabei „führt die ausgeglichene Verteilung der zu Wort kommenden Akteure

auf systemischer, institutioneller und individueller Ebene zu einer tendenziell positiven Bewertung von Migration.“72 Ökonomisch thematisierte Artikel über Migration sind oft aber positiver als Artikel

mit Fokus auf der Islam oder der Kultur der Migranten. In der Bild herrscht eine eher negative Tendenz in Artikel oder Berichte über Migration. Die Artikel handeln auch öfter von Kriminalität, kulturelle Differenzen und Stereotypen. Eventuelle ökonomische Vorteile werden nicht erwähnt. In beiden Medien hat die Veröffentlichung von Deutschland schafft sich ab zu viel mehr Berichte mit Migrationsthematik geleitet. „Die Betonung der Negativaspekte, die mit Integration

zusammenhängen, führt schließlich dazu, dass Integration fast ausschließlich als Problem definiert wird.“73 Beim Beurteilen der Reaktionen der Sarrazin-Debatte ist es also wichtig bewusst zu sein von

dem Medium in welche die Reaktion publiziert wurde.

In diesem Kapitel habe ich versucht die verschiedene Reaktionen aus den verschiedenen Medien einzuordnen; Nicht in den Kategorien 'Befürworter' und 'Widersacher', sondern auf Thema. Dabei ist es wichtig zu schauen worauf genau reagiert wird. Es kann inhaltlich auf dem Buch reagiert worden, aber es gibt auch Reaktionen auf der Debatte selbst. Zuerst wird der Diskurs rund

Integration und Migranten skizziert, danach folgt die Einteilung und Analyse der Reaktionen.

3.1 Diskurs der multikulturelle Gesellschaft und der Integrationsdebatte

Wieso hat gerade Sarrazin so eine riesige Diskussion verursacht mit seinem Buch und seinen Aussagen? In Deutschland waren die Versuche, Debatten zu führen über der multikulturellen Gesellschaft und Integration, nicht erfolgreich. Doch konnte man nicht um Sarrazin und sein Buch hin. Der Grund für die empörten Reaktionen auf ihn ist, dass Sarrazin seine Argumente nicht nur auf Demographie, Sozialpolitik, Immigration und Kultur, sondern auch auf Genetik und Heredität basiert. Offenbar hat er hier eine sensiblen Grenze überschritten, die in Deutschland noch sehr fest war. Die Argumente werden in dem öffentlichen Diskurs nicht akzeptiert. Sarrazin hat hiermit aber wohl die

70 Irrgang, Ulrike: Beyond Sarrazin? Zur Darstellung von Migration in deutschen Medien am Beispiel der

Berichterstattung in SPIEGEL und BILD. In: Global Media Journal Vol. 1, No.2, Herbst 2011.

71 Ebd., S. 27-28. 72 Ebd., S. 28. 73 Ebd., S. 29.

(19)

18 Aufmerksamkeit auf sich gezogen und er hat auch nicht nur Gegner; das Buch hat ja sehr gut

verkauft. Zwischen den Gegnern und Anhängern gibt es soziale Unterschiede. Verurteilt wird Sarrazin durch die liberale (linke) intellektuelle Elite mit nur ein paar Ausnahmen, unterstutzt wird er durch den 'normalen Mann'. Unter anderem 'politische Korrektheit' zieht die Grenze zwischen den beiden Gruppen.

Sarrazin sieht die deutsche kulturelle Identität bedroht. Konkret will er für die

Immigrantengruppe aus 'bildungsfernen Schichten' Zugang, oder sogar gezwungene Teilnahme, sichern zu Arbeit, soziale Mobilität und Unabhängigkeit von Sozialhilfe. Das ist nicht neu, aber Sarrazin unterscheidet sich von anderen weil er viel weiter geht in seinen Lösungen, dann sich zum Beispiel für mehr Bildung auszusprechen. Er zieht demographische Daten hinzu und ruft auf zu „mehr Kinder von den Klugen, bevor es zu spät ist.“74 Durch das Letzte wird ihn vorgeworfen, er sei

Befürworter der Eugenik.75 Obwohl er Kritik bekommt auf seinen Argumenten und Vorschlägen, ist es

eine Tatsache, dass er so eine breiten Diskussion bewirkt hat, und dass es sich dadurch in Deutschland etwas bewegt hat.

Politik

Die deutsche Politik ist immer irgendwie eine Reaktion auf der Geschichte Deutschlands, insbesondere die Geschichte des Nationalsozialismus. Es kann von rechten Politiker als eine Last erfahren werden, dass man immer dieses Tabu oder diese 'kulturelle Begrenzung' berücksichtigen muss. Es ist wichtig zu befragen, wie die deutsche Geschichte die heutige Politik beeinflusst. Der Zweiter Weltkrieg und der Holocaust haben sich zu Tabus oder zumindest zu kulturell sehr sensiblen Themen entwickelt. Das heißt, dass wenn zum Beispiel der Holocaust bagatellisiert wird oder es irgendwie Parallelen mit der heutigen Politik gibt, das viele emotionale Reaktionen verursacht. Laut vielen wurde es mal Zeit, dass eine öffentliche Integrationsdebatte wie die Sarrazin-Debatte geführt werden konnte. Das konkludiert auch Der Spiegel in dem Artikel Bündnis der Weggucker:

Mit seinen umstrittenen Thesen hat Thilo Sarrazin ein Thema auf die Agenda katapultiert, das die Parteien gern verschweigen: ihr Versagen in der Integrationspolitik. Ausgerechnet in der Ausländerpolitik hat eine große Koalition aus links und rechts jahrzehntelang die Wirklichkeit ignoriert.76

In anderen europäischen Länder gab es schon viel länger Kritik an der Integrationspolitik und eine immer steigende Anhängerschaft der Rechtspopulisten wie Marine Le Pen und Geert Wilders, und noch früher Jean-Marie Le Pen und Pim Fortuyn. Wenn 2010 Deutschland schafft sich ab publiziert wurde, gab es die Partei Alternative für Deutschland noch nicht. Doch folgte auch Deutschland den Trend des Rechtspopulismus in den Jahren danach. In dem Spiegel-Artikel wurde behauptet, dass die Tatsache, dass die Debatte in 2010 eben wirklich anfing, deutlich damit zu tun hatte, dass die Politik lang geschwiegen hatte, „weil es in Deutschland auch 65 Jahre nach Kriegsende nicht einfach ist, unbefangen über Ausländer zu debattieren. Zu tief sitzt die Angst, etwas falsch zu machen.“77 Die

deutsche Politik scheint Integration nur ernst zu nehmen wenn es total schief geht, wie zum Beispiel anlässlich der verschiedenen Ehrenmorden die es in Deutschland gegeben hat, oder heute des Terrorismus. Auch die Sarrazin-Debatte hat die Politik nicht ignorieren können.

74 Sarrazin, Thilo: Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen. München: DVA 2010. S.

331.

75 Rindisbacher, Hans J.: „Leitkultur“ and Canons: Two Aspects of Contemporary Public Debate. In: Pacific Coast

Philology, Vol. 48, No. 1. Pennsylvania: University Press 2013. S. 61.

76 Bartsch, Matthias u.a.: Bündnis der Weggucker. In: Der Spiegel 37/2010 (13/09/10). S. 21. 77 Ebd., S. 22.

(20)

19 In den fünfziger und sechziger Jahren, wann die ersten Gastarbeiter aus unter anderem Italien, Spanien und später aus der Türkei und Jugoslawien nach Deutschland (bzw. BRD) gekommen sind, dachte man, dass die Arbeiter auch wieder zurückgehen wurden. Dadurch war Integration damals überhaupt kein Thema. Aber die Arbeiter blieben in Deutschland, und holten auch ihre Familie nach. Immer noch wurde nicht investiert in zum Beispiel Sprachkurse. Die linken Parteien glaubten an einer problemlosen multikulturellen Gesellschaft, die rechten Parteien betrachteten die Immigranten immer noch als Gäste, und behaupteten die Problemen wurden vorübergehend sein. „Zusammen schloss man ein stilles Bündnis der Weggucker.“78 1978 wurde wohl die Position des

Ausländerbeauftragtes in der Bundesregierung in Bonn eingeführt (heute Beauftragte der

Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration), SPD-Politiker Heinz Kühn war der Erster

der diese Position erfüllte. Er wollte die Politiker davon überzeugen, dass die ehemaligen

Gastarbeiter und ihre Familien Deutschland nicht mehr verlassen wurden. Er machte sich dafür stark die in Deutschland geborene und aufgewachsene Kindern von Migranten einzubürgern. Auch verlangte er “ein Programm, um Ausländer in den Schulen auf das deutsche Niveau zu bringen. 600 Millionen Mark veranschlagte der Integrationsbeauftragte, um die Zuwanderer in die

Mehrheitsgesellschaft zu integrieren“79, doch diese Millionen wurden nicht ausgegeben.

Kühn bekam kein Beifall anderer Politiker. Man kümmerte sich nur um Flüchtlinge und Arbeitsmigranten die noch kommen wurden, für die Ausländer in Deutschland selbst gab es kein Interesse. Auch wenn 1992, wegen ein neues Gesetz bezüglich des Asylrechts das zur Diskussion stand, eine Debatte über Ausländerpolitik ausbrach, blieben ehemalige Gastarbeiter wieder außerhalb der Diskussion. Lange Zeit blieb die Politik auf Zurückkehr fokussiert. Unter Helmut Kohl gab es zum Beispiel finanzielle Vorteile für Ausländer die aus (West-)Deutschland weggingen. Doch haben kaum Ausländer das gemacht, die Anzahl der Ausländer stieg sogar.80 Heute scheint es, als ob

die Politik das Gefühl hat, dass es ein großer Rückstand aufzuholen gibt. Es wird zum Beispiel investiert in Integrations- und Sprachkurse, Partner aus dem Ausland dürfen nur zu Deutschland umziehen wenn sie Deutsch sprechen und auch den Integrationstest sollen sie bestehen. Auch Jörg Lau, ein Journalist der lange bei der linken Tageszeitung gearbeitet hat und heute für Die Zeit schreibt, behauptet, dass sich etwas geändert hat in die deutsche Politik. Die Verhältnisse innerhalb der Integrationsdebatte haben sich geändert in den letzten Jahren. Lau hatte eine Verschiebung im politischen Feld wahrgenommen. Die Integrationspolitik und multikulturelle Gesellschaft war immer den Bereich der Linksdemokraten. Jetzt aber, ist es die CDU von Angela Merkel die, nicht ohne Kritik, eine tolerantere Position in der Migrantendebatte einnehmt.

Wer die fünf eng bedruckten Seiten in Lettre International liest und zugleich die

Regierungsbildung verfolgt, steht verblüfft vor der Tatsache, dass ein prominenter SPD-Mann am rechten Rand entlangrantelt, während die konservativ-liberalen Koalitionäre über einer modernen Integrationspolitik brüten.81

Das schadet die SPD, weil die Partei ein wichtiges Thema verliert. „Die Sozialdemokratie hat das Zukunftsthema Integration an die ideologisch flexiblere andere Seite abgegeben.“82 Die SPD erscheint

durch Leute wie Sarrazin immer wieder negativ in den Nachrichten, weil sie die eigene Partei

78 Ebd., S. 23. 79 Ebd, S. 23.

80 Statistisches Bundesamt: Ausländische Bevölkerung in Deutschland. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt

2001. S. 10.

81 Schwarz, Patrik (Hrsg.): Die Sarrazin Debatte. Eine Provokation und die Antworten. Hamburg: Edel Germany

2010. S. 81.

(21)

20 öffentlich kritisieren und eine rechtere Richtung verlangen. Mittlerweile scheint die CDU durch die Flüchtlingspolitik von Merkel gerade immer linker zu werden.

Journalistin der Tageszeitung und Süddeutsche Zeitung Constanze von Bullion sagt, die SPD ärgere sich zurecht über Thilo Sarrazin, das Problem sei aber auch, dass die Partei selber zum Thema Integration wenig zu bieten hat. Der Versuch der SPD, Sarrazin aus der Partei zu werfen, war eine „Geste der Ratlosigkeit.“83 Hohe SPD-Politiker schimpfen wie vielen über Sarrazin, entwickeln aber

selber keine eigene Ideen. „Die Performance der SPD-Spitze ist lausig. Kein Wunder, dass Außenseiter das Feld bestellen.“84

Die Linke-Politikerin Gesine Lötzsch schreibt in die sozialistische Tageszeitung Neues

Deutschland, dass, obwohl sie mit fast alles in Deutschland schafft sich ab nicht einverstanden ist, sie

im Buch doch ein „Körnchen der Wahrheit“85 spürt. Ihre Kritik ist vielmehr gegen die

Bundesregierung gerichtet, die versucht zu verschleiern, dass es in Deutschland Probleme der

Integration und des Sozialstaates gibt, durch nur auf Sarrazins auffallenden Thesen über Genetik usw. hinzuweisen.

Reflektion auf der Debatte

Eine politische Kultur ist ein historischer Prozess, es ist keine Sammlung festgelegter Verhältnisse oder eine definitive Definition einer Situation.86 Das schreiben Soziologen Jeffrey Olick und Daniel

Levy in ihren Artikel Collective Memory and Cultural Constraint: Holocaust Myth and Rationality in

German Politics. Über dem Einfluss der deutschen Geschichte auf den heutigen Diskussionen sagen

sie, dass die Kraft von mythischen Beschränkungen (Tabus) der deutschen Geschichte in

Konfrontation mit heutigen Krisen oft schwierige Wendungen in dem öffentlichen deutschen Diskurs und der Politik verursacht hat.87 Das ist auch zu beobachten in der Sarrazin-Debatte, wo oft

reflektiert wird auf dem Verlauf der Debatte selbst oder auf ihrem historischen Kontext. René Wolfsteller, ein deutscher Soziolog, behauptet zum Beispiel, die Integrationsdebatte sei überhaupt keine Debatte. In einer Debatte diskutieren idealerweise Gleichberechtigten miteinander. Die Rede von 'Integration' impliziert aber schon ungleiche Verhältnisse. Diejenigen wovon die Debatte gerade handelt, die Migranten, werden kaum zu Wort gelassen. Es wird vor allem über sie gesprochen und kaum mit sie. Es werden Teilungen gemacht zwischen Migranten und Deutscher, zwischen Eigenem und Fremden. Wolfsteller will die Realität wiedergeben und behauptet:

Natürlich existiert sie außerhalb von Statistiken gar nicht, diese „deutsche“

Mehrheitsgesellschaft. […] Wir haben es bei der diskursiven Produktion von „Einheit“ und den zugehörigen Assimilierungsbemühungen vielmehr mit der durch und durch modernen Praxis des „social engineering“ zu tun (Bauman 1998), die einmal mehr im Dienste politischer Legitimation einerseits und ökonomischen Wachstums andererseits zu stehen scheint.88

Wolfsteller zufolge ist der Fehler der in die Integrationsdebatte gemacht wird, dass der Erfolg der Integration nicht bewertet wird aufgrund Gleichstellung, sondern aufgrund ökonomischen Kriterien.

83 Bullion, Constanze von: Am warmen Ofen der Volksfreundschaft. In: Süddeutsche Zeitung (26/08/2010). 84 Ebd.

85 Lötzsch, Gesine: Körnchen und Brocken. In: Neues Deutschland (04/09/2010).

86 Olick, Jeffrey K.; Levy, Daniel: Collective Memory and Cultural Constraint: Holocaust Myth and Rationality in

German Politics. In: American Sociological Review, Vol. 62, No. 6 (Dezember 1997). S. 921-936.

87 Ebd.

88 Wolfsteller, René: „Integration“ als Diener zwei(felhaft)er Herren. Bemerkungen zur „Integrationsdebatte“.

(22)

21 Journalist der Frankfurter Allgemeine Zeitung und Die Zeit Heinrich Wefing nehmt die Diskussion auf einer anderen Ebene war. Innerhalb der Integrationsdebatte unterscheidet er nämlich auch eine Debatte über Religionsfreiheit. Offensichtlich sind die Verhältnisse zwischen Religion und säkularem Staat nicht mehr selbstverständlich. Gleichzeitig mit dem Senken der Popularität und des Einflusses der Kirche in Deutschland, wird der Islam gerade immer sichtbarer. Es gibt eine lockere Trennung zwischen Staat und Kirche und die Kirche hat auch immer eine große Rolle gespielt in Deutschland. Zwischen dem deutschen Staat und dem Islam fehlt diese lange Vertrauensbeziehung. Einfach weil die lange Tradition fehlt, aber auch weil es fundamentale Unterschiede gibt. „Kann der liberale Staat tolerant bleiben, wenn ihm Intoleranz begegnet?“89

Soziologin und Aktivistin für Frauenrechte und Gegner des Islams in Europa Necla Kelek

bemerkt, dass Sarrazin eine Diskussion aufreißt die noch nie öffentlich geführt wurde, nämlich, über der Tatsache, dass Intelligenz teils erblich ist und dies nicht vereinbar ist mit der Idee, dass alle Menschen gleich sind. Ursachen von Ungleichheit werden nämlich weitgehend in den sozialen und politischen Verhältnisse gesucht. Kelek sagt, Sarrazin befreie „die Diskussion um Armut aus der materiellen Abhängigkeit.“90 Auch „sozialer Fortschritt, Gesundheit, Ernährung und letztlich Glück“

können unabhängig von immer materiellerer Zuwendung erreicht werden. Ihre Kritik an der heutigen politischen Diskussion, unter anderem um Armut, ist, dass „das Individuum, sein Verhalten und seine Verantwortung gar nicht vorkommen.“

Kelek ist auf viele Punkten mit Sarrazin einverstanden, wie die Kritik auf der gefehlten

Integration und der großen Abhängigkeit von Migranten von Sozialleistungen. Sie sagt, die deutsche Politik habe bisher diese Probleme nicht anerkannt oder sie ignoriert aus Angst für Beschuldigungen von Rassismus oder eben Rechtsextremismus. Kelek nennt das Argument des Rassismus „ein

Ablenkungsmanöver“. In einem Interview in der konservativen Zeitung Die Welt weist sie hin auf der Hypokrisie der Politik. Sie hat Deutschland schafft sich ab sofort abgelehnt, aber hat sich danach auf einmal kritischer über der Integrationspolitik geäußert und sogar in kurzer Zeit einen neuen

Integrationsplan präsentiert, „um zu beweisen, dass sie jemanden wie Sarrazin nicht brauchen.“91

Historiker Michael Meng hingegen argumentiert in seinen Artikel Silences about Sarrazin’s

Racism in Contemporary Germany, dass die Sarrazin-Debatte gerade zu wenig von Rassismus handelt

und nur von Integration. Er nennt das das Paradox des Umgangs von Deutschland mit ihrer

Geschichte. Meng hat drei Gründe dafür, dass kaum von Rassismus gesprochen wird in der Sarrazin- und Integrationsdebatte. Erstens nennt er, dass Vorurteile über Migranten heute so oft

ausgesprochen werden, dass sie normalisiert sind und gar nicht mehr so auffallen. Zweitens, dass Integration allgemein akzeptiert wird als Voraussetzung für Deutschlands Demokratie. Letztens argumentiert Meng, dass es ein „postwar myth“92 gibt, also die Annahme, dass Rasse und Rassismus

gerade wegen der deutschen Geschichte heute nicht mehr vorkommen in Deutschland. Die deutsche Demokratie repräsentiert gerade die Überwindung von Nazismus und Rassismus. Die Weise worauf Deutschland mit ihrer nationalsozialistischen Geschichte umgegangen ist, wird als Erfolgreich gesehen. Das Anerkennen von dem heutigen Rassismus in Deutschland ist deshalb peinlich.

Behrouz Alikhani und Inken Rommel, Soziologen an der Universität Münster, behaupten in ihren Artikel Aufstieg des Kulturrassismus: Von Huntington zu Sarrazin, dass bestimmte Begriffe eine

89 Schwarz, Patrik (Hrsg.): Die Sarrazin Debatte. Eine Provokation und die Antworten. Hamburg: Edel Germany

2010. S. 246.

90 Kelek, Necla: Ein Befreiungsschlag. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (30/08/2010).

91 Seibel, Andrea: »Die nachhaltigen Offenbarungen der Sarrazin-Debatte«. In: Welt Online (27/09/2010). URL:

https://www.welt.de/debatte/kommentare/article9883774/Die-nachhaltigen-Offenbarungen-der-Sarrazin-Debatte.html (Abgerufen am 10/09/2018).

92 Meng, Michael: Silences about Sarrazin’s Racism in Contemporary Germany. In: The Journal of Modern

Referenties

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