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,,Was ist Deutschland klein!''. Koloniale Raumideologie und Englandfeindlichkeit in Hans Grimms ,,Volk ohne Raum'': Ein Vergleich zum Nationalsozialismus.

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,,Was ist Deutschland klein!’’

Koloniale Raumideologie und Englandfeindlichkeit in

Hans Grimms ,,Volk ohne Raum‘‘:

Ein Vergleich zum Nationalsozialismus.

Angestrebter akademischer Grad

Master of Arts

E.P.A. (Emiel) Klaphake

Studentnummer: 10344535

Masterstudium: Geschichte/Duitslandstudies

Betreuer: dr. M.J. (Moritz) Föllmer

Zweite Beurteilung: dr. H.J. (Hanco) Jürgens

Jahrgang: 2015/2016

(2)

Inhaltsangabe

Einleitung

3

Kapitel I: ,,Volk ohne Raum‘‘

Über den Autor

7

Synopsis

13

Literarische Gattungen und zentrale Thematik

15

Analyse

18

,,Wie ich den Engländer sehe‘‘

41

Zusammenfassung

45

Kapitel II: Die nationalsozialistische Kolonialideologie und -politik

Das Herrenvolk als gemeinschaftlicher Faktor

46

Blut und Boden

48

Geopolitiker Karl Haushofer

51

,,Mein Kampf‘‘

54

Hitlers ,,Zweites Buch‘‘

58

Kolonialpolitik in der Praxis

61

Carl Peters und Ohm Krüger: Eine Rückkehr zu Grimm?

65

Zusammenfassung

72

Schluss

74

Bibliographie

77

(3)

Einleitung

,,Er dachte: Was ist Deutschland klein!‘‘1

- Cornelius Friebott, Volk ohne Raum

Wenn Historiker sich mit dem Nationalsozialismus beschäftigen, ist das Thema

,,Lebensraum‘‘ eine Quelle unaufhörlicher Faszination. Ein Teil des Mysteriums besteht darin, dass es sich hier nicht um eine monolithische Raumideologie handelt. Völkische

Literatur wie Hans Grimms ,,Volk ohne Raum‘‘ (1926) zeigt deutlich, dass es innerhalb der

nationalsozialistischen Bewegung unterschiedliche Meinungen gegeben hat, was

Kolonialismus nun eigentlich beinhaltete. Hans Grimm war in der Weimarer Republik und während der NS-Zeit der weitaus bekannteste Kolonialschriftsteller. Mit einer Auflage von mehr als einer halben Million, trug er mit seinem polarisierenden Titel ,,Volk ohne Raum‘‘ erheblich zu der Idee bei, dass die Deutschen nach dem Ersten Weltkrieg nicht genug Raum zum Überleben mehr hätten. Dieser Mythos fand darum bei der nationalsozialistischen Leserschaft enorme Resonanz.

In ,,Volk ohne Raum‘‘ entfaltet Grimm seine eigene Raumideologie. Anstelle von Lebensraum im Osten werden Kolonien in Übersee gefordert. Grimm, der ideologisch eigentlich eher zur ,,konservativen Revolution‘‘ gehört, sah die koloniale Erfahrung als eine, die das ,,wahre deutsche Wesen‘‘ im Menschen emporbringt. Sein Buch handelt von einem jungen Erwachsenen, der trotz seiner Talente in Deutschland nicht vorankommt: Er

entscheidet sich darum, in die britische Kapkolonie auszuwandern. Obwohl das Buch den Eindruck entstehen lässt, dass die Briten selbst nicht über Talente verfügen, haben sie doch die politische Macht. Sie gönnen den Deutschen nichts. Als der Held daraufhin beschließt, nach Deutsch-Südwestafrika umzuziehen, wird seine harte Arbeit durch den Ersten Weltkrieg aufs Neue verdorben. Die generelle Botschaft von ,,Volk ohne Raum‘‘ ist, dass Deutschland eigene Kolonien für seine überflüssige Bevölkerung braucht, damit jeder seine Talente problemlos entfalten könne.

Für die Nationalsozialisten war bekanntlich der Erwerb von Lebensraum in Osteuropa die erste Priorität. Hitler gab dieser Variante von Kolonialraum den Vorzug, weil ihm das Erreichen einer deutschen Weltmachtstellung besonders wichtig war. Hitler, der von den Ideen des Geopolitikers Karl Haushofers inspiriert war, war der Ansicht, dass ein durch Deutsche besetzter ,,Ostraum‘‘ Deutschland in einen ,,blockadefesten Ort‘‘ verwandeln

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würde. Während Grimm die solidarisierende koloniale Erfahrung hervorhebt, lag für Hitler das Schicksal des deutschen Volkes auf europäischem Boden: Diese von Walther Darré stammende Idee einer altgermanischen freien Bauerngemeinschaft findet man bei Grimm auch; aber für Grimm wiegt diese Volk-Boden-Beziehung nicht so schwer.

In ,,Mein Kampf‘‘ und dem sogenannten ,,Zweiten Buch‘‘ legte Hitler seine Lebensraumideologie dar. Kennzeichnend für diese Ideologie ist das dringend benötigte Bündnis mit Großbritannien. Auffällig ist, dass sowohl bei Grimm als auch bei Hitler die Rolle Großbritanniens, das zu jener Zeit das größte Kolonialreich besaß, immer bei der Erörterung der eigenen Kolonialpolitik miteinbezogen wird. Betrachtet man die tatsächliche Politik gegenüber Großbritannien, dann ist ein umgekehrt proportionales Verhältnis zu konstatieren: Ein probritisches Deutschland betont den ,,Verzicht auf Kolonien‘‘, ein antibritisches Deutschland verlangt in der Außenpolitik und in der Propaganda heftig nach Kolonien.

Ansatz

Hauptziel dieser Masterarbeit ist es, zu erkunden, was die Raumideologie Grimms genau beinhaltet und diese der Lebensraumideologie der Nationalsozialisten gegenüberzustellen. Weil von Anfang an klar war, dass sowohl die Forderungen nach Kolonien als auch die nach Lebensraum im Osten immer mit der Ausrichtung der britischen Politik korrelierten, wird hier versucht, diese Assoziation zu erhellen. Hierfür ist es notwendig, die beiden Visionen zu analysieren und ihre jeweilige Herkunft zu untersuchen. Um dies herauszufinden wird von mehreren primären Quellen Gebrauch gemacht, ergänzt durch Einsichten aus der

Sekundärliteratur.

Die Masterarbeit ist in zwei Teile aufgeteilt. Der erste widmet sich dem Werk von Hans Grimm, der zweite behandelt die Lebensraumideologie der Nationalsozialisten. Bei Grimm wird ,,Volk ohne Raum‘‘ auf seine literarischen und politischen Elemente hin

analysiert. Hier wird vor allem untersucht, welche Thematik der Schriftsteller verwendet und welche Techniken er einsetzt, um seine Raumideologie der Leserschaft zu vermitteln. Die zentrale Frage dieses Kapitels ist dann auch: Worin besteht Hans Grimms Raumideologie,

und wie wird diese durch die literarischen Motive verkörpert? Als Ergänzung hierzu wird

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Raumideologie mit zusätzlichen Argumenten (es ist ja auch zwölf Jahre später erschienen), die ebenfalls nicht vollständig mit dem Nationalsozialismus übereinstimmen.

Das zweite Kapitel behandelt die nationalsozialistische Position bezüglich dieses Themas. In diesem Kapitel wird nach den Merkmalen der nationalsozialistischen Kolonialpolitik gesucht und werden diese der Ideologie Grimms gegenübergestellt. Die zentrale Frage dieses Kapitels lautet somit: Was sind die Auffassungen und Grundlagen der NS-Kolonialpolitik und

inwiefern unterscheiden diese sich von Grimms Ideologie? Um dies herauszufinden wird

zunächst die Idee des ,,Herrenvolkes‘‘ erörtert. Auch Karl Haushofers Geopolitik, Hitlers ,,Mein Kampf‘‘ und ,,Zweites Buch‘‘, sowie die ,,Blut-und-Boden‘‘-Idee von Walther Darré werden diskutiert. Weil während dieser Untersuchung ein klares Abhängigkeitsverhältnis zwischen der NS-Politik und der Politik Großbritanniens zu Tage getreten ist, werden am Ende noch zwei Propagandafilme kurz analysiert. Es geht hier um die antibritischen Filme ,,Carl Peters‘‘ und ,,Ohm Krüger‘‘ von 1941. Hier ist die Frage, inwiefern die Nazis ihren anfänglichen probritischen Kurs verlassen hatten, und auf welche Weise diese NS-Filme stattdessen die Thematik von Grimm wieder aufgriffen. Zum Schluss werden die neuen Erkenntnisse noch einmal zusammengefasst.

Historische Relevanz

Seit einiger Zeit wird innerhalb der Geschichtswissenschaft dem Kolonialismus mehr

Aufmerksamkeit gewidmet. Das führt zur Erkenntnis, dass hinsichtlich des Kolonialismus die

völkische Bewegung nicht monolithisch war, sondern aus ganz unterschiedlichen Ansätzen

und Protagonisten bestand. In der Geschichtswissenschaft werden Verweise auf Hitlers Kolonialforderungen stiefmütterlich behandelt. Dies ist zum Teil auch logisch, denn Hitler hat den Erwerb überseeischer Kolonien nie auf ernsthafte Weise angestrebt. Viel weniger wird die Frage gestellt, warum diese Forderungen überhaupt erhoben wurden und was für einen Effekt sie erzeugten. Grimm hat immer beklagt, dass seine Raumideologie nicht ernst genommen werde und dass die dementsprechenden nationalsozialistischen

Kolonialforderungen nicht ernst gemeint seien, und das durchaus zu Recht. Wir wissen nun, dass Grimms Kolonialvorstellungen nicht in Betracht gezogen wurden, weil Hitler an einige Basisprinzipien glaubte, die aus einer überseeischen Kolonialpolitik nur eine Nebensache machen konnten. Hitlers Faszination mit dem Erwerb einer ,,Weltmachtstellung‘‘, wofür die Sowjetunion erobert werden musste, besaß Priorität gegenüber allen anderen Zielen. Es ist

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jedoch sehr interessant zu sehen, wie die Kolonialpolitik als außenpolitisches Instrumentarium angewendet wurde, um die Briten zu beschwichtigen bzw. anzugreifen. Desto

bemerkenswerter ist es aber, dass infolge der Verschlechterung der deutsch-britischen Beziehungen ab 1938 Grimms antibritische und kolonialräumliche Rhetorik anscheinend wieder aus der Schublade gezogen wurde.

(7)

Kapitel I: ,,Volk ohne Raum‘‘

Über den Autor

Hans Grimm, geboren am 22. März 1875 in Wiesbaden, war der einflussreichste

kolonialpolitische Schriftsteller der Weimarer Republik und des Dritten Reiches. Er wuchs in einer Familie des gehobenen Bürgertums auf: Sein

Urgroßvater war Theologe und Rektor einer Stadtschule in Homberg und sein Großvater Cornelius Grimm2 war Doktor der Philosophie;

überdies unterhielt er enge Kontakte mit dem hessischen Kurfürsten. Grimms Vater hatte ebenso eine erfolgreiche (akademische und geschäftliche) Karriere, wonach er sich entschied in die Politik einzusteigen.3 Wenn man die Kindheit Grimms

betrachtet, fallen einige Ähnlichkeiten mit Adolf Hitlers Jugend auf. Zunächst gibt es die enge Beziehung zur Mutter: Sie hatten ein besonders gutes Verhältnis, zu dem auch gehörte, dass Sie ihn unter anderem Französisch und deutsche Literatur lehrte. Zu dieser Erziehung gehörte auch das Werk von Richard Wagner, dessen Antisemitismus die Familie Grimm prägte. Problematisch war seine Beziehung zum Vater: Obwohl sie beide ein gemeinsames Interesse an der Politik bekundeten, war die Beziehung auf persönlicher Ebene schwierig. Der Vater war erheblich älter als die Mutter und erzog seine Kinder besonders streng.4

Nach dem Militärdienst wollte Hans Grimm eigentlich an der Universität Germanistik studieren, aber dies wurde von seinem Vater verhindert. Stattdessen begann er eine Karriere

2 Zweifellos nannte Hans den Held seines Romans ,,Volk ohne Raum‘‘ auch Cornelius aus Ehrfurcht für sein Großvater.

3 Annette Gümbel, ,,Volk ohne Raum’’: Der Schriftsteller Hans Grimm zwischen national-konservativem

Denken und völkischer Ideologie. Darmstadt und Marburg: 2003. S 25. 4 Ebd., S 26-27.

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in England, wo er in zwei deutschen Geschäften als Kaufmann arbeitete. 1897 nutzte er die Gelegenheit, in der britischen Kapkolonie zu siedeln; hier hielt er sich für fünf Jahre auf und arbeitete ebenfalls als Kaufmann. Für den selbsternannten Romantiker Hans Grimm war dies eine prägende Erfahrung wie keine andere. In seiner Freizeit erkundete er das Land und machte sich mit den dortigen Kulturen und Sprachen vertraut: Dies fand er viel interessanter als Geschäfte machen. Nach einem kurzen Aufenthalt in Deutschland gründete er mit zwei Deutschen einen Importbetrieb in der Kapkolonie. Als sich der Betrieb eine Zeitlang gut entwickelte, kaufte er sich eine eigene Farm: Das Farmerleben beeindruckte ihn dermaßen, dass es künftig untrennbar zu seiner Raumideologie gehören würde.5

1904 litt das Geschäft Grimms unter einem Großbrand, und war nicht mehr zu retten. Dies veranlasste Grimm, sich mehr dem Schreiben zu widmen, was er ohnehin für sein größtes Talent hielt. Er arbeitete im Zuge dessen zwei Jahre als Reporter der ,,Täglichen Rundschau‘‘ in der deutschen Kolonie Südwest-Afrika. 1910 kehrte er endgültig nach Deutschland zurück, nachdem er insgesamt dreizehn Jahre in Afrika verbracht hatte.6

In Deutschland befasste Grimm sich mit seinem neuen Studium: Staatswissenschaften an der Universität München, mit dem Ziel, sein Verständnis der deutschen Gesellschaft zu verbessern. Ein Jahr später heiratete er Adelheid Gräfin von der Schulenburg, und sie bekamen in den nächsten Jahren zwei Kinder. 1911 starben auch die beiden Eltern.

Bekanntlich brach 1914 der Erste Weltkrieg aus – ein Ereignis das Grimm nicht mit Freude begrüßte. Anfänglich war der Krieg aus seiner Sicht lediglich gegenüber Russland

gerechtfertigt. Als Kanonier erlebte Grimm die Schlacht an der Somme. Er fand, dass England und Deutschland als die ,,zwei weißen Nationen‘‘ keinen Krieg führen sollten. Zudem motivierte die Heeresleitung nach Grimms Ansicht die Soldaten zu wenig und sonderte sich überhaupt zu sehr ab. Er war auch von den Nachrichten aus den Kolonien betroffen, wo seine britischen Freunde sich plötzlich gegen Deutsche wehren mussten. Wegen seiner englischen Sprachkenntnisse wurde Grimm später als Dolmetscher und Chronist eingesetzt. Währenddessen verfasste er ,,Der Ölsucher von Duala‘‘, das die angeblich miese Lage der deutschen Siedler in Kamerun beschrieb; hierfür wurde er zur Auslandsabteilung der Obersten Heeresleitung versetzt, wo er sich im Kreis nationalkonservativer Geistesverwandter

5 Ebd., S 29-31. 6 Ebd., 31-32.

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wie Arthur Moeller van den Broeck bewegte.7 Nach dem Kriegsverlust verließ Grimm das

tumultreiche Berlin zugunsten von Lippoldsberg in Hessen.8

Trotz der problematischen Beziehung zu dem Vater spielte dieser eine ganz wichtige Rolle bei der politischen Entwicklung Grimms. Der Nationalliberale Theodor Julius Grimm sprach im Familienverband oder mit politischen Freunden gern über das Raumproblem Europas (das sich auf die Theorien von Thomas Malthus zurückführen lässt) und über

entsprechende koloniale Lösungen. Er war auch Mitglied des Zentralvorstandes des deutschen Kolonialvereins. Die politischen Ansichten seines Vaters liefen darauf hinaus, dass

Deutschland wegen Raum und Rohstoffen Kolonien erwerben müsse; überdies befürchtete er das mit dem Raummangel zusammenhängende Wachstum des Sozialismus in Deutschland.9

Diese Vorstellungen seines Vaters sind auch bei Grimm wiederzufinden, machen aber bei ihm nur einen Teil einer ganzheitlichen Raumideologie aus.

Obwohl der beginnende Schriftsteller Grimm vor ,,Volk ohne Raum‘‘ keine großen Erfolge erreichen konnte, erkennt man in seinem Frühwerk doch Merkmale seiner später vollständig entwickelten Raumideologie, wobei es immer um Afrika ging. Im Werk

,,Afrikafahrt West 1912/1913‘‘ z.B. findet man zum ersten Mal seine Idee eines ,,Herrentums des freien Mannes‘‘, die auf die voradligen, aus freier Vereinigung entstandenen

germanischen Volksversammlungen zurückzuführen sei. Annette Gümbel, eine Historikerin die sich in ihrer Dissertation mit diesem Thema auseinandergesetzt hat, behauptet deswegen, dass Grimm folglich auch als Befürworter einer Eigentümergesellschaft der frühliberalen Tradition anzusehen sei.10

Eine zunehmende Politisierung des Grimmschen Werks kam erst nach dem Ersten Weltkrieg11, wie bei vielen anderen Schriftstellern. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Werk

,,Die zwei weißen Völker‘‘ von Georg von Hase, das Grimms Werk hinsichtlich Thematik und Wortgebrauch ähnelt (beide sahen die Engländer als mit den Deutschen

konkurrierendes ,,Herrenvolk‘‘).12 Der stark ideologisierte Hass gegenüber Großbritannien,

7 Ein gutes Beispiel einer langdauernden Korrespondenz Grimms mit solch einem ,,Verwandten‘‘ ist sein mühseliger Briefwechsel mit Ernst Jünger. Siehe: Tim Lörke, <<Schwierig und Ablehnend>>, Der Briefwechsel zwischen Hans Grimm und Ernst Jünger, Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Nr 34 (2009), S 141-161.

8 Annette Gümbel, ,,Volk ohne Raum’’, S 32-35. 9 Ebd., S. 35-36.

10 Ebd., S. 37-38. 11 Ebd., S. 60.

12 Georg von Hase, Die Zwei Weißen Völker! Deutsch-Englische Erinnerungen eines Deutschen Seeoffiziers. Leipzig: 1920, Vorwort S 5-8.

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die Betonung des guten Eigenen und des schlechten Anderen, sowie der unglückliche Weg der diese zwei ,,weißen Völker‘‘ auf Kollisionskurs geführt hatte, ist auch bei Grimm ein zentrales, wenn nicht das wichtigste Thema.

Zu den meist zitierten Werken Grimms gehört das Büchlein ,,Wie Grete aufhörte ein Kind zu sein‘‘. Im Gegensatz zu ,,Volk ohne Raum‘‘ spielen in diesem Werk die Themen Rasse, Mischlinge und Mischehen eine besondere Rolle.13 In Grimms Buch wird eine

koloniale Familie dargestellt die zwei Mischlinge beherbergt. Der Vater wird von ihnen dermaßen beeinflusst und die Frau nimmt im Haus eine dermaßen dominante Rolle ein, dass er ,,vergaß, dass er Weißer war‘‘; er wird Opfer einer ,,Verkafferung‘‘.14 Glücklicherweise

durchschaut die ,,kluge‘‘ Grete, – seine Tochter – eine List der zwei ,,verräterischen‘‘ Mischlinge, und tötet sie. Somit stellt sie die Ordnung im kolonialen Haushalt wieder her; dies symbolisierte die Notwendigkeit, in den Kolonien eine starke Rassenhierarchie aufrechtzuerhalten.15

Nach ,,Volk ohne Raum‘‘

Sein magnum opus ,,Volk ohne Raum‘‘, das 1926 veröffentlicht wurde, machte Hans Grimm fast augenblicklich zu einem berühmten Mann. Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges erreichte das Werk eine Auflage von einer halben Million16: Damit war Hans Grimm der

weitaus erfolgreichste Kolonialschriftsteller Deutschlands.17 Entsprechend den derzeitigen

politischen Gegensätzen in Deutschland wurde sein ,,Wälzer‘‘ unterschiedlich rezipiert. Obgleich das Buch in völkischen Kreisen offensichtlich warmherzig empfangen wurde, stieß das Werk bei anders denkenden Lesern auf Kritik. Der bekannte pazifistische Literaturkritiker

13 In seinem Buch ,,Von Windhuk nach Auschwitz‘‘ widmet der deutsche Kolonialhistoriker Jürgen Zimmerer der Problematik der kulturellen und später institutionellen Rassentrennung in Deutsch-Südwestafrika ein ganzes Kapitel. Siehe: Jürgen Zimmerer, Von Windhuk nach Auschwitz? Berlin: 2011, S 120-140.

14 Joachim Warmbold, ‘If Only She Didn't Have Negro Blood in Her Veins: The Concept of Metissage in German Colonial Literature’, Journal of Black Studies, Nr. 2 (1992) S 205-207.

15 Matthew Fitzpatrick,’The threat of ‘woolly-haired grandchildren’: Race, the colonial family and German nationalism’, The History of the Family, Nr. 4 (2009), S 357-366.

16 Randbemerkung: Deutsche Kolonialliteratur hat es erst gegeben als Deutschland selbst Kolonien erwarb. Durch diese verspätete Entwicklung entstand erst 1885 die erste Kolonialliteratur, sodass hier von einem relativ kleinen Literatursegment die Rede ist, vor allem auch im Vergleich zur qualitativ höher eingeschätzten

englischen und französischen Kolonialliteratur. Siehe: Anja Hall. Paradies auf Erden? Mythenbildung als Form von Fremdenwahrnehmung. 2008. S 146 Fußnote 2.

17 Francis L. Carsten, ‘‘Volk ohne Raum‘: A note on Hans Grimm Journal of Contemporary History’, Nr. 2 (1967), S 221.

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Kurt Tucholsky verglich den politischen Inhalten des Buches spöttisch mit ,,Grimmschen Märchen‘‘.18

Das Buch, das wegen seiner völkischen topoi bei derselben Leserschaft populär war und auch von Nationalsozialisten gelobt wurde, brachte Grimm während des Dritten Reiches hohe Positionen im kulturellen Bereich ein. Innerhalb von Lehrerkreisen war Grimm schon zuvor populär gewesen, sodass seine Werke auch im Unterricht einen Platz bekamen.19 Trotz

des relativ kleinen ideologischen Abstands zu den Nationalsozialisten war seine Beziehung zu ihnen oft schwierig.

Ein Nazisympathisant der ersten Stunde, freute er sich über die Machtübernahme und sah diese als eine großartige Chance für Deutschland. Er stand außerdem in regelmäßigem Kontakt mit prominenten Nationalsozialisten wie Joseph Goebbels, Hermann Göring und Rudolf Heß. Er nutzte diese Kontakte nicht nur um beruflich voranzukommen, sondern auch, um seine Unzufriedenheit mit dem neuen Regime kundzutun. Die Außenpolitik des NS-Regimes sah nicht den Erwerb überseeischer Kolonien vor, und Grimms Ansichten wurde durch die NSDAP aktiv entgegengewirkt, damit sie nicht zu sehr in die Öffentlichkeit gelangten.20 Hans Grimm war darüber hinaus von dem schamlosen Machtmissbrauch des

neuen Regimes entsetzt: u.a. Bücherverbrennungen, Gewaltakte und willkürliche Verhaftungen lösten bei ihm große Unruhe und Enttäuschung aus. Gümbel bemerkt mit Recht, dass er mit seinen wiederholten Interventionen (z.B. bei Wilhelm Frick) großen Mut bewies: Kritik am NS-Regime war ein riskantes Geschäft.21 Um Gümbel zu paraphrasieren:

Am Ende war und blieb Grimm auch geistig ein Kind des Kaiserreiches, dessen Auffassungen von dessen nationalen, imperialistischen und konservativen Strukturen geprägt waren.22

Nachdem Grimm und Goebbels sich immer wieder wegen verschiedener Themen gestritten und Grimm jährliche Dichtertreffen organisiert hatte – die sogenannten

Lippolsberger Dichtertage –, die mit staatlich organisierten Veranstaltungen in Konkurrenz standen und wo Kritik am Regime geübt wurde, wurde Grimm von Goebbels

Staatsfeindschaft vorgeworfen. Der Propagandaminister bedrohte ihn sogar mit der Einweisung in ein Konzentrationslager. Dies führte bei ihm zu einem Rückzug in das

Privatleben. Im selben Jahr wurde auch sein Werk ,,Wie ich den Engländer sehe‘‘ (ein Werk

18 Kurt Tucholsky, ‘Grimms Märchen‘ Aus: Die Weltbühne, 04.09.1928, [http://www.textlog.de/tucholsky-grimms-maerchen.html] Stand: 01.2016.

19 Annette Gümbel, ,,Volk ohne Raum’’,S 59. 20 Ebd., S 185-187.

21 Ebd., S 190-192. 22 Vgl., S 41.

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das sich, wie später noch zu besprechen sein wird, eigentlich vor allem mit Grimms eigener Raumideologie befasste) beschlagnahmt.23

In der Nachkriegszeit wurde Grimm zu einem Apologeten für die NS-Herrschaft. Diese war ihm zufolge immer noch dem Bolschewismus vorzuziehen, den er nach Kriegsende fürchtete. Die Kriegsschuld lag ihm zufolge bei Hitler, der im Laufe seiner Herrschaft zum Psychopathen geworden sei. Deutschland war somit nicht nur ein Volk ohne Raum, sondern auch ein Volk ohne Schuld geworden.24 Das wichtigste und ziemlich erfolgreiche

Nachkriegswerk Grimms heißt ,,Warum, woher – aber wohin?‘‘. Dieses revisionistische Buch befasst sich unter anderem mit der Überbevölkerung der Welt und deren Folgen. Aber

überraschenderweise machte Grimm hier bezüglich Hitler eine vollständige Wende: Dieser sei nämlich ein prophetischer Held gewesen, der lediglich missverstanden und dem von vielen Kräften entgegengearbeitet worden sei.25 Grimm schloss sich der neonazistischen ,,Deutschen

Reichspartei‘‘ an; sein Versuch, für diese Partei 1954 in den Bundestag zu gelangen, scheiterte.26

In den nächsten Jahrzehnten verlor Hans Grimms Werk erheblich an Bedeutung. Dies hat offensichtlich damit zu tun, dass die Realität des geteilten Deutschlands die politische Botschaft des Buches überholte und sie folglich in zunehmendem Maße irrelevant machte. Hans Grimm starb 1959 in Lippoldsberg.

Synopsis von ,,Volk ohne Raum‘‘

23 Ebd., S 196-198. 24 Vgl., S 271. 25 Ebd., S 273-275. 26 Ebd., S 287-291.

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Das Buch ist in vier Kapitel aufgeteilt, die alle eine Art Wendepunkt im Leben von Cornelius Friebott (des Protagonisten) darstellen. Der erste Teil beginnt mit dem Glockenläuten

deutscher Kirchen. Der Leser wird von Hans Grimm in den Worten des Helden und seines Vaters mit der langen Familiengeschichte bekanntgemacht: eine Erzählung, die die

Geschichte und heutige Lage Deutschlands symbolisieren sollte. Die Familie Friebott lebt in Jürgenshagen, einem Dörfchen in der Nähe von Lippoldsberg in Hessen (Grimms Wohnort). Wie im ganzen Land, ist auch hier der Raummangel das Hauptproblem. Die Menschen haben nicht genug Land, um ihren eigenen Lebensunterhalt zu verdienen, und müssen deshalb entweder die sich verschlimmernde Lage hinnehmen oder in die Industrie gehen.

Während Cornelius‘ Militärdienst, den er bei der kaiserlichen Marine verbringt und wo er seinen besten Freund Martin Wessel kennenlernt, macht er seine ersten Erfahrungen in Afrika; vor allem die erste Begegnung mit der britischen Weltmacht während des Sansibar-Krieges beeindruckt ihn. Wieder zu Hause, bleibt Cornelius nichts anderes übrig, als in einem Bergwerk im Ruhrgebiet zu arbeiten. Die schlechten Arbeitsbedingungen und der ständige Vorwurf, dass er ein aufmüpfiger Linker sei, veranlassen ihn auf den Vorschlag Wessels einzugehen und in die britische Kapkolonie zu ziehen.

Im zweiten Teil arbeitet Cornelius als Handwerker in der Kapkolonie, und später im Oranje-Vrijstaat, bei Piet Potgieter bzw. Carlotta Prinsloo; zwei Buren, die ihn wegen seines ,,deutschen‘‘ Fleißes, seiner Zuverlässigkeit und Kompetenz sehr schätzen. Als der zweite Burenkrieg ausbricht kämpfen Cornelius und Martin auf Seite der Buren. Friebott wird von den Briten inhaftiert und für den Rest des Krieges nach St. Helena geschickt. Hier hören sie aus zweiter Hand von den Gräueltaten, die die Briten im Krieg begangen hätten. Einmal wieder zurück in Südafrika angekommen, sind sie mit deutlich verschlechterten deutsch-englischen Beziehungen konfrontiert. Aber durch ein neues Ereignis richtet sich Cornelius auf ein neues Ziel, wie im dritten Teil des Buches beschrieben wird: Wessel und Friebott nehmen am genozidalen Feldzug gegen die Herero und Nama teil, unter Führung von Friedrich von Erckert. Nach einer langen Zeit des Experimentierens beschließt Friebott mit seinem Vetter George eine Farm zu kaufen: Die ,,Gute Hoffnung‘‘. Bei einem Besuch in Deutschland gelangt Cornelius immer mehr zu der Überzeugung, dass Deutschland hoffnungslos überbevölkert sei.

Im vierten Teil bricht der Erste Weltkrieg aus. Friebotts Farm wird von den Briten beschlagnahmt. Er selbst wird von einem britisch-südafrikanischen Gericht zu Unrecht für den Mord eines kriminellen Einheimischen verurteilt – zunächst zum Tode, was jedoch in

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eine zehnjährige Arbeitsstrafe umgewandelt wird. Nach einer langen Flucht und vielen Abenteuern findet er wieder seinen Weg nach Deutschland; mittlerweile ist dort die Republik ausgerufen worden. In den Augen Friebotts ist dies, kombiniert mit dem Verlust der Kolonien und den anderen Bestimmungen des Versailler ,,Diktats‘‘, ein ungeheuerliches Geschehnis. Gegen Ende des Buches reist Friebott durch das ganze Land, um seine Raumideologie zu predigen. Er wird am 9. November 1923 (dem Datum von Hitlers Münchner Bierkellerputsch) von einem Sozialdemokraten mit einem Steinwurf ermordet.

Literarische Gattungen und zentrale Thematik

,,Volk ohne Raum‘‘ behandelt als kolonialpolitischer Roman vor allem die Themen von Grimms Raumideologie, aber es trägt auch Merkmale anderer literarischen Gattungen. Die

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historischen Inhalte des Buches, die von der Hauptperson erfahren werden, vermitteln eine ,,bearbeitete‘‘ Version der deutschen Geschichte von den Anfängen bis in die Gegenwart (und sogar bis in die Zukunft), als hätte er ein deutsches Äquivalent der römischen Klassiker Vergil und Livio vorlegen wollen. Der Roman ist dadurch sicherlich auch als historischer Roman anzusehen.

George H. Danton veröffentlichte 1935 einen Beitrag in der amerikanischen Zeitschrift ,,Monatshefte für deutschen Unterricht‘‘ worin er behauptet, dass das Buch auch als

parzivalischer Abenteuer-/Bildungsroman zu verstehen ist.27 Obwohl er selbst andeutet, dass

es auch wesentliche Unterschiede zum Parzival gibt, bleibt die Frage, ob hiervon überhaupt die Rede sein kann. Zwar kann man ihm insofern zustimmen, als es sich hier um einen Abenteuerroman handelt: Auch Grimm selbst nennt in seinem eigenen Kommentar das Auswandern in die Fremde eine mutige Tat.28 Ganz gewiss macht Cornelius Friebott auch

eine große Veränderung wie in einem Bildungsroman durch: Dies ist aber nicht – wie üblich – eine Geschichte vom Übergang zum Erwachsenwerden, sondern handelt vielmehr vom durch Schwierigkeiten verursachten nationalen politischen Erwachen der Hauptfigur. Der Vergleich zum schüchternen Parzival ist auf mehreren Ebenen verfehlt: Cornelius Friebott wird im Buch nicht als schüchterner, naiver Mensch dargestellt. Dies hat auch einen ganz wichtigen Grund innerhalb der Handlungsstruktur: Obwohl der Held Friebott mutig, klug, stark, fleißig, gekonnt und sozial begabt ist, kommt er nicht voran, weil andere (vor allem die Briten) ihm dies wegen seines deutschen Hintergrunds oder seiner politischen Auffassungen verwehren. Ebensowenig zutreffend ist Dantons Vergleich von Cornelius mit anderen wise fools wie ,,Der abenteuerliche Simplicissimus‘‘ aus genau demselben Grund.29 Das Buch hat nicht mit

religiöser Entlohnung oder Erlösung wie bei Parzival und dem Simplicissimus zu tun. Im krassen Gegensatz zu diesen kommt Grimm namens Friebott am Ende zum Schluss, dass die ,,Kirchenglocken kein Schicksal fortläuten‘‘.30 Überdies stirbt Cornelius einen

martyrischen Heldentod, ähnlich einem wagnerischen oder griechischen Drama, anstatt eine göttliche Rettung zu erfahren.

Das Buch ist neben diesen Gattungen auch als autobiographischer Roman zu verstehen. Die Ereignisse im Buch und die Erfahrungen des Helden überlappen zu einem großen Teil mit dem Leben Grimms. Aus literarischen Gründen ist die Figur Cornelius

27 George H. Danton,‘Hans Grimm's Volk Ohne Raum.‘ , Monatshefte für Deutschen Unterricht, Vol. 27, Nr 2 (1935), S 39-40.

28 Hans Grimm, Volk ohne Raum, München: Albert Langen 1934, S 652. 29 George H. Danton,‘Hans Grimm's Volk Ohne Raum’, S 39-40. 30 Hans Grimm, Volk ohne Raum, S 1299.

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natürlich heldenhafter als Hans Grimm selbst gestaltet, was auch zum Ziel hat die politische Botschaft zu glorifizieren. Es scheint auch fast als ob die weiblichen Figuren (u.a. Melsene und Ilsabeth) nur da sind, um mit ihrer Verliebtheit der Hauptperson zusätzlichen

Heldenstatus zu verleihen. Durch die physische Anwesenheit des Schriftstellers innerhalb der Handlung, der während des Plots an seinem Buch ,,Volk ohne Raum‘‘ arbeitet, entsteht außerdem eine besondere Erzählsituation: Diese hat nicht nur den Effekt, ein gewisses Maß an Distanz zwischen Schriftsteller und dem Geschriebenen zu schaffen (was dafür sorgt, dass die Botschaft objektiver ankommt, denn er kommentiert als er selbst, was passiert), sondern es verleiht der Handlung eine doppelte Perspektive: eine auktoriale Erzählperson und eine personale bzw. homodiegetische und heterodiegetische Erzählperspektive. Der Schriftsteller ist hierdurch Betrachter, Kommentator, zum Teil Beteiligter, Allwisser und Schöpfer

zugleich. Ein mise en abîme-Effekt entsteht dadurch, dass man das Buch liest, während es geschrieben wird: Der Leser bekommt so fast den Eindruck, dass er an dieser neuen Geschichtsschreibung teilhat. Zweifellos appellierte dies an die verträumte Psyche der nationalistischen Leserschaft.

Thematisch ist das Werk vor allem von der völkischen Ideologie und von Grimms eigener Raumideologie geprägt. Das heißt, dass in diesem Buch der Raummangel und die

Raumlösung, der antibritischer Diskurs, und der Antisozialismus am wichtigsten sind. Obwohl Hans Grimm in der Nachkriegszeit stets daran fest hielt, kein Antisemit zu sein,31

bildet der Antisemitismus in ,,Volk ohne Raum‘‘ doch ein Thema, und sei es auch nur ein Nebenthema. Ins Auge springen hier nicht die altmodischen, typischen Stereotypierungen der Juden, sondern ihre vermeintliche Koppelung an britischen Interessen. Im Grunde aber wird auf die Rolle der Juden eher selten verwiesen, sicher im Vergleich zum rabiaten und stets aufs Neue wiederholten Antisemitismus vieler anderer rechtsradikalen Autoren. Im Gegensatz zu ,,Wie Grete aufhörte ein Kind zu sein‘‘ spielt in diesem Werk Rasse auch eine Nebenrolle. Zwar werden die afrikanischen Figuren als faul, betrügerisch und diebisch dargestellt, aber weil sie in diesem politischen Roman nicht wichtig sind, wird über das Thema als solches beinahe hinweggegangen. Es verhält sich ähnlich wie mit den Juden: Dort, wo Einheimische im Zusammenhang mit den Briten erwähnt werden, werden sie auch in ein schlechtes Licht gesetzt (z.B. was Rassenvermischung oder Kollaboration mit den britischen Behörden

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angeht). Dies entspricht dem antibritischen Ton des ganzen Werkes, so dass alles, was mit Briten assoziiert wird, in negativem Licht erscheint.

Analyse

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Die Geschichte fängt in Lippoldsberg an, einem Dörfchen im ländlichen Weserland wie Jürgenshagen – Friebotts Wohnort. Anstatt eines literarisch oft verwendeten Einstieges mit einer Naturbeschreibung, könnte man sagen, dass dieses Buch mit einem Kultureinstieg anfängt. Die erste Seite beginnt mit den Worten:

,,Vor diesem Buche müssen Glocken läuten. […] Es sollen alle Glocken läuten, die vom Dome in Mainz und von der Berliner Gedächtniskirche bis hinunter nach Köln, nicht zu vergessen das silberne Kinderglöckchen in Wiesbaden, das sonst nur am Weihnachtsabend Stimme gewinnt, ja, das Kinderglöckchen besonders.‘‘32

Im Verlauf der Erzählung ist die Kirche und die christliche Religion nicht von besonderer Bedeutung. Es handelt sich hier um ein Stilmittel, das der Verfasser verwendet, um die Lage Deutschlands darzustellen. Symbolisch gesehen hat die Kirche geholfen, Deutschland zu dem zu machen, was es heute ist. Somit bildet der Glauben eines der literarischen Metaphern, die Grimm anwendet, um Deutschland als solches zu symbolisieren. Dieses wird besonders gut durch die Lage der Kirche nach dem Ersten Weltkrieg veranschaulicht. An dieser Textstelle schreibt Grimm über seine eigene Person:

,,(…) Und hörte die eine Glocke der Lippoldsberger Kirche, die nicht in den Krieg gegangen war, die

Viertelstunden schlagen, immer nur Viertelstunden, weil der Hammer für die vollen Stunden in die Leere der im Kriege umgekommenen Glocken tappte.‘‘33

Die hier gebrauchte Symbolik steht für die Verzweiflung der unmittelbaren

Zwischenkriegszeit. Die Lippoldsberger Kirche ist entheiligt oder sogar ihrer Seele beraubt, ungefähr wie Deutschland nach dem Versailler Vertrag; die Glocken in den Kolonien sind deshalb ebenfalls nicht mehr zu hören. Die klare Symbolik deutet darauf hin, dass

Deutschland durch den Kriegsverlust wesentlich an physischer und mentaler Kraft eingebüßt hat. Doch versucht Grimm am Ende des Buches, diese Symbolik zu relativieren, um es mit einem positiven Ton für die Zukunft enden zu lassen. So sagt er am Ende: ,,Glockenläuten

32 Hans Grimm, Volk ohne Raum, S 9. 33 Ebd., S 1248.

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bedeutet gar nichts, Glocken läuten kein Schicksal fort‘‘.34 Die Lösung der Probleme ist

seines Erachtens in der Raumideologie zu finden, nicht in den alten Lebensweisen und Lebensweisheiten. Und man sollte sich natürlich auch gewissermaßen von diesen Gebräuchen distanzieren, wenn man auswandert; denn nach Grimms Ansicht, ist in Afrika alles noch möglich. Das Kirchenmotiv kann als Ausgangspunkt für diese modernistische

Grundeinstellung betrachtet werden.

,,Kap der Guten Hoffnung‘‘

Im ersten Kapitel des Buches wird die Verknüpfung von Friebotts Familiengeschichte mit der deutschen Geschichte dargelegt, oder wie Grimm selbst sagt: ,,Die Geschichte eines Mannes fängt bei seinem Volke an‘‘.35 Als Kind erzählt der Vater Friebott eine ideologisch geprägte

Fassung der deutschen Geschichte. Grimm behauptet, dass die Deutschen im Laufe der Zeit ihren ,,politischen Sinn‘‘ verloren hätten.36 Dies heißt, dass Könige und mit der Zeit Beamten

immer mehr nach klientelistischen Gesichtspunkten ernannt wurden, mit dem Ergebnis, dass die Deutschen sich daran gewöhnten, regiert zu werden, statt selbst zu regieren. Dieses Umkrempeln der Verhältnisse von einer ,,demokratischen‘‘ zu einer von oben bestimmten Organisationsform gefällt Grimm gar nicht: Seine Kritik daran ist im ganzen Buch

anzutreffen. Grimm bevorzugt die Organisationsart der Sachsen, bevor sie den Franken unterlagen:

,,Dem gemeinfreien Manne, der auf Grund seiner Freiheit und Tüchtigkeit selbst ein königlicher Führer werden konnte, galt seine Unabhängigkeit als das Vornehmste. Was ihm werden konnte an vermehrter Ehre und vermehrtem Besitze wurde ihm durch die eigene Kraft zuteil. Über ihm stand im Gau nur die Versammlung der Freien, von einem höheren war nichts zu erwarten, denn ein höherer, der verwehren und gewähren konnte, war nicht da.‘‘37

34 Ebd., S 1299. 35 Ebd., S 24. 36 Ebd., S 26. 37 Ebd., S 25.

(20)

Wie Gümbel bereits festgestellt hat, klingt dies ziemlich (früh-)liberal. Auch Grimms Ausspruch bezüglich der Fürsten ist bemerkenswert: ,,[Sie vergaßen, dass…] Fürsten wohl gerufen werden, einem Volk zu dienen, durch Führerschaft, aber dass ein Volk nur dem heilige Wohle seiner Kinder dienen darf und nie einem Fürsten‘‘.38 Dies steht im krassen

Gegensatz zum realen alltäglichen Erlebnis der nationalsozialistischen Gesellschaftseinteilung, die gemäß dem Führerprinzip gestaltet war.

Der erste Teil behandelt auch die explizite Raumnot des Weserlandes. Es gebe zu wenig Bauernland, um anständig davon leben zu können.

,,Sie können nicht vom Lande leben, weil keiner genügend Land hat. Die Feldmark ist zu klein (…) weil die Wälder die Feldmarken einschränken.‘‘39

Dies veranlasst die Menschen, sich auf diejenigen Möglichkeiten zu besinnen, die sie überhaupt noch haben40:

,,Für die Männer, die hinaus müssen und weg und fort aus dem Tale und vom Lande und vom Walde und von der Verwandtschaft und Bekanntschaft und den alten Zusammenhängen der Väter, - weil wohl die Menschen sich immerfort mehren, aber die Feldmark zwischen den Wäldern dieselbe bleibt, und die Arbeit, die der Wald gibt, ein bestimmtes Maß nicht zu überschreiten vermag, - kann dies auf zweierlei Weise geschehen‘‘.41

Die zwei Weisen, auf die Grimm hindeutet, sind das Lernen eines Handwerkerberufs um in die Industrie zu gehen, oder die Auswanderung.42 Die Hauptperson entscheidet sich erst für

das eine und dann für das andere.

Görge Friebott, Cornelius‘ Vater, erzählt zunächst vom Schicksal seines Urgroßvaters: Dieser, Cornelius Georg Friebott, war ein widerspenstiger Pfarrer, der dem französischen Harlekin während der napoleonischen Besatzung keinen Eid schwören wollte. Hierdurch

38 Ebd., S 25. 39 Ebd., S 13. 40 Ebd., S 15. 41 Ebd., S 16. 42 Ebd., S 16-19.

(21)

wurde sein Lohn sechs Jahre lange gesperrt. Wenig später starben er und seine Frau, und sie hinterließen drei Kinder (und einen Haufen Schulden). Darunter war Cornelius‘ Großvater Ricus, der auf gute Weise von einem Paten erzogen wurde. Als er in Rente ging war er der erste der Familie, der über eine Auswanderung nachdachte, um ,,aus der hessischen Stickluft heraus‘‘43 zu kommen und nach Südafrika umzuziehen. Als es aber darauf an kam, die Reise

mit seiner Frau zu unternehmen und sie anscheinend auch das benötigte Geld

zusammengebracht hatten, kaufte Ricus sich stattdessen auf einer Versteigerung ein altes Haus. Diese ,,dumme‘‘ Entscheidung führte dazu, dass das Haus spöttisch den Namen ,,Kap der Guten Hoffnung‘‘ erhielt.44

,,Kap der Guten Hoffnung‘‘ ist ebenso der Name der später erworbenen Farm Friebotts und seines Vetters George in Deutsch-Südwestafrika (Georges Familie wohnt schon zwei Generationen in Südafrika und ist teilweise verenglischt, wie viele deutsche Migranten45).

Dieser Meilenstein stimmt mit der Textstelle überein, wo Glück und Erfolg sich durch die Vollendung von Grimms Raumideologie vereinen lassen. Als die Farm nun endlich fertiggestellt ist, sagt Friebott:

,,Georges deutsches Blut nahm aber selbst nach ein paar weiteren Wochen den unerbittlichen, harten Rhythmus auf, darin ein verspätetes Volk einzuholen trachtet, was an ihm vor Jahrhunderten gesündigt wurde und was es jahrhundertelang an sich sündigte; und dann hatten sie im Gleichklange Rauschabende der Arbeit und fühlten sich wie Fürsten und blickten stolz und sicher voraus in

Leistung und Vollendung, wie es bei Deutschen so zugeht, wenn sie nur Bahn und Raum haben.‘‘46

Da die Schande des Ankaufes des ,,Kap der Guten Hoffnung‘‘ in Deutschland durch Friebotts Großvater jetzt abgelöst scheint, löst diese wichtige Textstelle beim Leser eine Art von

Katharsis aus. Diese Reinigung durch das Erlangen seines ,,echten‘‘ Schicksals wird

nochmals durch einen Besuch in Deutschland verstärkt, wo der ,,Kap der Guten Hoffnung‘‘ sich in einem Zustand des terminalen Niedergangs befindet.

43 Ebd., S 32. 44 Ebd., S 30.

45 Woodruff Smith, ‘The Colonial Novel as Political Propaganda. Hans Grimms: ‘’Volk ohne Raum’’. German

Studies Review, Nr. 2 (1983), S 228.

(22)

,,Gewiss hatten die schnellen, jungen unruhigen Augen (…) bereits gesehen (…) dass es mit dem Elternhause viel schlimmer stehe, als die mahnenden Briefe seit Jahren andeuteten. Er wusste, ehe er ankam und er die Blicke wieder hob, dass das Haus ganz schief und müde hänge, dass die Fenster blind und zersprungen wären, dass auf die Wände kein weißer Kalk und auf die Eichenständer und Balkenköpfe kein Teer mehr angebracht worden sei, alle die Jahre hindurch…‘‘47

Es ist hier vollkommen deutlich, dass der Gegensatz zwischen diesen zwei ,,Kaps‘‘, den Gegensatz zwischen dem ,,alten‘‘ und dem ,,neuen, kolonialen‘‘ Deutschland abbildet. Ohne die soziale und geographische Mobilität des überseeischen Raums entstehen Grimm zufolge genau die Probleme, die Deutschland quälen: Klassenkampf, Unzufriedenheit, unfreie Berufswahl und Kulturverlust durch Internationalismus. Das modernistische

Machbarkeitsideal von Grimms kolonialer Ideologie dagegen gewährt dem Individuum eine Flucht aus diesen Problemen und sorgt dafür, dass der Deutsche am besten zur Geltung kommt.

Antisozialismus

Ein anderes Beispiel für das alte Deutschland wird verkörpert durch die Figur Martin Wessels, des besten Freundes von Friebott. Wessel ist derjenige, der Friebott davon überzeugt, Sozialdemokrat zu werden und ist in fast der ganzen Handlung selbst einer. Woodruff Smith bemerkt mit Recht, dass der Sozialdemokratie im Buch anfänglich positive Merkmale zugeschrieben werden und die Ideologie im Grunde aus guten Absichten herrühre. Dies machte Grimm um sich auf subtile Wiese an die sozialdemokratische Leserschaft zu richten, ohne sie abzuschrecken (und letztlich, um sie zu überzeugen). Jedoch wird im Laufe der Handlung die Figur immer mehr als naiv dargestellt, da ihre Erlebnisse deutlich darauf hinweisen, dass seine Weltanschauung nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt.48

Es ist auffallend, dass die Sozialdemokratie in ,,Volk ohne Raum‘‘ als typisch deutsches Phänomen dargestellt wird. Sogar die britischen Charaktere weisen mehrere Male

47 Ebd., S 943.

(23)

auf diese Gegebenheit hin. Nach einem Gespräch, Friebotts mit einem Briten, der nur aus opportunistischen Gründen Sozialdemokrat ist49, kommt er zu folgendem Schluss:

,,Martin, ich möchte doch, dass du es verstehst. Der Sozialismus hat bei den Klassen angefangen statt bei den Völkern. Die internationale Sozialdemokratie hat die Völker zu gering geachtet, vielleicht darum, dass ihr Begründer ein Jude war. Wenn der Sozialismus den vergessenen Schritt nicht nachholt, wenn er nicht noch einmal bei den Völkern beginnt, dann wird er niemals bestehen.‘‘50

Bei einem Gespräch zwischen Briten, das Friebott zufälligerweise abhört, vernimmt er zahllose britische Vorurteile über die Deutschen. Dazu gehört unter anderem, dass Deutschland durch Überbesteuerung das ,,unfreiste Land der Welt‘‘ sei und sich seine Bewohner deswegen gezwungen sähen, in die britischen Kolonien zu gehen, um dort ,,Schwitzarbeit‘‘ zu machen.51 Die Briten (die genug Raum haben und deshalb ,,keinen

Sozialismus brauchen‘‘) sind also eher zu dieser ,,richtigen‘‘ Ansicht gelangt als Friebott, der aber schon seit Beginn seiner antibritischen Erfahrungen diese Meinung teilt.

Wessel, der nach langer Zeit in der Kapkolonie unheimlich verenglischt ist, trifft Friebott eines Tages in Hamburg. Er beklagt sich über die Behandlung nicht-britischer

Arbeiter in der nach dem Burenkrieg entstandenen Südafrikanischen Union. Der naive Wessel ist noch immer Sozialdemokrat, und scheint nicht zu verstehen, worum es nun wirklich geht (nämlich, dass er wegen seiner Herkunft nicht weiter kommt, nicht wegen eines politischen Unterschieds), worauf Friebott antwortet: ,,Glaubst du das alles selber? Oder sind es jetzt nur Redearten, an die du dich für deine Ansprachen gewöhnt hast?‘‘.52 Wessel sieht nämlich die

zunehmende Macht der Sozialdemokraten in Deutschland als etwas positives, worauf Friebott geschwind und leicht gereizt antwortet:

,,Hier verlangen so ungefähr dieselben Leute wie du, Deutschland soll sein Militär wegschicken und Russland anrempeln und seine Kolonien aufgeben und die Löhne

49 Hans Grimm, Volk ohne Raum, 574. 50 Ebd., S 575.

51 Ebd., S 354. 52 Ebd., S 1000-1001.

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verbessern, und bekämpfen den Imperialismus und verlangen Gelegenheiten und Aussichten für jeden Tüchtigen (…) Und jetzt bist du eine neue Nummer‘‘.53

Die Dolchstoßlegende gehört ebenfalls zum Antisozialismus des Buches. Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Versailler Vertrag beteiligt Grimm sich an einem rechtsradikalen Diskurs, der der Leserschaft bis zum Überdruss eingehämmert wird. Hier wird der Sozialdemokratie deutlich der Schwarze Peter zugeschoben, denn auch Friebott nennt den Versailler Vertrag ,,den rasenden Betrug, um einen unwirklichen Sozialismus zu retten‘‘.54

Zur Einsicht kommt Martin Wessel am Ende der Geschichte nicht. Seine Arbeitsstelle und die seiner Kollegen werden immer mehr von ,,Schwarzen‘‘ besetzt, und von Solidarität seiner englischen Kollegen ist nichts zu spüren. Die sagen sogar, obwohl er von ihnen schon als ,,alright‘‘ gekennzeichnet wurde: ,,Einmal ein Deutscher immer ein Deutscher‘‘55 und

,,Wenn sonst keine Fremde dabei sind, sollten sich die Briten und Briten, und was das angeht, auch die britischen Afrikaner wohl vertragen und vereinigen können: Und andere Fremde sind nicht nötig.‘‘56 Martin Wessels Streikversuch scheitert und er wird später von Polizisten

erschossen. Im diesem ganzen Textbereich wird häufig auf Wessels deutsche

sozialdemokratische Prinzipien hingewiesen.57 Diese Ideologie führt Wessel also in den Tod

(und am Ende, Cornelius auch). In der Geschichtsstruktur werden der Tod des Helden und der seines besten Freundes also direkt mit der Sozialdemokratie assoziiert.

Das zentrale Thema von Grimms Antisozialismus ist, dass diese Ideologie für Deutschland keine echten Lösungen bietet. Grimm schildert eine sozialdemokratische Zukunft wie eine schaurige Zukunft, worin immer mehr Menschen geringeres Ausmaß an Land und Mitteln kämpfen. Grimm erzählt in seiner Passage am Ende des Buches deswegen auch:

,,Als ob durch Lohnkämpfe und Bodenverteilungen und Sozialisierungen innerhalb des ganzen eingekesselten Volkes je mehr Menschen leben könnten. Als ob Siedelung [sic!] und Sozialisierung innerhalb eines überbevölkerten Landes Nahrung und Kleidung zu

53 Ebd., S 1001-1002. 54 Ebd., S 1243. 55 Ebd., S 1204. 56 Ebd., S 1205. 57 Ebd., S 1215-1230.

(25)

vermehren imstande waren. Als ob der internationale Kapitalismus besiegt werden könnte durch wahllose, wütende Gegnerschaft gegen etliche Gutsbesitzer und Fabriksherren und Offiziere innerhalb des Volkes ohne Raum.‘‘58

Auf diese Weise vermittelt Grimm, dass er über den Tellerrand hinausschauen kann. Weder Sozialist noch Kapitalist, legt er in seinem Buch dar, dass beide Ideologien am Ende nicht ausreichend oder nachhaltig sind. Klassenkampf und eine ungerechte Vermögensverteilung sind Grimm zufolge nur Symptome: Sie sind aus einer politischen Notwendigkeit entstanden, mit dem Problem der Raumnot umzugehen, anstatt zu versuchen, den Raum für Deutsche zu vergrößern. Und dieses Problem wird nach Grimms Ansicht immer bestehen, solange man dagegen nichts tut, denn:

,,Wenn einer (…) stirbt, verteilt er sein Land unter die Kinder. So lange zwanzig Morgen beieinander bleiben, kann einer als Bauer leben. Wenn es herunter geht auf zehn Morgen, kann er noch zwei Kühe halten, aber er muss schon ein Handwerk ausüben, insofern dafür Kundschaft und Verdienst im Dorfe zu finden ist.‘‘59

Die Raumnot schafft Grimm zufolge eine Art Konkurrenz zwischen den Menschen. Durch diese Not entstehen ideologische Gegensätze und Instabilität im Land, aber die Deutschen haben Grimms Meinung nach noch immer nicht verstanden, was ihren Problemen zugrunde liegt. Grimm nennt dies ,,die deutsche abergläubische Auffassung‘‘, dass man mit Fleiß, Kompetenz, und harter Arbeit sich immer wohl zu retten weiß. Rettet man sich nicht, dann liege das an der Wirtschaft; und diese solle man entsprechend ändern. Dagegen schreibt Grimm, in den Worten von Cornelius:

,,Nur ist bei dem Ändern bis zu diesem Tage nichts herausgekommen, weil auch für uns in Deutschland alles mit dem Lande anfängt, und weil wir verkehrt meinten, in Deutschland wäre es anders, weil wir auch meinten, in Deutschland käme alles vom Menschen.‘‘60

58 Ebd., S 1248-1249. 59 Ebd., S 1253. 60 Ebd., S 1258.

(26)

Sowohl Friebott als Wessel haben dies am eigenen Leibe erfahren. Beide sind trotz

erheblicher Kompetenz und großen Fleißes entweder entlassen oder enteignet worden. Dies hat direkt mit dem Mangel an ausreichendem Nationalraum zu tun. Im Falle Wessels liegt der Tod symbolisch gesehen an seinen wahnhaften politischen Auffassungen des ,,alten

Deutschlands‘‘. Friebott stirbt, weil er sich gegen dieselben Auffassungen wehrt

(symbolischer Topos: dies passiert am selben Tag wie Hitlers Bierkellerputsch); auf diese Weise wird die Weimarer Sozialdemokratie implizit dem ,,Unrecht‘‘ und Raumverlust des Versailler Vertrages gleichgesetzt.

Mensch und Natur

Im späteren Werk Grimms, darunter auch ,,Volk ohne Raum‘‘, ist die Verbindung zwischen Mensch und Natur bzw. Mensch und Land ein wichtiges Thema61. Wie bereits erwähnt, fängt

die Geschichte mit einer ausführlichen Beschreibung der Raumknappheit in Deutschland an, wo kleine Äcker jeweils von Wäldern begrenzt werden.62 Die Überzahl an Menschen kann

durch diese Knappheit nicht vom Land leben und wird somit in die Städte gedrängt, wo sie sich um eine immer kleiner werdende Zahl an gutbezahlten Arbeitsstellen bewerben muss. Die Deutschen sind sich der Gründe dieser Entwicklung aber nicht bewusst.

Woodruff Smith hat recht, wenn er behauptet, dass der Held viele ,,hochwertige‘‘ Attributen besitzt, die Hans Grimm selbst fehlen. Dazu gehört insbesondere ein inhärentes Gefühl für deutsche Kultur, das von seinem bäuerlichen Hintergrund herrührt. Schließlich tut Friebott ,,das Richtige‘, indem er sich in einer deutschen Kolonie ansiedelt.63

Smiths Behauptung, dass Grimm im Verlauf der Handlung keine bedeutungsvolle Idylle oder exotische Leseerfahrung erschafft64, ist dahingegen weniger überzeugend. Es sind im Buch

nämlich zwei wichtige literarische Motive festzustellen, die deutlich eine Idylle herstellen, denn sie führen bei der Hauptfigur innerlichen Frieden und Glück herbei. Diese Motive sind ,,Die Ruhe der Weite‘‘ und ,,die Sonne‘‘.

Während eines Spaziergangs in der Kapkolonie bemerkt Friebott:

61 Annette Gümbel, ,,Volk ohne Raum’’, S 39. 62 Hans Grimm, Volk ohne Raum, S 19.

63 Woodruff Smith, ‘The Colonial Novel as Political Propaganda’, S 235. 64 Ebd., S 220.

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,,Wie reizlos ist dieses große leere Land, wie wunderschön ist die ungeheure Räumigkeit voll Sonne; wie ist der Himmel blau und rein, wie klar sind alle Fernen; der Blick kann ohne Mühe meilenweit hinspringen, und trifft doch nichts und bringt doch nichts heim, davon zu erzählen, als eben die leere, leuchtende Weite…‘‘65

In Deutsch-Südwestafrika ist es ebenso ruhig, sogar in den ersten Kriegsmonaten. Friebott berichtet gelegentlich über Besuche – oder eben deren Fehlen.66 Seine Zeit in ,,Südwest‘‘ ist

darüber hinaus die einzige, in der er sich ruhig genug fühlt, um Bücher zu lesen. Seine Präferenz für ,,Die Erschütterung der Industrieherrschaft und des Industriesozialismus‘‘ Gerhard Hildebrands vor Thomas Manns ,,Buddenbrooks‘‘ zeigt von neuem Friebotts ideologische Hingabe.67

Die Kapkolonie und Südwestafrika werden oft als das Umgekehrte von Deutschland dargestellt. Dort sind der Tat große Weiten, Sonne und Ruhe zu finden. Wenn Regen fällt, ist dies ein spektakuläres Ereignis:

,,Jeder, der vom Regen sprach, machte nach alter Gewohnheit ein zufriedenes Gesicht.; denn Regen im Süden ist ein ungeheures Gottgeschenk und wirkt wie ein Wunder; in ein paar Tagen macht Regen aus Wüsten lachende Weiden, und in einer Woche wird aus Meilen von Barrenheit ein leuchtendes Blumenfeld.‘‘68

Als Friebott in Südwest, bevor er eine Farm hatte, noch Diamantsucher gewesen ist, hat er wiederum schön einen üblichen Tag in Afrika beschrieben – und es gibt viele ähnliche Beispiele:

,,Am nächsten Morgen rollte der Nebel wie ein Vorhang rasch in die Höhe um neun Uhr, und die Sonne war da, und es war ein schöner einsamer Tag, ohne jeden Menschen und sogar reicher an Funden‘‘.69

65 Hans Grimm, Volk ohne Raum, S 353. 66 Ebd., S 1038-1040.

67 Ebd., S 920-921. 68 Ebd., S 1041.

(28)

Dieses Sonnenmotiv, das durch den Text hindurch in Umschreibungen zu treffen ist, ist ein klarer Verweis auf Bernhard von Bülows Ankündigung der ,,Weltpolitik‘‘ – Deutschlands Variante des modernen Imperialismus. Während seiner Rede vom 6. Dezember 1897 verkündete der Reichskanzler die berühmten Worte: ,,Auch wir verlangen unseren Platz an der Sonne!‘‘; mit ,,auch‘‘ vor allem hindeutend auf das riesige britische Reich.70

Dieser Effekt der Sonne auf Friebott während seiner Kolonialzeit ist auch als eine Symbolik für die weitgehende und permanente Veränderung seiner politischen Ansichten anzusehen. Als Grimm Cornelius Friebott am Ende der Handlung als Redner in Deutschland trifft, beschreibt er ihn als ,,sehr braun gebrannt im Gesichte und über der Hand.‘‘71

Wenn Grimm mit Friebott spricht, gibt es für ihn als Verfasser die Gelegenheit, um auf Friebotts Leben zurückzublicken. Grimm kommt also auf halbem Wege des Buches bereits zum Schluss, dass das ,,wahre deutsche Selbstbewusstsein‘‘ – das Friebott also erfahren hat – nur bei ausreichendem Raum zu erringen ist.

,,Ja, die Leute ließen ihren Sozialismus und ihr

Aufbegehren zuhause und kamen mit ihrem Fleiße und ihrer Genügsamkeit und ihrem Ordnungsbedürfnis, und wurden fast alle was, wie Deutsche immer, wo sie Raum haben.‘‘72

Im selben Fragment wird auch klar gemacht, dass Grimm in diesem Sinne gerne dem Vorbild der Briten folgt. Diese bilden nämlich eine koloniale solidarische Gemeinschaft unter sich und gerade hierauf beruht ihr Erfolg.

,,Ja, das hat man in Deutschland nicht gelernt und ist versäumt, dass das kleine Volk an seiner Deutschheit seinen Nutzen verspürte. Jeder Engländer hat einen handgreiflichen Gewinn an seiner Englandschaft (red. in den Kolonien). Damit fängt der englische Patriotismus an und vielleicht hört er damit auf (…).73

70 Bernhard von Bulows, ‚‘Reichstagsrede am 6. Dezember 1897’

[https://de.wikisource.org/wiki/Deutschlands_Platz_an_der_Sonne] Stand: 02.2016. 71 Hans Grimm, Volk ohne Raum, S 1253.

72 Ebd., S 643. 73 Ebd., S 652.

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Der Geschichtsverlauf zeigt somit, dass die koloniale Erfahrung ein Gefühl der Solidarität unter den jeweiligen Nationalitäten auslöst.74 Diese unentbehrliche Kolonialerfahrung – dieses

Erwachen des ,,wahren Germanentums‘‘ – kann Grimm zufolge nur erreicht werden, wenn Deutsche in die Unberührtheit des großen Afrikas ziehen und dort eine bäuerliche

Volksgemeinschaft freier deutschen Menschen bilden. Gerade darin liegt die Kritik Grimms an der Ostpolitik der Nazis: Eine solche Kolonialerfahrung wäre offensichtlich im bereits bevölkerten und ,,industrialisierten‘‘ Osteuropa nicht möglich.75

Deutsche Überlegenheit

In ,,Volk ohne Raum‘‘ wird Seite für Seite behauptet und begründet, dass die Deutschen das beste Volk auf Erden sind; ,,leider‘‘ sei diese Weisheit noch nicht zu den Menschen

vorgedrungen. Francis Carsten hat dafür eine ganz erleuchtende Erklärung: Nach dem Kriegsverlust und der Erniedrigung des Versailler Vertrages wollten die Deutschen einfach hören, dass sie das klügste, fleißigste, sauberste, und anständigste Volk der Welt seien.76

Die unterstellte Überlegenheit der Deutschen wird vor allem durch die Faulheit und

Inkompetenz der anderen Völker hervorgehoben. Die Deutschen werden im ganzen Buch als fleißig und kompetent präsentiert, während die anderen Völker in dieser Hinsicht relativ schlecht davonkommen. In Grimms Werken wird häufig das Vorurteil, dass Schwarze faul und dumm seien, verwendet. David Kenosian erwähnt in einer Publikation in den

,,Monatsheften‘‘, dass in Grimms Werken die ,,Schwarzen‘‘ durch ihre vermeintliche Faulheit nicht den ,,Segen der Arbeit‘‘ genießen und folglich auch den ,,Fluch der Arbeit‘‘ in den Minen zu erleiden haben. Diese religiös geprägten Termini deuten Kenosian zufolge darauf hin, dass Grimm die Arbeit als moralisches Urteil der kulturellen Entwicklung betrachtet.77

Folgen wir dieser Argumentation von Kenosian, dann sind auch die Buren und Engländer den Deutschen unterlegen. Hier folgt ein gutes Beispiel dafür, dass Friebott sich in der Kapkolonie über die burische ,,Faulheit‘‘ ärgert:

,,Mag sein, dass es die Engländer hier draußen nicht besser treiben. Jedoch, was ist das für ein Recht: die Enge und

74 Woodruff Smith, ‘The Colonial Novel as Political Propaganda’, S 223. 75 Annette Gümbel, ,,Volk ohne Raum’’, S 89-90.

76 Francis L. Carsten, ‘A note on Hans Grimm’, S 223.

77 David Kenosian, ‘The Colonial Body Politic: Desire and Violence in the Works of Gustav Frenssen and Hans Grimm’, Monatshefte, Nr. 2 (1997),S 186-187.

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Mühe und Anspannung in der deutschen Heimat und solche Bequemlichkeit und Faulheit anderwärts? Was ist das für ein Recht?‘‘78

Hier behauptet Grimm also, dass es ein Unrecht besteht: Durch ihren Fleiß und Talent hätten die Deutschen (nach Kenosians Argumentation) also tatsächlich mehr Recht auf Raum als die anderen.

Die Briten werden im Text noch fauler und inkompenter dargestellt als die Buren. Während die Buren zumindest noch den deutschen Fleiß und Kenntnisreichtum zu schätzen wissen, stoßen die Deutschen bei den Engländern auf Widerstand. Zahllose Male wird in ,,Volk ohne Raum‘‘ den Deutschen durch Briten vorgeworfen, ihre Jobs zu stehlen. Zum Beispiel geht in der Werkstatt in der Kapkolonie, wo Friebott noch mit Engländern

zusammenarbeitet, eines Tages die Sägemaschine kaputt. Die anderen wissen jetzt nicht, wie sie vorgehen sollen. Als Friebott beginnt, die Maschine selbst zu reparieren, wird er von seinem Vorgesetzen Tom Brown gerügt. Er ist der Meinung, ein (britischer) Experte solle das Gerät wiederherstellen:

,,Tell him in his mother’s lingo, that it is a sin to take a man’s job away, and this he must understand for once and for all and must leave off.’’79

Textstellen wie diese sind im ganzen Werk anzutreffen. Und obwohl die Buren in der Handlung positiv dargestellt werden, wird ihre Unorganisiertheit bemängelt. Sie hätten hierdurch den Burenkrieg verloren und befänden sich später in der Situation, namens der Südafrikanischen Union gegen die Deutschen zu kämpfen; vor allem die burischen Politiker kommen sehr schlecht davon.80 Die generell positive Schilderung der Buren beruht – neben

ihrer ethnischen und kulturellen Verwandtschaft und ihrer pro-deutschen Grundeinstellung – auf dem Gedanken, dass sie zumindest verstehen, dass Menschen grundsätzlich vom Land leben und ihr Leben hierauf ausrichten.81 Diese koloniale Erfahrung ist bei den Buren

allerdings nicht vollständig, weil sie aus Südafrika ihr Heimatsland gemacht haben und den Kontakt mit dem Mutterland verloren haben; schließlich enden sie unter dem Joch der Briten.

78 Hans Grimm, Volk ohne Raum, S 382. 79 Ebd., S 351.

80 Ebd., S 1028-1029. 81 Ebd., S 1254-1255.

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Portugiesen spielen in diesem Werk keine bedeutende Rolle, werden aber als schmutzig und schlampig dargestellt82 und als Marionetten der Briten.83

In einem Buch über Räumlichkeit innerhalb des kolonialen Diskurses stellt John K. Noyes eine interessante Theorie in Bezug auf Grimms koloniale Ansprüche aufgrund unterstellter Überlegenheit auf. Ihm zufolge wird bei Grimm das klassische Modell der sozialen Mobilität erheblich umgestaltet: Die sozialen Ursachen der Enge oder Knappheit generell werden bei Grimm auf die geographische Ebene übertragen. Man kann Grimm zufolge ja ein Talent lernen oder versuchen, sich aus der Armut herauszuarbeiten; letztendlich garantiert dies jedoch (ohne den nötigen geographischen Raum) nichts. Denn in Grimms System bildet geographischer Raum eine Bedingung sozialer Mobilität.84 Somit wird die alte

Beziehung umgekrempelt: Geographischer Raum ist keine Folge sozialen Erfolges (wie ihn z.B. die alten britischen Familien geschafft haben), geographischer Raum sorgt zu allererst dafür, dass man sozialen Erfolg erreichen kann.

Gerade hierauf beruht Grimms Erklärung für die Lage Deutschlands seiner Zeit: An den Deutschen war nämlich nichts verkehrt, sie brauchten nur den Kolonialraum und die dazugehörende Kolonialerfahrung für eine geistige und nationale Wiedergeburt.

Figur 1. Modell des sozialen Aufsteigens

Antibritische Elemente

82 Ebd., S 1188. 83 Ebd., S 1036.

84 John K. Noyes, Colonial Space, Spatiality in the Discourse of German Southwest-Africa 1884-1915, Chur: Harwood Academic Publishing 1992, S 266-267.

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Jetzt folgt eine Übersicht der antibritischen Elemente in ,,Volk ohne Raum‘‘. Wegen des antibritischen Charakters des Buches, der die ganze Handlung prägt, wird versucht, die einzelnen im Buch behandelten Elemente so gut wie möglich chronologisch zu erfassen.

Die erste Auseinandersetzung mit den Briten findet auf Friebotts erster Reise nach Afrika statt, im Militärdienst. Er trifft auf dem ,,Seeadler‘‘ zwei Buren, einen Transvaaler und einen Freistaatler, die heftig über die britische Herrschaftsposition in der Welt diskutieren. Der Transvaaler scheint sich daran gewöhnt zu haben, und veranlasst den Deutschen, sich gegenüber den Briten still zu verhalten:

,,Was gibt es hier? Sie werden scharf gemacht gegen England? Wissen Sie, dass Ihnen ein sehr schlechter Dienst geschieht mit dergleichen? Denken Sie selbst nach? Da ist das Britische Reich und hält alle Schüssel des Erdballs in der Hand […] Junge, du bist nur geduldet, du bist nur eben noch gelitten hier.‘‘85

Am Anfang wird also schon darauf hingedeutet, dass die Briten unheimlich mächtig seien in der Welt und dass man als Deutscher aufpassen solle. Der Diskurs, der von ähnlichen denkenden Menschen gebraucht wird, soll die Deutschen einschüchtern: Die Thematik des Meeres wird hierdurch stark betont: Wo das Land aufhört, hört Deutschland auf; Wo das Meer beginnt, beginnt Großbritannien; sogar Helgoland gehört noch sehr lange den Briten. Wenig später erzählt Friebotts Kommandant auf dem Schiff der Besatzung vom ,,Jameson Raid‘‘86. Kurz gesagt war dies ein vom britischen Politiker Leander Starr Jameson

orchestrierter Überfall auf die Burenrepublik Transvaal, um einen Aufstand der dort

ansässigen Briten hervorzurufen. Dieser Versuch scheiterte: Bekanntlich wurde er zu einem der Ausgangspunkte des Burenkrieges. Innerhalb der Handlungsstruktur fängt auch alles hiermit an, weil in diesem Zusammenhang die Feindschaft zwischen Briten und Deutschen beginnt. Der Kaiser sandte nach dem Geschehen das notorische Telegramm an den burischen Präsidenten Paul Krüger, in dem er ihm zu seinen Erfolgen gratulierte. Hiernach sehen die englischen Kolonisten die deutschen Matrosen ,,schief‘‘ an.87

85 Hans Grimm, Volk ohne Raum, München: Albert Langen 1934, S 190-191. 86 Ebd., S 197.

(33)

Kurz darauf wird der Britisch-Sansibarische Krieg behandelt. Dieser Krieg, bekannt wegen seiner extrem kurzen Dauer, wird im Buch – wie Grimm selbst erklärt – ,,sehr rasch und genau‘‘ umschrieben. Die Deutschen und Briten unterstützten unterschiedliche

Thronfolger des verstorbenen Sultans. Als die Deutschen Khalid bin Bargash mit einem Coup zum Thron halfen, griffen die Briten an. Im Text wird vor allem die skrupellose Aggressivität der Briten betont, wodurch Friebott für kurze Zeit traumatisiert wird und Malariafieber bekommt.88 Smith erwähnt in seinem Beitrag, dass diese Textstelle die einzige in ,,Volk ohne

Raum‘‘ ist, wo Grimm Mitleid für die einheimische Bevölkerung aufbringt. Dies sei nicht als authentisches Mitleid zu bezeichnen, denn es handle sich hier nur um Instrument, um die Briten als besonders aggressiv und übel darzustellen.89 Im Buch wird die Passage ohne

Subtilität umschrieben:

,,Die Deutschen schritten vorbei an Rümpfen, die recht wie ausgeschlachtet waren, und die Matrosen achteten schweigend und finster, dass sie nicht ein Weiches unter den zögernden Fuß bekämen, das vor kurzem noch lebendiger Teil (…) eines lebendigen Menschen gewesen wäre. Bis in den Schutthaufen des alten Palastes hinein lagen die getroffenen, und (…) durch die Beize des Rauches hindurch war das in der Hitze verderbende Blut zu riechen.‘‘90

88 Ebd., S 217.

89 Woodruff Smith, ‘The Colonial Novel as Political Propaganda’‚ S 226. 90 Hans Grimm, Volk ohne Raum, S 214.

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Bild 2. Harem des Sultans, von den Briten zerstört

Schon während Friebotts erstem Aufenthalt in der Kapkolonie trifft er einen Briten, der ihn ermahnt, nach Deutschland zurückzukehren – dies wird ihm im Laufe der Handlung zahllose Male erzählt. Als er gerade ankommt, sagt ein Brite ihm: ,,Warum kommt ihr Deutschen eigentlich hierher? Warum bleibt ihr nicht bei euch zusammen und wollt uns das Brot wegnehmen?‘‘91. Die Ideologie Grimms kommt hier erstaunlicherweise aus dem Mund eines

Engländers (der übrigens als freundlich dargestellt wird), aber das Zitat entspricht Grimms Kernaussage: Die Deutschen sollten ebenfalls unter sich bleiben, freilich mit ausreichendem Land in Kolonialgebieten.

Im Laufe der Handlung wird der Ton gegenüber den Briten immer kämpferischer. Friebott fühlt sich vor allem emotional angegriffen, als sein Vorgesetzter in der Kapkolonie zwei britische Spaziergänger trifft und mit ihnen Vorurteile über Deutsche verbreitet: Grimm macht ganz klar, dass es hier nicht um Spott und Scherzhaftigkeit, sondern um Beleidigungen geht. Zunächst geht es noch darum was Deutsche äßen und trügen (Wurst bzw. Brillen und langen Pfeifen) und ähnliches.92 Danach wird der Ton saurer:

,,Seid ihr in nicht Deutschland das unfreiste Volk der Erde, die Russen ausgenommen? (…) Ihr habt euch Kolonien genommen, die anderen gehörten; könnt ihr sie

91 Ebd., S 342. 92 Ebd., S 353.

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verwalten? Ihr könnt sie nicht verwalten. Ihr geht in unsere englische Kolonien. (…) Ihr wisst nicht, was Leben heißt. Ihr seid wahrhaftig noch schäbiger und sparsamer als die Schotten. (…) Ihr nehmt gutes britisches Geld ein von guten britischen Bürgern. Aber werdet ihr selbst darum britisch? Ihr denkt nicht daran. Ihr sprecht nicht einmal gut Englisch.‘‘93

Und so geht das noch eine Weile weiter. Das Buch enthält zahlreiche ähnliche Textstellen. Die Briten werden im Text als intolerantes Volk dargestellt, das den Deutschen nichts gönnt. Wie gesagt, die Briten beklagen sich bei den Deutschen immer darüber, dass sie ihnen die Arbeitsstellen wegnehmen und sich zudem unzureichend der britischen Kultur anpassen. Grimm zeigt aber an der Person Martin Wessel, dass man, selbst wenn man sich vollständig anpasst – indem man sich britisch kleidet, britische mannerisms lernt und Englisch spricht – nicht durch die Briten als einer von ihnen akzeptiert wird: Letztendlich erheben die Briten sich selbst über andere. Dagegen hat Grimm übrigens nichts, aber den Deutschen fehle bisher der nötige Raum um dasselbe zu tun.

Der damalige deutsche Kaiser wird von Friebott als erhabener Mann dargestellt, und hierin vertritt Friebott eine verbreitete Ansicht. Die Rede, in der der Kaiser die Deutschen ,,das Salz der Erde‘‘ nannte, kam bei den Briten nicht gut an. Ferner werden die Aussagen des Kaisers durch die Briten verwendet, um ihre ,,Deutschfeindlichkeit‘‘ zu rechtfertigen. Daneben wird auch die britische Presse in ,,Volk ohne Raum‘‘ heftig wegen ihrer unterstellten

Deutschfeindlichkeit kritisiert94. So bezeichnet etwa ein Artikel von einem Autor mit jüdisch

klingendem Namen Deutschland als aggressiv und militaristisch, unter dem Titel: ,,Germans amonst themselves. – The true meaning of Prussian Militarism. – A brutal confession.‘‘95

Ein anderer Zug von Grimms Britenfeindlichkeit zeigt sich an der häufigen Mischung zwischen Briten und anderen Rassen. Friebott bemerkt dies auch, und bezeichnet es als ,,Mischbritentum‘‘96. Aus dieser Mischung entsteht Grimm zufolge eine Art Englischmann,

der zugleich stolz und dumm ist. Die Offiziere auf St. Helena, wo Friebott im Burenkrieg

93 Ebd., S 354.

94 Francis L. Carsten, ‘A note on Hans Grimm’, S 225-226. 95 Hans Grimm, Volk ohne Raum, S 369.

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inhaftiert ist, gehören zu dieser Gruppe. Als die Gefangenen probieren, den ,,dämligen‘‘ Mischbriten was über Deutschland zu vermitteln, reagieren diese wie folgt:

,,Hinter solcher Antwort machten die Mischbriten im Milizoffizier – oder Sergeantenrocken ein Gesicht so dumm, wie es nur ein kaltschlägiger Brite machen kann, und sagten: O! - - O indeed!‘‘97

Ziel derartiger Textstellen ist es also auch, die Briten als ein Volk in rassischem Verfall darzustellen. Diese tatsächliche ,,Verdummung‘‘ der Briten durch Rassenvermischung hat in Grimms Werk die Funktion, die britische Angst vor Deutschen zu erklären: Die ,,klugen, rassensauberen‘‘ Deutsche drohen anscheinend die Herrschaftsposition der Briten zu

übernehmen (was im Text sehr oft erwähnt wird), wenn keine Maßnahmen ergriffen werden. Ein anderes Thema, das sich auf die gleiche Textstelle bezieht, ist das Vorurteil der

britischen ,,Doppelzüngigkeit‘‘ – oder wie Grimm es nennt: die ,,englische Schönrederei‘‘ (in der Wirklichkeit wirft er ihnen Heuchelei vor):

,,Deutschen Hass gegen euch oder irgendein Volk gibt es nicht, jedoch die englische Schönrederei ist dem deutschen Wesen ganz unleidlich […], denn bei unserem Volke herrscht ein fast ungesunder Drang den Fremden zu verstehen, zu entschuldigen und zu verklären. Aber dass ihr Engländer für die Freiheit und für Stimmrecht und für die Farbigen zu kämpfen vorgebt, und doch das andere wollt und bereitet, das erträgt kein deutschblütiger Mensch‘‘98

Dieses Motiv der englischen Doppelzüngigkeit wird später während Friebotts Prozess noch deutlicher veranschaulicht. Man beachte in diesem Zitat auch vor allem den Terminus ,,deutschblütiger Mensch‘‘. Grimm unterstellt in diesen Worten eine Verbindung zwischen Blut und dem kulturellen Ausdruck eines Menschen. Grimm bezieht also das Schicksal eines Volkes nicht auf die vermeintliche ,,Überlegenheit‘‘ seiner Kultur (Fleiß, Kenntnisreichtum, usw.) sondern auf seine rassische Konstitution: In seiner Argumentation ist Rasse schließlich Hauptfaktor der kulturellen Entwicklung. Die bereits erwähnte jubilierende Textstelle, wo

97 Hans Grimm, Volk ohne Raum, S 516. 98 Ebd., S 514.

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