• No results found

Sebalds Erinnerungsprojekt als Restitutionsversuch der Geschichte. Eine Analyse am Beispiel von der Erzählung Max Aurach aus Die Ausgewanderten. & Dialogisch leren in het Duitse literatuuronderwijs

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2021

Share "Sebalds Erinnerungsprojekt als Restitutionsversuch der Geschichte. Eine Analyse am Beispiel von der Erzählung Max Aurach aus Die Ausgewanderten. & Dialogisch leren in het Duitse literatuuronderwijs"

Copied!
115
0
0

Bezig met laden.... (Bekijk nu de volledige tekst)

Hele tekst

(1)

Sebalds Erinnerungsprojekt als Restitutionsversuch

der Geschichte

Eine Analyse am Beispie l vo n der Erzählung Max Aurach aus Die Ausgewanderten.

&

Dialogisch leren in het Duitse

literatuuronderwijs

Eindverslag Educat ief Ontwerpen

Universiteit van Amsterdam

Faculteit der Geesteswetenschappen

Interfacultaire Lerarenopleiding

Educatie en Communicatie in de Taal- en cultuurwetenschappen (Duits)

Masterscriptie

Charly Castelein 11953926

4 juli 2019

(2)

Voorwoord

Deze masterscriptie is in twee delen opgedeeld. In het eerste deel onderzoek ik, hoe de Duitse auteur W.G. Sebald het door hem geformuleerde literaire herinneringsproject in zijn werk concretiseert. Deze vraag is aan de hand van het verhaal Max Aurach uit het werk Die Ausgewanderten geanalyseerd. Sebald probeert in zijn literaire werken de persoonlijke herinneringen van Joodse slachtoffers uit de Tweede Wereldoorlog te bewaren. Daarbij heeft hij zich laten inspireren door de verteltheorie en geschiedenisfilosofie van Walter Benjamin. Deze theorieën gaan ervan uit dat de “Erzähler” vanuit de eigen ervaring, verhalen mondeling doorgeeft aan de luisteraars. De luisteraars interpreteren een verhaal weer vanuit hun eigen ervaring en zo wordt deze ervaring de voorwaarde van het vertelde. Sebald probeert in plaats van een mondelinge transfer, herinneringen en ervaringen in de literatuur schriftelijk te bewaren. Hij veronderstelt dat lezers teksten op een eigen manier en vanuit een eigen leeservaring interpreteren, waardoor deze opgeschreven herinneringen en ervaringen levendig blijven en kunnen voortbestaan. Vanuit deze theorie heeft Sebald bepaalde literaire middelen in zijn werken gebruikt, zodat hij de herinneringen in de literatuur kan archiveren. Deze middelen zijn in het eerste theoretische deel geanalyseerd.

Het eerste deel kan als een inhoudelijke verdieping van het onderwerp van het tweede deel van de masterscriptie gezien worden. In het tweede deel heb ik het thema “leeservaringen” gedidactiseerd voor het Duitse literatuuronderwijs in de bovenbouw van het VWO. Ik heb een educatief onderzoek gedaan, waarin ik een prototype ontworpen heb. In dit prototype leren leerlingen door de didactiek van “dialogisch leren” om naoorlogse literaire verhalen uit het genre “Trümmerliteratur” te interpreteren en tijdens het lezen eigen leeservaringen aan de verhalen toe te voegen.

(3)

Sebalds Erinnerungsprojekt als Restitutionsversuch

der Geschichte

Eine Analyse am Beispie l vo n der Erzählung Max Aurach aus Die Ausgewanderten.

Name: Charly Castelein Matrikelnummer: 11953926

Betreuerin: Anna Seidl Datum: 04.07.2019 Universiteit van Amsterdam

(4)

2

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung ...3

2. W.G. Sebald ...4

2.1 Einführung in sein Leben...4

2.2 Einführung in sein „Literaturprogramm“ ...7

3. Theoretische Prämissen: Erinnerungsstiftendes Schreiben ...9

3.1 Jan und Aleida Assmann: Erinnerungskultur ...9

3.2 Walter Benjamin: Der Erzähler ... 12

3.3 W.G. Sebald: „Versuch der Restitution“ ... 14

4. Analyse: Max Aurach ... 16

4.1 Die Erzählperspektive ... 17

4.2 Authentizitätseffekte... 21

4.3 Selbstreflexivität des Autors ... 24

5. Fazit ... 26

(5)

3

1. Einleitung

„Eine gedächtnislose Kultur ist nicht vorstellbar“ (Doerry & Hage 2001, S. 234) bemerkt der deutsche Autor W.G. Sebald in einem Interview mit Der Spiegel, einige Monate vor seinem Tot im Jahr 2001. Deswegen hat er sich sein ganzes Leben für den Kampf gegen „das Vergessen“ eingesetzt (Agazzi 2005, S. 69-91). Sebald hat zahlreiche literarische, essayistische und literaturwissenschaftliche Werke geschrieben, worin er die Kernthemen Trauma und Erinnerung, Melancholie, Heimat und Holocaust anspricht (Schütte 2011, S. 9). Sebalds Biographie zeigt, dass er sich schon seit seiner Jugend mit dem Thema Erinnerung beschäftigt hat. In Deutschland, und dementsprechend auch in Sebalds Familie, war nach dem Ersten Weltkrieg eine „allgemeine Verschwörung des Schweigens“ (Schütte 2011, S. 19) das Kriterium. Sebald versucht mit seinen literarischen Werken diesem Schweigen entgegenzuwirken.

Im Mittelpunkt steht der Umgang und die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und deren Folgen. Sebald interessiert sich nicht für eine „rein dokumentarische Recherche, die Reportage, die das eins zu eins wiedergibt“ (Doerry & Hage 2001, S. 230). Für ihn hat das Medium der Literatur einen klaren Auftrag. So sagt er in einer Einführungsrede zur Eröffnung des Stuttgarter Literaturhauses im Jahre 2001, dass es in der literarischen „über die Registrierung der Tatsachen und über die Wissenschaft hinaus [geht], um einen Versuch der Restitution“ (Sebald 2003a, S. 248). Er setzt sich das Ziel, die individuellen Erinnerungen der Opfer der NS-Vergangenheit im Medium der Literatur zu speichern. Sebald orientiert sich unter anderem an Walter Benjamins Figur des „Erzählers“ (1936), wobei es Sebald um das Spannungsverhältnis zwischen Erzählung und Geschichtsschreibung geht. Er versucht, Erzählung, Erinnerung und Erfahrung zusammenzubringen und so individuelle und kollektive Geschichten im Medium der Literatur zu retten. Um das zu ermöglichen, basieren seine Texte auf authentische Quellen, die er in literarische Fiktion umwandelt. Auf diese Weise versucht Sebald Geschichten über Individuen zu schreiben, „von denen her sich wiederum Geschichte schreibt, denn deren vornehmlich schmerzliche Lebenserfahrungen sind von großen historischen Ereignissen geprägt worden“ (Agazzi 2017, S. 206).

Eine Geschichte, die Sebald veröffentlicht hat, ist Max Aurach. Sie erscheint im Sammelband Die Ausgewanderten, der im Jahr 1992 veröffentlicht wurde. Hierin schildert Sebald die Lebensläufe von vier jüdischen Männern, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten ihre Heimat wegen des Zweiten Weltkrieges verlassen mussten. Die letzte, längste und, nach

(6)

4 Schütte (2011, S. 110), persönlichste Erzählung ist Max Aurach. Die Erzählung handelt von einem Maler, der als Fünfzehnjähriger ohne seine Eltern wegen der Drohung des nationalsozialistischen Regimes nach England geflohen ist und den größten Teil seines Lebens in Manchester verbringt. Der Ich-Erzähler trifft ihn zufälligerweise und entschließt sich, die Erinnerungen von Max Aurach und seiner Familie aufzuschreiben. Nach Ceuppens (2017) ist die Erzählung als Rekonstruktion einzustufen, die ein anonymer Ich-Erzähler „aufgrund von Fundstücken, Tagebüchern, Unterhaltungen mit Zeugen und Ortsbegehungen vornimmt“ (S. 29). Anhand dieser Geschichte ist näher zu untersuchen, wie Sebald in der Erzählung Max Aurach das Thema „Erinnerung“ darstellt. Wie versucht er die Erinnerungen von Aurach und seiner Familie zu speichern und inwiefern ist von dieser „Restitution“ zu sprechen? Die Hauptfrage, die daraus folgt und in dieser Arbeit erforscht wird, ist: „Mit welchen literarischen Mitteln konkretisiert W.G. Sebald das von ihm formulierte Erinnerungsprojekt?“ Diese Frage soll am Beispiel von der Erzählung Max Aurach aus Die Ausgewanderten erörtert werden.

Um die Hauptfrage beantworten zu können, wird zunächst näher auf Sebalds Leben und sein „Literaturprogramm“ eingegangen. Als Nächstes werden das kommunikative und kulturelle Gedächtnis von Jan und Aleida Assmann analysiert. Sie haben sich mit den Themen „Gedächtnis“ und „Erinnerung“ beschäftigt, was Einsicht in Sebalds „Versuch der Restitution“ verschaffen kann. Danach wird Benjamins Geschichtsphilosophie und Erzähltheorie dargestellt. Daran anschließend ist Sebalds „Versuch der Restitution“ anhand der theoretischen Prämissen zu analysieren. In Kapitel 3 wird die Erzählung von Max Aurach anhand der Erzählperspektive, der Authentizitätseffekte und der Selbstreflexivität des Erzählers untersucht. Schließlich wird ein Fazit gezogen.

2. W.G. Sebald

2.1 Einführung in sein Leben

Winfried Georg (W.G.) Sebald wurde am 18. Mai 1944 in Wertach, Allgäu, als mittleres von drei Kindern in einer katholischen Familie geboren. Sein Vater, Georg Sebald, tritt 1929 in die Reichswehr ein und kurz vor dem Kriegsende gerät er in französische Kriegsgefangenschaft. Erst im Januar 1947, als sein Sohn W.G. (oder Max1) drei Jahre alt ist, wird er entlassen. Nach

1

Max ist der Name, den er ihm selbst als Student Mitte der sechziger Jahre gegeben hat. Familie und Freunde reden ihn später mit diesem Name an.

(7)

5 der Entlassung findet Georg eine Anstellung bei der Polizei in Sonthofen und drei Jahre lang kehrt er nur am Wochenende nach Wertach zurück. Das hat zur Folge, dass sein Vater für Sebald ein Fremder bleibt und er ihn auch nicht als Autorität anerkennt (Schütte 2011, S. 17). Demzufolge ist die Beziehung zwischen Sebald und seinem Vater schwierig, was für Sebalds Leben und Werk prägend gewesen ist. Im Jahre 1956 tritt sein Vater in die Bundeswehr als Major ein. Er ist in der Kaserne Sonthofen, einer ehemaligen Ordensburg der Nazis, die anfänglich als Eliteschule für die NS-Führungsnachwuchs erbaut wurde, stationiert. Trotzdem wird in Sebalds Familie, wie in den meisten deutschen Familien, über die zerstörerischen Folgen des Krieges geschwiegen. Weil Sebald regelmäßig versucht, durch Nachfragen das Schweigen zu brechen, gibt es oft Streit zwischen ihm und seinem Vater. Obwohl sein Vater kein offizielles Mitglied der NSDAP gewesen ist, sieht Sebald ihn dennoch als Mitläufer und Mittäter, weil er seiner Meinung nach teil nimmt an der „allgemeinen Verschwörung des Schweigens, die den Umgang mit der Vergangenheit der Adenauer-Ära prägte“ (Schütte 2011, S. 19). Sebald will diesem Schweigen den Rücken kehren. Das Thema Erinnerung begleitet ihn demzufolge schon seit seiner Jugend und ist für ihn von persönlicher Relevanz. Er setzt sich ein klares Ziel und will die Erinnerungen mittels Literatur behalten.

Weil sein Vater viel von zu Hause weg ist, nimmt Sebalds Großvater, Josef Egelhofer2, die Rolle als „Vorbild, Beschützer und Lehrer“ des Kindes an (ebd.). Egelhofer steht Sebalds Vater in allem, was der Vater repräsentiert, entgegen. Drei Geschwister seines Großvaters emigrieren während der wirtschaftlichen Not der zwanziger Jahre. Sie treffen eine Entscheidung, die wichtig für Sebalds Zukunft gewesen ist und auch seinen Lebensweg bestimmen sollte. Es ist notwendig, diese biographischen Fakten bezüglich Sebalds Leben herauszugreifen, weil es angesichts dieser Tatsachen von seinen Familienumständen zwei biographisch vorgezeichnete Hauptthemen gibt, die Sebald in seinen literarischen Werken anspricht: Einerseits will er das Schweigen über die NS-Vergangenheit brechen und die Erinnerungen behalten. Blackler (2007, S. 82) drückt treffend Sebalds Gedanken aus: „Das Vergessen einer Vergangenheit sei dumm und unehrlich; das Erinnern sei tragisch. Die Vergangenheit sei nicht zu erlösen, aber sie sei auch, erstaunlicherweise, kulturell schön3“. Die

tragischen Geschehnisse gehören zu der Geschichte Deutschlands und sie sind deshalb zu

2 Josef Egelhofer war der Vater von Sebalds Mutter.

3 Das Zitat ist übersetzt worden. Das originelle Zitat ist: “To forget the past was foolish, and dishonest; to remember it was tragic. The past could not be redeemed, but it was also, surprisingly, culturally beautiful” (Blackler 2007, S. 82).

(8)

6 erhalten. Andererseits sind die Schicksale jener Menschen zu erforschen, die ihre Heimat verlassen mussten.

Auch als Sebald sein Studium anfängt, beschäftigt er sich mit Themen der NS-Zeit und deren Folgen. So verfolgt er während seines Studiums der Germanistik und Anglistik, das Sebald 1963 an der Universität Freiburg angefangen hat, den Frankfurter Auschwitz-Prozess. Der dauerte vom Dezember 1963 bis zum August 1965. Die Gerichtsverhandlungen befriedigen sein Verlangen, da sie das Schweigen über die NS-Zeit brechen. Ein Prozessbeobachter, Peter Weiss, veröffentlichte über dieses Verfahren im Jahre 1965 das dokumentarische Drama Die Ermittlung. Sebald bewundert Weiss wegen seiner Fähigkeit, ohne seine eigenen persönlichen Belange zu berücksichtigen, die materiellen Mittel und Praktiken, die Millionen Leben vernichtet und Toten entheiligt haben, schriftlich erfassen zu können (Remmler 2009, S. 143). Sebald gewinnt also die Einsicht, dass verschiedene Schriftsteller ihr Ziel, nämlich das Schreiben von diesen Katastrophen, obwohl das physische und psychologische Konsequenzen mit sich bringen könnte, trotzdem mit großer Insistenz verfolgen. Sebald lobt die Arbeiten von Weiss, weil sie zeigen, dass:

In seinem Essay Die Zerknirschung des Herzens. Über Erinnerung und Grausamkeit im Werk von Peter Weiss lobt Sebald die Arbeiten von Weiss, weil sie zeigen, dass:

ein abstraktes Totengedächtnis wenig vermag gegen die Verlockungen des Gedächtnisschwunds, wo es nicht auch in der Erforschung und Rekonstruktion der konkreten Stunde der Peinigung eine übers bloße Mitleid hinausweisende Mitleidenschaft beweist (Sebald 2003b, S. 129-130).

Die Tatsache, dass Weiss also einen Kampf gegen die Kunst des Vergessens betreibt, ist für Sebald von vorbildhafter Bedeutung. Deswegen ist Weiss, neben Walter Benjamin, eine der wichtigsten Referenzen für Sebalds erinnerungsstiftendes Schreiben.

In den Jahren danach begehen einige jüdische Opfer, die in erster Instanz die NS-Zeit überlebten, Selbstmord. Diese Schicksale rücken in Sebalds Blick. Auch dadurch setzt er sich immer mehr mit den (jüdischen) Opfern des Nationalsozialismus und den psychischen Spätfolgen der Verfolgungen auseinander. Im Jahr 1994 veröffentlicht Sebald Die Ausgewanderten. In dieser Sammlung von vier Erzählungen schildert er vier Lebensläufe von jüdischen Männern, die durch den Krieg aus ihrer europäischen Heimat vertrieben worden sind. Wenn man berücksichtigt, dass die Deutschen nach dem Krieg über die Verbrechen des Nationalsozialismus schwiegen, ist festzustellen, dass die Erinnerungen an die Opfer so

(9)

7 verhindert wurden. Sebald hingegen zielt darauf ab, dieser Erinnerungslosigkeit der Deutschen entgegenzuwirken, um „in der literarischen memoria das Gedächtnis der Vernichteten, Ausgelöschten, Untergegangenen zu bewahren“ (Schütte 2011, S. 120).

Verschiedene Geschehnisse im Sebalds Leben haben also dazu geführt, dass er versucht, die Erinnerungen von Opfern des Nationalsozialismus mithilfe von Literatur zu erhalten. Dieser Wunsch ist für sein Literaturprogramm prägend. Obwohl Autoren sich normalerweise nicht mit einem Literaturprogramm identifizieren, formt Sebald mit seiner (anti-literarischen) Haltung eine Ausnahme. Er hat eine ganz konkrete Vorstellung davon, was Literatur kann und sollte. Weil dieser Wunsch für sein „Literaturprogramm“ prägend ist, wird im nächsten Teil näher auf die normative Dimension seines Literaturbegriffs eingegangen.

2.2 Einführung in sein „Literaturprogramm“

In einer Rede zur Eröffnung des Stuttgarter Literaturhauses stellt Sebald die Frage nach dem Zweck der Literatur: „A quoi bon la littérature?“ (Sebald 2003a, S. 247), die er gleich selbst beantwortet: „Einzig vielleicht dazu, dass wir uns erinnern und dass wir begreifen lernen, dass es sonderbare, von keiner Kausallogik zu ergründende Zusammenhänge gibt“ (ebd.). Sebald betont hier, dass Literatur als Mittel der Erinnerung eingesetzt werden kann. Seine Antwort entspricht dem etablierten Bild von Sebalds Arbeit an „einem der literarischen Memoria verschriebenen Projekt, das die großen wie individuellen Katastrophengeschichten zu bewahren versucht“ (Meyer 2016, S. 21). Wenn man die Tatsache berücksichtigt, dass es viele Formen des Schreibens gibt, kann man sich fragen: „Wozu also Literatur?“ (Seebald 2003a, S. 247). Warum wählt Sebald Literatur als Mittel für das Bewahren der Erinnerungen? Kann Literatur etwas, das beispielsweise die Geschichtswissenschaften nicht können?

Sebald gibt in seiner Rede eine Antwort auf diese Frage, indem er den „synoptische[n] Blick“ als Mehrwert der Literatur nennt. Dieser synoptische Blick bedeutet, dass eine Person, oder ein Autor, einen Abstand wahren muss, um Erinnerungen der Geschehnisse erklären und aufschreiben zu können. Deswegen ist die Distanz zwischen einem sachlichen und distanzierten Beobachter und der „Perspektive des teilnehmenden Zeugen“ (Mosbach 2009, S. 114) notwendig. Sie sorgt dafür, dass eine Geschichte sich ohne Emotionen übermitteln lässt. Selber wanderte Sebald beispielsweise nach England aus, was ihm ermöglichte, das Faktum der deutschen Geschichte aus der Distanz zu reflektieren. Dabei täuschte er „sich über seine

(10)

8 gleichzeitige Involvierung in die deutsche Geschichte durch Sprache und Herkunft nicht [hinweg]“ (ebd.).

In einem Interview mit Der Spiegel betont Sebald die Notwendigkeit, die Erinnerungen aus einer Distanz zu verarbeiten, um „die ästhetische Authentizität zu behalten“ (Doerry & Hage 2001, S. 233). Diese Authentizität ist mit dem Ethischen verbunden und Themen sollten auf vermittelte Weise präsentiert werden. In Sebalds Werken wird deshalb „immer wieder daran erinnert, dass es so von jemandem erzählt worden ist, dass es durch den Filter des Erzählers gegangen ist“ (ebd.). Der Autor ist der Beobachter und auf die Zeugen, die die Katastrophen erlebt haben, angewiesen. Die Erinnerungen der Zeugen werden dann aus einer zweiten Personsperspektive des Autors vermittelt. Der synoptische Blick in Sebalds Werk ist also

[…], verschattet und illuminiert doch zugleich das Andenken derer, denen das größte Unrecht widerfuhr. Es gibt viele Formen des Schreibens; einzig aber in der literarischen geht es, über die Registrierung der Tatsachen und über die Wissenschaft hinaus, um einen Versuch der Restitution (Sebald 2003a, S. 248).

Das Hauptziel der Literatur ist nach Sebald also ein „Versuch der Restitution“. Kilbourn (2013) behauptet, dass diese Restitution einem Begriff wie „Vergeltung“ entgegensteht. Das bedeutet, dass mittels dieser Restitution die imaginative Wiederherstellung des radikalen „Anderssein“4, was sonst vergessen bleiben würde, zum Ziel gemacht wird (S. 261). Mit dieser Restitution versucht Sebald also, die Erinnerungen der Vergangenheit im Medium der Literatur zu retten. So wird Literatur zu einem Erinnerungsort, wo Erinnerungen aufbewahrt bleiben.

Während ein Historiker den eigenen Gegenstand der Analyse verschafft und sich auf die Vergangenheit konzentriert, ist für Sebald vor allem der Zusammenhang von Geschichte und Gedächtnis wichtig. Er verbirgt seine eigene Präsenz im Text und erzählt die Geschichten aus der Perspektive eines Alter Ego, der zum „Darsteller einer erzählten Geschichte wird“ (Agazzi 2017, S. 206), in denen Sebald Dokumentarisches und Fiktion mischt: „An der Nahtstelle zwischen Dokument und Fiktion [entstehen] literarisch die interessanten Dinge“ (Doerry & Hage 2001, S. 230). Weiter sagt Sebald über das „Restituieren“ von Erinnerungen, wobei Vorstellung und Wirklichkeit zusammenlaufen:

Es kommt natürlich darauf an, dass Erinnerung eine authentische Form findet, in der sie bestehen kann. […] Das beginnt bei der historischen Recherche, und es endet vielleicht

4

In diesem Fall können die jüdischen Opfer des Zweiten Weltkriegs mit dem ‚radikalen Anderssein‘ gemeint werden.

(11)

9 bei der halbfiktionalen Prosa- immer auf der Suche nach Darstellungsformen, die diesem Thema gerechnet werden können (Doerry & Hage 2001, S. 234).

Obwohl wir heute die großen Linien der Geschichte kennen und erforschen, gibt es noch Millionen von individuellen, unbekannten Geschichten. Sie gehören nach Sebald zu der allgemeinen Geschichtsschreibung, aber trotzdem kennen wir sie nicht. Deswegen versucht Sebald die kleinen, individuellen Geschichten zu retten. Von denen lässt sich wiederum Geschichte schreiben, denn „deren vornehmlich schmerzliche Lebenserfahrungen sind von großen historischen Ereignissen geprägt worden“ (Agazzi 2017, S. 206). Diese kleinen, individuellen Geschichtserzählungen formen sozusagen den Bestandteil einer allgemeinen Netzstruktur, bei der Alles mit Allem zusammenhängt. Er sammelt individuelle Personsgeschichten, welche er in einem folgenden Schritt mit großen historischen Ereignissen verknüpft. In seinen Texten überlagern sich die Geschichten, wodurch die „kleinen“ und „großen“ Geschichten miteinander verknüpft sind. Dabei geht es ihm vor allem um die Erinnerung an die Juden, die „der nazifaschistischen Gewalt zum Opfer gefallen oder entkommen sind“ (ebd., S. 207). So setzt er sich für den Kampf gegen das Vergessen ein.

Zusammengefasst versucht Sebald, die Erinnerungen und Erfahrungen im Medium der Literatur aufzubewahren. Das Ziel der Literatur ist also der „Versuch der Restitution“. Jan und Aleida Assmann haben die Konzepte Erinnerung und Gedächtnis erforscht. Walter Benjamin, der für Sebalds Werke von vorbildhafter Bedeutung war, setzt sich in Aufsätzen mit der Weitergabe von Erfahrungen auseinander. Eine Auseinandersetzung mit denen kann verdeutlichen, was Sebald mit dieser Restitution erreichen will und wie er das Thema Erinnerung in seinen Werken verarbeitet. Deswegen werden sie im nächsten Kapitel näher untersucht.

3. Theoretische Prämissen: Erinnerungsstiftendes Schreiben 3.1 Jan und Aleida Assmann: Erinnerungskultur

Die Konzepte Erinnerung und Gedächtnis werden heute häufig in einer spezifischen Form verwendet, nämlich als eine

Bezeichnung für kollektiv geteilte Geschichtsbilder, Erinnerungskulturen oder historisierende Mythen. Individuelle Erinnerungen werden, meist in Anlehnung an

(12)

10 Maurice Halbwachs, als Funktion dieser kollektiven Erinnerungsformen interpretiert (Dejung 2008, S. 98).

Der französische Soziologe Maurice Halbwachs untersuchte in soziologischen Studien, wie sich Gruppen ein Gedächtnis schaffen (Assmann 2013, S, 17). Er entwickelte in den 20er Jahren des 20sten Jahrhunderts die Theorie eines „kollektiven Gedächtnisses“, worin er die Konzipierung, dass das kollektive Gedächtnis als ein „vererbbares“, bzw. „Rassengedächtnis“ zu betrachten ist, ablehnt (Assmann 1988, S, 9). Demgegenüber verlegt er „das Problem der Kontinuierung kollektiv geteilten Wissens aus der Biologie in die Kultur“ (ebd.) Das heißt, dass ein kollektives Wissen in einer bestimmten Kultur entsteht und nicht von der Biologie aus festgestellt wird. Es beruht auf gemeinsamen Geschichten, an denen Personen teilnehmen und die man sich gegenseitig erzählt. Nach Assmann (2013) ist das kollektive Gedächtnis von Halbwachs im doppelten Sinn repräsentativ, weil es sowohl einen zentralen Ausschnitt der Vergangenheit als auch Einzelschicksale repräsentiert (S. 17). Jan und Aleida Assmann, zwei Kulturwissenschaftler, haben das, was bei Halbwachs als kollektives Gedächtnis erscheint, weiterentwickelt. Sie differenzieren Halbwachs Ansatz und unterscheiden zwei unterschiedliche Typen der Rekonstruktion der Vergangenen, zwischen denen Wechselwirkungen und Übergänge bestehen können: das kommunikative und das kulturelle Gedächtnis (Dejung 2008, S. 101).

Unter dem Begriff des „kommunikativen Gedächtnisses“ verstehen sie informelle Kommunikation mit anderen Individuen. Sie besteht aus persönlichen Erinnerungen und wird vor allem in der Alltagskommunikation innerhalb verschiedener sozialer Gruppen aktualisiert und tradiert (Dejung 2008, S. 102). Aus dieser Alltagskommunikation entwickelt sich ein Gedächtnis, das, wie Halbwachs schon feststellte, sozial vermittelt und gruppenbezogen ist. So konstituiert sich jedes individuelle Gedächtnis in der Kommunikation mit anderen (Assmann 1988, S. 9-19). Diese „anderen“ sind Gruppen, die ein bestimmtes Bild von sich selbst haben. Sie sind sich über ihre Einheit und Eigenart mit ihren Mitmenschen bewusst und stützen dies auf das Bewusstsein gemeinsamer Vergangenheit. Einige Beispiele, die Halbwachs erwähnt, sind Familien, Berufsgruppen, Parteien, bis hinauf zur einer ganzen Nation. Jeder einzelne Mensch gehört zu einer Vielzahl solcher Gruppen und nimmt deswegen an mehreren kollektiven Selbstbildern und Gedächtnissen teil. Die persönlichen Erinnerungen sind hier also als Teile des kommunikativen Gedächtnisses zu betrachten.

Ein wichtiges Merkmal des kommunikativen Gedächtnisses ist die Tatsache, dass es einen beschränkten Zeithorizont in sich trägt. Es reicht höchstens drei bis vier Generationen,

(13)

11 was ungefähr 80 bis 100 Jahre zurückreicht. Die Existenz eines fixen Punkts in der Vergangenheit, an dem dieses kommunikative Gedächtnis seinen Anfang findet, fehlt. Der Grund ist, dass der Zeithorizont mit dem Fortschreiten der Gegenwart mitwandert. Die Gruppenteilnehmer, bzw. Träger bringen das kommunikative Gedächtnis zu Stande und wenn sie sterben, verschwindet es mit ihnen und macht Platz für ein neues Gedächtnis (vgl. Assmann, 2000, S. 29–31). Weil es also an konkrete Personen gebunden ist, kann es als „ein soziales Kurzzeitgedächtnis“ (Dejung 2008, S. 101) bezeichnet werden, das mit dem Tod der entsprechenden Teilnehmer verschwindet. Das kommunikative Gedächtnis ist also gekennzeichnet durch Vergessen und Erinnern.

Im Gegensatz dazu ist das kulturelle Gedächtnis wohl durch Fixpunkte in der Vergangenheit gekennzeichnet. Der abstrakte Begriff

bezieht sich auf ein breites Spektrum kultureller Praktiken wie die Konservierung von Spuren, die Archivierung von Dokumenten, die Sammlung von Kunst und Relikten einschließlich ihrer Reaktivierung durch mediale oder pädagogische Vermittlung (Assmann 2013, S. 26).

Das kulturelle Gedächtnis hat also das Aufbewahren von Erfahrungen und Wissen durch kulturelle Formung5 und institutionalisierte Kommunikation6 über Generationen hinweg zum Ziel (Assmann 1988, S. 12). So kann ein Langzeitgedächtnis geschaffen werden, wobei es um kulturelle Nachhaltigkeit geht (Assmann 2013, S. 24). Für das kulturelle Gedächtnis zählt nicht die faktische, sondern nur die erinnerte Geschichte (Assmann 2000, S. 52). In westlichen Kulturen wird Vergangenheit arbeitsteilig verwaltet. So pflegen externe Datenspeicher und Institutionen, wie beispielsweise Bibliotheken, Archive und Museen, das kulturelle Gedächtnis. Sie werden als „Bildungsgut, als künstlerische Ressource, als Gegenstand der Aneignung und nachträgliche Auseinandersetzung“ genutzt (Assmann 2013, S. 25). Menschen treffen also nicht nur eine Entscheidung über das, was sie sich persönlich entsinnen wollen und was nicht. Sie entscheiden auch gemeinsam über das, was in der Zukunft für die Nachwelt erreichbar und noch Geltung behalten soll. Deswegen sind das persönliche Erinnern und Vergessen in diese größeren Zusammenhänge des kulturellen Erinnerns und Vergessens integriert (ebd., S. 26).

Zu analysieren ist, wie Sebalds Werk und sein „Versuch der Restitution“ sich mit dem kommunikativen und kulturellen Gedächtnis verbinden lassen. Dazu ist es notwendig, zuerst

5

Assmann nennt hier ‚Texte, Rite und Denkmaler.‘ 6

(14)

12 auf Walter Benjamins Geschichtsphilosophie und Erzähltheorie einzugehen. Danach wird Sebalds Literaturprogramm anhand der beiden theoretischen Prämissen analysiert.

3.2 Walter Benjamin: Der Erzähler

Walter Benjamin war ein Philosoph und Kulturtheoretiker der Moderne. Er lebte in einem Jahrhundert, das vom Glauben an die Wissenschaft und Technik geprägt ist. Diese allgemeine kulturelle Tendenz führte in der theoretischen Reflexion zu einer Ignoranz gegenüber nicht-wissenschaftlichem Erfahrungswissen und zu einer „Unterschätzung narrativer Wissensdarstellungsformen“ (Totzke 2005, S. 20). Benjamin bemerkte und thematisierte den Zusammenhang von Erzählen und Erfahrung. Um seine Überlegungen zu der kulturellen Funktion des vor-literarischen und prä-literalen Erzählens auszuarbeiten, veröffentlicht er im Jahr 1936 den Aufsatz Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows. Benjamin fragt in diesem Aufsatz nach der ursprünglichen und dynamischen Bedeutung des Erzählens und nimmt dabei Leskow zum Anlass seiner Erörterungen.

Er schlussfolgert, dass das Erzählen für die Menschheit eine elementare Rolle spielt. Auf der ersten Seite des Aufsatzes schreibt er:

Der Erzähler […] ist uns in seiner lebendigen Wirksamkeit keineswegs durchaus gegenwärtig. Er ist uns etwas bereits Entferntes und weiter noch sich Entfernendes. […] Aus einer gewissen Entfernung betrachtet gewinnen die großen einfachen Züge, die den Erzähler ausmachen, in ihm die Oberhand. […] Diesen Abstand und diesen Blickwinkel schreibt uns eine Erfahrung vor, zu der wir fast täglich Gelegenheit haben. Sie sagt uns, dass es mit der Kunst des Erzählens zu Ende geht. Immer seltener wird die Begegnung mit Leuten, welche rechtschaffen etwas erzählen können. Immer häufiger verbreitet sich Verlegenheit in der Runde, wenn der Wunsch nach einer Geschichte laut wird. Es ist, als wenn ein Vermögen, das uns unveräußerlich schien, das Gesichertste unter dem Sicheren, von uns genommen würde. Nämlich das Vermögen, Erfahrungen auszutauschen. Eine Ursache dieser Erscheinung liegt auf der Hand: die Erfahrung ist im Kurse gefallen. Und es sieht aus, als fiele sie weiter ins Bodenlose (Benjamin 2007, S. 103)

Benjamin formuliert also eine kulturkritische Diagnose über den Verlust von Erzählkompetenz und Erfahrungswissen. Die entscheidende Beobachtung seiner Zeit sei, dass die

(15)

13 katastrophischen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs kaum mitgeteilt werden können (Banki 2016, S. 81). Die Leute kamen „verstummt aus dem Felde […] nicht reicher – ärmer an mitteilbarer Erfahrung“ (Benjamin 2007, S. 104).

Die Tatsache, dass die Mitteilbarkeit der Erfahrung abnimmt, beunruhigt ihn und auf diesem Verlust der Mitteilbarkeit der Erfahrungen gründet seine These. Für Benjamin besteht Erzählung aus einer mündlichen Tradition, die immer weitergetragen wird. Er ist davon überzeugt, dass „Erfahrung, die von Mund zu Mund geht, die Quelle [ist], aus der alle Erzähler geschöpft haben“ (Benjamin 2007, S. 104). Die vollkommende Erzählung ist die Schichtung vielfacher Nacherzählungen. Aufgabe des Erzählers sei es, „den Rohstoff der Erfahrungen - fremder und eigener - auf eine solide, nützliche und einmalige Art zu bearbeiten“ (ebd., S. 128). Ein Erzähler erzählt also aus der eigenen Erinnerung und Erfahrung und gibt seine Geschichte weiter. So wird die Erfahrung zur Voraussetzung des Erzählten. Weil Erzählungen durch Fantasie und persönliche Erfahrungen und Bedeutungen angereichert werden, erfährt jede Person sie anders. So kann eine Geschichte lebendig bleiben und so wird der Erzähler ein Geschichtsschreiber, der Erfahrungen in der Geschichte weiterträgt: „Der Erzähler nimmt, was er erzählt, aus der Erfahrung; aus der eigenen oder berichteten. Und er macht es wiederum zur Erfahrung derer, die seiner Geschichte zuhören“ (ebd., S. 107). Das gilt auch für epische Mythen, wofür Grimms Märchen ein Beispiel sind. Sie berufen sich nicht auf historische Fakten. Trotzdem sind sie im Laufe der Jahre weitergetragen und so haben sie einen historischen Kern bekommen. In epischen Mythen ergibt sich also ein Kern von Wahrheit, weil sich in ihnen komprimierte Erfahrungen befinden: „An der Erzählung haftet die Spur des Erzählenden“ (ebd., S. 111).

Der Erzähler ist also ein Sammler von Geschichten und steht für eine besondere Form der Erinnerungskultur. Nach Benjamin stirbt diese besondere Form der Erinnerung in dem Moment, wo die Schrift kommt. Wegen des Aufstiegs von unter anderem Büchern und Zeitungen, löst sich das Netz, in das die Gabe zu erzählen gebettet ist, auf:

Das früheste Anzeichen eines Prozesses, an dessen Abschluss der Niedergang der Erzählung steht, ist das Aufkommen des Romans zu Beginn der Neuzeit. Was den Roman von der Erzählung (und vom Epischen im engeren Sinne) trennt, ist sein wesentliches Angewiesensein auf das Buch. […] Das mündlich Tradierbare, das Gut der Epik, ist von anderer Beschaffenheit als das, was den Bestand des Romans ausmacht. Es hebt den Roman gegen alle übrigen Formen der Prosadichtung - Märchen, Sage, ja

(16)

14 selbst Novelle - ab, dass er aus mündlicher Tradition weder kommt noch in sie eingeht (ebd., S. 107).

Außer dem Roman hat „die Verbreitung der Information einen entscheidenden Anteil“ an der Tatsache, dass die Kunst des Erzählens selten geworden ist. „Beinah nichts mehr, was geschieht, kommt der Erzählung, beinah alles der Information zugute“ (ebd., S. 109). Die neue Form der Mitteilung ist die Information und sie schlägt andere Überbringer vor.

Benjamin trennt also mündliche Erzählungen, Bücher und Information. Diese Trennung zieht er durch. Nach ihm steht dem Erzähler der Historiker und der Chronist gegenüber. Der Chronist schreibt Vorfälle einfach auf, wobei die Faktizität ihm am wichtigsten ist. Dahingegen ist der Historiker gehalten, Vorfälle auf die eine oder andere Art zu erklären: „er kann sich unter keinen Umständen damit begnügen, sie als Musterstücke des Weltlaufs herzuzeigen“ (ebd., S. 115). Im Gegensatz zu dem Erzähler haben der Chronist und der Historiker die Übertragung von faktischer Information zum Ziel.

Zusammengefasst ist Benjamin also der Meinung, dass die mündliche Tradition, die es ermöglicht, Geschichten und darin eingebettete Erfahrungen zu übertragen, mit dem Aufkommen der Schriftlichkeit zum Ende gekommen ist. Das hat ein Ende der besonderen Form der Erzählungen und Erinnerungen zur Folge. Dazu kommt, dass Benjamin einen Unterschied zwischen dem Erzähler, dem Chronisten und dem Historiker macht. Es gibt Parallelen zwischen Sebalds und Benjamins Geschichtsphilosophie: „Erzähltheorie und Geschichtsphilosophie sind, hierin mag der kleinste gemeinsame Nenner des Denkens und Schreibens von Sebald und Benjamin liegen, untrennbar miteinander verbunden“ (Banki 2016, S. 20). Im nächsten Kapitel wird näher darauf eingegangen und analysiert, inwiefern es Parallelen zwischen Benjamins und Sebalds Ideen gibt.

3.3 W.G. Sebald: „Versuch der Restitution“

Anhand des kommunikativen und kulturellen Gedächtnisses und Benjamins Geschichtsphilosophie ist Sebalds Versuch der Restitution zu analysieren. Wie schon im ersten Kapitel festgestellt worden ist, versucht Sebald persönliche Geschichten und Erinnerungen der (jüdischen) Opfer im Medium der Literatur aufzubewahren. Die persönlichen Erinnerungen gehören in erster Instanz zum kommunikativen Gedächtnis, da sie sich auf den damaligen Alltag der vertriebenen Juden beziehen. Normalerweise würden sie nach ungefähr achtzig

(17)

15 Jahren verschwinden. Wenn eine Generation ausstirbt, verschwinden die Erinnerungen mit ihr zusammen (Assmann 1988, S. 11). Dagegen widersetzt Sebald sich. Er kämpft gegen dieses Vergessen und verarbeitet die Erinnerungen und Erfahrungen von Zeitzeugen in seinen literarischen Werken. Das bedeutet, dass er auf diese Weise versucht, die zeitlich begrenzten Erinnerungen ins Langzeitgedächtnis zu übertragen und hier zu speichern. So verlegt er die Erinnerungen und Erfahrungen vom kommunikativen Gedächtnis ins kulturelle Gedächtnis. Sebald nimmt in dem Sinne als Autor die Rolle des externen Datenspeichers an und bringt zu Stande, dass die persönlichen Geschichten, Erinnerungen und Erfahrungen der jüdischen Opfer für die Nachwelt erreichbar bleiben. Sebald favorisiert damit eine Kultur des Gedenkens, die „eine soziale Verpflichtung beinhaltet und somit auf den Einzelnen ausgewiesen ist, der […] über den Bruch, das Vergessene und Verdrängte hinweg Vergangenheitskonstitution leistet“ (Schütte 2011, S. 90).

Weiter ist der Einfluss von Benjamin auf Sebalds Literaturperspektive beträchtlich. Jedoch gibt es einige Unterschiede. Zuerst sei es nach Benjamin nur durch eine mündliche Übergabe möglich, aus der Erfahrung zu erzählen und Geschichten weiterzugeben. Dabei geht es Benjamin vor allem um epische Erzählungen und Erfahrungen. Was Benjamin mittels mündlicher Gespräche in der Praktik machen will, versucht Sebald in seinen literarischen Werken hervorzubringen. Auch für Sebald ist der Zusammenhang von Geschichte und Gedächtnis wichtig, aber bei ihm basieren die Geschichten und Erzählungen nicht auf epische, sondern auf historische Fakten. Jedoch hat die Erinnerungskultur nach Sebald wenig zu tun mit dem, „was die Geschichtsschreibung betreibt in ihrer Deutung und Archivierung der Vergangenheit als etwas Abgeschlossenem“ (Schütte 2011, S. 89). Entsprechend arbeitet er mit privaten Quellen, persönlichen und familiären Medien. Auch redet er mit jüdischen Zeitzeugen, um Informationen zu gewinnen. Die Informationen und Geschichten schreibt er, ausgefüllt mit seinen eigenen Erfahrungen, auf. Der Erzähler ist jemand, der Erzählungen sammelt, Erfahrungen zufügt und weitergibt. So schreibt er Geschichten, in denen seine eigenen Vorstellungen, bzw. Erfahrungen und Wirklichkeit zusammenlaufen. Danach passiert den Lesern beim Lesen dasselbe: während des Lesens fügt der Leser eigene Erfahrungen und Interpretationen an den Text hinzu. So versucht Sebald, die Wechselwirkung von Erfahrungen von der mündlichen Tradition in die Literatur zu verlegen. Obwohl für Benjamin die besondere Form der Erinnerung durch die Schriftlichkeit abstirbt, verwendet Sebald das Medium gerade, um Reflexionen zu historischen Fakten zu schreiben und Erfahrungen und Erinnerungen zu restituieren und zu speichern. So wird Sebalds Protagonist Erzähler und Chronist gleichzeitig.

(18)

16 Alles in Allem lässt sich schlussfolgern, dass Sebald versucht, das kommunikative Gedächtnis der (jüdischen) Opfer ins kulturelle Gedächtnis zu verlegen. Er

durchwandert Räume des kulturellen Gedächtnisses, verfolgt unsichtbare Fährten, trägt heterogenste Fundstücke zusammen, um vor einem unaufhaltsamen Prozess der Zerstörung das Letzte zu bewahren: Die Erinnerung an Einzelschicksale, an Kollektivschicksale, an die Geschichte der Menschheit als einer Geschichte der Zerstörung (Öhlschläger 2006, S. 37).

Für die Restitution dieser (jüdischen) Geschichten orientiert Sebald sich theoretisch an Benjamins Erzähltheorie und Geschichtsphilosophie. Er basiert seine Geschichten auf reale Erfahrung anderer und reichert sie mit historischer Faktizität und eigenen Erfahrungen an. Die nächste Frage ist, welche Strategien Sebald benutzt, um die Erinnerungen und Erfahrungen in der Literatur festzuhalten. Daraufhin wird im nächsten Kapitel auf Sebalds literarische Strategien eingegangen und analysiert, wie er versucht, die Geschichte von Max Aurach zu restituieren.

4. Analyse: Max Aurach

Die Geschichte von Max Aurach ist die letzte, „längste und persönlichste“ Erzählung im Sammelband Die Ausgewanderten (Schütte 2011, S. 110). Der Band beinhaltet vier Erzählungen, in denen es sich um Männer handelt, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten die Heimat „körperlich und mental“ gezwungenermaßen verlassen haben (Ceuppens 2017, S. 29). Die Hauptfigur ist der Maler Max Aurach. Er wurde1924 in München geboren und ist von jüdischer Herkunft. Im Alter von 15 Jahren flieht er durch die Drohung des nationalsozialistischen Regimes nach England. Er lebt den größten Teil seines Lebens in Manchester. Sebalds Geschichte basiert auf zwei Personen. Eine ist sein Vermieter in Manchester. Das zweite Modell ist ein bekannter Künstler, erklärt Sebald in einem Interview (Angier 2007, S. 63-75). Der Architekt Peter Jordan flüchtete 1939 aus München und war Sebalds Vermieter. Der Künstler ist Frank Auerbach7, der in London tätig ist und im Alter von 8 Jahren mit einem Kindertransport nach England gelangte. In der Erzählung „dokumentiert sich ein durch die autobiographischen Erfahrungen Sebalds motivierter Liebesdienst, nämlich

7

In der englischen Übersetzung heißt ‘Max Aurach‘, ‘Max Feber‘, weil Frank Auberbach das Buch als „ungerechtfertigte Appropriation seiner Person“ empfand (Schütte 2011, S. 110). Deswegen hat Sebald den Name geändert.

(19)

17 das ethische Projekt einer Restitution von Unrecht durch die emphatische Rekonstruktion beschädigter Lebensläufe“ (Schütte 2011, S. 88).

Die Grenzlinie zwischen Fakt und Fiktion ist in der Erzählung vage, aber es geht Sebald auch nicht darum, ein fremdes Schicksals als Biographie wiederzugeben. Mit der Geschichte Max Aurachs führt Sebald eine Reaktion auf die Erfahrung des Exils auf. Er versucht etwas ganz anders als Fakten zu rekonstruieren, nämlich die Erinnerung zu archivieren. Zu analysieren ist, wie er das macht und welche literarischen Strategien Sebald verwendet, um die Geschichte zu erzählen und die Erinnerungen zu speichern und lebendig zu machen. Die Strategien, die Sebalds Erinnerungsarbeit charakterisieren und in dieser Arbeit analysiert werden, sind die Erzählperspektive, die Authentizitätseffekte und die Selbstreflexivität des Autors.

4.1 Die Erzählperspektive

In Die Ausgewanderten ist nicht der Erzähler der Protagonist der Geschichte, sondern Max Aurach. Seine Geschichte wird von dem Ich-Erzähler erzählt, der selbst als „Nebenfigur, Gesprächspartner, Nachforschender und mithin als Zeuge“ auftritt (Niehaus 2017, S. 133). Obwohl der Autor sich in der Erzählung wohl über den Prozess und die Zeit des Schreibens äußert, erzählt er nicht seine eigene Geschichte. Er wird also nicht „zum autofiktionalen Gegenstand der Darstellung“ (ebd.).

Nichtdestotrotz gehen die Erfahrungen des Erzählers in die Geschichte ein. Das zeigt sich sowohl am Anfang als auch am Ende der Erzählung. Als der Erzähler am Anfang der Geschichte die Reise nach Manchester beschreibt, teilt er mit, dass er damals „ohne größere Besorgnis“ den Nachtflug von Kloten nach Manchester überstand (Sebald 1992, S. 219). Jedoch überkommt ihn viele Jahre später, bzw. in der Zeit des Schreibens „nicht selten eine kaum mehr einzudämmende Flugangst, so erfüllte mich damals das gleichmäßige Durchqueren des nächtlichen Luftraums mit einem, wie ich inzwischen weiß, falschen, Gefühl der Zuversicht“ (Sebald 1992, S. 219-220). Der Erzähler empfindet den Flug jetzt als etwas Bedrückendes und er reichert die Erzählung durch seine eigene Erfahrung an. Auch als das Flugzeug sinkt, vermittelt der Erzähler seine eigene Interpretation, wobei er einen Berg, den er vom Flugzeug aus sieht, mit einem Köper vergleicht:

(20)

18 Mit einem mahlenden Geräusch und mit bebenden Tragflächen arbeitete die Maschine sich aus der Höhe hernieder, bis in die scheinbar greifbarer Nähe die seltsam gerippte Flanke eines kahlen und langgestreckten Berges vorüberglitt, der, wie mir vorkam, gleich einem ungeheuren liegenden Körper atmend manchmal ein wenig sich hob und senkte (Sebald 1992, S. 220) .

Auch am Ende der Geschichte, als der Erzähler am Friedhof ist, drückt der Erzähler seine eigenen Erfahrungen aus. Der Erzähler steht vor den Gräbern der jüdischen Opfer und fühlt sich „auf eine […] gewiß nie ganz zu ergründende Weise angerührt“ (Sebald 1992, S. 335). Er führt weiter aus: „Ich dachte sie mir als Schriftstellerin, allein und atemlos über ihre Arbeit gebeugt, und jetzt, wo ich dies schreibe, kommt es mir vor, als hätte ich sie verloren und als könne ich sie nicht verschmerzen trotz der langen, seit ihrem Ableben verflossenen Zeit“ (ebd., S. 337). Obwohl der Erzähler hier sowohl am Anfang als auch am Ende der Erzählung kein großes Maß an Emotionalität vermittelt, fließt doch etwas Persönliches in die Geschichte hinein. Die persönlichen Interpretationen, Perspektiven und Erfahrungen des Erzählers sind in der Erzählung integriert. Hieraus zeigt sich also, dass der Einfluss von Benjamins Erzähltheorie und Geschichtsphilosophie beträchtlich ist.

Nach seiner Ankunft in Manchester trifft der Erzähler zufälligerweise auf Max Aurach und er entschließt sich, die Geschichte Aurachs und dessen Familie aufzuschreiben. Die Geschichte wird also aus einer Distanz von dem Ich-Erzähler geschrieben, der ohne Namen bleibt. Aufgrund von Unterhaltungen mit Aurach, Tagebüchern, Fundstücken und Ortsbegehungen rekonstruiert der anonyme Erzähler die Erzählung, die aus einer homodiegetischen Erzählperspektive erzählt wird. Der Erzähler ist Teil der erzählten Welt und kommt selbst in seiner Geschichte vor, wobei er sich in ein erzählendes und ein erzähltes bzw. erlebendes Ich aufspalten lässt.

In der Erzählung macht der Erzähler den Leser oft darauf aufmerksam, dass er berichtet, was Aurach ihm erzählt hat. Das zeigen die folgenden zwei Beispiele: „Der Schifffahrtskanal, so erzählte mir Aurach, sei 1887 begonnen […]“ (Seebald 1992, S. 245) und „Das […] Industriejerusalem galt, sei, so sagte Aurach […]“ (ebd.). So wird der Erzähler der Zeuge, „der für die Zeugen zeugt, den Ausgewanderten eine Stimme verleiht“ (Ceuppens 2017, S. 34). Weil der homodiegetische Ich-Erzähler keine deutliche personale Kontur gewinnt und unmittelbare sprachliche Ausdrücke mittels wörtlicher Dialoge, Gespräche oder Rede fehlen, nehmen die Erzähltechniken und Verfahren der Redeanführung eine wichtige Rolle ein.

(21)

19 Sebald verwendet einen narrativen Modus, in dem er Äußerungen nicht wörtlich anführt, sondern als erzählte Rede wiedergibt. Diese erzählte Rede ist so konstruiert, dass sie die Gedanken, Empfindungen und Reden in einem unpersönlichen, unparteiischen und sachlichen Stil assimiliert (Auerbach 2001, S. 449-459). Der Erzähler zeigt die Dinge so, wie sie tatsächlich gewesen sind und bietet sich einem absoluten Blick dar. Er besitzt eine diffuse personale Kontur, was eine Subjektivität markiert. Der Erzähler steht so im Dienst der Nacherzählung, wobei der Erzähler sich als privilegierter Zeuge darstellt, den seine Gesprächspartner aufgrund wahrgenommener Ähnlichkeiten als Vertrauensperson wahrnehmen. In den Erzählungen zitiert der Erzähler lange Passagen in direkter oder indirekter Rede. An dem Beispiel auf Seite 259 lässt sich zeigen, wie der Erzähler in indirekter Rede Aurachs Geschichte beschreibt:

Diese ebenso nahe wie unerreichbar in die Ferne gerückte Welt, sagte Aurach, habe mit solcher Macht ihn angezogen, daß er befürchtete, sich in sie hineinzustürzen zu müssen, und dies vielleicht tatsächlich getan hätte, wäre nicht auf einmal – like someone who’s popped out of the bloody ground- ein um die sechzig Jahre alter Mensch […] vor ihm gestanden und hätte […] gesagt, es sei jetzt an der Zeit, an den Abstieg zu denken, wenn man in Monteux noch zum Nachtmahl zurechtkommen wolle (Sebald 1992, S. 259).

Die indirekte Rede zeigt den Lesern, dass der Erzähler aufschreibt, was Aurach ihm erzählt hat. Er vermittelt sozusagen Aurachs Äußerungen und macht die Leser so darauf aufmerksam, dass Aurachs Erinnerungen aus der Distanz eines Erzählers verarbeitet worden sind.

Jedoch wechselt der Erzähler zwischen der indirekten und direkten Rede. Das zeigt sich auf Seite 291-292, als der Erzähler auszugsweise die Aufzeichnungen von Aurachs Mutter Luisa Lanzberg wiedergibt:

Jetzt stehe ich wieder, schreibt Luisa, in der Wohnstube. Durch das mit Steinplatten ausgelegte dämmrige Vorhaus bin ich gegangen, habe, wie damals beinahe an jedem Morgen, vorsichtig die Hand auf die Klinke gegeben, habe sie niedergedrückt, die Tür aufgetan und drinnen, barfuß stehend auf dem weiß geputzte Boden, voller Staunen mich umgesehen, denn sehr schöne Sachen gibt es in diesem Zimmer (Sebald 1992, S. 291-292).

Durch den Wechsel zwischen der direkten und indirekten Rede ist es manchmal unklar, wer genau spricht. Die obenstehende Passage zeigt, dass Luisas Stimme nicht von der des Erzählers zu unterscheiden ist. Daraus folgt die Frage, wieso der Erzähler zwischen der direkten und

(22)

20 indirekten Rede wechselt, bzw. welche Position der Ich-Erzähler sich selbst zuordnet und in welchem Verhältnis er als „Bezeugender“ zu seinen Figuren steht (Johanssen 2008, S. 38). Der Ich-Erzähler befindet sich in größter Nähe zu seinen Zeugen. Zu vermuten ist, dass der Erzähler durch den Wechsel „einer unzulässigen Identifizierung mit den Opfern [entgeht]“ (ebd.). So versucht der Erzähler, Zeugnis abzulegen.

Es ist also nicht immer deutlich, wer was sagt. Auf Seite 269 fängt der Erzähler an: „Drei Tage lang haben wir im Anschluß an dieses späte und für uns beide unverhoffte Wiedersehen miteinander geredet“ (Sebald 1992, S. 269). Der Erzähler ist in diesem Absatz die Ich-Person: „über die Flügelhornistin Gracie Irlam, über mein Schullehrerjahr in der Schweiz sowie über meinen späteren gleichfalls fehlgeschlagenen Versuch, in München, in einem deutschen Kulturinstitut, Fuß zu fassen“ (ebd., S. 270). In den nächsten Sätzen wechselt die Erzählperspektive plötzlich, worauf der Leser letztlich unvorbereitet ist:

Rein zeitlich gesehen, bemerkte Aurach zu meinem Lebenslauf, sei ich also jetzt so weit schon von Deutschland entfernt, wie er es im Jahr 1966 gewesen war, aber die Zeit, so fuhr er fort, ist ein unzuverlässiger Maßstab, ja, sie ist nicht als das Rumoren der Seele. Es gibt weder eine Vergangenheit noch eine Zukunft. Jedenfalls nicht für mich. Die bruchstückhaften Erinnerungsbilder, von denen ich heimgesucht werde, haben den Charakter von Zwangsvorstellungen (ebd., S. 270).

Die Ausschnitte zeigen, dass die Geschichten also so präsentiert werden, dass die verschiedenen Geschichten in der Erzählung des Erzählers zusammengeführt werden. Dies kann als „das periskopische Erzählen“ bezeichnet werden (Schäfer 2017, S. 145). Das heißt nach Sebald: „Erzählen um ein, zwei Ecken herum“ (Doerry & Hage 2001, S. 233). Diese „ein, zwei Ecken“ entsprechen kurzen Phrasen, wie „sagte er“ oder „dachte ich“ (Hutchinson 2009, S. 11). So versucht Sebald seine Geschichte auf „vermittelte Weise“ (Doerry & Hage 2001, S. 233) zu präsentieren: „Es wird immer wieder daran erinnert, dass es so von jemandem erzählt worden ist, dass es durch den Filter des Erzählens gegangen ist“ (ebd.). So arbeitet Sebald gegen den historischen Diskurs. Dieser errichtet nämlich die Fiktion, dass die Instanz des Sprechers nicht anwesend ist. In dem historischen Diskurs ist die Repräsentation von Ereignissen also transparent. Der Erzähler hingegen weist ständig daraufhin, dass die Geschichten von den Zeugen erzählt worden sind. So entsteht „die narrative Struktur eines Palimpsests, die es erlaubt, ein mit Details angereichertes Bild der Vitae solcher Personen zu rekonstruieren“ (Agazzi 2017, S. 208) und Sebald versucht, die Erinnerungen an Max Aurach und seiner Familie aufzubewahren.

(23)

21

4.2 Authentizitätseffekte

Bei Sebald stehen also nicht die historischen Rekonstruktionen, sondern die Erinnerungsprozesse im Vordergrund. Um an den Erinnerungen festhalten zu können, verwendet Sebald Authentizitätseffekte. Erstens gebraucht er in seinen Werken Bilder, die in den laufenden Text eingefügt worden sind. Sie sind in Gestalt der zahlreichen „Schwarz-Weiss-Reproduktionen von Photographien, Zeichnungen, Gemälden, Skizzen, Postkarten, Stadtplänen, Eintrittskarten, Tagebucheinträgen usw.“ allgegenwärtig (Winkelvoss 2017, S. 114). Da Sebalds Erzählungen sich teilweise auf reale Personen, Ereignisse, Orte und Werke beziehen, könnten die Abbildungen als etwas, das die Geschichte authentifiziert und beglaubigt, verstanden werden. Trotzdem ist ihre Beziehung zum Text innerhalb der Erzählung nicht explizit „geregelt“ (Niehaus 2006, S. 157). Die Bilder haben keine Bildunterschriften und entziehen sich jeder eindeutigen Zuordnung und Verortung. Sie erscheinen unerwartet und zirkulieren durch den Text bzw. „such[en] den Text heim“ (Niehaus 2006, S. 175). Sebald legt nahe: „Das Geschriebene ist ja kein wahres Dokument. Die Fotografie ist das wahre Dokument par excellence“ (Hoffmann 2011, S. 168).

Den Bildern werden verschiedene Funktionen zugeschrieben. Als Erstes verstärken die Fotos den Authentizitätsanspruch des Textes. Die meisten Bilder, die Sebald verwendet, sind authentische Dokumente. Das Bildmaterial für die Ausgewanderten, in diesem Fall für die Geschichte Max Aurachs, ist „vom Autor selbst zusammengestellt“ worden (Sebald 1992, S. 358). Es handelt sich vorwiegend um private Aufnahmen, wobei die Fotos stärker vertreten sind als die anderen Bildmaterialien. So werden die Fotos angefertigt, deren Ziel es ist, Sachen zu dokumentieren: „Ein Foto stellt als materielle Spur des Dagewesenseins seines Motivs fast zwangsläufig einen Wahrheitsanspruch, indem es das von den Figuren Behauptete beglaubigt und so die Zeugenrolle des Erzählers ergänzt“ (Ceuppens 2017, S. 36). Auch steht ein fotografiertes Objekt im Moment der Aufnahme gleichsam still und hebt es aus der Zeit heraus (Tischel 2006, S. 31). Das zeigt sich auch in der Geschichte Max Aurachs: die Augenpartie auf Seite 265 und die Zeichnung auf Seite 240 gehören beispielsweise tatsächlich zu Frank Auerbach (Schütte 2011, S. 110) und die Bilder von Manchester sind tatsächliche Dokumente aus Manchester (Sebald 1992, S. 232; ebd., S. 235; ebd., S. 250). Die Bilder werden so zu einem Ausgangspunkt für die Fiktionalisierung.

Zweitens wird beim Ansehen eines Bilds der Blick selbst befragt. Bilder regen zum Nachdenken an und können unterschiedlich interpretiert werden. Wenn materielle Bilder als

(24)

22 Medium des kulturellen Gedächtnisses und Medium des Nachlebens aufgefasst werden, wird klar, dass sie einen offensichtlichen Teil jener „Denk- Und Erinnerungsarbeit“ (Sebald 2001, S. 172) darstellen. Die „Denk- und Erinnerungsarbeit“ vollzieht sich in Die Ausgewanderten sowohl in den Erinnerungsbildern, als auch im erzählten Text, wobei das verstandene Bild „psychische Prozesse der Wirklichkeitswahrnehmung-, -erinnerung und -darstellung, die Bild und Text, ikonisches und sprachliches Medium gleichermaßen betreffen“, kristallisiert (Winkelvoss 2017, S. 114). Die Bilder wirken konfrontativ und rufen bei den Lesern verschiedene Emotionen, Gedanken und Interpretationen auf und machen den Text lebendig. Einerseits ergänzen die Bilder in Max Aurach den Text. So steht auf Seite 339 ein Foto von der Dame, die der Erzähler auf dem Boot sieht. Andererseits stoppen die Bilder den Lesefluss und ermöglichen so dem Leser, selber verschiedene Perspektiven und Interpretationen einzubringen. So steht auf Seite 266 auf einmal ein undeutliches Foto einer dunklen Landschaft mit hellem Licht, das verschiedene Interpretationen auslösen kann. Die Bilder sind in dem Sinne als Auslöser authentischer Selbstbefragung zu bezeichnen und können neue Erinnerungsprozesse des Lesers in Gang setzen. Wie Sebald sagt: „Beim Schreiben erkennt man Möglichkeiten, von den Bildern erzählend auszugehen, in diese Bilder hineinzugehen, diese Bilder statt einer Textpassage zu subplantieren und so fort“ (Hoffmann 2011, S. 166). Die Bilder gehen also miteinander, mit dem Text, aber auch mit den Lesern assoziative Verbindungen ein.

Die Kraft der Bilder, und wie Bilder Erinnerungen aufrufen können, wird im Text selbst auch thematisiert. Bilder wirken vor und nach und viele Erinnerungen der Protagonisten werden durch Bilder und Wahrnehmungen aufgerufen. So erinnert die „Verdunkelung seiner Haut“ Aurach „an eine Zeitungsnotiz, die ihm unlängst untergekommen sei, über die bei Berufsfotografen nicht unüblichen Symptome der Silbervergiftung“ (Sebald 1992, S. 244). Das Foto auf Seite 255 ruft Aurach wegen einer „krumme[n] Stellung, die ich notgedrungen einnahm“ (ebd., S. 255) ins Gedächtnis. Auch bei dem Erzähler selbst werden Erinnerungen durch Bilder geweckt: „Erst als ich Ende November 1989 in der Londener Tate Gallery durch einen bloßen Zufall […] einem etwa vier auf sechs Fuß messenden Bild mich gegenüberfand, das die Signatur Aurachs trug und den für mich ebenso bedeutungsvollen wie unwahrscheinlichen Titel G.I. on her Blue Candlewick Cover, erst dann begann Aurach in

(25)

23 meinem Kopf wieder lebendig zu werden (ebd., S. 264). Der Erzähler macht den Leser darauf aufmerksam, dass Bilder8 „zu Erinnerungszwecken gemacht worden“ (ebd., S. 353).

Sebald verwendet die Bilder also, um die Erinnerungen und Vorstellungen der historischen Erfahrung aufzubewahren, wobei sie die Authentizität gewährleisten. In der Restitution sind die Bilder ein wichtiger Bezug, da sie in ihrer „vermeintlichen Zeitenthobenheit das bevorzugte Medium der Rettung der vergangenen und vergehenden Zeit“ eine Form von Zeitlosigkeit sein könnten (Winkelvoss 2017, S. 114). Auch gehen die Bilder miteinander, und mit dem Leser, assoziative Verbindungen ein, die über den Erzählrahmen hinausweisen und deren motivische Verknüpfungen fortschreiben. Sie reichern so die Erfahrungen der Zeugen an und lösen verschiedene Interpretationen aus.

Außer den Bildern kommen in Die Ausgewanderten auch andere Authentizitätseffekte vor. Erstens verwendet der Erzähler veraltete Ausdrücke (Schütte 2011, S. 89) und es sind einige Ausdrücke der Zeugen in der Fremdsprache, die sie üblicherweise verwenden, zitiert. Das zeigen die folgenden Beispiele: „[…] wäre nicht auf einmal – like someone who’s popped out of the bloody ground- ein um die sechzig Jahre alter Mensch […]“ (Sebald 1992, S. 259), […] mit jedem Jahr […] ist es mir deutlicher geworden that I am here, as they used to say, to serve under the chimney“ (ebd., S. 287), „Sein Begrüßungswort war: Aren’t we all getting on!“ (ebd., S. 269). Die plötzlich auftretenden englischen Aussagen machen den Leser darauf aufmerksam, dass der, in diesem Fall deutsche, Ich-Erzähler die Geschichte des aus Deutschland vertriebenen Max Aurach vermittelt.

Zum Schluss werden die Aufzeichnungen von Aurachs Mutter auszugsweise dargestellt, die in den Besitz des Ich-Erzählers gelangt sind. Die Auszeichnungen existieren tatsächlich, was sich durch Recherchen von Klaus Gasseleder herausgestellt hat (Schütte 2011, S. 118). Sie stammen von der 1891 geborenen Thea G, einer Tante von Sebalds Vermieter. Er hat sie Sebald zur literarischen Verwendung überlassen und auch die Abbildungen der Villa in Bad Kissingen (Sebald 1992, S. 313) und die Porträtaufnahmen (ebd., S. 326) gehören Thea G (Winkelvoss 2017, S. 118). Die Auszeichnungen sind als „Vertrauensbeweis“ zu verstehen (Schütte 2011, S. 118) und der Erzähler versucht so, die Erinnerungen der Luisa Lanzberg in der Literatur zu speichern.

8

Hier: Die Aufnahmen, die 1987 sorgfältig geordnet und beschriftet in einem hölzernen Köfferchen bei einem Wieder Antiquar (Sebald 1992, S. . 352-353)

(26)

24

4.3 Selbstreflexivität des Autors

Wie im Paragraf 3.1 erörtert worden ist, arbeitet Sebald gegen den historischen Diskurs und die Geschichte wird von einem homodiegetischen Ich-Erzähler erzählt, der die Geschichten der Zeugen rekonstruiert und erzählt. Auf diese Weise steht der Erzähler im Dienst der Nacherzählung, wobei er die Geschichten, aus seinen eigenen Erfahrungen vermittelt. Auch wird der Prozess des Aufschreibens reflektiert und von dem Erzähler beschrieben.

Um Erinnerungen zu speichern, arbeitet der Ich-Erzähler sich durch ein Netz von „Daten, Vorfällen, Nachrichten, Chroniken und Bildern der Vergangenheit“ hindurch. Er begibt sich so auf die Suche nach individuellen Geschichten (Agazzi 2017, S. 209). In der Erzählung reflektiert der Ich-Erzähler seinen Schreibprozess. Er erinnert den Leser daran, dass seine Erzählung auf Quellen basieren, die er zu einer Erzählung umformt. Der Erzähler trifft eine Auswahl darüber, was erzählt wird und was nicht: „Es ist viel mehr dabei gesagt worden, als ich hier werde aufschreiben können“ (Sebald 1992, S. 269). Der Erzähler hat also Einfluss darauf, welche Erinnerungen erzählt, und solchermaßen gespeichert werden. Auch betont der Erzähler, dass die Erzählung nicht als wörtliches Zitat der Quellen aufzufassen ist. So sagt er über die Aufzeichnungen von Luisa Lanzberg: „Ich will versuchen, auszugsweise wiederzugeben, was die Schreiberin, die mit ihrem Mädchennamen Luisa Lanzberg geheißen hat, in ihnen von ihrem früheren Leben erzählt“ (ebd., S. 289).

Der Erzähler berichtet, dass die Aufzeichnungen der Luisa Lanzberg ihn „auf das nachhaltigste beschäftigt [haben] und zuletzt der Anlass gewesen [sind], dass ich, Ende Juni 1991, nach Kissingen und Steinach gefahren bin“ (Sebald 1992, S. 327). Hier findet der Erzähler auf dem Friedhof den Grabstein von Lily und Lazarus Lanzberg, den Eltern der Luisa, und Fritz und Luisa Aurach. Der Erzähler teilt mit: „Ich habe nicht gewußt, was denken, doch eh ich die Stelle verließ, habe ich, wie es Sitte ist, einen Stein auf den Grabstein gelegt“ (ebd., S. 337). Dieses Erlebnis leitet zu einer Passage über, die als Hinweis auf Sebalds Motivation für die Arbeit verstanden werden darf (Schütte 2011, S. 118). Der Erzähler teilt mit, er spüre „doch in zunehmendem Maß, dass die rings mich umgebende Geistesverarmung und Erinnerungslosigkeit der Deutschen, das Geschick mit dem man alles bereinigt hatte, mir Kopf und Nerven anzugreifen begann“ (Sebald 1992, S. 338). Es ist plausibel, dass der Ich-Erzähler mit seiner Schreibarbeit also darauf abzielt, diesen Defiziten entgegenzuwirken, um die Erinnerungen der Ausgelöschten, Vernichteten und Untergegangenen in der literarischen Memoria aufzubewahren.

(27)

25 Trotzdem empfindet der Erzähler das Nachvollziehen der Geschichten als einen mühsamen Prozess. Er versucht, die mündlichen Berichte Max Aurachs und die Aufzeichnungen seiner Mutter Luisa Lanzberg in eine zusammenhängende erzählte Geschichte zu überführen (Catani 2016, o. S.). Die Erinnerungen der Zeugen und das Schreiben der Geschichten kommen hier nämlich zusammen, wobei der Erzähler die Erinnerungen der Zeugen okkupiert und sie aus deren, und seinen eigenen, Erfahrungen aufschreibt. Der Erzähler ist das Medium, über das die Erinnerungen weitergetragen, bzw. transferiert werden. In der Geschichte reflektiert er seine Rolle und Position als Erzähler, bzw. als Medium. Er erfährt das Aufschreiben als eine Herausforderung. Die Erzählung stellt sich als „ein äußerst mühevolles, oft stunden- und tagelang nicht vom Fleck kommendes und nicht selten sogar rückläufiges Unternehmen“ heraus (Sebald 1992, S. 344).

Obwohl der Erzähler einerseits die Geschichten im Kampf gegen das Vergessen aufbewahren will, nimmt er andererseits eine skeptische Haltung gegenüber dem eigenen Erzählen ein. Beim Erzählen werde er nämlich „fortwährend […] von einem immer nachhaltiger sich bemerkbar machenden und mehr und mehr mich lähmenden Skrupulantismus [geplagt]9“ (ebd., S. 344). Dieser „Skrupulantismus“ stellt sich den Erzähl- wie auch Erinnerungsprozessen des Erzählers in den Weg und bezieht sich

„sowohl auf den Gegenstand meiner Erzählung, dem ich, wie ich es auch anstellte, nicht gerecht zu werden glaubte, als auch auf die Fragwürdigkeit der Schriftstellerei überhaupt. Hunderte von Seiten hatte ich bedeckt mit meinem Bleistift- und Kugelschreibergekritzel. Weitaus das meiste davon war durchgestrichen, verworfen oder bis zu Unleserlichkeit mit Zusätzen überschmiert “(ebd., S. 344).

Diese Passage zeigt, dass der Erzähler die Neigung hat, die Erzählung zwanghaft umzuformulieren, bis er den richtigen Ton, die richtige Atmosphäre oder die richtige Resonanz erreicht. Einerseits geht diese Verfahrensweise über die Erzählstrukturen und Schaffensprozesse hinaus, denn „auch in seinen literaturkritischen Schriften beschäftigt sich Sebald immer wieder mit Dichtern10, die ihre eigene Produktion in Frage stellen und die das Gefühl haben, sich in ihre eigene Arbeit zu verlaufen“ (Hutchinson 2009, S. 114), was zu einem unendlichen Prozess der Revisionen und Umschreibungen führt. Andererseits fungiert diese

9 Nach Gray (2017) wird mit „Skrupulantismus“ das ständige und bewusste Korrigieren und Umschreiben der Erzählung gemeint (Gray, S. 134).

10

Dazu gehören nach Hutchinson (2009) unter anderem Kafka, Améry, Mörike, Keller und Walser (S. 114).

(28)

26 narrative Strategie gerade als Möglichkeit, „der totalitären Vereinnahmung einer fremden Geschichte vorzubeugen und die subjektiven, auch unzuverlässigen Strategien des ‚eigenen‘ Erzählens dieser Geschichte darzulegen“ (Catani 2016, o. S.). So demonstriert Sebald mittels der Reflexionen die Kraft, aber auch die Schwierigkeiten, des literarischen Diskurses, um menschliche Erfahrungen, Emotionen und Veranstaltungen in eine Erzählung aufzunehmen (Wolff 2009, S. 330), sodass die Erinnerungen im Medium der Literatur aufbewahrt werden können.

5. Fazit

In dieser Arbeit ist untersucht worden, wie Sebald versucht, mit seinem literarischen Erinnerungsprojekt, dem „Versuch der Restitution“, die Geschichte aufzubewahren. Zusammenfassend kann man festhalten, dass Sebald sich schon in seiner Jugend das Ziel setzt, den Kampf gegen die Kunst des Vergessens zu betreiben. Im Laufe der Jahre entwickelt er eine konkrete Vorstellung davon, was Literatur kann und soll. Er setzt das Medium der Literatur als Mittel der Erinnerung ein und nennt den „synoptische[n] Blick“ (Sebald 2003a, S. 248) als Mehrwert der Literatur. Das heißt, dass der Autor aus einer Distanz die Erinnerungen und Geschehnisse aufschreibt: „immer [wieder wird] daran erinnert, dass es so von jemandem erzählt worden ist, dass es durch den Filter des Erzählens gegangen ist“ (Doerry & Hage 2001, S. 233). So geht Literatur „über die Registrierung der Tatsachen und über die Wissenschaft hinaus“ (ebd.), was einen „Versuch der Restitution“ ermöglicht. Die Literatur wird also zu einem Erinnerungsort, wo Erinnerungen aufbewahrt bleiben. Sebald versucht vor allem die individuellen, unbekannten Geschichten zu retten, die den Bestandteil einer allgemeinen Netzstruktur formen und mit großen historischen Ereignissen verknüpft sind. Sebald mischt in seinen Erzählungen Dokumentarisches und Fiktion, da nach ihm „An der Nahtstelle zwischen Dokument und Fiktion literarisch die interessanten Dinge entstehen“ (ebd., S. 230).

Sebald orientiert sich in seinen Werken an Benjamins Erzähltheorie und Geschichtsphilosophie. Nach Benjamin ist es die Aufgabe des Erzählers, eine Geschichte aus der eigenen Erinnerung und Erfahrung weiterzugeben: „Der Erzähler nimmt, was er erzählt, aus der Erfahrung. […] Und er macht es wiederum zur Erfahrung derer, die seiner Geschichte zuhören“ (Benjamin 2007, S. 107). Die Verbindung zwischen Geschichte und Gedächtnis ist

(29)

27 also beträchtlich und macht Erinnerungen lebendig. Was bei Benjamin nur eine mündliche Übergabe ermöglicht, versucht Sebald im Medium der Literatur hervorzubringen.

Aus der Hauptfrage dieser Arbeit: „Mit welchen literarischen Mitteln konkretisiert W.G. Sebald das von ihm formulierte Erinnerungsprojekt?“, die am Beispiel von der Erzählung Max Aurach aus Die Ausgewanderten erörtert worden ist, gehen verschiedene Antworten hervor. Erstens ist der Erzähler nicht der Protagonist der Geschichte, sondern die Geschichte des Protagonisten wird von einem homodiegetischen Ich-Erzähler erzählt. Er berichtet aus einer bestimmten Distanz und überträgt kein hohes Maß an Emotionalität. Trotzdem gehen Erfahrungen des Erzählers in die Geschichte hinein, woraus sich der Einfluss von Benjamins Erzähltheorie und Geschichtsphilosophie zeigt. Weil in der Geschichte wörtliche Dialoge zwischen dem Erzähler und dem Protagonisten fehlen, nehmen die Erzähltechniken eine wichtige Rolle ein. Viele Passagen sind in der indirekten Rede geschrieben, was den Lesern zeigt, dass der Erzähler das, was Aurach ihm erzählt hat, vermittelt. Jedoch wechselt der Erzähler oft zwischen der direkten und indirekten Rede, was zur Folge hat, dass es manchmal unklar ist, wer spricht. Nach Johanssen (2008) ist zu behaupten, dass der Erzähler durch diesen Wechsel „einer unzulässigen Identifizierung mit den Opfern [entgeht]“ (S. 38) und so versucht, ein Zeugnis abzulegen. Die Erzählung wird von dem Autor so präsentiert, dass verschiedene Geschichten in der Erzählung zusammengefügt werden. Dies kann als „das periskopische Erzählen“ bezeichnet werden (Schäfer 2017, S. 145). Auch wird der Leser mit Phrasen wie „sagte er“ oder „dachte ich“ oft darauf aufmerksam gemacht, dass der Erzähler berichtet, was ihm von den Zeugen erzählt worden ist. So versucht Sebald die Geschichte auf „vermittelte Weise“ (Doerry & Hage 2001, S. 233) zu präsentieren.

Zweitens verwendet Sebald Authentizitätseffekte. Der Erzähler gebraucht veraltete Ausdrücke (Schütte 2011, S. 89) und Ausdrücke in der Fremdsprache. So macht der Erzähler den Leser darauf aufmerksam, dass er die Geschichte einer aus Deutschland vertriebenen Person erzählt. Auch existieren die Aufzeichnungen von Aurachs Mutter tatsächlich (Schütte 2011, S. 118). Am Beträchtlichsten sind jedoch die vielen Bilder, die in den laufenden Text eingefügt worden sind. Sie haben keine Bildunterschriften und entziehen sich jeder eindeutigen Zuordnung. Einerseits verstärken die Bilder und Fotos den Authentizitätsanspruch des Textes, da die meisten Bilder authentische Dokumente sind. Sie werden so zu dem Ausgangspunkt für die Fiktionalisierung des Textes. Andererseits fordern die Bilder eine Selbstbefragung des Lesers. Die Bilder wirken konfrontativ und rufen bei den Lesern verschiedene Emotionen und

Referenties

GERELATEERDE DOCUMENTEN

 Waar kijk je het meest naar uit als de meeste mensen straks gevaccineerd zijn en we weer

Leden van de VGN willen medewerkers faciliteren om het werk goed te kunnen doen?. Dit vraagt om de

• Aanbieders hebben niet altijd de ruimte om al een strategische planning te maken omdat ze afhankelijk zijn van de plannen van de gemeente.. Hierdoor moeten ze vaak juist de

Der Fall Deutschland scheint für die vorliegende Analyse besonders interessant zu sein und der empirische Untersuchungszeitraum bezieht sich auf die Zeitperiode 2002 bis

In de literatuur zien we dat de lerende organisatie vaak wordt beschreven in het licht van haar kenmerken; een door het management ondersteunde stimulerende leeromgeving

„zomaar‟ gebeuren. Wetenschappelijke en technische innovatie, die zo wordt toegejuicht door onze cultuur, blijkt ook vaak hardnekkige gevoelens van wantrouwen, weerstand en

Dat leerlingen stilstaan bij hun eigen houding ten opzichte van de katholieke christelijke godsdienst, is een voorwaarde voor de bepaling van een nieuwe open houding en visie:

Das Regime nutzt insbesondere auch informelle Mechanismen, um die Stärke der Opposition auszugleichen und sie zu manipulieren (vgl. Dafür werden zwei