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Maschbers: Verfall einer Gesellschaft: Ist Pinchas Kahanewitsch Di Mischpoche Maschber eine Buddenbrooks-Parodie?

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Academic year: 2021

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Masterarbeit Literature, Culture and Society: German Assoc. prof. Y. Hagbi

Assoc. prof. A. Mohnkern

Studienjahr 2016–2017, 2. Semester

Maschbers: Verfall einer Gesellschaft

Ist Pinchas Kahanowitsch’ Di Mischpoche Maschber eine

Buddenbrooks-Parodie?

Esther Opgenoorth 9067167 Karveel 59-38 8242 WG Lelystad estheropgenoorth@xs4all.nl

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Inhaltsverzeichnis

1 Einführung

1.1 Das 19. Jahrhundert und seine literarische Aufarbeitung . . . 2

2 Hintergründe 2.1 Die Geschichte der Juden in Polen und Russland: ein Überblick . . . 6

2.2 Der Nister und sein HauptwerkDi Mischpoche Maschber . . . 8

2.3 Der sozialistische Realismus . . . 10

3 Buddenbrooks und Maschber: formale Ähnlichkeiten 3.1 Das Haus als Metonymie . . . 12

3.2 Die Personenkonstellation . . . 15

3.3 Die Pöppenrader Ernte und der Pretchistaja-Markt . . . 20

3.4 Zwei Sterbebetten: Nechamke Maschber und Elisabeth Buddenbrook . . . 24

4 Buddenbrooks und Maschber: ein thematischer Vergleich 4.1 Wirtschaft . . . 27

4.2 Krankheit . . . 30

4.3 Religion . . . 35

5 Maschber: eine Buddenbrooks-Parodie? 5.1 Funktion der Parodie . . . 42

5.2 Maschber als Kommentar zu und Ergänzung von Buddenbrooks . . . 44

5.3 Maschber als jüdische Apologetik . . . 46

5.4 Maschber als Ende der 'großen Erzählungen' . . . 49

5.5 Ausblick: IstMaschber eine Buddenbrooks-Parodie? . . . 51

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1 Einführung

1.1 Das 19. Jahrhundert und seine literarische Aufarbeitung

Das neunzehnte Jahrhundert brachte eine Welle wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Erneuerungen in Europa, die heutzutage gemeinhin als “Moderne” angedeutet werden, ein ebenso umfassender wie nebulöser Ausdruck. Für die Bevölkerung des Kontinents bedeuteten diese Erneuerungen eine Her-ausforderung gigantischen Ausmaßes, die den Ökonom Karl Polanyi, der 1944 eine Studie zu den Um-wandlungen des 19. Jahrhunderts vorlegte, veranlasste, seinen Forschungsgegenstand in drastischen Redewendungen zu kennzeichnen:

“Der Wesenskern der Industriellen Revolution des 18. Jahrhunderts war die geradezu ans Wunder-bare grenzende Verbesserung der Produktionsmittel, begleitet von einer katastrophalen Erschütterung des Lebens des einfachen Volkes.”1In seiner Analyse der Voraussetzungen und Folgen der Industriel-len Revolution beschreibt Polanyi, wie die Umschaltung auf maschinelle Produktionsverfahren diverse gesellschaftliche Neuregelungen forderte. Dadurch, dass der Bedarf nach Arbeitern seitens der Fabrik-besitzer stärker wechselte als vorher, wurde die meist sesshaften Arbeiterschaft aus ihrer regionalen Verbindung losgelöst, und entstand eine Nationalökonomie. Diese Lockerung der traditionellen Ver-bände führte zu ungeahnten neuen Aufstiegschancen für Individuen und Gruppen, ging aber zugleich mit einem Verlust althergebrachter Sicherheiten und der Pauperisierung vieler Angestellter einher. Auch auf mehr persönlicher Ebene waren die Einflüsse der Entwicklungen spürbar. Die allmähliche Verlagerung der Warenproduktion in Fabriken bedeutete das Ende der Familie als Produktionseinheit, und führte zum Aufstieg der Kleinfamilie, die sich aus Eltern und ihren Kindern zusammensetzte.

In der Literatur wurden die Folgen der technischen und wirtschaftlichen Entwicklungen, die im-mer mehr Bereiche des Zusammenlebens umfassten, eingehend reflektiert. Der Roman, ein im deutsch-sprachigen Raum noch relativ junges literarisches Genre, erwies sich dabei als geeignete Form um diese Reflektionen zur Sprache zu bringen. Unter den populärsten Romanen, die um 1900 weltweit erschie-nen, finden sich viele Familien- oder Generationenromane, Romane, in denen die Ereignisse in einer Kleinfamilie als roter Faden der Erzählung funktionieren. Die ersten vier Jahrzehnte des 20. Jahrhun-derts werden heute als die Blütezeit des Familienromans betrachtet, in der die Klassiker des Genres erschienen.2Zwei dieser Werke sind zum Musterbeispiel des Generationenromans schlechthin gewor-den, und tauchen in allen Diskussionen zum Genre auf: John Galworthy’s The Forsyte Saga (1906– 1921) und Thomas MannsBuddenbrooks (1901). Der letzte Roman, für den Mann 1929 den Nobelpreis bekam, wurde auch in kommerzieller Hinsicht ein eklatanter Erfolg. Von den deutschsprachigen Aus-gaben wurden bisher mehr als 10 Millionen Exemplaren verkauft. Wie viele Übersetzungen weltweit veräußert wurden, scheint nicht genau bekannt zu sein.

Nach der Meinung des ungarischen Literaturhistorikers Csaba Gy. Kiss war Thomas Manns Werk “richtunggebend für die literarische Öffentlichkeit in Ungarn”3, was angesichts der engen

histori-1Karl Polyani: The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und

Wirtsschaftssys-teme. Berlin: Suhrkamp Verlag. (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. 206.), S. 59.

2Hierbei denke man an Samuel ButlersThe way of all flesh (1903), R. Martin Du Gards Les Thibaults (1922–1928) und Marxim

GorkisDas Werk der Artamanovs (1925).

3Csaba Gy. Kiss: Bemerkungen zum Problem des sogenannten Generationenromans in Ostmitteleuropas. In:

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schen Verbindungen zwischen den deutschsprachigen Gebieten und Ungarn auch einigermaßen auf der Hand liegt. Aber auch im übrigen Osteuropa muss sein Einfluss beachtenswert gewesen sein. Das ist wenigstens eine mögliche Erklärung für die auffälligen Ähnlichkeiten zwischenBuddenbrooks, und dem klassischen jiddischen FamilienromanDi Mischpoche Maschber.4 Der jüdisch-ukrainische Schrift-steller Pinchas Kahanowitsch veröffentlichte 1939 den ersten Teil dieses umfangreichen Romans, der zu seinem bekanntesten Werk wurde. In diesem Roman, der spielt in der Stadt N., einer Stadt die auffällige Ähnlichkeiten mit Berditschew, dem Geburtsort des Autors, aufweist, geht eine wohlhaben-de Kaufmannsfamilie unter. Insgesamt werwohlhaben-den, wie in Buddenbrooks, fünf Generationen der Familie Maschber porträtiert. In der dritten Generation geraten zwei Brüder, die unterschiedliche Lebensent-würfe repräsentieren, miteinander in Konflikt, und beschleunigen so den Bankrott des Familienunter-nehmens. Außerdem werden verschiedene Familienmitglieder krank, und untergraben religiöse Kon-flikte den Zusammenhalt der Familie. Kurz: es gibt auf struktureller und thematischer Ebene deutlich erkennbare Ähnlichkeiten zwischenBuddenbrooks und Maschber. Auch auf Szeneniveau sind Parallele erkennbar: Nechamke Maschbers Tod ähnelt dem Ableben von Elisabeth Buddenbrook, und in den Skizzen der Pöppenräder Ernte und der Pretschistaja-Markt werden grundsätzlich dieselbe Vorgänge geschildert; allerdings sind die Perspektiven unterschiedlich.

Die bewusste Übernahme wichtiger Strukturmerkmale eines bekannten Werkes, und deren wahr-nehmbaren Wiederverwendung in einem neuen Werk, wird Parodie genannt. Vor einigen Jahrhun-derten bezeichnete der Begriff eine literarische Randerscheinung; die Definition beschränkte sich auf spöttische narrative Gedichte zu belanglosen Themen, in denen das Metrum und die Sprache der klas-sischen Epen beibehalten waren.5 Allerdings wiesen die russischen Formalisten im 20. Jahrhundert darauf hin, dass Parodien weiter verbreitet sind als bisher angenommen wurde, und dass sie verschie-dene Funktionen haben können. Diese Bemerkungen haben zu einer literaturwissenschaftlichen Erör-terung der Parodie geführt, die bis heute andauert.

Linda Hutcheon stellt in ihrer 1985 erschienenen Monographie eine durchaus umfassende Parodie-Definition auf: “[I]t is imitation with critical ironic distance, whose irony can cut both ways. Ironic versions of “trans-contextualization” and inversion are its major formal operatives, and the range of pragmatic ethos is from scornful ridicule to reverential homage.”6 Obwohl diese Definition gerade

aufgrund ihrer Weite problematisch ist, weil sie die Abgrenzung zu 'verwandten' Vorgängen, wie Sati-re, Pastiche und Plagiat erschwert, kommen in ihr einige interessante Aspekte zum Tragen. An erster Stelle weist Hutcheon darauf hin, dass eine Parodie mehr ist als eine bloße Verspottung ihres Originals, wie in vielen älteren Definitionen betont wird.7Als Argument zieht sie Tynjanows Analyse der Gogol-Parodien in Dostojewskis Werk heran: “Tynjanov revealed Dostoevsky’s indebtedness to Gogol, but also his use of parody as a mode of emancipation.”8

4In dieser Arbeit wirdDi Mischpoche Maschber weiterhin kurzerhand als Maschber bezeichnet.

5Linda Hutcheon: A Theory of Parody. The teachings of twentieth-century art forms. New York: Methuen Verlag 1985,

S. 32.

6Ebd, S. 37.

7MH. Abrams umschreibt die Parodie in seiner Übersicht literarischer Begriffe folgendermaßen: “A parody imitates the

se-rious manner and characteristic features of a literary work[. . . ] and deflates the original by applying the imitation to a lowly or comically inappropriate subject.” In: MH Abrams: A Glossary of literary terms. Ninth Edition. Boston: Wads-worth Cengage Learning, 2009, S. 33.

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In vielen modernen Parodien wird nicht das Original, sondern die Neubildung aufs Korn genom-men; in dem Vergleich zwischen Elizabeth Bennet, die Protagonistin in Jane AustensPride and Preju-dice, und Helen Fieldings Romanfigur Bridget Jones, zieht die leichtgläubige und ungeschickte Bridget den Kürzeren. Die Gleichstellung der beiden Damen erzielt ihren komischen Effekt, gerade weil sie unberechtigt ist. 1995, als Bridget Jones anfing ihr Tagebuch zu schreiben, gab es die Hindernisse, die Elizabeth Bennet 1813 noch von ihrem Herrn Darcy trennten, schon längst nicht mehr. Theodor Adorno akzentuierte den Belang dieser 'Transkontextualization' in seiner Parodie-Definition: “Em-phatisch heißt Parodie die Verwendung der Formen im Zeitalter ihrer Unmöglichkeit.”9

Inwiefern darf manMaschber als Buddenbrooks-Parodie bezeichnen? Auf jeden Fall schimmern in dem neuen Werk die Strukturen des Älteren durch. Jedoch werden in beiden Romanen unterschied-liche Akzente gelegt: der Untergang der Familie Maschber wird von Faktoren herbeigeführt, die in Buddenbrooks nebenrängig sind. In dieser Arbeit werden zur Beantwortung dieser Frage zuallererst die offensichtlichen Ähnlichkeiten zwischen den beiden Romanen beleuchtet, sowohl auf der strukturel-len Ebene als auf dem Niveau individueller Szenen: welche Elemente in ihnen sind gleich, welche sind unterschiedlich? Nach dieser Untersuchung der formalen Parallelen wird erforscht, inwiefern beide Romane, die in ganz unterschiedlichen Zeitaltern entstanden, inhaltlich dieselbe Botschaft vermitteln. Anhand von drei zentralen Themen wird besprochen, wie beide Autoren die Krise im bürgerlichen Milieu im 19. Jahrhundert erklären und bewerten. Anhand dieser einführenden Untersuchung wird besprochen welche Funktion diese Übernahme formaler und thematischer Buddenbrooks-Elemente erfüllen könnte. Zum guten Schluss wird ein Versuch unternommen, die erstgenannte Frage zu beant-worten: istMaschber tatsächlich eine Buddenbrooks-Parodie? Wie aus dieser ersten Skizze hervorgeht, ist diese Arbeit angelegt als Übersicht über zwei eher umfangreiche Romane. Das heißt, dass an man-chen Stellen auf theoretisman-chen Tiefgang verzichtet werden musste, und viele Themen eher kurz berührt wurden. Außerdem wird in dieser Germanistik-Arbeit bei der Bearbeitung der religiösen Thematik oft auf das Werk christlicher Autoren zurückgegriffen und werden öfters relativ gründliche Kenntnisse vonBuddenbrooks vorausgesetzt.

Wie im Vorangehenden schon angedeutet wurde, spielt der Kontext in der Funktion der meisten Parodien eine wichtige Rolle. Dies ist auch bei Maschber der Fall: erstens hatte sich dieser Kontext in wenigen Jahrzehnten tiefgreifend geändert. Die Umwandlungen der Lebensumstände im Russland der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts müssen zu einer Besinnung auf ihren Ursachen geführt haben, die eine Rekonstruktion der jüngeren Geschichte nahelegten. Außerdem hat der Kontext -konkret: die Machtverhältnisse in der Sowietunion- die Form dieser Rekonstruktion geprägt. Die sowjetischen Zensoren legten Wert auf eine 'wahrheitsgetreue' Wiedergabe der Lebensumstände im Zarenreich; ihre Ansprüche waren verbindlich für jeden sowjetischen Autor, der nicht 'für die Schublade' schreiben wollte.

Wer mehr wissen will über die Realität, die Der Nister in seinem Roman beschreibt, nämlich das Leben der Juden in Berditschew in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts, war bis zum Fall der Sowjetunion fast ausschließlich auf die Interpretation sowjetischer Historiker angewiesen, die drasti-sche Einschränkungen ihres Spielraumes dulden mussten, genauso wie die Autoren. Erst in den letzten

9Theodor Adorno: Versuch, das Endspiel zu verstehen. Hier zitiert von:

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Jahrzehnten wird ihre Darstellung dieser Ära ergänzt und stellenweise korrigiert. Das Tempo hält sich aber in Grenzen; wer sich für die jüdische Geschichte Osteuropas interessiert, wird schon bald mit dem geringen Umfang des Fachgebietes 'Jewish Studies' konfrontiert. Dennoch sind einige Kenntnisse zu dieser Epoche in der jüdischen Geschichte unumgänglich: ohne sie kann der Leser sich die Hand-lungsalternativen von Der Nisters Protagonisten nicht vorstellen.

Aus diesem Grund befasst sich der nächste Abschnitt dieser Arbeit mit den Hintergründen zum Roman. In ihm werden die Lebensumstände in der Ansiedlungsrayon und die Vorschrifte des sozia-listischen Realismus ansatzweise skizziert. Außerdem wird die Biographie von Pinchas Kahanowitsch kurz besprochen, und dargelegt, unter welchen Umständen sein Hauptwerk zustande kam.

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2 Hintergründe

2.1 Die Geschichte der Juden in Polen und Russland: ein Überblick

“Die rechtliche und soziale Lage der Juden in Osteuropa war originär ein Problem der polnisch-litauischen Adelsrepublik. Das Zarenreich lud es sich, gleichsam als Fluch der bösen Tat, im Zuge der Annexionen seit 1772 auf.”10 so schreibt Manfred Hildermeier in seiner Einführung zur rechtli-chen Lage der Juden in Polen und Russland. Vor dieser Zeit hatte es in Russland nicht mehr als wenige Tausende Juden gegeben.

In Polen lebt der größte Teil der jüdischen Bevölkerung 'zwischen den Klassen', in einem Leerraum zwischen Adel und Bauernschaft. Einerseits waren die Juden keine Leibeigenen und konnten die Män-ner unter ihnen meist lesen und schreiben. Andererseits wurde der Zutritt zu dem Adelsstand und der damals noch winzigen mittleren Klasse in den Städten ihnen verwehrt. Demzufolge arbeiteten viele Juden in 'Mittler-berufen': sie waren beschäftigt in der Verwaltung adliger Güter, pachteten Schenken auf dem Land, und hatten im Handel oft Mittlerfunktionen zwischen Bauern und Stadtbewohnern inne. Diese Existenzgrundlage hatte erhebliche Nachteile, die sich im Laufe der nächsten Jahrhun-derte geltend machen wurden. Zum Ersten war der Lebensunterhalt der jüdischen Verwalter von der feudalen Gutswirtschaft abhängig, und deren allmählichen Rückgang im Laufe des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts bedeutete für sie einen empfindlichen Verlust ihrer Erwerbschancen. Au-ßerdem drohten die Juden bei Auseinandersetzungen zwischen Adel und Bauern zwischen die beiden Parteien zu geraten. Die Ermordung zehntausender Juden im Zuge des Chmielnicki-Aufstandes 1648– 1657 beweist, dass diese Möglichkeit nicht nur hypothetisch war, und dass die Folgen verheerend sein konnten.

Die adligen Herrscher Russlands waren um die Modernisierung ihres Reiches bemüht, das im 19. Jahrhundert militärisch und wirtschaftlich erkennbar hinter den westeuropäischen Ländern zu-rückgeblieben war. Die Bildung einer 'eigenen' Bürgerschicht wurde dabei einerseits als notwendiger Schritt begrüßt, aber andererseits von vielen Adligen, die den Verlust ihrer althergebrachten Privilegi-en befürchtetPrivilegi-en, abgelehnt.11Gegen diesen Hintergrund wurde die Einverleibung mehrerer Millionen 'klassenlosen' Juden, die sich nicht einfach in das rigide russische Standessystem eingliedern ließen, als Problem wahrgenommen. Außerdem baten die Moskauer Kaufleute darum, von der Konkurrenz mit den Neuankömmlingen gefeit zu werden. Aufgrund dieser Überlegungen wurde 1791 die An-siedlungsrayon ins Leben gerufen, ein Gebiet, das die westlichen Gouvernements Russlands umfasste. Den neuen jüdischen Einwohnern des Zarenreiches wurde die Niederlassung außerhalb dieses Gebie-tes zunächst verboten, aber zugleich wurde ihre Assimilation, die als wichtigste Voraussetzung für die Aufhebung dieser Beschränkung des Wohnrechts galt, durch eine Reihe von Berufsverboten, Einschu-lungsquoten und anderen gesetzlichen Maßnahmen erschwert. Die Alphabetisierung der russischen

10Manfred Hildermeier: Die rechtliche Lage der jüdischen Bevölkerung im Zarenreich und in Polen: einige vergleichende

Aspekte. In: Juden in Ostmitteleuropa. Von der Emanzipation bis zum Ersten Weltkrieg. Hrsg. von Gotthold Rohde. Marburg an der Lahn: Johann Gottfried Herder Institut, 1989 (= Historische und Landeskundliche Ostmitteleuropa-Studien 3), S. 181–196.

11Sehe hierzu: Manfred Hildermeier: Geschichte Russlands vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution. München: CH Beck

Verlag, 2013. Das skizzierte Bild ist eine sehr grobe Zusammenfassung von Entwicklungen die in mehreren Kapiteln einge-hend beschrieben werden.

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Bevölkerung, die eifrig vorangetrieben wurde, bewirkte eine weitere Abnahme der Arbeitsplätze für Juden, ebenso wie die Einrichtung der ersten Textilmühlen außerhalb der Ansiedlungsrayon um 1880. Zuletzt zog die Ermordung des progressiven Zars Alexander II 1881 eine Welle von Aufständen und Pogromen nach sich. Die Behörden ordneten daraufhin die Umsiedlung aller auf dem Land lebenden Juden in die Städte an, wo sie angeblich besser gegen Angriffe beschützt werden konnten, zugleich aber den Kampf um die letzten Arbeitsplätzen noch verschärften.

In diesen miserablen wirtschaftlichen Umständen erwies sich die doppelte Obrigkeit -die Juden waren neben der russischen Staatsverwaltung auch der jüdischen Gemeinde oder Kehilla unterstellt, die für die Steuereinnahmen zuständig war, und außerdem das öffentliche Leben in allen Einzelheiten bestimmte- als Last.12 Die jüdischen Gemeindevorsteher hielten vor allem ihre eigenen Interessen im Blick und verfügten über eine Skala an Möglichkeiten um eventuellen Rivalen das Leben zu erschwe-ren. Dieser Machtmissbrauch untergrub die religiöse Bewegungsfreiheit des Individuums und führte im Allgemeinen zu einer Innenwendung der jüdischen Gemeinschaft.

Es ist kaum überraschend, dass die Zahl der jüdischen Auswanderer in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts stark anstieg. Insgesamt wanderte zwischen 1881 und 1921 ungefähr ein Drittel der jüdischen Einwohner der Ansiedlungsrayon aus, vorzugsweise nach Amerika.13,14Die

Zurückgeblie-benen lebten in den Städten in bitterster Armut, wobei um 1900 in den Städten 25–30% der Einwohner auf Armenhilfe angewiesen war, die von ihren Glaubensgenossen, denen es kaum besser ging, geleistet werden musste. Armut, Aussichtslosigkeit und Diskrimination: das ist die Wirklichkeit, die Pinchas Kahanowitsch in seinem Roman beschreibt.

12Inge Blank: Haskalah und Emanzipation. Die russisch-jüdische Intelligenz und die “jüdische Frage” am Vorabend der

Epoche der “Großen Reformen”. In: Juden in Ostmitteleuropa. Von der Emanzipation bis zum Ersten Weltkrieg. Hrsg. von Gotthold Rohde. Marburg an der Lahn: Johann Gottfried Herder Institut, 1989 (=Historische und Landeskundliche Ostmitteleuropa-Studien 3), S. 197–232, hier S. 203.

13Gottfried Schramm: Die Juden im Europäischen Osten um das Jahr 1900: Zwischenbilanz eines Minderheitenproblems.

In: Juden in Ostmitteleuropa. Von der Emanzipation bis zum Ersten Weltkrieg. Hrsg. von Gotthold Rohde. Marburg an der Lahn: Johann Gottfried Herder Institut, 1989 (= Historische und Landeskundliche Ostmitteleuropa-Studien 3), S. 3– 20, hier S. 10. Allerdings kommen verschiedene Historiker zu einigermaßen unterschiedlichen Ergebnissen. Diese sind abhängig von den untersuchten Gebieten und dem berücksichtigten Zeitraum.

141921 wurde in Amerika die Emergency Quota Act angenommen in einem Versuch, die Immigration aus -unter

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2.2 Der Nister und sein Hauptwerk Di Mischpoche Maschber

Kahanowitsch konnte beim Beschreiben des 19. Jahrhunderts noch aus seinen eigenen Jugenderinne-rungen schöpfen. Er wurde -laut einer Biographie die er 1947 für den Schriftstellerverband der UdSSR abfasste- 1884 in Berditschew geboren.15 Er besuchte das Cheder und die Yeschiva, und lebte ab 1900 als Hebräischlehrer. 1904 verließ er seine Geburtsstadt um den gehassten russischen Armeedienst zu entkommen. 1907 veröffentlichte er unter dem Pseudonym Der Nister (“Der Verschollene”) sein ers-tes Buch,Gedanken un Motiven- Lider in Prosa.16 Von 1922 bis 1926 lebte Der Nister in Berlin und Hamburg, wo er zwei weitere Bücher,Gedacht und Mayselech in Fersen,17veröffentlichte. Dann kehrte er in die Sowjetunion zurück. Dort wurde er mit starken Veränderungen seiner Arbeitsumständen konfrontiert.

Die Machtübernahme Stalins 1929 hatte für die sowjetische Literatur weitreichende Folgen. Sta-lin, der den Künsten ein reges Interesse entgegenbrachte, prägte den sozialistischen Realismus, in der Praxis eine Sammlung von Richtlinien die es zu befolgen galt. Der Nister, der sich bisher wie viele rus-sischen Autoren als symbolistischer Schriftsteller betrachtet hatte, wurde gezwungen, seine Erzählart an die neuen Vorgaben anzupassen. Es war, wie er seinem Bruder, dem Pariser Bildhauer Motl (Max) Kahanowitsch 1935 schrieb, eine äußerst schwierige Aufgabe:

In der Sowjetunion ist für den Symbolismus kein Platz, und wie Du weißt, bin ich immer Symbolist gewesen. Für jemanden wie mich, der darum bemüht war, seine Methode und Stil zu vervollkommnen, ist eine Wende von Symbolismus zum Realismus unmöglich. Sehr schwer zumindest. Es ist keine Sa-che der Schreibtechnik -man muß neu geboren werden und seine Seele völlig umkrempeln; sozusagen sein Innerstes nach außen kehren. Ich habe verschiedene Versuche gemacht. Anfangs kam nichts dabei heraus. Doch jetzt habe ich anscheinend den Weg gefunden.

Die sowjetischen Kritiker waren offensichtlich mit Der Nister einer Meinung, denn der erste Teil von Di Mischpoche Maschber wurde 1939 vom Jiddischsprachigen Verlag Der Emes in Moskau herausgege-ben, und von Kritikern wohlwollend aufgenommen. Dieser Erfolg sicherte Der Nister einen kargen Lebensunterhalt bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. In Taschkent, wo er die Kriegsjahre ver-brachte, verfasste er einen zweiten Teil, der allerdings nicht in der Sowjetunion erscheinen durfte. Dieser Teil, und die zweiteilige Gesamtausgabe wurden 1948 in New York herausgegeben. Der Nister hatte vor, seine Chronik der Familie Maschber fortzusetzen, und dementsprechend spielt die Erzähler-instanz im letzten Kapitel auf eine Weiterführung an, die von Mayerl, Mosches Enkel, übernommen werden soll:

Und wir möchten hinzufügen, daß dieser Mayerl, dem wir wegen seiner unbedeutenden Rolle, die er als Kind in unserer Erzählung spielen konnte, nur wenig Zeit und Aufmerksamkeit gewidmet haben, in den letzten Teilen dieses Buches eine weit wichtigere Rolle spielen wird: denn wir möchten den Dingen ein wenig vorgreifen und rechtzeitig sagen, daß ein großer Teil der späteren Beschreibungen des Hauses Maschber diesem Mayerl zufallen wird, der als Chronist und glaubwürdiger Zeuge dessen auftreten wird, was dieser Familie später widerfuhr. . .18

15Vorwort zu Maschber, S. 4. 16Nachwort zu Maschber, S. 976. 17“Märchen in Versen”.

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Es gibt Anzeichen dafür, dass es diese Fortsetzung tatsächlich gegeben hat: in der Jiddischsprachigen Zeitschrift Sovietish Heymland, die von 1961 bis 1991 erschien, wurden einige Skizzen mit dem Titel Funem finftn yor (“Aus dem fünften Jahr”) veröffentlicht, in denen die Lage um 1890 dargestellt wur-de.19 Allerdings ist der dritte Romanteil verlorengegangen. Pinchas Kahanowitsch selbst wurde 1949 im Zuge einer Aktion gegen jüdische Schriftsteller verhaftet. Er starb ein Jahr später in einem Gefäng-niskrankenhaus.

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2.3 Der sozialistische Realismus

Das Jahr 1929, in dem Stalin die Macht in der Sowjetunion an sich zog, wird in russischen Geschichts-büchern “das Jahr des großen Bruches” genannt.20Es dauerte nicht lange, bevor der Leiter der

Sowjetu-nion anfing, sich mit kulturellen Angelegenheiten auseinanderzusetzen. 1931 veröffentlichte er einen Brief in einer historischen Zeitschrift, in dem er einen früheren Beitrag kritisierte: “He made it clear that there could be one and only one version of historical events, and only one correct interpretation, namely his.”21

Dieser Brief war der Auftakt für eine tiefgreifende Umgestaltung der russischen Geisteswissen-schaften, die sich auch -oder gerade in- den Instituten für Minoritäten gelten ließ. Die Mitarbeiter des jiddischen Instituts in Minsk fielen ab 1934 einer ersten Welle der Verfolgungen zum Opfer, so dass das Schwergewicht der Jiddischsprachigen Literaturkritik sich nach Kiev verlagerte. Für Der Nister, der derzeit abseits von den Wirren in Charkow lebte, erwiesen sich diese Entwicklungen als vorteilhaft, weil sein Werk von den Minsker Kritikern nicht geschätzt wurde: “They attacked Der Nister for «re-actionary and petit-bourgeois morals» and «empty metaphysics, mysticism, idealism and ubiquitious reaction»”.22

Wie hatte denn ein sowjetischer Roman auszusehen? Dobrenko fasst die fünf Prinzipien der damals vorgegebenen 'artistischen Methode' folgendermaßen zusammen: Ideinost (oder “ideological commit-ment”), Partiinost (oder “party-mindedness”), Narodnost (“popular spirit”), “historicism” und “typi-cality”.23Die Begriffe “Ideinost” und “Partiinost” sind leicht zu erklären: sie besagen, dass der Autor die Pflicht hat, sich bei der Darstellung der Wirklichkeit von der marxistisch-leninistischen Geschichts-auffassung, insbesondere deren letzten von der Partei vorgegebenen Interpretation, lenken zu lassen. “Narodnost” ist hingegen ein mehr umfassender Begriff: er beinhaltet sowohl stilistische als inhalt-liche Eigenschaften. Um 1920 konnte rund 44% der russischen Bevölkerung lesen und schreiben.24

Angesichts des niedrigen Bildungsniveaus dieser neu heranzubildenden Leserschaft wurden abstrakte und modernistische literarische Experimente verpönt: die Literatur des Volkes hatte leicht verständlich und unterhaltsam zu sein, und sich vorzugsweise an folkloristischen -und daher bekannten- Formen zu orientieren. Auf inhaltlicher Ebene übernahm das Narodnostprinzip ähnliche Aufgaben wie etwa das Schmutz- und Schundgesetz der Weimarer Republik. Zur Erhebung des Volksgeistes galt es, eine heile Welt abzubilden, mit der 'das Volk' sich identifizieren, und für die es sich einsetzen konnte. Das De-kadente, das Morbide, ein zu großes Maß an Nihilismus wurden nicht geschätzt. “Historicism” hieß, dass das Leben in seiner revolutionären Entwicklung dargestellt werden sollte. “Typicality” zu guter

20Evgeny Dobrenko: Socialist Realism. In: The Cambridge Companion to Twentieth Century Russian Literature. Hrsg. von:

Evgeny Dobrenko und Marina Balina. Cambridge: Cambridge University Press. Auf: http://dx.doi.org/10.1017/CCOL9780521875356.006., hier S. 98.

21Mikhail Krutikov: Learning Stalin’s Yiddish: Two debates on Literary Theory at the Kiev Institute for Jewish Proletarian

Culture in the Spring of 1932. In: The Politics of Yiddish. Hrsg. von Schlomo Berger. Amsterdam: Menasseh ben Israel Institute, 2010 (=Amsterdam Yiddish Symposium 5), S. 8.

22Mikhail Krutikov: Turning my soul inside out. Text and Context of the Family Mashber. In: Uncovering the hidden. The

Works and Life of Der Nister. Hrsg. von: Kerstin Hoge, Gennady Estraikh und Mikhail Krutikov. London: Legenda, Modern Humanities Research Assiciation and Many Publishing, 2014 (= Studies in Yiddish 12), S. 112.

23Dobrenko 2011, S. 100.

24Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion 1917–1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates.

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Letzt, bedeutete “that «life must be depicted in the forms of life itself» (This is why Socialist Realism did not tolerate any form of non-realism, fantasy or play.)”25

Das Vorwort zuMaschber liest wie eine Zusammenfassung dieser Prinzipien: “Die in diesem Buch geschilderte Welt -die wirtschaftliche Grundlage, auf der sie ruhte, ihre sozialen und ideologischen Konflikte und Interessen- existiert längst nicht mehr,”26 so fängt der Verfasser an, damit ein für

alle-mal sichtbar wird, dass er die Thesen des Marxismus-Leninismus (und somit das Prinzip der Ideinost) verinnerlicht hat. Anschließend nennt er die Thematik des Buches, Untergang, und verbindet sie mit den Ansprüchen des “historicism”: “Bei der Beschreibung dieser Menschen [. . . ] habe ich mich be-müht,[. . . ] nicht herauszuschreien, daß sie zum Untergang verdammt sind. Ich habe sie vielmehr ru-hig auf ihrem historisch bedingten Weg in den Abgrund weiterschreiten lassen.”27 Zuletzt beruhigt er eventuelle Kritiker hinsichtlich der “typicality”: “Beim Schreiben dieses Buches habe ich mich an die Grundsätze des künstlerischen Realismus gehalten: Das heißt: ich bin der berühmten Forderung Goethes gefolgt: «Maler, male -und dann schweig»”.28

Diese linientreue Einführung lässt vermuten, dass der Nister am Ende seines Vorwortes auf die bolschewistische Revolution anspielt, wenn er schreibt: “Es wuchsen damals schon jene Kinder heran, die sich später von den Traditionen ihrer Vorfahren abwenden und den in früheren Jahrhunderten angehäuften Humus durch das Feuer zerstören wurden. Ich möchte meinen Blick folglich auf jenes Feuer richten, das insgeheim bei der Jugend loderte.”29 Aber dieser Eindruck täuscht: die wirtschaft-lichen Verhältnisse die letztendlich zur Revolution führten, spielen im Roman, allerdings in seinem zweiten Teil, eine eher untergeordnete Rolle.

Wie aus dieser Arbeit hervorgehen wird, ist es fraglich ob der Nister mitMaschber tatsächlich einen rein realistischen Roman vorgelegt hat. Vielmehr scheint es ihm gelungen zu sein, wie Leonard Wolf bemerkt, seinen Symbolismus den Ansprüchen des sozialistischen Realismus anzupassen.30

Was Pinchas Kahanowitsch dazu bewogen hat,Buddenbrooks als Vorlage für seinen Roman zu be-nutzen, ist nicht bekannt. Wahrscheinlich hat er das Werk während seines Aufenthaltes in Deutschland in den zwanziger Jahren kennengelernt. Es ist durchaus vorstellbar, dass die Thematik sein Interesse geweckt hat. Außerdem galt Thomas Mann als realistischer Schriftsteller, und schien sein Werk Gnade zu finden in den Augen der Sowjetzensoren.31 In dem nächsten Abschnitt werden in erster Instanz

die Strukturen und Szenen besprochen, die Der Nister anscheinend bewusst ausBuddenbrooks in sei-nen neuen Roman übernommen hat. Dabei werden die Ähnlichkeiten, aber auch die Unterschiede fokussiert, und erste Interpretationsansätze vorgeschlagen.

25Dobrenko 2011, S. 101. 26Maschber, S. 7. 27Maschber, S. 7. 28Maschber, S. 7. 29Maschber, S. 8.

30“Deer (sic) Nister as Leonard Wolf puts it, «has created a realistic novel and compelled it to serve his symbolist

imaginati-on.»” Krutikov 2014, S. 137.

31Wenigstens wurde Manns Werk sowohl in der DDR als auch in der Sowietunion in den fünfziger und sechziger Jahren

sehr geschätzt. Dazu: Yi Zhang: Rezeptionsgeschichte der deutschsprachigen Literatur in China von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bern: Peter Lang Verlag, 2007, S. 186.

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3 Buddenbrooks und Maschber: formale Ähnlichkeiten

3.1 Das Haus als Metonymie

“Nun, so soll von deinem Hause das Schwert nimmermehr lassen, weil du mich verachtet und die Frau Uris, des Hethiters genommen hast, daß sie deine Frau sei.”32 Dieses Zitat aus dem zweiten Buch Sa-muel beweist, dass die Metapher, die eine Familie und deren Wohnsitz aufeinander bezieht (“das Haus David”) schon Tausende Jahre alt ist. Als Topos hat sie sich bis zur heutigen Zeit bewährt: Familienro-mane fangen häufig an mit einer Beschreibung des Familienhauses, und sei es nur, weil es eine der ers-ten Aufgaben eines realistischen Schriftstellers ist, seinen Leser mit den Räumlichkeiers-ten der Erzählung vertraut zu machen. Ein gewiefter Autor nutzt diese Gelegenheit um die Thematik seines Werkes vor-zustellen. Beispielsweise ist die Schilderung des Gartens, mit der die Erzählung in FontanesEffi Briest anfängt, nicht nur eine Aufnahme von Geburtshaus und Grabstätte der Hauptprotagonistin. Die in ihr vorgeführte Schaukel und “alten Platanen, die ihm den Blick entziehen”33nehmen symbolisch die

Thematik vorweg: ein junges Mädchen geht an der Ehe mit einem viel älteren Mann zugrunde. Auch die Erzählungen in Buddenbrooks und Maschber öffnen, nach einigen einleitenden Bemer-kungen, mit einer Beschreibung des Familienhauses. Dieses Haus, das der Familie am Ende der Er-zählung verlorengeht, wurde in beiden Werken erstanden nach dem finanziellen Ruin seines vorigen Besitzers. “Mit «Ratenkamp & Comp.» fing es damals[1682; EO] an, aufs glänzendste bergauf zu ge-hen. . . Traurig, dieses Sinken der Firma in den letzten zwanzig Jahren. . . ”34heißt es inBuddenbrooks

kopfschüttelnd während der Einweihungsfeier im Jahre 1835. Draußen geht ein “feiner, kalter Regen hernieder.”35Etwa 500 Seiten später wird das Haus an Hermann Hagenström, einen hart arbeitenden, weltoffenen Geschäftsmann, dessen Mutter Jüdin ist, verkauft.36

Mosche Maschber hat sein Haus von einem untergegangenen Adligen übernommen, und anschei-nend setzt die Erzählung in Di Mischpoche Maschber dort an, wo sie in Buddenbrooks aufhörte. Al-lerdings werden alle hoffnungsfrohen Erwartungen schon bei der Vorstellung dieses Hauses zunichte gemacht. Diese Vorstellung erfolgt mittels eines Traumes, an dessen Anfang Mosche in seinem Garten steht. Der Erzähler gibt das Geträumte folgendermaßen wieder:

Mosche spürt durch den Kaftan und das Taschentuch hindurch, wie ihm das Herz vor Freude im Leibe hüpft. Kinder, Enkelkinder, verwandte und Freunde sehen ihn an und freuen sich mit ihm.[. . . ] Alles ist schön, gut. Aber Mosche spürt eine kleine Wolke an seinem Freudenhimmel. Er glaubt die Gegenwart eines Fremden zu ahnen, der sich in seinem Haus aufhält.37

Es stellt sich heraus, dass der Fremde der ehemalige Besitzer des Hauses ist. Mosche folgt dem Blick dieses Adligen und entdeckt, dass das Haus lichterloh brennt. Sein Bruder Lusi scheint den Brand angezündet zu haben. Auch Mosches gestorbener Vater ist zugegen: “Der Vater weint, wendet sich von

322. Buch Samuel 12; 10.

33Theodor Fontane: Effi Briest. Stuttgart: Reclam Verlag, 2002, S. 5. 34Buddenbrooks, S. 17.

35In diesem norddeutschen Roman weist schlechtes Wetter auf den Untergang hin.

36Im Thomas Mann Handbuch heißt es: So gesehen wird es kaum Zufall sein, wenn die Juden seines Frühwerks gerne als

Rivalen der seinem Herkunftsmilieus entstammenden Figuren auftreten: Hagenström vs. Buddenbrook; Jimmerthal vs. Kröger; Spinell vs. Klöterjahn usw. In: Thomas Mann Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Hrsg. von Andreas Blödorn und Friedhelm Marx. Stuttgart: Metzler verlag, 2015, S. 248.

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Lusi und seinen Hexenkünsten ab und zittert am ganzen Körper.”38 Der Traum veranlasst Mosche noch am selben Tag dazu, eine Grabstätte zu reservieren. Er lädt seine Verwandten und Freunde ein, um den Kauf zu feiern. Demzufolge wird die Buddenbrooksche Einweihungsfeier inMaschber zu einer vorbereitenden Trauerfeier.

Mit seiner Bemerkung über Lusis “Hexenkünsten” macht Mosches Vater auf ein wichtiges Thema im Roman, in beiden Romanen, aufmerksam: gottloses Benehmen führt zum Ruin. In beiden Roma-nen wird die biblische Verbindung zwischen religiösen Irrtümern und dem Untergang des 'Hauses' gleich am Anfang der Erzählung präsentiert. Allerdings befindet sich diese Präsentation in den beiden Romanen nicht am selben Platz: währendBuddenbrooks 'in medias res' öffnet, wird der Blick des Le-sers inMaschber erstmals auf die Umgebung der Familie gelenkt. In Maschber sind nämlich nicht nur die begüterten Kreisen an den dargestellten Ereignissen beteiligt, sondern die ganze Einwohnerschaft der Stadt. Der Übersicht halber hat Der Nister seine Geburtsstadt für seine Beschreibung symbolisch umgestaltet: “Es sind drei Ringe, aus denen die Stadt N. besteht. Erster Ring: der Marktplatz in der Stadtmitte. Zweiter Ring: um den Platz herum gruppiert die zahlreichen Häuser, Straßen, Gäßchen der eigentlichen Stadt, in denen der größte Teil ihrer Bewohner haust. Der dritte Ring: die Vororte.39 Aus dem Stadtplan, der der niederländischen Ausgabe vonMaschber beigefügt wurde, geht hervor, dass dieser konzentrische Aufbau der Wirklichkeit nicht entspricht. Sie ist wesentlich eine Erfindung des Verfassers und illustriert den gesellschaftlichen Aufbau in seinem Roman: jeder Ring symbolisiert eine soziale Schicht, die Macht befindet sich im Zentrum.

Die Beschreibung des Treibens auf dem Markt umfasst etwa die ersten zwanzig Seiten. Den Skiz-zen und Dialogen ist zu entnehmen, dass es bei den Geschäften oft nicht mit rechten Dingen zugeht. Eine Veränderung des Erzählstils tritt auf, sobald der Erzähler sich den Häusern um den Markt zu-wendet: “Hätte sich derselbe Fremde[. . . ] beim Verlassen des Marktes den nächstliegenden Häusern zugewandt, wäre ihm als erstes eine Reihe altmodischer ein-, zwei-, oder mehrstöckiger Gebäude aufge-fallen, die in einem völlig aus der Art geschlagenen Stil[. . . ] errichtet wurden.”40Ab diesem Übergang

wird dem Buddenbrookschen Muster -die Beschreibung des Gebäudes nimmt die Schicksale seiner Be-wohner symbolisch vorweg- konsequent gefolgt. Die Synagogen der Stadt N. schmiegen sich an den Markt an, und symbolisieren so das innige Verhältnis zwischen Reichtum und Frömmigkeit, dass auch das “Deus Providebit” auf dem Giebel der Wohnung der Buddenbrooks zum Ausdruck bringt. Aus der Darstellung der litauischen Synagoge, die an dieser Stelle als Beispiel herangeführt wird, weil sie so kernig ist, geht unmissverständlich hervor, dass der Erzähler den Mitnagdim wenig Achtung entge-genbringt: “An den vier Wänden sind mit Ketten Leuchter angebracht, deren kaltes Licht wärmt, noch strahlt. Die Gläubigen die hier beten, sind kalt und gefühllos -es sind Litauer.”41

Die Beschreibung der Gebetshäuser -jede gesellschaftliche Gruppe in N. scheint seine eigene Syn-agoge zu haben- unterstreicht zum einen die Heterogenität der Bevölkerung in N., zum anderen die Vielfalt der anwesenden chassidischen Sekten.42 Nach dieser einführenden Darstellung des

erzähle-38Maschber, S. 72. 39Maschber, S. 11. 40Maschber, S. 22. 41Maschber, S. 26.

42Um 1900 war 90% der Bevölkerung von Berditschew jüdischer Abstammung. Die Mehrheit von ihnen gehörte einer

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rischen und historischen Umfelds scheint Der Nister seinen Leser auf den eigentlichen Anfang der Erzählung vorzubereiten: “Jetzt müssen wir uns wieder dem Zweiten Ring der Stadt zuwenden, einem seiner Häuser, auf dessen Geschichte ich nun ausführlich eingehen will.”43Darauffolgend eröffnet der zweite Kapitel mit der Vorstellung der Familie Maschber und ihrer Wohnung.

Wie aus dem Vorangehenden hervorgeht, sind die Ähnlichkeiten bei der Vorführung der beiden Familien nicht zufällig. In Gegenteil: sie wurden absichtlich und mit Bedacht herbeigeführt. In seinem Roman, der anfängt wie ein Gesellschaftsroman, zoomt Der Nister allmählich an seine Protagonisten heran, wobei er schrittweise den Schwerpunkt seiner Darstellung verlagert. Dominieren am Anfang handelnde Menschen seine Bilder, im Laufe des ersten Kapitels wendet sich seine Aufmerksamkeit in einer Imitation vonBuddenbrooks nach und nach ihren Behausungen zu.

Die namenlose Stadt, die inBuddenbrooks nahezu hinter den Hauptrollendarstellern zu verschwin-den droht, wird inMaschber mittels der verdoppelten Einführung ins Rampenlicht gestellt. Der Markt, deren Gesetze Mosche Maschber letztlich obliegt, wird hier als das lenkende Element in der Erzählung bekanntgegeben. Die Religion, die inBuddenbrooks am Rande des Narrativs erscheint, bekommt ihren symbolischen Platz zwischen Markt und Wohnhäusern, Gesellschaft und Privatleben, zugewiesen. Es sind kleine Verschiebungen, die sich im Laufe des Narrativs als gewichtig erweisen werden.

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3.2 Die Personenkonstellation

Großvater Johann Buddenbrook bricht schon auf der ersten Seite des Romans, der seinen Namen trägt, in Gelächter aus, während seine Enkeltochter Tony auf seinem Geheiß die Katechismus hersagt. “Er lachte vor Vergnügen, sich über den Katechismus mokieren zu können, und hatte wahrscheinlich nur zu diesem Zwecke das kleine Examen vorgenommen. Er erkundigte sich nach Tony’s Acker und Vieh [. . . ] und erbot sich, mit ihr Geschäfte zu machen.”44 Sein Sohn Jean sieht seinem Vater mit

Bedauern zu: “Aber Vater, Sie belustigen sich wieder einmal über das Heiligste.”45 Was hier auf den ersten Blick aussieht wie ein harmloser Zwischenfall, symbolisiert wesentlich den Kern des Romans: das gottlose Verhalten des Stammvaters führt zum Untergang seines Hauses in der vierten Generation. InBuddenbrooks erfolgt dieser Untergang durch Krankheit.

Krankheit ist ein wichtiges, vielleicht sogar das zentrale Thema inBuddenbrooks. Die zerstöreri-sche Erbanlage, die in jeder Generation schlimmere Folgen nach sich zieht, erweist sich innerhalb des Romans als organisierendes Prinzip. Zum Ersten bestimmt sie Fortgang und Ausgang der Erzählung. Außerdem sind die zunehmende Labilität der Protagonisten, und die Steigerung ihres Leidens als Me-tapher für das Zugrundegehen des Wirtschaftsbürgers zu begreifen, dessen gesellschaftlicher Stellung und Umgangsformen zunehmend als sinnlos wahrgenommen wurden.

Katrin Max hat in ihrer umfassenden Monographie Niedergangsdiagnostik46 die Bedeutung des

Krankheitsmotivs inBuddenbrooks näher analysiert. Dabei hat sie als Erstes versucht, die Krankheits-erscheinungen in der Familie zu diagnostizieren anhand der zeitgenössischen medizinischen Literatur. Laut Max lassen sich die Beschwerden der Buddenbrooks sich als Symptome eines sogenannten Dege-nerationsprozesses erklären. Die Degeneration, oder Dégénérescence wurde am Anfang des 19. Jahr-hunderts vom französischen Nervenarzt Morel als Krankheitsbild beschrieben. Es handelte sich dabei um eine progressive Erkrankung, die innerhalb einer Familie zum Untergang führte, indem sie ih-re Träger zu unterschiedlichsten psycho-somatischen Krankheiten prädisponierte. Als Ursache wurde moralisch anfechtbares Handeln der Eltern während der Zeugung ihrer Nachkommen angenommen. Morels Hypothese erwies sich in zweierlei Hinsicht als besonders fruchtbar, zum Einen weil sie Ärzten erlaubte, stark unterschiedliche Krankheiten kausal miteinander in Beziehung zu setzen, und zum An-deren weil sie die familiäre Bündelung von Krankheit und sozialer Problematik, die in großen Städten so oft wahrgenommen wurde, zu erklären half.47

Max bemerkt, dass die religiös-philosophischen Wurzeln des Degenerationsbegriffes bis zum Ende des 19. Jahrhunderts leicht erkennbar blieben, trotz der immer stärkeren Hinwendung der Medizin zu biologischen Erklärungsmustern. Als Argument führt sie unter anderem heran, dass Fallbeschreibun-gen der DeFallbeschreibun-generation meist auf vier Generationen ausgerichtet wurden:48,49

44Buddenbrooks, S. 7. 45Buddenbrooks, S. 9.

46Katrin Max: Niedergangsdiagnostik: zur Funktion von Krankheitsmotiven in “Buddenbrooks”. Frankfurt am Main:

Klos-termann, 2008.

47Zweifellos hat die Kombination von medizinischen und moralischen Aspekten im Degenerationskonzept auch seinen Reiz

für den Schriftsteller Thomas Mann ausgemacht, weil sie ihn erlaubte, die narratologische und thematischen Ebenen in seinem Roman miteinander zu verbinden.

48Katrin Max 2008, S. 56.

492. Mose 20; 8: “Denn ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifernder Gott, die die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte

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Das religiös-philosophisch motivierte Konzept Morels wurde ganz im Sinne der somatisch orientier-ten Medizin des späorientier-ten 19. Jahrhunderts umgedeutet zu einem auf physikalischer Kausalität beruhen-der Prozess.[. . . ] [Die] bei ihm beschriebenen moralischen Ursachen und sittlichen Verfallssymptome [wurden dennoch] beibehalten. Sie wurden nun aber konsequent positivistisch hergeleitet, indem man sie als Auslöser einer wie immer gearteten Keimesschädigung betrachtete.50

Max rekonstruiert den Untergang der Buddenbrooks folgendermaßen: Johann Buddenbrooks zwei-te Heirat aus finanziellen Motiven und seine grundlose Enzwei-terbung seines erstgeborenen Sohnes hat bei seinem zweiten Sohn Jean zu einer Keimesschädigung geführt. Diese Keimesschädigung liegt Jeans all-gemeiner Nervosität zugrunde, und zieht in den folgenden Generationen immer schlimmere Folgen nach sich: Thomas’ Neurasthenie, Christians Hypochondrie und “Hysterie”51, und Hannos “mäng-lende Vitalität”52 und generelle “Lebensuntauglichkeit”53.

Zusammenfassend führen die Sünden des Großvaters den Untergang der Familie herbei. Dieser zentrale Gedankengang, den Thomas Mann anhand von medizinischen Einsichten erzählerisch um-setzt, ist auch inMaschber präsent, und wird dort erarbeitet aus religiöser und gesellschaftlicher Sicht. Denn auch Großvater Maschber, dessen Name nicht bekannt ist, hat eine schwere Schuld auf sich ge-laden. Er sei -so heißt es wenigstens- zeitlebens ein Anhänger Schabbatai Zvis gewesen: “Und bei einer der berüchtigten Versammlungen schabbatanischer Rabbiner, bei der sie sich in irgendeiner Stadt zur Zeit des Markts irgendwo einschlossen und um eine nackte Frau, ihre Hohepriesterin, herumtanzten, war auch der Vater Reb Joels unter den Tanzenden.”54,55 Aus christlicher Sicht sind die Sünden der beiden Stammväter nicht grundverschieden, denn Habsucht und Götzenanbetung werden oft gleich-gestellt, wie zum Beispiel aus diesem Zitat aus Martin Luthers großer Katechismus hervorgeht:56

Es ist mancher, der meint, er habe Gott und alles genug, wenn er Geld und Gut hat; er verläßt und brüstet sich darauf so steif und sicher, daß er auf niemand etwas gibt. Siehe: dieser hat auch einen Gott, der heißt Mammon, das ist Geld und Gut, darauf er all sein Herz setzt, was auch der allergewöhnlichste Abgott auf Erden ist.57

Man könnte sagen, dass die beiden Familien an derselben Fehler zugrundegehen. Zudem gibt es große Ähnlichkeiten in der Weise, auf der die späteren Generation mit der Sünde ihres Stammvaters umgehen. In beiden Romanen versuchen die Söhne sein Fehlverhalten durch übertriebene Frömmig-keit wettzumachen. Joel Maschber hat “durch sein ständiges Fasten[die Welt] sehr früh verlassen.”58 Sein religiöser Eifer entspricht Jean Buddenbrooks ellenlangen Gebeten, die -weil sie schriftlich festge-halten werden- das Familienarchiv stark ausdehnen lassen. Die Anstrengungen der beiden Söhne haben

50Katrin Max 2008, S. 41. 51Ebd, S. 169.

52Ebd, S. 207. 53Ebd, S. 199.

54Der Einfluss von diesem falschen Messias ging nicht unmittelbar nach seinem Tod 1676 zu Ende. Auch in späteren

Genera-tionen, bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, gab es Nachfolger, die sich heimlich trafen.

55Maschber, S. 50.

56Obwohl 'das Judentum' Wohlstand und Reichtum in der Regel wohlwollend gegenübersteht, wird allgemein auf ihre

Vergänglichkeit hingeweisen, und davor gewarnt, dass Geld und Reichtum Mittel sein sollen, kein Ziel. Aufgrund dieser Rahmenbedingungen ist der Unterschied zum Protestantismus praktisch nicht besonders groß.

57Martin Luther: Der Große und der Kleine Katechismus. Ausgewählt und bearbeitet von Kurt Aland und Hermann Kunst.

Mit einem Geleitwort von Karlheiz Stoll und einer Einführung von Horst Reller. 3. Auflage. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2003, S. 10.

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gemeinsam, dass sie ergebnislos bleiben, weil sie mit aufrichtiger Gottesfurcht wenig zu tun haben, we-nigstens in den Augen der Erzählerinstanzen. Der Erzähler inMaschber führt einen passierenden Rabbi zutage, der Joel Maschber beim Lernen überhört. Er zerreißt sich das Hemd und sagt: «Siehe, ein Jude studiert die Thora um ihrer selbst willen. . . Wie schade», fügte er hinzu, «daß er das, was er durch das Studium gewinnt, durch das Fasten verliert.»59Der Erzähler inBuddenbrooks gibt Jean Buddenbrooks

Verhalten unkommentiert wieder: “Nein, Papa!» beschloß er mit einer energischen Handbewegung und richtete sich noch höher auf. «Ich muß Ihnen abraten, nachzugeben.»”60Aber diese Unterschiede können nicht darüber hinwegtäuschen, dass beide Söhne die Gelegenheit verpassen, um einen Strich unter das Geschehene zu ziehen.

In der Generation der Enkelkinder ist die Familie in beiden Romanen zu weltlichem Ansehen gelangt. Die Familienfirma blüht, und ihre Inhaber bekleiden eine Machtposition in der Stadt. Den-noch sind die ersten Zeichen der bevorstehenden Krise unverkennbar: Mosche hat in seinem Geschäft mit dem Adligen Rudnicki einen empfindlichen Verlust einstecken müssen, und Thomas fällt es zu-nehmend schwer, sich gegenüber seinem Rivalen Hagenström zu behaupten. Zudem entwickelt sich ein Streit zwischen Thomas und Mosche einerseits und ihren Brüdern andererseits, die ihre Weltori-entiertheit als sinnlos, bzw. verdorben wahrnehmen. Lusi und Christian weisen beide auf die kor-rumpierenden Eigenschaften von Geld und Reichtum hin. Zwar formuliert Lusi seine Kritik nicht in Christians harten Redewendungen,61 aber trotzdem spürt Mosche wie sein Bruder ihm zunehmend kritisch gegenübersteht, wie dieses Zitat belegt:

Zweitens war da Lusi: eine wahre Zentnerlast auf Mosches Gewissen.[. . . ] Im wesentlichen geht es darum, und Mosche ist sich dessen nur allzu bewußt, daß sein Bruder gegen ein Grundprinzip revoltiert, das von aller Welt akzeptiert wird, und die Grundlage der Gesellschaft bildet: daß man nämlich das Recht hat, nach immer mehr Geld zu streben, reich zu werden ohne sich dessen zu schämen.62

Mosche und Thomas gehen geschwächt aus diesem Bruderzwist hervor, der nicht nur ihrem Prestige in der Stadt schadet, sondern auch dazu führt, dass sie ihre bisherige Lebenshaltung in Frage stellen. Während Mosche und Thomas mit sich hadern, sind sie weniger als vorher imstande, ihren Proble-men energisch entgegenzutreten. Ihre Selbstzweifel spielen eine wichtige Rolle bei dem Bankrott ihrer Firmen und scheinen zudem ihre Gesundheit zu untergraben. Obwohl die mehr jenseitsorientierte Le-bensentwürfe von Christian und Lusi durchaus mit Sympathie seitens der Erzählerinstanzen rechnen dürfen, wäre es nicht richtig zu behaupten, dass sie siegreich aus den Auseinandersetzungen hervorge-hen. Lusi muss die Stadt, wo man ihm der 'Ketzerei' beschuldigt, in der Hast verlassen, und Christian wird von seiner Frau in eine Irrenanstalt eingesperrt, wo er den Rest seines Lebens verbringen muss.

In der vierten Generation gehen beide Geschlechter unter: Mosche und seine Frau Gitl sterben kurz nacheinander, und auch Mosches jüngste Tochter Nechamke stirbt.63 Nur Judith, seine älteste Tochter, bleibt am Leben und läuft händeringend und mit geröteten Augen im Hause herum. Bei den Buddenbrooks bleiben nach Hannos Tod nur Damen übrig, die den Namen Buddenbrook nicht länger

59Maschber, S. 50.

60Buddenbrooks, S. 35. Jean Buddenbrook meint, dass sein Vater seinen Halbbruder nicht finanziell entschädigen soll für

seine Enterbung.

61“Eigentlich und bei Lichte besehen sei doch jeder Geschäftsmann ein Gauner”. Buddenbrooks, S. 216. 62Maschber, S. 173.

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tragen: Tony, die sich Permaneder rufen lässt, ihre Tochter Erika Grühnlich, ihre Enkelin Elisabeth Weinschenk und die kleine Gisela Puvogel.64

Wie aus der Personenkonstellation hervorgeht, treten in beiden Romanen in jeder Generation vergleichbare Dilemmas auf, wobei der Schwerpunkt sich allmählich verlagert von innerfamiliären Auseinandersetzungen in der ersten und zweiten Generation zu allgemeinen Lebensfragen in späteren Generationen. In beiden Werken ermöglicht der gesellschaftliche Aufstieg der Familie und ihre fort-schreitende Integration in die führenden Kreisen der Stadt diesen Übergang von Familienroman zu Gesellschaftsroman.

Allerdings lässt sich auch aus der Personenkonstellation ableiten, dass die Geschichte in beiden Werken anders ausgeht. Das Übrigbleiben von lauter Frauen in den letzten Buddenbrooks-Genera-tionen symbolisiert, dass ihre gesellschaftliche Rolle zu Ende ist. Demgegenüber wird in Maschber auf weitere Teilen der Familienchronik angespielt, wobei Mosches ältester Enkel Mayerl als künftiger Chronist vorgestellt wird. Ob Mayerl Judiths oder Nechamkes Sohn ist, wird vom Erzähler wahr-scheinlich absichtlich in der Schwebe gelassen, damit der Familienname seines Vaters -Grodztain oder Lentscher- nicht preisgegeben werden muss, und anstatt dessen die Fortsetzung der Geschlechtslinie hervorgehoben wird. Selbstverständlich ist Mayerl, der Hoffnungsträger, ein Junge. Er weckt die glei-chen messianisglei-chen Assoziationen, die einst Hannos Geburt umgeben haben und an jener Stelle vom Buddenbrookschen Erzähler spöttisch kommentiert wurden: “[E]r, auf dem längst soviele Hoffnun-gen ruhen, von dem längst so viel gesprochen, der seit lanHoffnun-gen Jahren erwartet, ersehnt worden, den man von Gott erbeten, und um den man Doktor Grabow gequält hat. . . er ist da und sieht ganz unscheinbar aus.”65 In Gegensatz zu Töchtern verkörpert ein Sohn neue Hoffnung, einen dringend benötigten Neuanfang in einer Gesellschaft, die an ihren überkommenen Gewohnheiten zu ersticken droht.66

Die revolutionäre Rolle der Männer zeigt sich übrigens schon in der dritten Generation; der Ge-schlechtsaufbau in beiden Stammbäume ist an dieser Stelle nämlich unterschiedlich. Thomas und Christian haben zwei jüngere Schwester, Tony und Clara; Lusi und Mosche haben hingegen einen jüngeren Bruder, Alter. Es ist möglich, dass die etwas merkwürdige Bemerkung mit der der Erzähler Alter introduziert, auf diesen Unterschied anspielt: “Es kann sein, daß dies nicht der Ort für ihn ist, und es kann auch sein, daß ganz allgemein für jemanden wie ihn hier kein Platz sein sollte.”67 Al-ters Biographie weist große Ähnlichkeiten auf mit dem Lebenslauf der Buddenbrook-Schwester: seine Frau heiratet ihn nur um ihre finanzielle Zukunft sicherzustellen und seine Ehe zerbricht, wie die beide Ehen von Tony. Genauso wie Clara, die stirbt an Gehirntuberkulose, leidet er an einer Gehirn-krankheit, und seine Korrespondenz mit biblischen Figuren erinnert an Clara’s nebelhafte Religiosi-tät. Allerdings ist die Romanfigur Alter in manchen Hinsichten vielschichtiger als Tony und Clara: seine Gesundheitszustand entwickelt sich im Laufe der Erzählung zum Gradmesser der moralischen

64Christian meint, dass Gisela seine Tochter sei. Diese Vermutung wird vom Erzähler weder bestätigt, noch entkräftet. 65Buddenbrooks, S. 270.

66In sowohlBuddenbrooks als Maschber wird an dem klassischen Bild der Frau festgehalten, wobei eine Frau als Ehefrau und

Mutter für das Wohlergehen der Familie zuständig ist, und ihr außerhalb der Ehe keine Rolle von Bedeutung offensteht. Die meisten Frauen in beiden Romanen, vielleicht mit Ausnahme von Gnessje, sind konservativ und streben danach, den Status quo zu kontinuieren.

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Beschaffenheit der Familie Maschber. Alter erleidet eine erste epileptische Attacke am Abend, an dem Mosche und Lusi sich überwerfen, und eine zweite am Abend seiner unvernünftigen Verlobung mit der Angestellten Gnessje, die die gesellschaftlichen Unterschiede zwischen ihnen hervorhebt und bei-den Unglück bereitet. Während Lusi und Mosche allmählich zur Einkehr kommen, erholt Alter sich: zwar bleibt er bis zum Ende des Romans krank und schonungsbedürftig, aber seine Attacken sind vorbei, seine Gedanken werden klarer, und er kann immer öfter sein enges Zimmer verlassen. Alter durchlebt eine Krise, aus der er stärker hervortritt, und wird damit zur Metapher für die Familie und die Stadt N. schlechthin. Dass Alters Erholung im Frühling stattfindet, gegen einen Hintergrund von Tauwetter und Sonnenschein, ist kaum zufällig.

Außerdem ist Alter, der Außenseiter, in Gegensatz zu Tony und Clara aktiv an der Veränderung der Verhältnisse beteiligt. Er ist derjenige, der sich als erster mit Vassiliy, seinem Leidensgenossen und dem einzigen Christ im Haushalt, anfreundet. Diesem Schritt wird vom Erzähler viel Aufmerksamkeit geschenkt:

Beide betrachteten sich mit einer Mischung aus Vertrautheit und Distanz, und dennoch genügte beiden ein einfaches Zeichen, um sich zu verständigen. Man konnte auch sehen, wie diese beiden trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft[. . . ] ein Gefühl brüderlicher Zusammenhörigkeit verband, da sie in ihrem Schicksal als Behinderte zweifellos eine gewisse Gemeinsamkeit fanden und auch eine Rechtfertigung für ihre wortlose Sprache.68

Zusammenfassend führt eine nähere Analyse der Personenkonstellation in beiden Romanen zu der Schlussfolgerung, dass die Romanfiguren in allen Generationen gleichartigen Herausforderungen aus-gesetzt werden. Dennoch endetMaschber vorsichtig positiv, während die Buddenbrooks endgültig un-tergehen.

Dass Der Nister für diese Verwandlung einer Tragödie in eine Komödie gute Gründe hatte, wird in späteren Kapiteln noch besprochen werden. Vorerst ist es wichtig, festzustellen, dass diese Entschei-dung auch auf der inhaltliche Ebene des Romans folgenreich war: sie verbot nämlich die Übernahme der Buddenbrookschen Krankheit als lenkendes Motiv. Die infauste Prognose der Degeneration ist mit einem 'happy End' letztlich unvereinbar; die abnehmenden Lebenskräfte der Buddenbrooks ste-hen einem Neubeginn im Wege, und macste-hen ihren Untergang unausweichlich. Obwohl in Maschber viele Adlige an Erscheinungen leiden, die an eine hereditäre Entartung erinnern, bleibt die Familie Maschber von dieser Krankheit gefeit. In den gleichartigen Szenen, die in den nächsten Abschnitten besprochen werden sollen, werden daher vor allem wirtschaftliche und religiöse Themen erörtert.

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3.3 Die Pöppenrader Ernte und der Pretchistaja-Markt

Obwohl vier Generationen von Buddenbrook-Männern ihr ganzes Arbeitsleben im Kontor verbrin-gen, wird der Leser nur dürftig informiert über die Geschäfte, die dort gemacht werden. Der deutsche Literaturwissenschaftler Jochen Vogt hat zu Recht bemerkt, dass die Tätigkeiten im Kontor wesent-lich “aus der Perspektive der Frauen und Kinder der Familie” geschildert werden.69Nur ein Geschäft, der misslungene Kauf der Pöppenräder Ernte, wird in allen Einzelheiten besprochen. Dieses glücklose Geschäft ist die Vorlage für die Missgeschicke, die Mosche Maschber letztlich den Kopf kosten.

Tony Buddenbrook, die jüngere Schwester von Thomas, versucht ihren Bruder eines Abends zu überreden, dem adligen Ehemann ihrer Jugendfreundin Armgard finanziell unter die Arme zu greifen. Er hat sich tief verschuldet, und seine Wechsel mit einem Gesamtwert von 35.000 Kurantmark sind fällig:

Ralf von Maiboom ist ein liebenswürdiger Mann, Thomas, aber er ist ein Junker Leichtfuß, ein Daus. Er spielt in Rostock, er spielt in Warnemünde und seine Schulden sind wie Sand am Meer.[. . . ] Kurz, sie sind in Wahrheit auf das jämmerlichste zerrüttet, Tom, was Armgard mir unter herzbrechenden Schluchzen gestanden hat.70

Es dauert eine Weile, bis Thomas versteht, was von ihm verlangt wird. Am Anfang übersieht er die Bitte die in der Mitteilung versteckt ist, wie aus seinem Ausruf hervorgeht:

«Oh, o, der arme Kerl!» Und der Senator[. . . ] schüttelte den Kopf. «Aber das scheint mir für unse-re Verhältnisse ein ziemlich ungewöhnlicher Fall zu sein» sagte er. «Ich habe von solchen Geschäften hauptsächlich aus Hessen gehört, wo ein nicht kleiner Teil der Landleute in den Händen von Juden ist. . . Wer weiß, in das Netz welches Halsabschneiders der arme Herr von Maiboom gerät. . .71

Daraufhin greift Tony ein: sie will, dass Thomas die Freunden unterstützt, indem er ihre ganze Ernte 'auf dem Halm', das heißt: noch vor der Ernte, kauft. Es ist ein gewinnversprechendes, aber zugleich spekulatives Geschäft, weil das Ergebnis noch nicht feststeht. Nach einigem Überlegen willigt Thomas ein. Für diese großmütige Geste wird er aber nicht belohnt: die Ernte wird im Zuge eines Hagelsturms vernichtet und Ralf von Maiboom erschießt sich. Im Roman wird von diesen Ereignissen nicht viel Aufhebens gemacht; vielmehr wird das Verlorengehen der Ernte dem Leser zwischen den Zeilen mit-geteilt: “Hier blieb der Senator stehen,[. . . ] und erbrach die Depesche. Plötzlich erweiterten sich seine Augen sosehr, dass jeder der es gesehen hätte, entsetzt zurückgefahren wäre, und mit einem[. . . ] Ruck zog er die Luft so heftig ein, daß sie[. . . ] ihn husten machte.”72

Dieser geschäftliche Unfall wird inMaschber wiederholt. Allerdings sind in dem neueren Werk mit seinem gesellschaftlichen Fokus viel mehr Menschen an das Scheitern des Geschäftes beteiligt, und sind seine Folgen bedeutend verheerender. Die Geschichte inMaschber fängt an wie in Buddenbrooks: Der polnische Graf Rudnicki lebt über seine Verhältnisse und hat bei Mosche Maschber ein Kredit ge-gen hohen Zinsen aufge-genommen. Nach einem Jahr sind seine Wechsel fällig. Mosches Schwiegersohn Nachum, der sich mit polnischen Adligen auskennt -und sich heimlich mit ihnen identifiziert- reist

69Jochen Vogt: Thomas Mann: Buddenbrooks. München : Fink Verlag, 1983, S. 56. 70Buddenbrooks, S. 308.

71Buddenbrooks, S. 309. 72Buddenbrooks, S. 335.

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ab, um das Geld einzukassieren. Nach einigen Tagen wird Nachum beim Graf vorgelassen.73 Dieser zieht eine Pistole und droht, sich zu erschießen. In einer Wende, die als Antwort auf die Vorstellun-gen inBuddenbrooks betrachtet werden kann, wird Nachum von Mitleid ergriffen. Er gibt Rudnicki das Schuldbekenntnis zurück. Für Mosche bedeutet dieser Verlust einen schweren Schlag, der seiner Liquidität ernsthaft gefährdet.

Das Buddenbrooksche Bild eines 'Halsabschneiders' wird in dieser Version der Geschichte korri-giert: der jüdische Kaufmann Mosche Maschber ist alles andere als ein gnadenloser Erpresser, sondern ein Mensch, der eine Familie zu ernähren hat, und es sich nicht leisten kann, die Schulden seiner Kunden nicht einzufordern. Auch die Notwendigkeit der hohen Zinsen wird im Laufe des Romans ge-bührend erklärt: sie hängt direkt mit den großen Risiken der geführten Geschäfte und der justiziellen Unsicherheit zusammen.

Eine misslungene Ernte verursacht letztlich Mosche Maschbers endgültigen Untergang. In einer wesentlich agrarischen Wirtschaft hatte so ein Unfall schwerwiegende Folgen und diese werden in Maschber ausführlich beschrieben. Dabei zeigt sich, dass alle, auch die Einwohner der Städte, letztlich vom Ertrag der Ernten abhängig sind. Jedes Jahr findet in N. im Spätsommer der Pretschistaja-Markt statt. Diese Zeit ist die Hochsaison der Finanzwelt, denn die alten Schulden werden beglichen, und das Geld neu investiert: “Der Lärm war ungeheuer -kein Wunder bei all dem, was man vom Land in die Stadt gebracht hatte, um es dort [. . . ] zu verkaufen, und zwar in der Absicht, das so verdiente Geld für Erzeugnisse der Stadt auszugeben:[. . . ] Pferdegeschirre, Gurte, Sattelzeug, [. . . ].”74 Aber in

dem beschriebenen Jahr hat anhaltende Trockenheit den Ernten ernsthaft geschadet. Die Überschüsse, die die Bauern zum Markt bringen können, sind erheblich kleiner als sonst, und es besteht wenig Hoffnung, dass sie genug eintragen werden, um die Familie im kommenden Jahr zu ernähren. Die Stimmung ist daher grimmig, nicht nur bei den Bauern, sondern auch bei den Kaufleuten:

Vor allem die kleinen Trödler, die sich einem der Bauernkarren näherten, einen Blick in dessen Inneres warfen, und ihn halb oder zu drei Viertel leer fanden. Und dieses bißchen, diese Hälfte oder dieses Viertel hütete der Bauer wie seinen Augapfel und hätte daraus am liebsten soviel Gewinn gezogen wie aus der Ernte der Vorjahre.[. . . ] Man mußte lange auf den Bauern einreden und lange feilschen, bevor er sich zu dem in der Stadt festgesetzten Preis von seiner Ware trennte.75

Selbstverständlich haben die Händler der Stadt, von denen die meisten genauso arm sind wie die Bau-ern, diese Situation kommen sehen und sich vorher untereinander auf niedrige Preise geeinigt. Außer-dem sind die Waagen 'angepaßt' worden. Der Erzähler trägt die herrschende Armut als Grund an für das Benehmen der armen Kaufleute: “In früheren Jahren, als man sich den Luxus leisten konnte, etwas ehrlicher zu sein, hatte man selten zu derart gemeinen Mitteln gegriffen.”76

Wie sich herausstellt, sind es nicht nur die Bauern und die Kleinhändler, die in diesem System den Kürzeren ziehen. Auch die relativ reichen Geldverleiher, die inBuddenbrooks so schlecht wegkommen, sind im Endeffekt Opfer von Umständen, die sie sich nicht aussuchen können:

73Auch hier findet sich ein impliziter Kommentar zu Buddenbrooks. Thomas beschwert sich im Gespräch mit Tony darüber,

dass es eine volle Viertelstunde dauert, bis ein Junker, der ein Kredit wünscht, ihm einen Stuhl anbietet.

74Maschber, S. 257. 75Maschber, S. 266. 76Maschber, S. 266.

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So erging es in diesem Jahr also allen, und natürlich auch Mosche Maschber, denn wie hätte er eine Ausnahme sein können? Es kam aber noch schlimmer: Die Grundbesitzer bezahlten nicht nur ihre alten Schulden nicht zurück, sondern sahen sich auch gezwungen, wie man hatte vorsehen können, neues Geld aufzubringen, und das zu harten Bedingungen, zu überhöhten Zinsen; sie sahen sich gezwungen, wichtige Ländereien als Sicherheit herzugeben, nur um den gewohnten Lebensstil beizubehalten.77

Infolge der misslungenen Ernte kann Mosche sein Bargeld-Problem nicht kurzfristig lösen und das ist sehr problematisch. Wenn seine Schwierigkeiten seinen Kunden zu Ohren kommen, besteht die Gefahr, dass sie alle gleichzeitig ihr Geld zurückfordern werden, und seine Firma zu Grunde richten. Dieser Sachverhalt war ein halbes Jahrhunderts später offenbar erklärungsbedürftig geworden, denn Der Nister räumt Platz ein, um die Verhältnisse zu schildern:

In den Jahren von denen wir sprechen, ging es bei diesen Geschäften recht primitiv zu.[. . . ] Grundlage des Geschäfts war damals in den Provinzstädten wie N. die Tatsache, dass diese Häuser von dem tra-ditionellen Vertrauen der Bewohner der Stadt lebten, die ihre Einsparbisse in sichere Hände zu geben suchten, und die aus Angst um ihr Geld der Höhe der Zinsen nicht soviel Bedeutung beimaßen[. . . ] In solchen Geschäften hatten Leute von einigem Wohlstand ihr Geld investiert, aber auch ärmere Men-schen, die unter Mühen etwas Geld für die Aussteuer ihrer Töchter oder den Bau eines Hauses beiseite legten, vielleicht auch alte Menschen, die etwas für ihre alten Tage gespart hatten[.]78

Einige Tage später erfolgt ein weiterer Schicksalsschlag. Bei einer Feier für Adlige in einem Luxushotel in der Stadt, wo es sehr heiter zugeht, wird ein Porträt des Zaren durchlöchert. Wer für diesen Akt, der in den Jahren nach dem polnischen Aufstand 1863 einer Kriegserklärung gleichkam, verantwortlich ist, wird im Roman nicht ganz klar, obwohl der Erzähler nachdrücklich den polnisch-russischen Adligen Lissizin-Swentislawski verdächtigt. Einer der Anwesenden -vermutlich der Schuldige selbst- nutzt eini-ge Taeini-ge später die Geleeini-genheit aus um die anderen zu erpressen: er fordert eine große Summe Gelds, um über die Affäre zu schweigen. Leider können die Adligen aufgrund der geringen Einnahmen im vergangenen Jahr nicht sofort über dieses Geld verfügen; deshalb wenden sie sich an die begüterten Kaufmänner der Stadt. Reb Dudi, der Oberrabbiner, rät seinen Glaubensgenossen, den Adligen das Geld zu borgen: “Bedenken Sie auch: Wenn man die Grundbesitzer festnimmt, können wir uns alle von unseren Außenständen verabschieden, aber wenn wir sie herausholen, werden sie sich daran er-innern, und die Juden werden sehr davon profitieren.”79 Diese Argumentation leuchtet anscheinend ein, denn das Geld wird zusammengetragen. Auch Mosche Maschber muss sich an der Einsammlung beteiligen, wenn er nicht will, dass die Leute über seine miserabele finanzielle Lage Bescheid wissen. Er bezahlt, aber kann diesen zweiten großen Verlust in kurzer Zeit nicht verkraften. Er wird gezwungen seine eigene Eigentümer zu verpfänden, um die Dehors zu wahren.

In Gegensatz zu Thomas Mann wählt Der Nister die Haupternährerperspektive. Die geschäftli-che Vorgänge, die in Buddenbrooks eigentlich nur zwischen den Zeilen angedeutet werden, werden inMaschber haargenau erklärt, wobei die Geldströme in der ganzen Stadt geschildert werden. Diese Entscheidung des Autors lässt sich größtenteils aus den Anforderungen des sozialistischen Realismus erklären. Auch die adlige Intrige, die Mosche den Kopf kostet, aber kein Buddenbrooksches Pendant hat, weist darauf hin.80

77Maschber, S. 269. 78Maschber, S. 350. 79Maschber, S. 295.

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im-Zugleich kann man die Entwicklungen inMaschber als Kommentar zu Buddenbrooks lesen. Erstens weist Der Nister, gerade weil er die Erzählung der Pöppenräder Ernte in seinen Roman übernimmt, darauf hin, dass die Umstände unter denen Thomas Buddenbrook arbeitete, viel übersichtlicher waren als die, mit denen Mosche Maschber sich herumschlagen musste. Im Vergleich zu Mosche Maschber lebte ein hanseatischer Kaufmann im 19. Jahrhundert in einem nahezu konkurrenzlosen Umfeld, in dem Risiken sich vermeiden ließen. Darüber hinaus unterstreicht Der Nister die Unsicherheit der jüdisch-bürgerlichen Existenzgrundlage überhaupt. Thomas Buddenbrook verliert bei der Kauf der Pöppenrader Ernte ungefähr 30.000 Kurantmark; sein Gesamtvermögen, so weiß der Leser, beläuft sich auf etwa 600.000 Kurantmark. Sein Verlust hält sich also in Grenzen, während Mosche Masch-ber untergeht. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Der Nister ein apologetisches Ziel verfolgt, indem er anhand des 'progressiven' WerkesBuddenbrooks argumentiert, dass Bourgeoisie nicht gleich Bour-geoisie sei. Die jüdische 'Bürgerschicht' im Zarenreich, die 1 % der jüdischen Bevölkerung ausmachte und ihr Haupt in unruhigen Zeiten kaum über Wasser zu halten vermochte, hatte mit den verhassten bourgeois Kapitalisten, die Thomas Mann beschrieb, wenig gemeinsam.81

portant ideological dimension of the novel has to do with of Polish-Russian relationships. The age-old conflict between Russia and Poland did not end with the defeat of the 1863 uprising.[. . . ] In the summer of 1920 the Red Army [. . . ] nearly captured Warsaw[. . . ] but was soon outmanoeuvred and thrown back by a Polish counter-attack. [. . . ] during the two interwar decades Poland was a painful reminder to Stalin of the dramatic defeat for which, as a military commander, he was partly responsible.” Mikhail Krutikov 2014, S. 123.

81Sehe: Eli Lederhendler: Classless: On the Social Status of Jews in Russia and Eastern Europe in the Late Nineteenth

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