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Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders - Ein Entwicklungsroman?

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Rijksuniversiteit Groningen Faculteit der Letteren

Magisterarbeit (LDX999M20.2013-2014.2) Begleiter: Dr. Henk Harbers

Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders -

Ein Entwicklungsroman?

Endfassung

Datum: 17.8.2014

Clymene Celine van Tolie Matrikel-Nr.: 1999648 Adresse: ---

Tel.: ---

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Inhaltsangabe

0 Einleitung 4

0.1 Leitfrage und Motivation 4

0.2 Entwicklungsroman oder Bildungsroman? 4

0.3 Aufbau der Arbeit 5

1 Zusammenfassung des Romans 6

2 Das Parfum als Entwicklungsroman 9

2.1 Die erste Interpretationsmöglichkeit: Der psychologische

Entwicklungsroman 9

2.1.1 Formale Aspekte des psychologischen Entwicklungsroman und

der Vergleich mit Das Parfum 9

2.1.2 Äußerliches und das soziale Verhalten Grenouilles 11 2.1.3 Gescheiterte Ideen und Grenouilles Umgang damit 17

2.1.4 Gerüche und Geruchlosigkeit 19

2.1.5 Die Metapher des Zecks 20

2.2 Die zweite Interpretationsmöglichkeit: Die Entwicklung eines Genies –

Der Künstlerroman 22

2.2.1 Genie – was verstehen wir darunter? 22

2.2.2 Äußerliches und das soziale Verhalten Grenouilles 23

2.2.3 Das Scheitern und Grenouilles Umgang damit 25

2.2.4 Gerüche und Geruchslosigkeit 28

2.2.5 Blumen und Blüte 31

2.2.6 Abschließende Gedanken 32

2.3 Weitere Interpretationsmöglichkeiten 33

2.3.1 Das Parfum – Ein Kriminalroman 33

2.3.2 Das Parfum – Der olfaktorische und historische Roman 34

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3 Süskinds Parfum im Vergleich zu Tykwers Perfume 40

3.1 Erzählinstanz und Redewiedergabe 40

3.2 Die Darstellung von Gerüchen 41

3.3 Grenouille im Roman vs. Grenouille im Film 43

3.4 Abweichungen zwischen Buch und Film 44

3.4.1 Abweichende und ausgelassene Szenen 44

3.4.2 Herausgehobene Szenen und Motive 46

4 Zusammenfassung und Fazit 49

(4)

0

Einleitung

0.1

Leitfrage und Motivation

„Sie konnten ihn nicht riechen“.1

Dieser Satz bedeutet, dass man jemanden aus der Umgebung unausstehlich oder widerwärtig findet und nichts mit ihm zu tun haben will.2 Das Sprichwort gibt das Hauptthema des von Patrick Süskind geschriebenen Romans Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders3, das 1985 erschien, schön wieder. Das Werk handelt sich nämlich um „das flüchtige Reich der Gerüche“ (5) und das Leben der Hauptfigur, Jean-Baptiste Grenouille, das von Gerüchen, sowie von seiner eigenen Geruchslosigkeit bestimmt wird. Der Roman ist noch bis heute ein Riesenerfolg, sowohl in Deutschland als auch in anderen Ländern und ist in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt worden. Die Vielzahl an Interpretationsmöglichkeiten hat dafür gesorgt, dass der Text auch heute noch häufig besprochen und analysiert wird.4 Auch ich habe den erfolgreichen Roman zum Gegenstand meiner Magisterarbeit genommen. Die Forschungsfrage bezieht sich auf die verschiedenen Lesarten des Werks. Inwiefern lässt sich „Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders“ von Patrick Süskind als Entwicklungsroman interpretieren?

0.2

Entwicklungsroman oder Bildungsroman?

Die Grenzen zum Bildungsroman, eine Abart des Entwicklungsromans,5 sind fließend, und häufig finden diese Gattungen sich in einem Werk vereint.6 Diese Arbeit geht vom Begriff des Entwicklungsromans als einer Art Oberbegriff von beiden aus. Eine Begriffsklärung beider Gattungen ist daher erwünscht.

Im Bildungsroman wird weniger die Persönlichkeits- und Charakterentwicklung des Helden beschrieben als vielmehr der Einfluss der Kultur und der personalen Umwelt auf die seelische Reifung und damit auf die Entfaltung und Ausbildung des Charakters und Willens zur Persönlichkeit.7 Der Entwicklungsroman beschreibt den inneren und äußeren Werdegang eines Menschen von den Anfängen bis zu einer gewissen Reifung der Persönlichkeit mit psychologischer Folgerichtigkeit. Er stellt die Ausbildung im Zusammenhang mit Umwelteinflüssen dar. Das Streben und Irren der Hauptfigur führt aus eigener Kraft auf

1 Süskind 1985, 30. Alle Zitate aus Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders sind dieser Ausgabe entnommen

und werden von nun an im Text nur noch mit Seitenzahlangaben nachgewiesen.

2 Vgl. Duden. 3

Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders wird im Folgenden nur noch als (Das) Parfum angedeutet.

4 Vgl. Matzkowski 2001, 16ff. 5 Vgl. Von Wilpert 1979, 96. 6 Vgl. Ebenda, 218.

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gewisse Vollkommenheit.8 Der Entwicklungsroman hat Interesse am menschlichen Ich, am Vorgang des (seelischen) Werdens. Der Einzelne und sein Inneres rückt mehr und mehr in den Vordergrund.9 Die Geschichte des Entwicklungsroman spiegelt die Geschichte, in der der Einzelne sich von der Gemeinschaft löst und nach fester Verwurzelung und einer bindenden Lebensordnung sucht.10

Diese Arbeit geht nicht nur vom Parfum als Entwicklungsroman aus. Auch auf andere Genres wird Bezug genommen. Mehrere Forscher haben sich schon mit der Frage nach den verschiedenen Lesarten des Werks beschäftigt. Frizen und Spancken analysieren den Roman als Entwicklungsroman, Kriminalroman, olfaktorischen Roman und Künstlerroman. Matzkowski sieht im Werk auch einen Roman der Postmoderne. Es stellt sich heraus, dass das Werk mehrere Interpretationen zulässt, und dass ihnen zugleich auch widersprochen werden kann: Scheint der Roman zunächst einer Interpretation als Kriminalroman nahe zu legen, rückt auch eine Interpretation als Künstlerroman, indem wir den Werdegang des Protagonisten zu einem Genie verfolgen, in den Blick. Der Roman lässt also einen großen Deutungsspielraum und diese Arbeit untersucht und analysiert die verschiedenen Möglichkeiten, hauptsächlich anhand von den vorher erwähnten Materialien von Frizen/Spancken und Matzkowski, und natürlich anhand von Zitaten im Roman selbst. Auch die Meinungen und Interpretationen anderer Forscher werden mit einbezogen. Außerdem wurde Süskinds Roman 2006 auch verfilmt, was dieser Arbeit eine extra Dimension gibt.

0.3

Aufbau der Arbeit

Ich gehe in fünf Schritten vor. Kapitel 1 fasst den Roman zusammen, damit in Kapitel 2 mit den Interpretationen des Werks angefangen werden kann. Kapitel 2.1 interpretiert Das Parfum als psychologischen Entwicklungsroman, indem wir die psychische Entwicklung der Hauptfigur verfolgen. Kapitel 2.2 befasst sich mit der zweiten Interpretationsmöglichkeit in Bezug auf den Entwicklungsroman. In diesem Kapitel wird der Roman als Künstlerroman analysiert, indem der Leser die Entwicklung eines Genies verfolgt. Kapitel 2.3 bespricht auch andere Möglichkeiten: Inwiefern kann der Roman dem Genre des Kriminalromans, olfaktorischen und historischen Romans und des postmodernen Romans zugeordnet werden? Anschließend wird in Kapitel 3 der Film besprochen, der die psychologische Interpretation als Ausgangspunkt nimmt. Kapitel 4 schließlich fasst die Befunde zusammen.

8 Vgl. Von Wilpert 1979, 218. 9 Vgl. Gerhard 1968, 2. 10

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1

Zusammenfassung des Romans

Patrick Süskind wurde 1949 geboren. Man weiß eigentlich recht wenig von ihm, denn der Autor von unter anderem Der Kontrabaß und Die Geschichte vom Herrn Sommer entzieht sich Talkshows, Interviews usw. Obwohl ihm mehrere Literaturpreise angedient wurden, hat er alle abgelehnt. Süskind hat in München Geschichte studiert und hat nach seinem Studium als freier Schriftsteller gearbeitet.11 Im Folgenden wird eine Zusammenfassung seines erfolgreichsten Romans gegeben.

Schon am Anfang des Romans wird deutlich, warum es geht: „das flüchtige Reich der Gerüche“. Der Roman fängt mit der Geburt von Jean-Baptiste Grenouille an, am 17. Juli 1738, „am allerstinkendsten Ort des gesamten Königreichs“ (7). Seine Mutter hat schon mehrere Kinder geboren, alle jedoch „Totgeburten oder Halbtotgeburten“ (8), und hat vor, Jean-Baptiste, wie die anderen Kinder vor ihm genau am selben Ort einfach liegen und sterben zu lassen, aber das Kind schreit, lebt, und seiner Mutter wird daraufhin den Kopf abgeschlagen. Danach wechselt er ständig die Amme. Keine der Ammen will das Kind lange halten, weil es „zu gierig“ sei (9). Letztendlich kommt Grenouille zu Madame Gaillard, die keinen Geruchssinn und keine Gefühle hat, jedoch für viele Kinder sorgt.

Grenouille ist ein Außenseiter. Die anderen Kinder mögen ihn nicht, sie haben Angst vor ihm und versuchen ihn sogar zu ermorden, was nicht gelingt. Grenouille spricht schlecht, er kennt nur Wörter, die ihn „geruchlich überwältigten“ (31). Als die Kirche nicht mehr für ihn bezahlt, verkauft Madame Gaillard ihn. Bei Monsieur Grimal, einem Gerber, arbeitet Grenouille in schlechten Umständen und er bekommt den Milzbrand, welchen er übersteht. Weil er nicht mehr leicht zu ersetzen ist, wird besser für ihn gesorgt und Grimal gibt ihm einen halben Sonntag und abends eine Stunde frei. An diesen freien Tagen säugt Grenouille alle Düfte in sich hinein, und er weiß „daß er ganz andere Wohlgerüche würde herstellen können“ (48). Einmal riecht Grenouille zum ersten Mal etwas Schönes an einem Menschen und er glaubt, dass sein Leben ohne den Besitz dieses Duftes keinen Sinn mehr hat. Er würgt das Mädchen, dessen Duft er so herrlich fand, „und hatte nur die eine Sorge, von ihrem Duft nicht das geringste zu verlieren“ (56). In dieser Nacht beschließt Grenouille, dass er „der größte Parfumeur aller Zeiten“ (58) werden will. Ein bekannter Parfümeur in der Stadt, Baldini, braucht Häute vom Gerber Grimal. Baldini hat sich gerade dafür entschieden, seine Parfümerie zu schließen, denn ein anderer Parfümeur, Pélissier, ist heutzutage der beste der Stadt – und Baldini verkauft nichts mehr. Vor dieser Entscheidung versucht er das Parfum

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‚Amor und Psyche‘ von Pélissier zu kopieren. Grenouille, der Baldini die Tierhäute bringt, riecht den Duft von Baldinis Stirn und weiß, was ihm fehlt. In Baldinis Laboratorium kopiert er das Parfum mühelos und schafft sogar einen besseren Duft, woraufhin Baldini ihn als Lehrling nicht verweigern kann. Die Zeit in Baldinis Geschäft ist für Grenouille sehr lehrreich. Jedoch, als es ihm eines Tages nicht gelingt, Lebloses wie Steine und Glas zu destillieren, wird er lebensbedrohlich krank, aber er gesundet auch wieder, nachdem er versteht, in Grasse mehr dazulernen zu können.

Mit der Zustimmung Baldinis geht er nach einer Weile auf den Weg nach dem Rom der Düfte: Grasse. Außerhalb Paris riecht Grenouille keinen Menschen. Das gefällt ihm so gut, dass er in einem 500 Meter tiefen Stollen beim Vulkan ‚Plomb du Cantal‘ verbleibt. Hier entdeckt Grenouille nach sieben Jahren, dass er selbst keinen Geruch hat. Daraufhin verlässt er den Plomb du Cantal und macht sich auf den Weg nach Grasse.

Unterwegs stößt er auf einen Wissenschaftler: Den Marquis de la Taillade-Espinasse, der in Grenouille seine fluidale Theorie bestätigt sieht. In Montpellier führt er Grenouille vor viele interessierte Menschen. Eine Kur würde dafür sorgen, dass er schnell besser aussehen wird. Mit einer Ausrede bekommt Grenouille die Zeit, ein Parfum zu schaffen, das nach Menschen riecht (oder nach Grenouille: stinkt). Sobald er das Parfum anwendet, wird er von den Menschen gesehen. Ab dem Moment weiß er, dass er einen Duft schaffen will, womit Menschen ihn lieben. Er zieht nach Grasse, wo er mit neuen Destillierweisen und sowohl leblosen als lebendigen Gegenständen experimentiert.

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2

Das Parfum als Entwicklungsroman

Das Parfum wird häufig als Entwicklungsroman bezeichnet. In dieser Einordnung gibt es zwei Lesarten: Man kann den Roman entweder als psychologischen Entwicklungsroman lesen, indem man den psychischen Werdegang einer Person verfolgt, oder als Künstlerroman, indem man die Entwicklung eines Künstlers bzw. Genies verfolgt. Das Werk lässt im Prinzip beide Interpretationen zu, wie die nächsten Subkapitel aufzeigen. Kapitel 2.1 beschäftigt sich mit der ersten Interpretationsmöglichkeit; Kapitel 2.2 mit der zweiten.

2.1

Die erste Interpretationsmöglichkeit: Der psychologische

Entwicklungsroman

Dass es sich beim Parfum um einen psychologischen Entwicklungsroman handelt, das heißt als einen Roman, in dem wir der psychischen Entwicklung der Hauptfigur folgen, wurde schon mehrmals erwähnt: Der Leser verfolgt den inneren und äußeren Werdegang des Protagonisten Jean-Baptiste de Grenouille von der Geburt bis zu seinem Tod.12 Bei der psychologischen Deutung geht es aber auch um die psychologische Deutung des Lebenszusammenhangs der Hauptfigur.13

2.1.1 Formale Aspekte des psychologischen Entwicklungsromans und der Vergleich mit Das Parfum

Das Strukturgefüge des Romans weist auf einen Entwicklungsroman hin. Wir erkennen mindestens drei Stationen: Die Lehrjahre, die Wanderjahre und die Meisterjahre, daneben vielleicht noch den Höhepunkt der Entwicklung Grenouilles. Seine Entwicklung verläuft wie folgt. Der erste Teil, die sogenannten Lehrjahre, erzählt Geburt, Aufwachsen und Lehrjahre bei Baldini.14 Im zweiten Teil erlebt er seine Wanderjahre,15 die vor allem von seinem Aufenthalt in der Höhle und der Entdeckung seiner eigenen Geruchslosigkeit handeln, woraufhin sich ein Umschlag feststellen lässt. Er zieht in diesem Teil nach Montpellier, wo er einige Wochen bleibt und ein Parfum entwickelt, das nach Menschen riecht. Der dritte Teil kann mit ‚Meisterjahren‘16

angedeutet werden. In diesen Jahren entwickelt er das Parfum, mit

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dem er sich zum Geliebten (oder eher: Verehrten) macht. Im vierten Teil kehrt Grenouille nach Paris zurück und lässt sich dort von Mördern, Huren, Dieben usw. auffressen.

Der psychologische Entwicklungsroman schildert das Gefühl, das Innere der Hauptfigur. Das Innenleben wird beobachtet, moralisch reflektiert und psychologisch vertieft.17 Es werden nicht nur Geschehnisse erzählt, sondern es gibt mehr Interesse an den Vorgängen des Inneren; das wird gespiegelt und analysiert.18 Im psychologischen Entwicklungsroman ist das zu entwickelnde Ich häufig gefährdet. Die Figur wächst meist auch am Rande der Gesellschaft auf. Zudem sehnt die Person sich nach Freundschaft und Liebe, was die Triebfeder für ihr Leben ist.19 Den Liebesschmerzen und –Entzückungen im Leben haftet häufig etwas Künstliches an.20 Der Entwicklungsroman zeigt nicht die Umgestaltung eines Menschenlebens, sondern verkörpert die unwillkürliche Entfaltung eines Menschen ins künstlerische Gebilde.21

Die zentrale Figur des Romans Das Parfum ist Jean-Baptiste Grenouille. In den meisten Kapiteln (mit Ausnahme von 9-13) steht er im Mittelpunkt. Alle andere Figuren sind um ihn gruppiert und viele von ihnen sterben sogar, sobald Grenouille sie verlassen hat. Einen Gegenspieler hat Grenouille aufgrund seiner Genialität nicht.22 Der ganze Roman dreht sich also um Grenouille. Der Leser folgt nur seiner Entwicklung. Der Protagonist wächst am Rande der Gesellschaft auf: An einem stinkenden Ort wird er geboren, unter sehr vielen anderen Kindern in einem Haus wird er von einer Amme gefüttert, als Handarbeiter verrichtet er die schmutzigsten Arbeiten und er wird dabei nicht menschlich behandelt usw., mit anderen Worten: von Integration in die Gesellschaft ist keine Rede. Man könnte Grenouilles Verhalten, sein künstlerisches Schaffen eines Duftes demnach als den Wunsch nach Liebe und Anerkennung in der Gesellschaft interpretieren. Mit dem Duft, der nach Menschen riecht, erreicht er schließlich, dass die Leute ihn sehen.

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Alles, alles fraß er, saugte er in sich hinein. Und auch in der synthetisierenden Geruchsküche seiner Phantasie, in der er ständig neue Duftkombinationen zusammenstellte, herrschte noch kein ästhetisches Prinzip. Es waren Bizarrerien, die er schuf und alsbald wieder zerstörte wie ein Kind, das mit Bauklötzen spielt, erfindungsreich und destruktiv, ohne erkennbares schöpferisches Prinzip (48f.).

Es dauert aber nicht lange, bevor Grenouilles sich seiner eigenen Genialität bewusst wird, und sich dem Wunsch, der größte Parfümeur der Welt zu werden, anpasst. Bevor dieser Wunsch aber wirklich zur Entfaltung kommt, braucht Grenouille einige Zeit in der Höhle, in der er über sich selbst reflektieren kann. Hier rückt das Innenleben Grenouilles in den Blick. Wir lesen von seinem Hass und seinen Rachegefühlen. Nach Frizen und Spancken geht es hier um den Rückzug in das eigene Subjekt.23 Als es Grenouille deutlich wird, dass er selbst keinen Geruch hat, entwickelt sich ein ‚neuer‘ Grenouille, der sich den Rest seines Lebens dem Schaffen eines (übermenschlichen) Duftes widmet.

2.1.2 Äußerliches & das soziale Verhalten Grenouilles

Schon in seinem Namen wird auf Grenouilles Äußerliches, sowie auf das zukünftige Unheil hingedeutet. „Grenouille“ bedeutet im Französischen „Kröte“ oder „Frosch“, was im Christentum oft für das Böse bzw. in Verbindung mit dem Teufel steht.24 Er ist ein starkes Kind, das sich nicht nur wohlerwogen, „für das Leben“ (28) entscheidet, sondern auch „die Masern, die Ruhr, die Windpocken, die Cholera, einen Sechsmetersturz in einen Brunnen und die Verbrühung der Brust mit kochendem Wasser“ (27) überlebt, sowie Mordanschläge anderer Kinder. Was ihm davon übrig bleibt, sind Narben, Schrunde, Grind und ein leicht verkrüppelter Fuß, die Grenouille hässlich machen. Er ist nicht groß und nicht stark. Die Arbeit beim Gerber Grimal macht ihn noch hässlicher „als er ohnehin schon war“ (42), denn der Milzbrand, eine typische Gerberkrankheit, hinterlässt ihre Spuren, „Narben der großen schwarzen Karbunkel hinter den Ohren, am Hals und an den Wangen“ (42).

Es könnte Grenouilles Äußerliches sein, das ihn aus der Gesellschaft ausschließt, jedoch ist es vielmehr die Tatsache, dass er von seiner Geburt an nichts von Menschenliebe weiß und eigentlich auch nichts damit zu tun haben will. Er kann sich nicht unter den Menschen zurechtfinden. Sein Geburtstagsschrei war ein wohlerwogener Schrei für das Leben und „gegen die Liebe“ (28) gewesen. Von seiner Geburt an verzichtet Grenouille auf die

23 Vgl. Frizen/Spancken 2008, 33. 24

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Liebe, er braucht sie nicht: „Geborgenheit, Zuwendung, Zärtlichkeit, Liebe – oder wie die ganzen Dinge hießen, deren ein Kind angeblich bedurfte – waren dem Kinde Grenouille völlig entbehrlich“ (28). Seine Sozialisation sei nach Frizen und Spancken auf den Kampf ums Dasein reduziert,25 man könnte seine Existenz sogar als „tierisch“ beschreiben. Man könnte sagen, dass Grenouille sich vom Tier zum Menschen entwickelt. Zunächst wird er als Tier behandelt. Seine Mutter will ihn zwischen den toten Fischen sterben lassen. Bei Madame Gaillard wird Grenouille als eines der anderen Kinder des Rudels angesehen, indem das Essen, die Aufmerksamkeit, sogar die Schläge verhältnisgleich verteilt werden.

Als nicht mehr für ihn bezahlt wird, wird Grenouille verkauft. Bei Grimal, dem Gerber, kommt seine tierische Behandlung noch mehr zum Ausdruck. Eigentlich wird Missbrauch von ihm gemacht. Er geht als „Zeck“ (siehe Kapitel 2.1.5) durch das Leben, hat kein Ziel, keine Regungen, lebt rein „vegetativ“ (29) und nur „aus reinem Trotz und reiner Boshaftigkeit“ (28).26

Süskind beschreibt, wie Grenouille nach seiner Krankheit als „nützliches Haustier“ (43) behandelt wird. Die Entwicklung zum Menschen fängt meiner Meinung nach jedoch bei Grimal an. Als er nach seiner Krankheit mehr Freiheit bekommt, riecht er ein Mädchen. Der herrliche Duft dieses Mädchens sorgt dafür, dass Grenouille sein Ziel vor Augen sieht, für das er Leben will.27 Die Menschwerdung setzt ein, aber erst in der Zeit bei Baldini wird besser mit Grenouille umgegangen und wird er als Mensch angesehen.

Um sein Ziel zu erreichen, braucht Grenouille handwerkliche Fähigkeiten, die er bei Baldini lernt. Und erst hier fängt denn auch, obwohl auch Baldini ihn gebraucht, und obwohl er auch dort ein Außenseiter ist, ein eher menschliches Dasein für Grenouille an.28 An Geld ist er nicht interessiert: Dass Baldini mit seinen Kompositionen Geld verdient, ist ihm gleichgültig. Er interessiert sich allerdings schon für einen bürgerlichen Deckmantel und Fachkenntnisse, die er braucht, um sein Ziel zu erreichen:

Die eine [Voraussetzung] war der Mantel einer bürgerlichen Existenz; mindestens des Gesellentums, in dessen Schutz er seinen eigentlichen Leidenschaften frönen und seine eigentlichen Ziele ungestört verfolgen konnte. Die andre war die Kenntnis jener handwerklichen Verfahren, nach denen man Duftstoffe herstellte, isolierte, konzentrierte, konservierte und somit für eine höhere Verwendung überhaupt erst verfügbar machte (121).

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Sprechen tut Grenouille fast nicht, erst mit vier spricht er sein erstes Wort und auch im Laufe seines Lebens spricht er nie fließend, seine Wörter klingen „herausgepreßt, hervorgezischelt, schlangenhaft“ (92), was die Sozialisation natürlich nicht leichter macht. Schwierigkeiten hat er mit abstrakten Begriffen, „vor allem ethischer und moralischer Natur“ (33). Mit anderen Worten: Seine Zivilisation lässt zu wünschen übrig, und da er so wenig sozialisiert ist, wird er für „schwachsinnig“ (35) gehalten. Nur, wenn es die Kommunikation mit anderen Menschen erforderlich macht, spricht Grenouille.

Im Umgang mit anderen Menschen ist Grenouille immer ein Außenseiter. Er ist ihnen unheimlich. Jedoch ist er „nicht aggressiv, nicht link, nicht hinterhältig, er provozierte nicht. Er hielt sich lieber abseits“ (31). Es scheint, dass Grenouille den Außenseiter sein will und genau das wird mehrmals im Werk impliziert. „Er lebte in sich selbst verkapselt und wartete auf bessere Zeiten“ (29); „Nach außen hin wurde er immer verschlossener. Am liebsten streifte er allein durch den nördlichen Faubourg Saint-Antoine […]“ (35). Freunde hat er nie. Er wirkt immer distanziert und auch gefühlsarm. Für Madame Gaillard spürt er keine Liebe oder Zuneigung oder Dankbarkeit. Sogar Strafen scheinen ihn kalt zu lassen.

Grenouilles Außenseiterposition gerät ins Extreme, als Grenouille sich auf den Weg nach Grasse macht. Die Luft außerhalb Paris ist frei. Bald will Grenouille überhaupt keinem Menschen mehr begegnen – oder eigentlich: riechen.

Bisher hatte er immer geglaubt, es sei die Welt im allgemeinen, von der er sich wegkrümmen müsse. Es war aber nicht die Welt, es waren die Menschen. Mit der Welt, so schien es, der menschenleeren Welt, ließ sich leben (149).

Letztendlich trifft Grenouille auf den „menschenfernste[n] Punkt des ganzen Königreichs“ (152), der sich im Zentralmassiv der Auvergne, „auf dem Gipfel eines zweitausend Meter hohen Vulkans namens Plomb du Cantal“ (152) befindet. Erst da bekommt er ein Gefühl der Euphorie, und er feiert die Einsamkeit: „Er war dem verhaßten Odium entkommen! Er war tatsächlich vollständig allein! Er war der einzige Mensch auf der Welt!“ (154) Er weint sogar vor Glück als er einen fünfzig Meter tiefen Stollen gefunden hat, in dem er sich den größten Teil der Zeit aufhält (156). In diesem Stollen, in diesem Rückzug in das Ich,29 rekapituliert er sein Leben und empfindet Hass, Zorn und Rache gegenüber den Menschen (159), während er im ersten Buch gefühlsarm erschien. Im zweiten Teil ist er sehr empfindlich. Er kann kein helles Licht ertragen, sogar die Luft,

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die zartesten Gerüche wirkten streng und beizend auf seine weltentwöhnte Nase. Grenouille, der Zeck, war empfindlich geworden wie ein Krebs, der sein Muschelgehäuse verlassen hat und nackt durchs Meer wandert (168).

In dem Berg träumt Grenouille von seiner eigenen Geruchslosigkeit. Als er danach versucht, sich selbst zu riechen, stellt sich heraus, dass er tatsächlich keinen Eigengeruch hat (siehe dazu Kapitel 2.1.4). Grenouille wird mit seiner eigenen Nichtigkeit konfrontiert, und diese Nichtigkeit verlangt nach Menschwerdung.30 Daraufhin lässt er die Vergangenheit hinter sich, wird sich seiner eigenen Kraft, Kreativität und bevorstehenden Macht bewusst, und verlässt den Plomb du Cantal um sein Ziel zu erfüllen. Die Zeit im Vulkan stellt nach Hallet eine Art Vergangenheitsbewältigung, nachgeholte Sozialisation dar.31 Erst hier kommt der wahre Grenouille zum Ausdruck, erst hier entwickelt, sozialisiert er sich.

Mit seiner Erscheinung zwischen den Menschen erschreckt er viele, aber in der Stadt „machte er Sensation“ (176). Der Marquis de la Taillade-Espinasse, der eine sogenannte Fluidaltheorie entwickelt hat, ist sehr interessiert an Grenouille und lässt ihn in sein Laboratorium bringen. In ihm sieht er seine Theorie bestätigt und er will Grenouille als wissenschaftliches Demonstrationsobjekt nach Montpellier bringen. Obwohl man ihn dort für „halb verwest und unrettbar verloren“ (182) hält, hat Grenouille schon eine Metamorphose durchgemacht. Er fühlt sich „durchaus gesund und kräftig“ (182). Der Marquis unterzieht ihn danach einer ‚wirklichen‘ Metamorphose, bestehend aus einer Entseuchungs- und Revitalisierungskur, guter Kleidung und Schminke. Als er sich selbst in dem Spiegel sieht, sieht Grenouille

dass der Monsieur im Spiegel, diese als Mensch verkleidete, maskierte, geruchslose Gestalt, nicht so ganz ohne sei; zumindest schien ihm, als könnte sie- würde man ihre Maske nur vervollkommnen – eine Wirkung auf die äußere Welt tun, wie er, Grenouille, sie sich selbst nie zugetraut hätte (186).

In diesem Moment wird ihm bewusst, dass er eine Wirkung haben kann, mit anderen Worten: Dass es die Möglichkeit gibt, gesehen zu werden, und möglicherweise sogar mehr als das… Die innere Metamorphose setzt durch. Mit einer Ausrede lässt sich Grenouille zum besten Parfümeur der Stadt bringen, wo er ein Parfum kreiert, das nach Menschen riecht. Es

30 Vgl. Frizen/Spancken 2008, 32. 31

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funktioniert: Grenouille wird auf der Straße zum ersten Mal bemerkt. Freunde hat er immer noch nicht, aber der Duft macht ihn sympathisch. Der Marquis umarmt ihn sogar:

Er ging auf Grenouille zu, umarmte ihn und nannte ihn ‚mein fluidaler Bruder‘ […] und dies sagte er, indem er sich von Grenouille löste, und zwar sehr freundschaftlich, nicht im geringsten angewidert, fast wie von seinesgleichen löste – (201).

Grenouilles Freude um die Anerkennung verwandelt sich in schwarzen Jubel, „ein böses Triumphgefühl“, er verachtet die Menschen, „weil sie stinkend dumm waren; weil sie sich von ihm belügen und betrügen ließen; weil sie nichts waren, und er war alles!“ (197) Nachher weiß Grenouille, dass er einen Duft kreieren kann, mit dem man ihn „von ganzem Herzen lieben mußte“ (198). Sein Parfum ist wie das Tüpfelchen auf dem ‚i‘: Es macht ihn vollkommen, menschlich. „Wo vor Wochenfrist ein geschundenes, verrohtes Tier gekauert hatte, da stand jetzt wahrhaftig ein zivilisierter, wohlgestalter Mensch“ (202). Das Parfum macht sogar, dass man ihm vertraut: Er kann ein Kind auf den Arm nehmen und dankbar angeschaut werden. Die Zeit in Montpellier trägt zu seiner Menschwerdung bei. Er lernt sich unter den Menschen entsprechend zu verhalten, auch in der Konversation, und ist sich seiner Fähigkeiten mehr bewusst.

Nach dieser Offenbarung zieht Grenouille nach Grasse, dem „Rom der Düfte“ (211). Hier erlebt er seine sogenannten Meisterjahre.32 Schon am Anfang seines Aufenthalts in der Stadt riecht er den Duft des rothaarigen Mädchens, das er früher ermordet hat. In seiner Menschwerdung ist er aber schon so weit, dass er seine Wünsche und seine Triebe beherrschen und zurückstellen kann. Bei Madame Arnulfi weiß er eine Stelle als Geselle zu ergattern. Hier erlernt er die Mazeration und die Enfleurage à froid, andere Möglichkeiten, Düfte aus zum Beispiel Blumen zu gewinnen. In dieser Zeit bespritzt Grenouille sich abwechselnd mit verschiedenen Parfums und löst damit bei anderen Menschen jeweils eine andere Reaktion aus. Er schafft unter anderem einen „Unauffälligkeitsgeruch“ (231), ein „rasseres, leicht schweißiges Parfum“ (232) und einen „mitleiderregende[n] Duft“ (233). Er experimentiert nicht nur mit Düften für sich selbst, er experimentiert auch mit Tieren, und wenn es ihm gelingt, den Duft eines Hundchens zu destillieren und später sogar den Duft lebender Menschen, beschließt er zur wirklichen Tat fertig zu sein: „es war nicht nötig, daß er es sich erneut bewies“ (240). Was folgt, sind vierundzwanzig Mädchenmorde, deren Düfte Grenouille gefallen und „die Liebe inspirieren“ (240). Die Tochter Richis‘, Laure, ist der

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Schlussstein und sie wird als Letzte ermordet. Da Grenouille aber in der Nacht des Mordes gesehen ist, kann man ihn trassieren. Die Leichen der anderen Mädchen werden auch gefunden. Es findet ein Prozess statt und man bereitet sich auf die Hinrichtung vor, genauso wie Grenouille.

Grenouille ist aber gut vorbereitet. Er wendet das Parfum der Düfte der fünfundzwanzig Mädchen an und verführt damit das Volk bei seiner Hinrichtung zur Massenkopulation. Statt Grenouille wird Druot, der Geselle von Madame Arnulfi für die Morde verantwortlich gehalten und hingerichtet. Grenouille kommt ungestraft davon, und wird sogar von Richis angebetet: Er will ihn als Sohn adoptieren. Grenouilles Menschwerdung endet in Grasse. Er ist zivilisiert, er kann sich unter den Menschen zurechtfinden, hat eine Stelle und damit einen gesellschaftlichen Status.33 Aber der Moment, nach dem er sich gesehnt hatte, für den er alles gegeben hatte, endet in einer Enttäuschung. Die Menschen lieben nicht ihn, sie lieben seinen Duft, oder besser: seine Maske. Vom Anfang an ist Grenouille der Außenseiter zwischen den Menschen und am Ende ist er das noch: Sogar an dem Bacchanal hat Grenouille keinen Teil. Er hat seine Machtvollkommenheit erreicht, aber zugleich auch den Gipfelpunkt seiner Einsamkeit. Es gibt für Grenouille offenbar nur noch eine Lösung: sterben.

Grenouille wächst ohne Familie und ohne Liebe auf. Das einzige Familienmitglied, das dem Leser bekannt ist, ist die Mutter, aber ihr wird der Kopf abgeschlagen. Jeder Mensch braucht Bestätigung und Liebe seiner Mitmenschen, aber Grenouille bekommt weder Zuwendung noch Zärtlichkeit, die für die normale Entwicklung eines Menschen notwendig sind.34 Nach Barbetta ist die Familie das Abbild der Gesellschaft, ohne die es keine Sozialisation in die Gesellschaft gebe.35 Da Grenouille ohne Familie in die Welt geschickt wird, sei Sozialisation schon im Vorab ausgeschlossen. Die Sozialisationsinstanzen, die die Familie ersetzen, sind Madame Gaillard, Grimal und Baldini, bei denen Grenouille aufeinanderfolgend Kostkind, Kuli und Lehrling ist.36 Was er hier von der Welt sieht, ist aber alles andere als menschlich, und auch bei ihnen ist Sozialisation eine unmögliche Aufgabe. Ließen diese Umstände ihn zum Massenmörder werden? Möglicherweise schon. Dass Grenouille sich also zum Abschaum, Mörder, oder wie man ihn auch nennen möchte, entwickelt, kann man ihm seiner Jugend wegen vielleicht nicht übel nehmen. Er hat immer nur Ablehnung und Hass und – im besten Fall – Gefühllosigkeit empfunden, wurde nie als

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Individuum zwischen den anderen Menschen akzeptiert, sondern war, sowohl bei den Ammen, als auch beim Gerber Grimal und bei Baldini eine Einkommensquelle. Ist es nicht logisch, dass er seinen Mitmenschen dieselbe Gefühlslosigkeit und Hass entgegenbringt, die er selbst bekommen hat?

Die Morde begeht der Protagonist nach der psychologischen Interpretation nicht aus Mordsucht, sondern aus dem Willen, einen Duft zu kreieren, der ihm die Menschwerdung möglich macht: Er will ein Teil der Menschenwelt sein, er will anerkannt und geliebt werden. Wie später in dieser Arbeit erläutert wird, ist diese Interpretation Ausgangspunkt für den Film Perfume: The Story of a Murderer.

2.1.3 Gescheiterte Ideen und Grenouilles Umgang damit

Mehrmals gibt es im Roman Stellen, an denen Grenouille oder seine Ideen scheitern. Er wird daraufhin ernsthaft krank. So wird Grenouille lebensbedrohlich krank, wenn es ihm nicht gelingt, den Geruch von Glas, Messing, Porzellan und Leder, Korn, Kieselsteinen usw. zu destillieren.

Er bekam hohes Fieber, das in den ersten Tagen von Ausschwitzungen begleitet war und später, als genügten die Poren der Haut nicht mehr, unzählige Pusteln erzeugte. […] Nach einer Weile sah Grenouille aus wie ein von innen gesteinigter Märtyrer, aus hundert Wunden schwärend […] Es handle sich um eine syphilistische Spielart der schwarzen Blattern untermischt mit eiternden Masern in stadio ultimo (130-133).

Grenouille wird auch schlecht, wenn er daran denkt, dass die Düfte vielleicht nicht ewig bleiben: „Er fröstelte. Es überkam ihn das Verlangen, seine Pläne aufzugeben, hinaus in die Nacht zu gehen und davonzuziehen. Über die verschneiten Berge wollte er wandern, ohne Rast, hundert Meilen weit in die Auvergne, und dort in seine alte Höhle kriechen und sich zutode schlafen“ (244).

Als Grenouille mit dem von ihm geschaffenen Duft einen Bacchanal auslöst, sieht er ein, dass die Menschen den Duft lieben, und nicht ihn: Er ist gescheitert, er hat die Liebe der Menschen nicht gewonnen. Er will fliehen, oder eigentlich am liebsten sterben. „Er wollte zerplatzen, explodieren wollte er, um nicht an sich selbst zu ersticken. Endlich sank er nieder und verlor das Bewusstsein“ (308).

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anhand von Maslows Bedürfnispyramide psychologisch interpretieren. Nach Maslow gibt es fünf Schritte zur Selbstverwirklichung, nämlich: physiologische Bedürfnisse, Sicherheitsbedürfnisse, soziale Bedürfnisse, Individualbedürfnisse und Selbstverwirklichung. Erst wenn physiologische Bedürfnisse erfüllt sind, kommt man einen Schritt weiter, sind die Sicherheitsbedürfnisse erfüllt, können auch soziale Bedürfnisse erreicht werden usw.37 Nach Maslow sind Fähigkeiten ein Bedürfnis.38 Bedürfnisse die nicht erfüllt werden, führen zu Leiden bzw. zu Krankheit.39 Das sehen wir auch in Grenouille. Er kann sich nicht als Parfümeur entfalten: seine Absichten scheitern. Zur wirklichen Selbstentwicklung kommt es also nicht, weil ihm seine früheren Bedürfnisse, zum Beispiel die Fähigkeiten, Düfte zu destillieren und zu behalten, fehlen. In der Weise kann man auch die Krankheit bei Grimal interpretieren. Er wird wie ein Tier behandelt, bekommt schlechtes Essen und hat überhaupt keine Freizeit. Als er aber krank ist, sieht Grimal ein, dass er Grenouille braucht, dass er unentbehrlich ist. Erst dann ändern sich die Umstände für Grenouille: Er hat einen Nachmittag frei, an dem er sich weiterentwickeln kann. Seine Krankheit entstand aus der Tatsache, sich in der Situation nicht entwickeln zu können, also aus dem Bedürfnis, sich zu entfalten. Grenouilles Empfindlichkeit in der Höhle muss genauso interpretiert werden. Er wird krank, weil er sich nicht weiter entfaltet und weil er in seinem Inneren, in seiner Geschichte hängen bleibt. Zur Entfaltung hat er die richtigen Mittel in der Höhle nicht. Die Krankheit sorgt für das Bewusstsein, dass er selbst nicht riecht, und setzt ihn zum neuen Schritt an: Zur Weiterentwicklung in der menschlichen Welt bzw. zur Selbstentfaltung.

Sein letzter Wunsch, zu sterben, muss am Ende tatsächlich erfüllt werden. Er wurde nicht anerkannt und nicht geliebt. Erscheint es zunächst, dass er eine gelungene Entwicklung durchgemacht hat, so wird später deutlich, dass sein Höhepunkt zugleich sein Tiefpunkt ist. Auf seinem Weg zurück nach Paris, schreibt der Autor: „Und mochte er auch vor der Welt erscheinen als ein Gott – wenn er sich selbst nicht riechen konnte und deshalb niemals wüßte, wer er sei, so pfiff er drauf, auf die Welt, auf sich selbst, auf sein Parfum“ (316). Grenouille besitzt mit seinem Parfum die Macht, den Menschen Liebe einzuflößen. Das ist aber das Einzige, das er damit erreicht hat. Er selbst als Individuum wird nie anerkannt oder geliebt. Es gibt keinen Grund mehr, zu leben. Der Schöpfer des besten Dufts, nur den kann das Parfum nicht bezaubern. „Ich bin der einzige, für den es sinnlos ist“ (317).

37 Vgl. Maslow 1988, 169-188. 38 Vgl. Ebenda, 176.

39

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2.1.4 Gerüche und Geruchlosigkeit

Nach Grenouille stinken alle Menschen, nur er stinkt nicht; „er riecht überhaupt nicht“ (14). Die Tatsache, dass die Menschheit Grenouille nicht riechen kann, dass er überhaupt nicht riecht, während alle andere Menschen einen Eigengeruch haben, deutet auf eine mangelnde Identität hin. Der Eigengeruch eines Menschen, der bei jedem Menschen anders ist, ist nämlich Teil seiner Identität.40 Das entdeckt er selbst erst im Plomb du Cantal. Daraufhin zieht er nach Grasse, wo er sich einen Menschenduft mischt. Er vermutete selbst also schon, dass sein fehlender Eigengeruch der Grund dafür war, dass andere Menschen ihn nicht wahrnahmen. Mit diesem selbstkreierten Duft wird Grenouille wie erwartet zwischen den Menschen akzeptiert.

Andere Menschen nehmen den Eigengeruch anderer Individuen wahr, und dieser spielt eine wichtige Rolle in der Kommunikation.41 Düfte lösen eine Reaktion bei anderen Menschen aus und sind auch im Bereich der Sexualität sehr wichtig, was im Parfum bewiesen wird, als Grenouilles Duft ein Bacchanal auslöst:42 Der Duft sorgt dafür, dass jeder jeden liebt. Früher, aber auch in der Gegenwart, konnte man am Geruch des Menschen erkennen, ob man arm oder reich war.43 Der Geruchsunterschied führte zu verschiedenen Reaktionen. Gute Gerüche lösten Gefühle von Gleichheit, Nähe, Sympathie aus und bedeuteten soziale Zugehörigkeit, moralische Integrität, Sauberkeit und Gesundheit. Schlechte Gerüche lösten Gefühle von Antipathie aus und bedeuteten Fremdheit, Ausgrenzung, Gefahr und Krankheit bis zu moralischer Verkommenheit.44 Auch heute bestimmen Gerüche noch die soziale Akzeptanz. Grenouille riecht überhaupt nicht, hat also keinen guten, aber auch keinen schlechten Duft: Eigentlich ist er unsichtbar, was seine Außenseiterposition beweist. Er wird einfach nicht gesehen. Wenn er aber gesehen wird, dann wird er nicht als Mensch wahrgenommen, sondern eher als Teufel – „Er ist vom Teufel besessen“ (14) – oder jedenfalls als Etwas, das Angst erzeugt. Man kann anhand seiner Geruchlosigkeit einfach nicht bestimmen, ob er gut oder schlecht ist.

Nach Frizen und Spancken ersetzt Grenouilles Geruchssinn alle anderen Sinne: das Hören und Sehen, das Tasten, das Schmecken,45 mit anderen Worten: Das Riechen ersetzt alle andere Wahrnehmungsorgane. Diese werden quasi ausgeschaltet. Das deutet auch auf Grenouilles Lieblosigkeit hin, auf seinen Mangel an Gefühlen.

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Sowohl die Tatsache, dass er ein Außenseiter ist, als auch die Tatsache, dass er wenig bis keine Gefühle kennt, weisen auf Autismus hin.46 Grenouille ist unfähig, normale Beziehungen zu Menschen einzugehen, hat Schwierigkeiten mit der Kommunikation und in der sozialen Anpassung, schon vom Anfang seines Lebens an.47 Diese Probleme führen zu einer Kontaktstörung. Charakteristische Symptome sind des Weiteren zum Beispiel Spezialinteressen oder sprachliche Besonderheiten:48 Grenouilles Spezialinteresse liegt im Geruch. Sprachliche Besonderheiten lassen sich auch finden: Grenouille spricht kaum, eigentlich nur wenn es den Umgang mit anderen Menschen fördert, und hat große Schwierigkeiten mit moralischen Ausdrücken. Im Erwachsenenalter verbessern sich bei Autisten die Fähigkeiten im Sozialverhalten und der Alltagskompetenz.49 Auch das gilt für Grenouille. Im Laufe der Zeit täuscht er den Menschen vor, selbst auch menschlich zu sein, dazu zu gehören, einerseits mithilfe seiner Parfums, andererseits durch angelernte Fähigkeiten, die ihm den Umgang mit den Menschen leichter machen und das Erreichen seines Ziels vereinfachen. Für Autismus spricht auch die Tatsache, dass Grenouille erst in der Höhle zu sich selbst kommt, erst am Punkt, wo es zum Imitieren keine Leute mehr gibt, wo er ganz und gar in sich selbst zurückkehren kann.50 Wirklich Mensch wird Grenouille aber nie. Er wird zwar unter ihnen akzeptiert, gesehen, aber er gehört nie dazu. Erscheint es zuerst, dass er sein Ziel am Ende erreicht hat, wird Grenouille dadurch aber nur enttäuscht. Während des großen Bacchanals wird Grenouille (oder eigentlich: sein Parfum) gerochen und damit gesehen. Er wird aber nicht wirklich in die Gruppe aufgenommen. Sogar mit dem perfekten Parfum kann Grenouille nicht zu den Menschen gehören. Er suchte Liebe, Anerkennung, findet aber nur Verherrlichung; Er wollte Mensch sein, aber wird als göttliches Wesen angesehen.

2.1.5 Die Metapher des Zecks

Erst mit dem Parfum wird Grenouille als Heiliger angesehen, und er wird eher als positiv wahrgenommen. Durch den ganzen Roman hindurch wird er aber häufig mit Tieren verglichen: „sie verschränkte entschlossen die Arme unter ihrem Busen und warf einen so angeekelten Blick auf den Henkelkorb zu ihren Füßen, als enthielte er Kröten –“ (17); „klappte […] in sich zusammen wie eine kleine schwarze Kröte“ (96); „so daß er aussah wie

46 Vgl. Frizen/Spancken 2008, 26. 47 Vgl. Kumbier et al. 2010, 56. 48 Vgl. Ebenda, 60. 49 Vgl. Ebenda, 60f. 50

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eine schwarze Spinne“ (99). Wenn er spricht, klingen seine Worte „schlangenhaft“ (92). Meistens wird er aber mit einem Zeck verglichen, zum ersten Mal bei Madame Gaillard: „Er war zäh wie ein resistentes Bakterium und genügsam wie ein Zeck, der still auf einem Baum sitzt und von einem winzigen Blutströpfchen lebt, das er vor Jahren erbeutet hat“ (27). Die Gemeinsamkeiten zwischen Grenouille und einem Zeck liegen auf der Hand: Sie leben zurückgezogen und im Hintergrund, sind unauffällig, halten ihre eigenen Interessen zurück, bis zum Zeitpunkt, an dem sie ihren Interessen nachgehen können:51 „Es lebte in sich selbst verkapselt und wartete auf bessere Zeiten“ (29), wird über Grenouille gesagt. Die besseren Zeiten kommen, und zwar bei Grimal. Seine Freizeit nutzt er, um die Düfte der Stadt Paris kennenzulernen. „Die Zeit des Überwinterns war vorbei“ (71). Im Laufe des Werks taucht die Metapher des Zecks nach Matzkowski nur dann auf, wenn Grenouille in eine neue Phase seines Lebens tritt. Bei Grimal überdauert er auf „zeckenhafte Manier“ (41). Nach seiner Krankheit regt sich „der Zeck Grenouille“ (43) wieder. Ein neuer Lebensabschnitt kommt bei Baldini. Hier taucht die Metapher des Zecks erneut auf. „Der Zeck hatte Blut gewittert“ (90). Die nächste Lebensphase vollzieht sich am Plomb du Cantal: „Grenouille, der Zeck“ (168). Danach wird Grenouille nochmal als Zeck bezeichnet, nämlich in Grasse, als er Laures Duft gerochen hat: „der solitäre Zeck“ (242).52

Am Anfang wird er häufiger mit einem Zeck verglichen als im zweiten Teil, was nach Matzkowski Grenouilles Entwicklungsprozess entspricht: Früher war seine Existenz fast rein animalisch, aber im Laufe des Werks entwickelt Grenouille sich zum Menschen. Die Metapher des Zecks sei somit im Laufe seines Lebens nicht mehr voll gerecht.53 Er wird zum letzten Mal als Zeck bezeichnet auf Seite 244:

Der Zeck Grenouille, vor die Wahl gestellt, in sich selbst zu vertrocknen oder sich fallenzulassen, entschied sich für das zweite, wohl wissend, daß dieser Fall sein letzter sein würde (244).

Das könnte bedeuten, dass Grenouille seine Existenz als Zeck, seine animalische Existenz fallengelassen hat, damit der Prozess der Menschwerdung sich vollziehen kann.

Auch die Metapher des Zecks weist also auf das Werk als psychologischen Entwicklungsroman hin, indem wir den Werdegang der Hauptfigur Jean-Baptiste Grenouille verfolgen. Im dritten Kapitel wird gezeigt, dass der Film von Tom Tykwer die psychologische

51 Vgl. Matzkowski 2001, 70. 52 Vgl. Ebenda, 70ff.

53

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Interpretation als Ausgangspunkt nimmt. Das nächste Kapitel allerdings geht noch auf die andere Interpretationsmöglichkeit ein: Das Parfum als Künstlerroman, welche nach Frizen und Spancken zunächst als glaubwürdiger angenommen wird. Ihrer Meinung nach kann man wegen Grenouilles Tod nicht von einem Entwicklungsroman sprechen. Es erscheint ja, als ob Grenouille nie existiert hat, da er sich ins Nichts auflöst. Er hinterlässt überhaupt keine Spuren. Zudem wird er nie in seiner wahren Existenz zur Kenntnis genommen.54 Der Roman könne somit eher als Antibildungsroman interpretiert werden:55 Die Entwicklung Grenouilles ist nur eine scheinbare Entwicklung – am Ende wird deutlich, dass er sich überhaupt nicht entfaltet hat.

2.2

Die zweite Interpretationsmöglichkeit: Die

Entwicklung eines Genies – Der Künstlerroman

Im vorigen Kapitel wurde Das Parfum als psychologischer Entwicklungsroman interpretiert. Diese Deutung erscheint mir genauso glaubwürdig wie die in diesem Kapitel vorgeschlagene Deutung. Einige Forscher, wie Frizen und Spancken, interpretieren Grenouille zunächst als ein Genie.56 Der Roman soll somit als Künstlerroman gelesen werden, als ein Roman also, indem man die Entwicklung eines Genies verfolgt. Was der Begriff des Genies beinhaltet, wird in 2.2.1 besprochen, bevor in 2.2.2 mit der Interpretation angefangen wird.

2.2.1 Genie – was verstehen wir darunter?

Die Periode, in der der Begriff des Genies entstand, war der Sturm und Drang. In dieser Epoche wurde der Künstler als wahrer Gott, als Schöpfer angesehen. Das geniale Werk repräsentierte das Absolute, das Kunstwerk sprach die Wahrheit und der Künstler war „der Hohepriester des heiligen Geistes“.57

Nach Von Wilpert bedeutet Genie „Begabung zu eigenschöpferischer Gestaltung und Träger dieser Fähigkeit, gekennzeichnet durch Intuition, Originalität und Spontanität“.58 Frizen und Spancken sehen den Künstler als exzentrische und problematische Existenz, ein Thema der Geniegeschichten, auch als Thema des Parfums.59 Sie definieren ,Genie‘ anders als Von Wilpert, nämlich als eine Krankheit mit folgenden Symptomen: Körperliche Abnormität, Infantilität, mangelndes Intellekt, Neigung zum

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Wahnsinn, aus der Gesellschaft ausgestoßen, beansprucht Autarkie.60 Zum Begriff des Genies gehören nach Matzkowski einerseits rauschhaftes genialisches Schaffen, und andererseits innere Zerrissenheit.61

Süskind hat einen Künstler und dessen Schaffen zum zentralen Thema seiner Geschichte gemacht. Der Roman kann also als Künstlerroman gelesen werden. Dass es sich bei Grenouille um ein Genie handelt, wird in den nächsten Kapiteln erläutert.

2.2.2 Äußerliches und das soziale Verhalten Grenouilles

Ein Merkmal (oder Symptom, wie Frizen und Spancken das nennen) eines Genies ist körperliche Abnormität. Mehrmals wird im Werk angedeutet, dass Grenouille hässlich ist. Die Krankheiten, die er im Laufe seines Lebens überdauert, machen ihn noch hässlicher. Zudem hat er einen Klumpfuß und einen Buckel (181), die die Menschen glauben lassen, dass der Mädchenmörder der Teufel selbst ist. Körperlich abnorm ist Grenouille also zweifelsohne. Das kommt nach Frizen und Spancken teilweise von der Mutter, die auch schon ungesund war,62 die „außer der Gicht und der Syphilis und einer leichten Schwindsucht keine ernsthafte Krankheit“ (8) hatte.

Auch ist ein Genie „infantil“, das heißt, dass er nie wirklich erzogen oder erwachsen wird, sondern ein großes Kind bleibt.63 Das gilt auch für Grenouille. Obwohl er aufwächst, wird er nie erzogen: Die Sozialisationsinstanzen lassen, wie schon im vorigen Subkapitel erläutert, zu wünschen übrig. Außerdem passt Grenouille sich den Umständen an. Er wird geschlagen, aber das lässt ihn kalt, er muss beim Gerber harte Arbeiten leisten, aber er schafft es, ohne sich zu beklagen. Dass er sich anpasst, bedeutet aber auch, dass er sich nie wirklich entfaltet, wie normale Menschen das tun. Alles dient einem höheren Zweck, Grenouille strebt nur seinem Ziel nach: Er will ein Schöpfer von Düften sein. Hat Süskind Fichte im Hinterkopf gehabt? „Das ich setzt sich selbst“,64

so behauptete er. Dies gilt tatsächlich auch für Grenouille. Keine Sozialisationsinstanz kann ihn ‚setzen‘, erziehen – er erzieht sich selbst und wird infolgedessen nie erwachsen, sondern bleibt, sogar in seinem Äußerlichen kindlich.

Frizen und Spancken behaupten, dass Genie und Intelligenz nicht identisch sind. Das Genie hat eine Begabung, aber ist nicht per se hochintelligent. Grenouille wirkt nicht wirklich klug. Erst mit vier spricht er sein erstes Wort, „Sein Lehrer hielt ihn für schwachsinnig“ (35)

60 Vgl. Ebenda, 58ff. 61 Vgl. Matzkowski 2001, 21. 62 Vgl. Frizen/Spancken 2008, 58. 63 Vgl. Ebenda, 58. 64

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und „das Denken war nicht seine Stärke“ (317). Nur seine Begabung und seine Durchsetzungsfähigkeit machen ihn zum Genie.65 Nach Frizen und Spancken wirkt sich seine Infantilität vor allem auf moralischem Gebiet aus,66 was ihn zugleich zum Wahnsinnigen macht. Er fällt aus der Menschheit heraus, neigt zu auffälligem Verhalten und wird für verrückt gehalten.67 Das kommt nicht nur aus der Gesellschaft, sondern auch aus ihm selbst: Er ist mehr oder weniger ein Menschenfeind: Mit ihnen in der Nähe fühlt Grenouille sich nicht wohl, was seine Zeit in der Höhle, weg von den Menschen, bestätigt.68 Sein Wahnsinn kommt in dem Vulkan wirklich zum Ausdruck. Hier schafft er seine eigene Welt, in der er sich selbst als Gott sieht: „Und der Große Grenouille sah, daß es gut war, sehr, sehr gut“ […] ‚Siehe, ich habe ein großes Werk getan, und es gefällt mir sehr gut [..]. Aber wie alles Vollendete beginnt es mich zu langweilen‘“ (162). Grenouille verherrlicht sich selbst.

Er sieht sich selbst als Schöpfer, aber will das auch sein, so wird später deutlich. „Er wollte der omnipotente Gott des Duftes sein, so wie er es in seinen Phantasien gewesen war, aber nun in der wirklichen Welt und über wirkliche Menschen. Und er wußte, daß dies in seiner Macht stand“ (198). Die Tatsache, dass Grenouille so ein Schöpfer sein will, entspricht dem Prometheus-Mythos,69 was später im Werk nochmal genannt wird: „Er war noch größer als Prometheus“ (304). Grenouille lebt aber, wie die Zeit in der Höhle klar macht, in seiner Phantasie, in einer Scheinwelt. Er hat seine eigene Welt geschaffen und ‚vollendet‘. Dass das Vollendete ihn langweilt, beweist, dass er in seinem schöpferischen Dasein nie fertig sein wird. Aber was hat er hier eigentlich vollendet? Er hat nur sein eigenes Phantasiereich, seine innere Welt vollendet. Seine Wirklichkeit ist eine Scheinwelt. Er ist zwar ein Schöpfer, aber nur einer „im künstlichen Paradies“.70

Ein Genie beansprucht Autarkie. Grenouille braucht nichts: Keine Geborgenheit, keine Zuwendung usw.; er ist bindungslos und will das sein. Im Gegensatz zur ersten Interpretation, die davon ausging, dass Grenouille aus der Sehnsucht nach Liebe handelt, geht diese Interpretation davon aus, dass Grenouille sich der Liebe verweigert und dass er somit ein „Verweigerungskünstler“71

ist, das heißt ein Künstler, der nicht anerkannt und geliebt werden will. Das bedeutet auch, dass er seine Kunst nicht einsetzen will, um andere Menschen zu überzeugen, er will zum Beispiel keine eigene Parfümerie, es geht ihm nicht um Geld usw. Er

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ist nicht am äußeren Erfolg seines Genies interessiert.72 Er lehnt es ab, seine Kunst zur Kommunikation mit anderen Menschen zu gebrauchen:73 Geht die psychologische Deutung davon aus, dass Grenouille aus Sehnsucht nach Anerkennung und Liebe handelt, geht diese Interpretation davon aus, dass Grenouille aus Liebesverzicht handelt, und nur aus dem Willen, verehrt zu werden, verherrlicht, einfach um ein eigener Gott zu sein. Soziales Handeln passt nicht zu diesem Genie: Er muss alleine sein, um sich zum Genie entfalten zu können. Er kann nicht erzogen werden, denn das würde seinem Genie schaden. Er braucht nur sich selbst, seine inneren Ideen, um sein Ziel zu erreichen. Sprache benötigt er nicht, denn seine Gerüche brauchen keinen Namen, um für ihn unterscheidbar zu bleiben; aber um die handwerklichen Fähigkeiten kennenzulernen, kann Grenouille nicht anderes als die Sprache lernen. Ohne die Sprache würde er sich nie mit den Menschen mischen können und würde er nie eine Stelle als Geselle bekommen. Sein (a)soziales Verhalten kann man in der Weise denn auch als bewusst interpretieren. Dass er ‚schlangenhaft‘ spricht, und Angst bei den Menschen erzeugt (quasi als Wahnsinniger angesehen wird), macht seinen Werdegang zum Genie leichter: Je mehr Menschen er um sich herum hat, desto schwieriger diese Entwicklung verläuft. Deswegen braucht Grenouille auch einige Zeit in der Höhle: Weg von den Menschen kann er sich voll entfalten, seine Ideen ausarbeiten, sozusagen seine Geniewerdung beschleunigen. Leider wird ihm dort seine Geruchslosigkeit bewusst, wodurch das Bild des Genies ins Schwanken gebracht wird. Statt Genie, ist Grenouille ein Nichts, das noch zum Genie gemacht werden muss, das sich selbst noch schaffen muss.

2.2.3 Das Scheitern und Grenouilles Umgang damit

Grenouilles Scheitern mündet im Werk immer in eine Krankheit, und später sogar in seinen Tod. Grenouille scheitert ständig an der Gesellschaft bzw. an der Normalität, aber er scheitert auch an seiner eigenen schöpferischen Kunst: Weiter als Gerber kommt er zunächst nicht und danach verplempert er seine Zeit als Lehrling bei Baldini. Im Vulkan liest der Leser, wie er in seinem Inneren eine ganze Welt von Düften schafft – nur in seiner eigenen Phantasiewelt also. Zum genialen Schaffen in der realen Welt kommt es in der Zeit nicht.

Wenn Grenouille krank ist, ändern sich die Umstände für ihn immer. Die psychologische Interpretation geht davon aus, dass Grenouille krank wird, weil er sich nicht voll entfalten kann. Diese Interpretation gilt teilweise auch für die Interpretation des Werks als Künstlerroman. Grenouille wird krank, weil er sich nicht voll entfalten kann, aber seine

72 Vgl. Stark 2006, 224.

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Krankheiten können besser als Trick interpretiert werden. „Und wie es sich für ein Genie gehört, das die Verwirklichung seiner innersten Visionen gefährdet fühlt, flüchtet er sich in die Krankheit“.74

Mit anderen Worten: Grenouille wird krank, weil er das will. Alles was ihm im Werk geschieht, geschieht aus seinem Willen, einfach, weil er es so beabsichtigt hat. Nehmen wir die Szenen, in denen er krank ist, einmal dazu. Er wird zum ersten Mal krank bei Grimal. Im Allgemeinen, so erzählt uns das Werk, verläuft der Milzbrand tödlich. Aber Grenouille genest. Zunächst erscheint es, dass diese Krankheit typisch etwas für Gerber ist, aber im Text stehen Hinweise, die auf eine tiefere Bedeutung schließen. Zum ersten werden wir auf den Unterscheid zwischen Grenouille und den anderen Arbeitsleuten in der Gerberei aufmerksam gemacht: „Dadurch unterschied er sich nicht nur von den Lehrlingen und Gesellen, sondern auch von seinen eigenen potentiellen Nachfolgern“ (42). Wie schon in Kapitel 2.2.1 erläutert, unterscheidet ein Genie sich von der Menge. Grenouille hat das mit dieser Krankheit – und vor allem mit der darauffolgenden Resistenz gegen den Milzbrand – also schon erreicht. Aber es wird auch auf die Zukunft hingedeutet, wenn über seine potenziellen Nachfolger gesprochen wird. Lesen wir hier, dass Grenouille sich möglicherweise schon orientiert, sein Leben zu ändern, sich vom Gerber zu verabschieden? Grenouilles Lebensumstände verbessern sich nach dem Milzbrand: Er bekommt besseres Essen, eine eigene Decke und so weiter. Das Wichtigste ist, dass er einen halben Sonntag frei bekommt, und später sogar jeden Abend eine Stunde. „Er hatte gesiegt, denn er lebte, und er besaß ein Quantum von Freiheit, das genügte, um weiterzuleben“ (43), beschreibt der Text. Wird hier nicht darauf hingewiesen, das Grenouille mit Absicht krank geworden ist? Dass er die Krankheit sozusagen als Waffe eingesetzt hat? Er hat gesiegt, wird geschrieben, und das sorgt dafür, dass er weiterleben kann.

Die zweite Krankheit Grenouilles findet bei Baldini statt. Das Destillieren lebloser Düfte gelingt ihm nicht. „Als er sich über sein Scheitern klargeworden war, stellte er die Versuche ein und wurde lebensbedrohlich krank“ (130). Erneut ist Grenouilles Krankheit lebensbedrohlich und erneut kann man hier sagen, dass er die Krankheit brauchte, um im Leben weiterzukommen. Bisher hat er bei Baldini nur als Lehrling funktioniert, und er hat tatsächlich Einiges dazu gelernt, das wichtig für ihn war, denn ohne Zertifikat würde er auch nirgendwo eine Stelle bekommen. Aber er hätte Baldini nicht einfach sagen können, dass er Lebendiges destillieren wollte, also braucht Grenouille eine Krankheit, und zwar so eine, die ihm die Tür zu Baldinis Wissen öffnet, eine sehr schlimme also. Dass Baldini sich anschickte,

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„seinen Handel über die Grenzen der Hauptstadt, ja sogar des ganzen Landes auszudehnen“ (131) und „für eine ausgewählte Zahl hoher und höchster Kundschaft persönliche Parfums kreieren“ (132) will, ist auch auffällig. Gerade jetzt braucht Baldini Grenouille und die Möglichkeit, ihm irgendetwas zu verweigern, wird damit kleiner. Sobald Grenouille von Baldini gehört hat, was er wissen wollte, wird er besser. „Er schlief nur sehr fest und träumte tief und zog seine Säfte in sich zurück“ (137). Dieses Geschehen verläuft also sehr aktiv. Es wird nicht geschrieben, dass sein Körper sich gesundete, sondern dass er, Grenouille dafür sorgte, dass sein Körper genas. Das deutet darauf, dass seine Krankheit eigentlich ein Trick ist.

Die Zeit in der Höhle – zu interpretieren als die Reaktion auf das Scheitern an der Normalität und der eigenen schöpferischen Tat –, in der Grenouille auch krank wird, kann einerseits psychologisch als Rückzug in das Ich gedeutet werden, andererseits – nach Frizen und Spancken – als die Entwicklung des Genies vom kranken Sturm-und-Drang-Genie zum dekadenten Genie.75 Grenouille scheitert am Schaffen, an seiner Künstlerexistenz und wird daraufhin krank. Mit dekadent wird in diesem Sinne das Gefühl des Untergangs und des Verfalls der eigenen Zivilisation gemeint, verbunden mit Pessimismus und Melancholie, einer Vorliebe für Krankheiten und für den Tod. Figuren in der dekadenten Literatur zeichnen sich durch eine geschwächte Vitalität aus.76 Grenouilles geschwächte Vitalität äußert sich deutlich in seinem Erscheinen: Am Ende der Zeit im Vulkan weist Grenouille „greisenhafte Verfallserscheinungen“ (179) auf. Auch Grenouilles Wahnsinn, der in Kapitel 2.2.2 schon erläutert wurde, seine Phantasien und Träume, weisen auf sein Dasein als dekadentes Genie hin77 – er möchte gerne schaffen, aber hat die Möglichkeiten und Kräfte dazu nicht78 – und also nicht auf ein Dasein als Originalgenie.79 Grenouille will Genie sein, erkennt das auch in sich selbst (siehe zum Beispiel Seite 198), aber ist er das auch? Er schafft zwar neue Düfte, aber kreiert diese aus Gerüchen, die schon existierten, und außerdem auch schon ‚tot‘ und vor allem nicht bleibend sind. Am Ende entdeckt Grenouille, dass er in seiner Absicht, Neues und Bleibendes zu schöpfen, gescheitert ist. Er ist erneut gescheitert an der Gesellschaft: Dazu gehören war unmöglich, denn als Mensch wird er nie angesehen, aber nicht dazu gehören, sich wirklich von Allen unterscheiden, war auch nicht möglich, denn die Leute erkennen seine Begabung nicht. Sie sehen ihn zwar, aber sind nicht von ihm, sondern von seinem Duft

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beeindruckt. Seine Künstlerexistenz, Genieexistenz scheitert, und Grenouille flüchtet sich in den Tod. Denn in Wahrheit war das Genie nur ein Sammler, der nichts Bleibendes schaffen konnte und sich im Nichts auflöst, als ob er nie existiert hat.80 Scheint er zunächst mächtiger als die Menschen bzw. ein Genie zu sein, so wird das später widerlegt: Er steht eher unter ihnen, wird nicht akzeptiert oder überhaupt gesehen. Der kritische Leser entdeckt in Süskinds Roman also nicht nur die Entwicklung eines Genies, sondern auch die Kritik an dem Genie.

2.2.4 Gerüche und Geruchslosigkeit

Das, was Grenouille kreiert, nämlich Düfte, „ist nicht seine originale Schöpferkraft, sondern existiert im Rückblick“,81

ist also nur ein Schatten von dem, was war – ist eine Erinnerung und keine originale Kunst. Diese Tatsache spricht dafür, dass Grenouille nicht als Originalgenie angesehen werden sollte, sondern als dekadentes Genie. Weder im ersten Teil des Werks, noch bei Baldini, kann man ihn ganz gut als Originalgenie bezeichnen. Das, was er dann schafft, sind wirklich neue Düfte, einfach inspiriert durch Grenouilles Nase. Das, was er später aus den Mädchen schafft, ist zwar ein neuer Duft, aber besteht aus leblosem Material, aus etwas, das früher einmal existiert hatte. Der Duft des Menschen ist eigentlich das Einzige, in dem der Mensch sich von Anderen unterscheidet.82 Grenouille unterscheidet sich von den Menschen, indem er überhaupt nicht riecht. Das entdeckt er in einem Traum in der Höhle:

Und Grenouille erwachte von seinem eigenen Schrei. Im Erwachen schlug er um sich, als müsse er den unriechbaren Nebel vertreiben, der ihn ersticken wollte. Er war zutode geängstigt, schlotterte am ganzen Körper vor schierem Todesschrecken. Hätte der Schrei nicht den Nebel zerrissen, dann wäre er an sich selber ertrunken – (171).

Auch seine Geruchlosigkeit ist eine Form von körperlicher Abnormität, was gut zum Genie passt.83 Sofort danach beschließt er sein Leben zu ändern. Dass er nicht riecht, bedeutet auch, dass er für die Menschen unsichtbar ist, ausgestoßen wird.84 Auch das entdeckt er, und er schafft einen Duft, der nach Menschen riecht, bestehend aus Katzendreck, Essig, Salz, Käse, fischig-ranzig-riechendem Etwas, faulem Ei, Castoreum, Ammoniak, Muskat, gefeiltem Horn, angesengter Schweineschwarte, Zibet und Alkohol (192). Das Resultat: „in den Gassen

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Montpelliers, spürte und sah Grenouille deutlich – und jedesmal, wenn er es wieder sah, durchrieselte ihn ein heftiges Gefühl von Stolz-, daß er eine Wirkung auf die Menschen ausübte“ (195). Die Folge ist, dass Grenouille seine Maske verbessern kann, aber auch, dass er die Menschen hasst, weil „sie sich von ihm belügen und betrügen ließen; weil sie nichts waren, und er war alles!“ (197). In dem Moment realisiert Grenouille sich, wozu er fähig ist, und ab jetzt steuert er auf sein Ziel zu: Er will einen Duft schaffen, der Liebe erzeugt, mit dem man ihn von ganzem Herzen lieben würde.

Grenouilles Begabung findet sich nicht nur im Schaffen von Düften, sondern auch im Riechen von Gerüchen. Auch darin unterscheidet Grenouille sich von der Masse. Es gibt keine andere Person, die mit so einem Geruchssinn ausgestattet ist. Er ist demnach auch der Einzige, der sich nicht täuschen lässt, denn sein Geruch lässt ihn nie im Stich. Der Rest der Menschen lässt sich aber leicht täuschen. Stinkend dumm, nennt Grenouille sie. Auch hier wird das Genie wieder von dem Rest der Gesellschaft abgegrenzt und es steht quasi über den Menschen.

„Üblicherweise rochen Menschen nichtssagend oder miserabel. Kinder rochen fad, Männer urinös, nach scharfem Schweiß und Käse, Frauen nach ranzigem Fett und verderbendem Fisch. Durchaus uninteressant, abstoßend rochen die Menschen“ (54). Das Wort ‚Gestank‘ steht im Werk für alles, was hässlich, vielleicht sogar gemein ist, jedenfalls nicht schön:

den feindlichen, dampfigen Dunst der Schlafstube von Madame Gaillard; das ledrig verdorrte Odeur ihrer Hände; den essigsauren Atem des Pater Terrier; den hysterischen, heißen mütterlichen Schweiß der Amme Bussie; den Leichengeruch des Cimetière des Innocents; den Mördergeruch seiner Mutter. […] Gestank der rohen, fleischigen Häute und der Gerbbrühen […]; den versammelten Brodem von sechshunderttausend Parisern in der schwülen lastenden Hitze des Hochsommers (158f.).

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Ihr Schweiß duftete so frisch wie Meerwind, der Talg ihrer Haare so süß wie Nußöl, ihr Geschlecht wie ein Bouquet von Wasserlilien, die Haut wie Aprikosenblüte. […] Dieser eine [Duft] war das höhere Prinzip, nach dessen Vorbild sich die andern ordnen mußten. Er war die reine Schönheit (55).

Die Mädchen – oder vor allem natürlich ihre Düfte – sind das Einzige im Leben, das Grenouille zum Lieben fähig macht: „Wahrhaftig, Grenouille, der solitäre Zeck, das Scheusal, der Unmensch Grenouille, der Liebe nie empfunden hatte und Liebe niemals inspirieren konnte, stand an jenem Märztag an der Stadtmauer von Grasse und liebte und war zutiefst beglückt von seiner Liebe“ (242).

Grenouille schafft im Werk Düfte, man kann sagen: Er schafft Kunst. Und die ganze Menschheit, sowie wir sie heute kennen, benutzt diese Kunst, um seinen eigenen ‚Gestank‘, nach Grenouille, zu maskieren. Ist die Menschheit damit nicht ‚künstlich‘, oder besser vielleicht: falsch? Können wir den ganzen Roman denn, der von künstlichen Gerüchen handelt, vielleicht als Kritik am Geniekult und an der Gesellschaft lesen? Auch in der heutigen Gesellschaft ist es so, dass man aufgrund von Äußerlichkeiten und Geruch verurteilt wird, und die ganze Gesellschaft maskiert sich selbst mit Künstlichkeit. Man lässt sich täuschen, verzaubern von künstlichen Düften, von Kleidung, von Masken. Das schafft Raum für ein Genie wie Grenouille, das sich selbst schaffen kann, und das weiß, wie der Mensch sich täuschen lässt – und das schafft auch Raum, ins Extreme zu geraten. Wir können Grenouille deshalb, vor allem im vorletzten Teil des Werks, als eine Art Hitler sehen. Nach Frizen und Spancken sind alle Ingredienzen beisammen: „die unpolitische Haltung; die Entmündigung und Hypnotisierung der Masse; das Versprechen einer Identität im Kollektiv, die Entrationalisierung und Beseitigung der Ich-Zensur; die Aufhebung gesellschaftlicher Schranken; die suggestiven, aber inhaltsleeren Mittel der Propaganda; die Auswechselbarkeit des moralischen Systems; die Abwehrmechanismen und die Unfähigkeit zu trauern“.85 Genauso wie nach dem Zweiten Weltkrieg, wacht die Gesellschaft entsetzt auf, und muss eine Art Vergangenheitsbewältigung stattfinden, die – zufälligerweise? – genauso verläuft wie die Vergangenheitsbewältigung nach dem Zweiten Weltkrieg.

Vielen erschien dieses Erlebnis so grauenvoll, so vollständig unerklärlich und unvereinbar mit ihren eigentlichen moralischen Vorstellungen, daß sie es buchstäblich im Augenblick seines Stattfindens aus ihrem Gedächtnis löschten […]. Andere, die ihren Wahrnehmungsapparat

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nicht so souverän beherrschten, versuchten, wegzuschauen und wegzuhören und wegzudenken – was nicht ganz einfach war, denn die Schande war zu offensichtlich und zu allgemein. […] Über die Ereignisse des Vortags und der vergangenen Nacht fiel kein Wort. So hemmungslos und frisch man sich gestern noch gegeben hatte, so schamhaft war man jetzt. Und alle waren so, denn alle waren schuldig (312f.).

Zunächst wird die Vergangenheit also überhaupt nicht bewältigt, es wird nicht über das Geschehene gesprochen.86 Danach finden Strafprozesse statt87 – „Aufgrund eindeutiger Verdachtsmomente verhaftete man Dominique Druot“ (313) und wird alles in einem früheren Zustand wiederhergestellt – „Hierfür wurden hundertsechzig Livre bewilligt“ (313).88 Der Geniekult ist politisch, totalitär geworden.89

2.2.5 Blumen und Blüte

Blumen und Blüte im Parfum sind zusammen ein Motiv, das von den meisten Forschern nicht erfasst wurde. Die Blumen und Blüte repräsentieren meines Erachtens das Leben und sind damit der absolute Gegensatz zur Kunst. Verbindet man beide Begriffe im Zusammenhang mit dem Werk, wird der Gegensatz deutlicher: Bürgertum versus Künstlertum. Die Menschen, mit denen Grenouille in seinem Leben zu tun hat, sind alle normale, ordnende Bürger. Siehe zum Beispiel Baldini, der weiß, dass es beim Parfumgeschäft „nur eine, eine einzig mögliche und richtige Art“ (103) gibt, um ein Parfum herzustellen. Grenouille hat aber seine eigene Art, und Baldini versucht diese in Ordnung zu bringen:

Um das verrückte Geschäft, wenn nicht zu kontrollieren, so doch wenigstens begreifen zu können, verlangte Baldini eines Tages von Grenouille, er möge sich, auch wenn er das für unnötig halte, beim Ansetzen seiner Mischungen der Waage, des Meßbechers und der Pipette bedienen; er möge sich ferner angewöhnen, den Weingeist nicht als Duftstoff zu begreifen, sondern als Lösungsmittel, welches erst im nachhinein zuzusetzen sei; er möge schließlich um Gottes willen langsam hantieren (118).

Baldini will alles aufschreiben und, wenn möglich, begreifen können. Er ist der normale Bürger, der sich vor allem auf das Geld richtet, und Grenouilles Vorgehen deswegen festlegt. Baldini ist ein Beweis der ordnenden Art der Bürger. Auch die Reaktion der Bürger nach dem

86 Vgl. Heimpel 1960, 45; geciteerd naar Reichel 2001, 21. 87 Vgl. Reichel 2001, 59.

88 Vgl. Ebenda, 27. 89

Referenties

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