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Wo leben wir eigentlich?

Reaktionen auf den Terrorismus der RAF

im Spiegel der Literatur

Masterscriptie Duitse taal en cultuur Rijksuniversiteit Groningen

Oktober 2007

Prof. Dr. Wara Wende Dr. Peter Groenewold Marijke Mulder

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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung 6

2. Forschungslage 8

2.1 Vorüberlegung 8

2.2 Forschungslage 'Literarische Darstellungen von Terrorismus' 9

3. Methode und Literaturbegriff 14

3.1 Methode 14

3.2 Literaturbegriff 17

3.2.1 Diskursanalyse der Literatur 17

3.2.2 Gesellschaftliche Funktion von Literatur 19

3.2.4 Poetik Friedrich Christian Delius 21

3.2.5 Poetik Christoph Hein 23

4. Nachrichtenmedien 26

5. Terrorismus 29

5.1 Definition 30

5.2 Provokation der Macht 32

5.3 Kampf mit Bildern 34

6. Historischer Überblick 40

6.1 Die deutsche Studentenbewegung 41

6.2 Der Fall der Roten Armee Fraktion (RAF) 42

6.3 Der Tod von Ulrike Meinhof, 8./9. Mai 1976 45

6.4 Der Tod von Wolfgang Grams, 27. Juni 1977 46

6.5 Eskalation in Wort und Tat 47

7. Friedrich Christian Delius

Himmelfahrt eines Staatsfeindes (1992)

7.1 Zusammenfassung 50

7.2 Analyse 54

7.2.1 Erzählerische Grundlagen 55

7.2.2 Medien 57

7.2.2.1 Beerdigung als Medienereignis 58

7.2.2.2 Der Terrorist als Leerstelle 61

7.2.2.3 Moby Dick 64

7.2.2.4 ‚Wahrheit’ über den Terrorismus? 66

7.2.3 Staat 68

7.2.3.1 Abhängigkeitsverhältnis Staat und Terroristen 68

7.2.3.2 Verbrecher, die gegen das Verbrechen kämpfen 72

7.2.3.3 Conni Handschuch 74

7.3 Vorläufige Schlussfolgerung 76

8. Christoph Hein

In seiner frühen Kindheit ein Garten (2005)

8.1 Zusammenfassung 78

8.2 Analyse 82

8.2.1 Erzählerische Grundlagen 83

8.2.2 Medien 85

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8.2.2.2 Information als Machtsmittel 89

8.2.2.3 Belastung für die Eltern 91

8.2.2.4 Katharina Blum 93

8.2.3 Staat 95

8.2.3.1 Der Fall Oliver Zurek 96

8.2.3.2 Verschwörung gegen Richard Zurek? 97

8.2.3.3 Kohlhaas 99

8.2.4 Einige Worte zum Terrorismus 103

8.3 Vorläufige Schlussfolgerung 105

9. Schlussfolgerung 107

10. Anhang: Interview mit Christoph Hein, 4. Oktober 2005 113

11. Literatur 120

11.1 Primäre Texte 120

11.2 Weitere Texte der Autoren 120

11.3 Rezensionen 122

11.4 Methode und Literaturbegriff 123

11.5 Terrorismus 125

11.6 Medien 126

11.7 Terrorismus und Literatur 126

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1. Einleitung

30 Jahre ist es in diesen Wochen her, dass die Rote Armee Fraktion (RAF) die deutsche Öffentlichkeit in ihrem Bann hielt. Mit der Entführung des

Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer am 5. September 1977 begann der ‚Deutsche Herbst’, der im Allgemeinen als der Höhepunkt des deutschen Terrorismus gesehen wird. Erst mit der Stürmung der entführten Lufthansa-Maschine Landshut am 18. Oktober 1977, dem Tod der RAF-Terroristen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe in der darauffolgenden Nacht in Stammheim und der Entdeckung von Schleyers Leichnam am 19. Oktober in der Nähe der französischen Grenze finden die terroristischen Aktivitäten der zweiten Generation der RAF ein Ende. In einem Interview mit der ZEIT widerspricht der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt der Annahme, die 44 Tage der Schleyer-Entführung seien die dramatischsten seines Lebens gewesen:

Es ist ein Irrtum zu glauben, dass dieser sogenannte Deutsche Herbst eine ganz ungewöhnliche Aufregung für die Regierenden gewesen sei. Glauben Sie man ja nicht, dass der Nato-Doppelbeschluss etwas Einfacheres war! […] Diese Epoche des deutschen Terrorismus hat ein viel zu großes publizistisches Gewicht

bekommen in diesem zweiten deutschen Demokratieversuch von 1949 bis zum heutigen Tage. Es ist ein wichtiger Zeitabschnitt, aber weiß Gott nicht der wichtigste.1

Diese relativierenden Worte stehen im Kontrast zu der Aufregung, die jede

öffentliche Auseinandersetzung mit der RAF noch immer verursacht. Die Geschichte der RAF ist mit ihrer Auflösungserklärung aus dem Jahr 1998 offiziell beendet, doch die emotionale Geladenheit des Themas ist damit keineswegs geschwunden.

Zuletzt war dies zu Beginn dieses Jahres in der Debatte um die Begnadigung der Schleyer-Entführer Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt zu beobachten. Doch auch künstlerische Auseinandersetzungen mit der RAF sind in der Vergangenheit Thema heftiger Streitigkeiten gewesen. So wurde im Januar 2005 in den Berliner Kunst-Werken die Ausstellung Zur Vorstellung des Terror eröffnet. Die ursprünglich Mythos RAF betitelte Veranstaltung zeigte eine große Diversität von Arbeiten, die sich im weitesten Sinn mit dem Terrorismus bzw. der RAF beschäftigen. Da Angehörige von RAF-Opfern im Vorfeld der Ausstellung die Mythologisierung der Mörder anprangerten, wäre es jedoch beinahe nicht zu der Ausstellung gekommen. Nach zwei Jahren der Debatte, zogen die Ausstellungsmacher ihren Antrag auf

staatliche Förderung zurück und finanzierten die Ausstellung selbst. Sie wählten nicht

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nur einen weniger kontroversiellen Namen, sondern erweiterten die Ausstellung auch um einen ausführlichen dokumentarischen Teil, der bei manchem Besucher

nachhaltiger in Gedächtnis geblieben sein dürfte als die künstlerischen Werke.2

Obwohl in den Medien anders präsentiert, ist die Mythos RAF- Ausstellung keine Ausstellung zur Glorifizierung der RAF. Sieht man von dem anfangs nicht geplanten dokumentarischen Teil ab, geht die Ausstellung nicht einmal über die RAF selbst, sondern um die Auseinandersetzung der Künstler mit dem Thema Terrorismus. Dass dieser Unterschied in der Debatte um die Ausstellung kaum wahrgenommen wurde, zeigt, „dass über 25 Jahre nach dem Deutschen Herbst die RAF noch immer

emotionalisiert“.3

Der emotionalisierte Charakter des Themas führt dazu, dass jeder Wille zur Auseinandersetzung mit dem Terrorismus als positive Wertung desselben gewertet wird. Eine auf rationalen Gründen basierende Ablehnung ist jedoch erst als Folge der Auseinandersetzung möglich. Auf diese Weise brachte die Debatte um die RAF-Ausstellung gesellschaftliche Strukturen ans Licht, die bereits seit der Anfangszeit der RAF den Umgang mit den Terroristen bestimmt.

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen scheint es mir interessant und wichtig, die Darstellung des Terrorismus in der deutschsprachigen

Gegenwartsliteratur zu untersuchen. Die Fragestellung meiner Arbeit richtet sich dabei nicht auf den Terrorismus als solchen, sondern auf die Darstellung der

öffentlichen Debatte um diesen. Die Aufmerksamkeit soll sich dabei vor allem auf die Medien und den Staat richten, wobei meine Arbeit die Strukturen unter deren

Handeln bloßlegen soll. Mögliche Fragen beziehen sich dabei auf die Funktion der Berichterstattung durch die Medien für den Staat wie auch für die Terroristen. Wie wird über die Extremisten berichtet und welche Bedeutung hat der Terror für die Medien selbst? Wie wird des weiteren der Staat und seine Maßnahmen gegen den Terrorismus dargestellt? Erfährt das literarische Subjekt den autoritären Staat als Garant seiner eigenen Sicherheit oder als Bedrohung? Und wie geht der Staat mit den Kritikern seines Auftretens um?

Die Texte mit denen ich mich beschäftigen möchte, sind beide mit großem zeitlichen Abstand zu den Anschlägen der RAF erschienen. Diese zeitliche Distanz gilt es zu berücksichtigen, da sie von Bedeutung für den Umgang mit der RAF und dem Staat ist. Nur ein gewisser zeitlicher Abstand zu den terroristischen Aktivitäten

2

Welch grossen Anteil die Dokumentation im Verhältnis zur Kunst innerhalb der Ausstellung einnimmt, lässt sich an dem Verhältnis der beiden Bände des Ausstellungskataloges ablesen: Band 1 umfasst 712 Seiten Seiten Dokumentation der RAF in den Medien, Band 2 besteht auf 280 Seiten Essays und Abbildungen zu den künstlerischen Arbeiten der Ausstellung.

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ermöglicht dem Autor die emotionale Distanz zu seinem Gegenstand.4 Trotz der zeitlichen Distanz kennt die literarische Darstellung von Terrorismus einige Schwierigkeiten. Terrorismus ruft wie wenig andere Themen um eine eindeutige Positionierung. Sowohl die Terroristen als auch der Staat sind auf ein „binäre[s] Weltbild“5 angewiesen, dass ihnen eine eindeutige Verteilung der Gesellschaft in

Freunde und Feinde gestattet, ohne diese Kategorien hinterfragen zu müssen. Jenseits dieser Feindeslinien scheint es keinen Raum zu geben.

Literatur hingegen lebt vom Widerspruch gegen derartig eindeutige

Meinungen, von der Darstellung unterschiedlicher und unentschiedener Perspektiven und dem Durchbrechen althergebrachter Denk- und Sichtweisen. So gilt es in

literarischem Texte das politische Schubladendenken von Staat und Terroristen zu durchbrechen und kommunikative Räume zu eröffnen, mit deren Hilfe neue

Perspektiven auf diesen Teil der deutschen Geschichte entstehen können. Die beiden für diese Arbeit gewählten Romane entsprechen dieser Voraussetzung.

Bei den gewählten Texten handelt es sich um Himmelfahrt eines Staatsfeindes (1992) von Friedrich Christian Delius und In seiner frühen Kindheit ein Garten (2005) von Christoph Hein. Obwohl es sich um fiktionale Literatur handelt, worin „die

Wirklichkeit durch die Phantasie verstärk[en]“6 wird, sind die Texte doch Bearbeitungen von historischer Realität. Dabei stellt Delius’ Roman eine Art Improvisation auf den ‚Deutschen Herbst’ dar und widmet Heins Roman sich der Aufarbeitung des Todes von Wolfgang Grams. Beide Romane beschäftigen sich weniger mit dem Terrorismus als mit den Reaktionen auf diesen durch den Staat und die Medien. Vorangehend an die Analyse der Romane werde ich mich mit der

Verstrickung von Medien, Staat und Terrorismus im außerliterarischen Kontext beschäftigen sowie dem Literaturbegriff dieser Arbeit als auch der Romane darstellen.

4 Vgl. Nusser 2005, 92 5 Berendse 2005, 100 6

(8)

2. Forschungslage 2.1 Vorüberlegung

Mit der 1998 veröffentlichten Auflösungserklärung ist die RAF ein abgeschlossenes Kapitel. Zeitgleich scheint auch das Interesse an literarischen Bearbeitungen von Seiten der Autoren abgenommen zu sein, selbst zu dem „Jubiläum“ des ‚Deutschen Herbstes’ im Jahr 1997 sind nur noch wenige Romane und Erzählungen erschienen, die sich mit dem Thema des deutschen Terrorismus auseinandersetzen.7 Einer der Gründe hierfür dürfte der zeitliche Abstand zu den Geschehnissen sein; es ist lange her, dass die RAF Tagesgespräch war und für jüngere Autoren ist die damalige Atmosphäre wohl kaum noch nachzuempfinden, wodurch das Interesse an der Darstellung schwindet. Die wenigen fiktionalen Bearbeitungen der jüngsten

Vergangenheit, wie beispielsweise die Filme Die Stille nach dem Schuß (2000) von Volker Schlöndorff und Baader (2002) von Christopher Roth oder der Roman Rosenfest (2001) von Leander Scholz gehen merkbar freier und unbefangener mit der historischen Grundlage um. Dem stehen zahlreiche internationale Darstellungen von Terrorismus gegenüber, die sich allerdings eher mit der aktuellen Bedrohung durch Al Quaida als mit der RAF beschäftigen. Der Terror in Deutschland (durch nicht-muslimische Deutsche) wird kaum noch thematisiert.

Vielleicht liegt gerade im Ende der literarischen Beschäftigung mit dem Thema des Terrorismus ein Grund für das steigende Interesse an diesem Thema in den Literatur- und Kulturwissenschaften. Denn obwohl seit den Anfangsjahren der RAF deren Aktionen in Romanen und Erzählungen gespiegelt und diskutiert wurden, ist die Forschungsliteratur zu diesen Texten noch wenig ausgeschrieben. So erschienen die ersten Arbeiten zu Anfang der neunziger Jahre; zu einem Zeitpunkt also, als die RAF schon einen Grossteil ihrer Aktualität eingebüsst hatte.

Womit die lang andauernde Scheu der Literaturwissenschaften gegenüber dem Thema zu begründen ist, kann an dieser Stelle nur gemutmaßt werden. So dürfte es von Bedeutung sein, dass die Geschichte der RAF heute als abgeschlossen betrachtet werden kann. Dies erleichtert es, Schlussfolgerungen zu ziehen und macht eine Beschäftigung mit dem Terrorismus bzw. den Terroristen jenseits von

eindeutigen Feindlinien möglich. Dabei spielt die Distanz zu den Ereignissen zwischen 1968 und 1998 eine große Rolle, denn anders als in den Politik- und

Geschichtswissenschaften kann sich die Literaturwissenschaft nicht auf die Rolle des Beobachters beschränken, sondern muss sich zwangsläufig mit Deutungsmustern und Wirklichkeitserfahrungen beschäftigen. Eine wissenschaftlich-distanzierte Arbeit

7

(9)

über diese zu schreiben dürfte in den siebziger Jahren jedoch kaum möglich gewesen sein, wodurch die Schlussfolgerungen eventueller Arbeiten weitgehend voraussehbar gewesen wären. Die Behandlung von Schriftstellern, die für einen nuancierteren Umgang mit der RAF plädierten, zeigt dies.8

Als zweiten Aspekt für das Interesse am Terrorismus ist die erneute

Terrordrohung nennen. Die Beschäftigung mit der RAF bietet hierbei die Möglichkeit, Zusammenhänge zu behandeln, die in ähnlicher Form auch auf den heutigen

Terrorismus zutreffen ohne dabei von der Tagespolitik widerlegt zu werden.9 Der

Mechanismus, dass Romanautoren weniger zurückhaltend sind als

Literaturwissenschaftler, scheint auch hier wieder zuzutreffen. In den letzten Jahren sind zahlreiche Romane über Terroristen und Terrorismus erschienen,10 ausführliche

wissenschaftliche Arbeiten sind zu diesem Thema bis jetzt allerdings nur sehr spärlich zu finden.

2.2 Forschungslage „Literarische Darstellungen von Terrorismus“

Die erste in deutscher Sprache erschienene literaturwissenschaftliche Annäherung an das Thema RAF ist 1997 in der Form des Bandes GeRAFftes. Analysen zur

Darstellung der RAF und des Linksterrorismus in der deutschen Literatur erschienen. Entstanden aus einem Seminar an der Universität Bamberg wurde hier nach einer Darstellung verschiedener Aspekte des Themenfeldes gestrebt, wodurch eine relativ oberflächliche Übersicht entstanden ist. Sowohl die Darstellungen der

gesellschaftlichen Situation als auch die Analysen verschiedener literarischen Bearbeitungen des Themas beschränken sich größtenteils auf die bloße Beschreibung.

Ein erstes wichtiges und umfassendes Werk zur Darstellung des Terrorismus in der deutschsprachigen Literatur muss darum das 2001 erschienene Buch Arbeit am Widerspruch. Terrorismus in deutschen Romanen und Erzählungen (1837-1992)

8

Der bekannteste Autor, der aufgrund seines Engagements für einen differenzierteren Umgang mit der RAF selbst zur Zielscheibe der Ermittlungen wurde, ist Heinrich Böll. Dessen Fall wird später ausfürhlicher besprochen werden. Besonders hart traf es allerdings weniger bekannte Schriftsteller wie etwa Peter Paul Zahl, der mit Mehrfachverurteilungen zum Schweigen gebracht wurd. (Peter Paul Zahl wurde für die selbe Handlung erst zu vier Jahren und später noch einmal zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt. Vgl. Schindler 1997, 64)

9 Dies ist in gewissem Sinne mit dem Roman Incendiary (2005) [deutscher Titel: Lieber Osama] von Chris

Cleave passiert, der am Tag der Anschläge auf die Londoner U-Bahn erschien und Anschläge von Al-Quaida auf London zum Thema hatte. Die Aufregung um den Roman, der nach Aussage des Autors zu einer ehrlichen Diskussion führen soll, ist zumindest teilweise mit dieser Zufälligkeit zu begründen und hat

eben diese ehrliche Diskussion verhindert. (Vgl. http://frontpage.fok.nl/review/3258/1 (09. Oktober 2005,

18:45 Uhr))

10 Als Beispiele können hier Salman Rushdies Roman Shalimar the Clown (2005), Michael Cunninghams

(10)

von Thomas Hoeps gelten. Nicht zuletzt der Einbezug von älteren literarischen Auseinandersetzungen mit dem Thema Terrorismus machen diesen Band zu einem Standardwerk des Themenbereiches. So berücksichtigt Hoeps auch Erzählungen von Anschlägen aus dem Kaiserreich und der Weimarer Republik. Im Zusammenhang mit der in dieser Arbeit zentral stehenden Fragestellung ist hierbei vor allem interessant, dass die staatlichen Reaktionen der damaligen Zeit dem Verhalten des Staates in den 70er Jahren durchaus ähneln.11

Der Schwerpunkt des Buches liegt allerdings auf Texten aus dem Zeitraum zwischen 1970 und 1992. Dabei unterscheidet der Autor drei Kategorien: Das erste Kapitel Zwischen Strategie und Selbstfindung beschäftigt sich mit dem Selbstbild der Terroristen und dem Terrorismus als Existenzform. Das zweite Kapitel richtet sich auf die Darstellung der terrorisierten Gesellschaft, wobei in den hierzu gehörigen Texte vor allem die Gegenoffensive des Staates dargestellt wird. Zuletzt stellt das Kapitel Frontaufbrüche eben diese dar, nämlich die Auseinandersetzung mit Terrorismus und staatlichen Maßnahmen jenseits des Lagerdenkens.12 Die thematische und zeitliche Breite des Überblicks bringt es unumgänglich mit sich, dass viele Fragestellungen nur angedacht werden können; diese können jedoch als Denkanstösse dienen und in weiteren Arbeiten spezifizierter behandelt werden.

Neben dem großen Übersichtswerk von Hoeps finden sich verschiedene kürzere Texte, die sich mit einzelnen Aspekten der Darstellung von Terrorismus beschäftigen. So ist hier als ein sehr früher Beitrag Josef Quacks Text Die hektische Grimasse der Zeit (1991) zu nennen. Quacks Ausgangsfrage lautet, ob die Romane „über ihre Zeit etwas mitzuteilen haben, was auf keine andere Art zu erfahren ist.“13

In der Folge betont er die Komplexität des Stoffes, indem er darauf hinweist, dass viele der literarischen Darstellungen Fragmente geblieben sind14 und betont die relative Häufigkeit von semi-dokumentarischen Schreibstilen.15 Des weiteren

behandelt er die generelle Frage des Verhältnisses zwischen Wirklichkeit und literarischer Darstellung, die er mit einem Exkurs zum Konzept einer realistischen Literatur vertieft.

11

So wurde z.B. während der Französischen Revolution die Ermordung Marats durch die der Gironde nahe stehenden Charlotte Corday als offizielle Begründung für die Hinrichtung der politischen Gegner der Jakobiner genutzt und führte die Ermordung des konservativen Schriftstellers August von Kotzebue im Jahr 1819 zur Kriminalisierung der gesamten damaligen Studentenbewegung. (Vgl. Hoeps 2001, 29)

12

(11)

Walter Delabar beschäftigt sich in seinem Artikel „entweder mensch oder schwein“. Die RAF in der Prosa der siebziger und achtziger Jahre (1997) mit dem Dilemma, mit dem gesellschaftskritische Autoren sich zu den Hochzeiten des

Terrorismus konfrontiert sahen. Dazu untersucht er unter anderem die Bemühungen dieser Autoren, das Ausschließlichkeitsprinzip des ‚Deutschen Herbst’ zu

durchbrechen.

Eindeutige, einfache Formeln wie ‚entweder mensch oder schwein’ oder die Alternative ‚Demokrat’ oder ‚Terrorist’ waren den Autoren, so sie nicht Gefolgschaften bilden wollten, zu undifferenziert, stimmten mit dem in ihren erzählenden Texten entworfenen Weltbild nicht überein.16

In der Folge behandelt er den Fall Böll, Delius’ Trilogie zum „Trauma Deutscher Herbst“17 und einige andere literarischen Veröffentlichungen zum Thema der RAF. Zentrales Thema des Textes ist dabei die bereits mit dem Titel implizierte

gegenseitige Bedingung von Staat und Terrorismus und des daraus resultierenden Ausschließlichkeitsprinzips, dass sich vor allem auf der sprachlichen Ebene

niederschlägt.

Als letztes Beispiel dieser Kategorie von Texten möchte ich den Artikel Bombige Bücher: Literatur und Terrorismus (1967-1977) (1997) von Stephan Schindler erwähnen. Schindler beschäftigt sich vor allem mit der „literarische[n] Intervention“18 von Schriftstellern wie Heinrich Böll und Erich Fried in den siebziger

Jahren. Zudem geht es ihm um die Reaktion von Medien, Staat und Öffentlichkeit mit diesen kritischen Stimmen. Das Interesse des Autors gilt somit weniger der Literatur, als dem gesellschaftlichen Klima, in dem diese Texte erschienen und rezepiert

wurden.

In jüngster Zeit sind einige Texte erschienen, die sich dem Terrorismus als literarischem Thema auf einem theoretischeren Niveau nähern. Zu diesen Werken gehört etwa das Buch Schreiben im Terrordrom. Gewaltcodierung, kulturelle Erinnerung und das Bedingungsverhältnis zwischen Literatur und RAF-Terrorismus (2005) von Gerrit-Jan Berendse. Berendse beschäftigt sich speziell mit dem Bedingungsverhältnis von Literatur und Terrorismus. Im Mittelpunkt seiner Forschung stehen die sprachlichen sowie nicht-sprachlichen

Kommunikationsstrategien der Terroristen und die Bedeutung bzw.

Bedeutungslosigkeit von Sprache in der Auseinandersetzung mit Gewalt. Am Beispiel

16

Delabar 1997, 156

17

Ebenda 162. Der hier besprochene Roman ist der dritte Teil dieser Trilogie.

18

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von Ulrike Meinhof zeigt er den Weg einer engagierten Journalistin zu einer

Terroristin, die nicht länger an die Kraft von Worte glaubt. Obwohl die Attentate und die Körpersprache der Terroristen ihre Worte ersetzen, wissen die Mitglieder der RAF Literatur durchaus zu schätzen und verwendeten verschiedene literarische Werke als Quelle ihrer Codenamen.

2005 beschäftigte Tanja Nusser sich in dem Artikel Staatsfeinde, Rebellen, Ikonen mit dem Altern des Mythos RAF. Am Beispiel von literarischen Texten von unter anderem John von Düffel untersucht sie, wie jüngere Autoren mit dem Thema des deutschen Terrorismus umgehen. Dabei kommt sie zu dem Ergebnis, dass „die RAF als ein frei verfügbares Zeichensystem verwendet wird, das mit den

unterschiedlichsten Bedeutungen angefüllt werden kann“.19 Dazu wird der

Terrorismus auf seine ästhetischen und performatorischen Qualitäten reduziert und der Terrorismus ein Teil der Popkultur.20 Die linke Ideologie wird so zum Teil einer Marktstrategie und verschwindet letztlich im Hintergrund des Interesses.

Neben diesen Texten gibt es zahlreiche Arbeiten zur Geschichte der RAF, die sich allerdings weniger mit Literatur als mit politischen und kriminalistischen

Aspekten des Terrorismus beschäftigen. Diese Texte sollen an dieser Stelle ungenannt bleiben. Ich möchte hier lediglich die von Wolfgang Kraushaar

herausgegebene Anthologie Die RAF und der linke Terrorismus (2006) nennen, in dem unter rund 60 Artikeln zu verschiedenen Aspekten der RAF auch ein Artikel zur Rolle der RAF in der deutschen Belletristik zwischen 1970 und 2004 erschienen ist. Luise Tremel beobachtet in der Literatur zur RAF im Verlauf dieser 34 Jahre drei Entwicklungsstufen: Zwischen 1970 und 1987 liegt der Schwerpunkt der Texte auf den „Auswirkungen der staatlichen Terrorismusbekämpfung auf die Gesellschaft sowie auf die Sympathisanten“.21 Eine zweite Phase portraitiert den Terroristen als Privatperson und ab 1997 finden sich vermehrt „nostalgische sowie romantisierende Texte“.22 Übereinstimmend mit anderen Artikeln konstatiert Tremel somit mit

wachsendem zeitlichen Abstand eine zunehmende Fiktionalisierung des Themas. Dem steht gegenüber, dass sich bis heute nur wenige literarische Texte „für die politischen oder historischen Implikationen des deutschen Terrorismus interessiert“.23 So ist vor allem bei jüngeren Texten auffallend, dass sie die RAF nicht historisieren,

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sondern innerhalb aktueller Kontexte thematisieren und die einzelnen Terroristen zu „ahistorischen Ikonen“24 stilisieren.

All diesen Publikationen zum Thema der literarischen Darstellung der RAF ist gemein, dass meist die Reaktion des Staates auf den Terrorismus im Mittelpunkt der Auseinandersetzung steht. Auch in der vorliegenden Arbeit soll der Frage nach der Darstellung des Staates besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Dabei richtet mein Interesse vor allem auf die der Debatte um den Terrorismus zugrunde

liegenden Strukturen, sowie den Abhängigkeiten zwischen den Medien, dem Staat, den Terroristen und der Öffentlichkeit. Um diese in den spezifischen literarischen Darstellungen von Friedrich Christian Delius’ Himmelfahrt eines Staatsfeindes (1992) und Christoph Heins In seiner frühen Kindheit ein Garten (2005) untersuchen zu können, sollen diese Bedeutungszusammenhänge erst anhand der außerliterarischen Wirklichkeit dargestellt werden.

24

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3. Methode und Literaturbegriff 3.1 Methode

Die vorliegende Arbeit ist der Diskursanalyse verpflichtet. Der an diese Methode zugrunde liegende Gedanke ist die These, dass die Wirklichkeit wie wir sie kennen nicht a priori festliegt, sondern das „Ergebnis einer kollektiven Konstruktions- bzw. Interpretationsleistung“25 ist.

Eine zentrale Bedeutung kommt hierbei der Sprache zu. Denn erst durch die Benennung – und damit Unterscheidung von anderen – können wir einzelne Aspekte unserer Lebenswelt wahrnehmen.26 Das bedeutet nicht, dass es keine Welt außerhalb unserer Wahrnehmung gäbe, doch können wir über diese Welt nur in Begriffen von Kategorien der Unterscheidung etwas aussagen.27 Die Art und Weise, wie diese

Unterscheidungen angebracht werden, ist kulturell bedingt. Unter einer Kultur versteht man in diesem Zusammenhang ein „Zeichen- und Symbolsystem[…], dessen symbolische Ordnungen, kulturelle Codes und Wertehierarchien sich in kulturspezifischen Praktiken und Sinnstiftungsprozessen manifestieren.“28 Der individuelle Mensch wird in dieses Netz von Codes und Bedeutungsstrukturen hineingeboren und kann sich deren Implikationen während seines

Sozialisierungsprozesses unmöglich entziehen. Indem sie bestimmen, wie die Mitglieder einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe die sie umgebende Welt wahrnehmen, steuern diese Ordnungsprinzipien und Codes das Wirklichkeitsmodell einer Gesellschaft.

Hieraus ergibt sich, dass Sprache sich in diesem Zusammenhang „keinesfalls als Hülle verstehen läßt, die die Bedeutung umgibt. […] Sprache ist vielmehr

Handlung, und zwar Handlung, die Welt erschafft.“29 Am deutlichsten wird dies am Beispiel eines Ordnungswortes,30 wie etwa Familie. Hierbei handelt es sich nicht um

ein ‚neutrales’ Wort, sondern „um eine Kategorie, ein kollektives Konstruktionsprinzip der kollektiven Realität“.31 Ein solcher Begriff scheint gegeben, ist jedoch ein

kulturelles Konstrukt. Das Ordnungswort Familie „gibt Relevanzstrukturen vor, deutet Wahrnehmungen, interpretiert Erfahrenes, motiviert Verhalten und strukturiert

Handlungen“.32 Ebenso sind Wörter, wie „‹wir›, ‹hier›, ‹jetzt›, ‹gut›, ‹sein› []

25 Wende 2004, 83

26 Vgl. Siegfried J. Schmidt (1998). Die Zähmung des Blicks. Konstruktivismus – Empirie – Wissenschaft.

Frankfurt: Suhrkamp. 18. Zitiert nach Wende 2004, 79

27 Wende 2004, 79. Hierbei ist an die Unterscheidungen gut/böse, falsch/wahr und ähnliche zu denken.

28 Sommer, Roy (2005). „Kulturbegriff“ In: Nünning, Ansgar (Hg.). Grundbegriffe der Kulturtheorie und

Kulturwissenschaften. Stuttgart, Weimar: Metzler. 112-114. 113

29 Landwehr 2001, 10

30 Vgl. ebenda 93

31 Ebenda

(15)

sprachliche Handlungen, da sie Weltbilder zum Ausdruck bringen“33 und so zu Instrumenten der Wirklichkeitskonstruktion34 werden.

Als vorrangiges Medium35 der zwischenmenschlichen Kommunikation kommt

der Sprache eine besondere Rolle bei der Einpassung des Heranwachsenden in die kollektive Gemeinschaft zu. Dabei legt sie Regeln auf, welche das Individuum nur unter Strafe verletzen kann. Denn auch wenn die Zuordnung von Signifikant und Signifikat arbiträr ist, kann diese nicht vom Einzelnen vorgenommen werden. Voraussetzung einer erfolgreichen Kommunikation ist es vielmehr, dass Sender und Empfänger die selben Zeichensysteme verstehen und der Sprecher die kulturellen Codes bezüglichen des Gesprächsthemas einhält. Grobe Verstöße gegen die geltenden Normen der Wirklichkeit können zu Ausgrenzung und Isolation des Sprechenden führen.

Zugleich sind dieses Codes jedoch keineswegs unveränderlich. Nicht nur zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen oder Generationen innerhalb einer Gesellschaft können Worte eine andere Konnotation annehmen, sie können sich auch im Laufe der Zeit ändern. Derartige Veränderungen der Bedeutung vollziehen sich allerdings so langsam, dass sie für das Individuum im Allgemeinen nicht

wahrnehmbar sind. Erst die historische Analyse des Sprachwandels kann Veränderungen bloßlegen und erkennbar machen.

Die Frage, wann und warum bestimmte Aussagen kulturell zulässig sind, bildet die eigentliche Motivation hinter Foucaults Diskursanalyse.36 Diskurse „spiegeln das Wirklichkeitsmodell einer Gesellschaft“,37 indem sie eine

symbolische Ordnung [darstellen,] die den mit diesem Diskurs vertrauten Subjekten das gemeinsame Sprechen und Handeln erlauben. Durch die

Bestimmung des Diskurses als symbolische Ordnung wird auf die einfache, aber grundlegende Tatsache hingewiesen, dass sich unser Denken im Zusammenhang einer Ordnung von Symbolen bewegt, mit denen wir uns die Welt erschließen.38

Die mit dem Diskurs vertrauten Subjekte formen „Diskursgemeinschaften“,39 innerhalb welcher sich die Diskursteilnehmer konform des durch den Diskurs konstituierten „symbolische[n] Ordnungsstruktur“40 verhalten. Eine

33 Landwehr 2001, 10

34 Vgl. Wende 2004, 96

35 Medium: (lat. Medium = vermittelndes Element/Träger, insbesondere (in der Mehrzahl) zur

Weitervergabe oder Verbreitung von Informationen durch Sprache, Gestik, Mimik, Schrift, Bild und/oder Musik (Vgl. Duden - Das neue Lexikon in 10 Bänden, Bd. 6, Mannheim 1996). „Instrumente der ‚Kopplung’ von Kognition (oder Bewusstsein) und Kommunikation“ (Wende 2004, 97)

36 Vgl. Neuhaus 2002, 17

37 Wende 2004, 93

38 Landwehr 2001, 77

39 Turk und Kittler 1977, 28

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Diskursgemeinschaft kann beispielsweise aus Wissenschaftlern eines bestimmten Fachgebietes, aus den Anhängern einer bestimmten Musikrichtung oder aus einer anderen sozialen Gruppe bestehen. Entscheidend für die Zuordnung zu einer Diskursgemeinschaft ist die Tatsache, ob alle Teilnehmer das selbe Vokabular mit den selben Implikationen verwenden.

Das bedeutet, dass „die Bedeutung beziehungsweise der ‹Sinn› der Dinge diskursiv erzeugt“41 wird; dass also erst im Diskurs die Beziehung zwischen Signifikat und Signifikant hergestellt wird. Es gibt keinen Zeitpunkt vor dem Diskurs und es gibt auch keinen Standpunkt außerhalb des Diskurses.42 Dabei richtet die

Aufmerksamkeit der Diskursanalyse sich nachdrücklich auf die Art und Weise, nach der diese Sinngebung zustande kommt.

Neben der Sprache nimmt Macht eine zentrale Bedeutung im

Zustandekommen des Diskurses ein. Foucaults Machtbegriff ist jedoch nicht an Parteien und Instanzen gebunden, sondern ein „offenes, mehr oder weniger (und ohne Zweifel eher schlecht) koordiniertes Bündel von Beziehungen“.43

Machtbeziehungen entstehen überall und haben einen veränderlichen Charakter. So kann Paris Hilton in einem Diskurs der Jugendkultur viel Macht besitzen, während sie etwa im politischen Diskurs keinerlei Bedeutung besitzt. Es ist dieses „vielfältige[] und bewegliche[] Feld[] von Kräfteverhältnissen, in denen sich globale aber niemals völlig stabile Herrschaftswirkungen durchsetzen“,44 welches die Diskursanalyse zu

entschlüsseln versucht. Dies bedeutet, dass sie „als das Bemühen [zu] verstehen [ist], die formellen Bedingungen zu untersuchen, die die Produktion von Sinn steuern.“45 Als „Verbindungslinien in den Diskursen“46 kontrollieren die

Machtbeziehungen den Diskurs, der sich im Wesentlichen „als Kampf um die Definition und inhaltliche Füllung von Kollektivsymbolen ab[spielt]“.47 Jürgen Link definierte Kollektivsymbole als

Sinn-Bilder (komplexe, ikonische, motivierte Zeichen) [], deren kollektive Verankerung sich aus ihrer sozialhistorischen, z.B. technohistorischen Relevanz ergibt, und die gleichermaßen metaphorisch wie repräsentativ-synekdochisch und nicht zuletzt pragmatisch verwendbar sind.48

41 Sarasin 2003, 32

42 Vgl. Neuhaus 2002, 15

43 Foucault, Michel (1978). Dispositive der Macht. Berlin: Merve, 126. Zitiert nach Neuhaus 2004, 14

44 Foucault, Michel (1983) Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt am Main: Suhrkamp,

124. Zitiert nach Neuhaus 2002, 22

45 Sarasin 2003, 33

46 Neuhaus 2002, 17

47 Dörner und Vogt 1994, 33

(17)

Damit sind Kollektivsymbole Begriffe, die zeitgleich in verschiedenen Diskursen mit verschiedenen Bedeutungen verwendet werden. Link nennt hier das Beispiel des Ballons, der im 18. und 19. Jahrhundert von verschiedenen Diskursgemeinschaften zugleich als Symbol des Fortschritts und als Symbol für die „verantwortungslose Radikalität und ‚Windbeutelei’ von Revolutionären und Reformern“49 gesehen wurde.

Durch seine Funktion in verschiedenen gesellschaftlichen Diskursen, bedeutet die definitorische Macht über ein Kollektivsymbol eine besondere Einflussnahme auf das Wirklichkeitsmodell einer Gemeinschaft.

Link unterscheidet Spezialdiskurse (wie etwa den medizinischen, den

ökonomischen oder den juristischen Diskurs) und Interdiskurse. Letztere haben die Funktion die verschiedenen Spezialdiskurse zu einem komplexen Netzwerk zu verbinden.50 Da Kollektivsymbole „bei einer größeren sozialen Gruppe als

gemeinsames Kommunikationsmittel verankert sind“,51 nehmen sie eine besondere Funktion innerhalb dieser Vernetzung ein. Das exemplarische Beispiel eines

Interdiskurses ist der literarische Diskurs, welcher verschiedene Spezialdiskurse als Rohstoffquelle verwendet und gleichzeitig Themen aus verschiedenen

Spezialdiskursen aufgreift und verarbeitet.52 Auch greift Literatur häufig

Kollektivsymbole als „sozial aufgeladenes Zeichenmaterial [auf] und verarbeitet sie zu spezifisch literarischen Bedingungen“.53 Hierbei muss die Frage, in welcher Form der einem Spezialdiskurs entlehnte Begriff in einem literarischen Text verwendet wird, zentral stehen.54

3.2 Literaturbegriff

3.2.1 Diskursanalyse der Literatur

Die Diskursanalyse literarischer Texte richtet sich wie die Analyse anderer Diskurse auf die Weise der Konstruktion von Aussagen. Darüber hinaus muss jedoch der besondere Charakter von Literatur gegenüber der Wirklichkeit berücksichtigt werden. Denn „der Anspruch der Fiktion, Realität zu sein, kann noch so ehrgeizig und

aufrichtig aktualisiert sein; was sich zwischen den beiden Buchdeckeln ausdehnt, [] ist niemals Realität, sondern immer schon ein Modell der Realität.“55 Das bedeutet,

49 Dörner und Vogt 1994, 33

50 Link 1988, 286

51 Dörner und Vogt 1994, 32f

52 Als Beispiel nennt Link Gottfried Benns Verbindung von Medizin und Poesie. (Link 1988, 284)

53 Dörner und Vogt 1994, 33

54 Unter ‚spezifisch literarischen Bedingungen’ sind in diesem Zusammenhang beispielweise jegliche

Formen der Verfremdung zu verstehen, die literarische Texte gesellschaftlich verankerten Begriffen zukommen lassen.

(18)

dass literarische Texte56 die Wirklichkeit interpretieren, noch bevor sie selber

interpretiert werden.57 Der Rezipient wird so ein „Beobachter zweiter Ordnung“,58 der Beobachter der ersten Ordnung beim Beobachten beobachtet. Daraus folgen sowohl Rückschlüsse auf deren Interpretation der Wirklichkeit als auf die Wirklichkeit selbst.59 Durch die doppelte Interpretationsebene handelt es sich bei literarischen

Texten um „komplexer strukturierte und weniger leicht zu erschließende

Diskursbeiträge“.60 Hierauf muss die Diskursanalyse Rücksicht nehmen. Dabei ist es entscheidend, dass sie selbst nicht auf hermeneutische Herangehensweisen

zurückgreift. Statt durch die Interpretation des Textes weitere Verdoppelungen zu schaffen, „untersucht die Diskursanalyse die Verdoppelungen selber.“61

Autoren literarischer Texte befinden sich wie jedes andere Individuum innerhalb der Diskurse. Indem Literatur jedoch nicht die Wirklichkeit, sondern die kulturelle Konstruktion der Wirklichkeit zum Gegenstand hat, funktioniert sie als Metadiskurs: „Wenn sie Referenzbezüge statuiert, dann nicht auf Sachverhalte in oder jenseits einer Kultur, sondern immer nur von Diskursen auf Diskurse“62 Eine besondere Rolle spielt dabei das „Imaginäre“, welches LeGoff als „Vorstellungswelt einer Gesellschaft, die Wünsche, Ängste, Phantasien und Träume umfasst [definiert]. Diese Vorstellungswelten materialisieren sich sinnlich fassbar in Gebäuden, Bildern und Texten.“63 Literatur konstituiert somit „ein Realitätsmodell, das als spekulatives Instrument der Erfahrung und Erprobung der Wirklichkeit dient.“64 Als Laboratorium

möglicher Lebenswelten fungiert der literarische Text als eine „Als-Ob-Welt[...]“,65 in der verschiedenen Wirklichkeitsentwürfe ausprobiert werden können, ohne dass diese sich gesellschaftlich beweisen müssen. Das hat zur Folge, dass auch Texte, die ein Ereignis der Wirklichkeit zum Ausgangspunkt wählen, die historischen Ereignisse nicht als Realität, sondern ausschließlich als Ausdruck des politisch-kulturellen Selbstverständnisses des Autors gelesen werden.66

Die Fiktionalität selbst jener als realistisch bezeichneter Texte nimmt seinen Ausgangspunkt in der narrativen „Konstruktion von Zusammenhängen“.67 Dem ist jedoch zugleich entgegen zu stellen, dass literarische Texte sich durch ihre

56 Dasselbe gilt für Spielfilme, Dokumentationen und andere Formen narrativer Medien.

57 Vgl. Wende 2004, 106

58 Luhmann, Niklas (1990). „Weltkunst“. In: Ders. u.a. Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur.

Bielefeld, 32ff. Zitiert nach Wende 2004, 105

59 Vgl. Wende 2004, 105f

60 Neuhaus 2002, 18

61 Turk und Kittler 1977, 36

62 Ebenda 40

63 Dörner und Vogt 1994, 101

64 Assmann 1980, 15

65 Dörner und Vogt 1994, 176

66 Vgl. ebenda 175ff

(19)

Polyvalenz auszeichnen.68 Die narrative Struktur, die sie anbringen, wird somit zugleich wieder gebrochen, indem sie als offen für verschiedene Interpretationen präsentiert wird. Dieser Effekt wird durch literarische Mittel wie Satire oder Ironie weiter verstärkt. So schaffen die Texte eine fiktionale Wirklichkeit, die zugleich als Kommentar auf das außerliterarische Wirklichkeitsmodell einer Gesellschaft dient. Hierin liegt die „epistemologische Valenz, d.h. de[r] Erkenntniswert von

[literarischen] Texten“.69 Indem sie sich bezüglich des kulturellen

Wirklichkeitsmodells einer Gesellschaft auf einer Metaebene befinden, bieten sie die „Chance der Erweiterung der Erkenntnismöglichkeiten“.70 Durch die Thematisierung und Bloßlegung der Strukturen des Diskurses kennt Literatur ein aufklärerisches Potential.71 Die Aufgabe der literarischen Diskursanalyse ist es, die „Regeln zu

bestimmen, nach denen Kulturen Wiedergebrauchsreden bestimmt und Textcorpora hergestellt haben.“72

3.2.2 Gesellschaftliche Funktion von Literatur

Sowohl in der Poetik von Christoph Hein als in der von Friedrich Christian Delius nimmt der Aspekt der Erkenntniserweiterung durch Literatur eine zentrale Funktion ein. Im Zusammenhang mit der Thematik des Terrorismus kann Literatur die polarisierte gesellschaftliche Debatte durchbrechen und die gesellschaftlichen Positionen hinterfragen. Um der Literatur zu wirklichem Einfluss auf die

gesellschaftliche Debatte zu verhelfen, muss diese die „Aura der Faszination, die die von Terroristen ausgeübte Gewalt umgibt“73 durchbrechen. Denn wie der

amerikanische Schriftstellers Don DeLillo es 1991 in seinem Roman Mao II

formulierte: „Was die Terroristen gewinnen, verlieren die Schriftsteller. Was sie an Einfluss auf das Bewußtsein der Massen hinzugewinnen, verlieren wir als Gestalter von Sensibilität und Gedanken.“74

Die Frage nach der Funktion von Literatur ist im Zusammenhang dieser Arbeit von großer Bedeutung, da sie die Positionierung der Literatur zwischen den Fronten von Terrorismus einerseits und Staat und Medien andererseits mitbestimmt. Die Debatte um Literatur als Auslöser gesellschaftlicher Bewusstseinsprozesse ist keineswegs neu. Das Selbstverständnis der Literaten und deren Texte können nicht unabhängig von der literaturhistorischen Entwicklung dieser Debatte gesehen

68 Vgl. Neuhaus 2002, 19

69 Nünning 2001, 378

70 Wende 2004, 106

71 Vgl. ebenda 95

72 Turk und Kittler 1977, 38

73 Berendse 2005, 35

(20)

werden. Darum werde ich diese Entwicklung für die Zeit nach 1945 im Folgenden kurz skizzieren.

Im Nachkriegsdeutschland75 der späten vierziger Jahre sieht ein Teil der

jüngeren Schriftsteller sich mit der Frage konfrontiert, welche Funktion die Literatur in dem neuen Staat einnehmen soll. Aufgrund der Erfahrungen der Indoktrination durch Faschismus und Kommunismus entwickelt sich unter diesen Autoren, die sich in der so genannten Gruppe 47 treffen, ein weitgehender „Ideologieverdacht“, der gegen Engagement spricht. Gleichzeitig wird jedoch auch die passive Haltung der Schriftsteller der so genannten ‚Inneren Emigration’ während des Dritten Reiches als suspekt erfahren. Die Gruppe 47 begreift sich als intellektuelle Elite, die Demokratie in radikalster Form ausüben und durch ihr Vorbild die deutsche Öffentlichkeit von den Vorteilen dieser Staatsform überzeugen will. “Erst die Lehrer, “ schreibt Hans Werner Richter hierzu, „dann die zu Belehrenden, erst die Bildung von demokratischen Eliten, dann die Umerziehung der Massen.”76 Sieht man von diesen grundsätzlichen

Gedanken ab, vertritt die Gruppe 47 keine gemeinsame Literaturauffassung. Vielmehr hatte jeder der Teilnehmer eine eigene Auffassung über die Frage von Engagement und Autonomie.

Durch den Ideologieverdacht geeint sprachen sich die verschiedenen Angehörigen der Gruppe 47 jedoch generell für die ideologische Autonomie des Autors aus. Vor allem in den Anfangsjahren waren sie hierin stark von der Poetik Jean-Paul Sartres beeinflusst, der Kunst in dem 1947 in Frankreich erschienenen Bändchen Qu’est-ce que la littérature? als „Akt des Vertrauens in die Freiheit der Menschen“77 bezeichnet und Freiheit und Kunst somit als gegenseitiges

Bedingungsverhältnis ansieht. Wichtigste Aufgabe eines Künstlers ist es nach Sartre, die Gesellschaft offen zu halten, das heißt eine Pluralität von Denkweisen zu

ermöglichen und eine Situation zu erschaffen, in der die Macht selbst in Frage gestellt werden kann. Zugleich ist eine solche offene Gesellschaft die

Grundvoraussetzung von jeglicher schriftstellerischen Tätigkeit, denn “die Kunst der Prosa ist mit dem einzigen System solidarisch, wo die Prosa einen Sinn behält: mit der Demokratie”.78 Derartig freie Literatur beinhaltet das Potential des

gesellschaftlichen Wandels, da “Sprechen Handeln [und] Enthüllen Verändern”79 ist.

Dazu soll der Leser durch eine unvoreingenommene Darstellung der Wirklichkeit auf

75 Diese Skizze bezieht sich ausschließlich auf die Entwicklungen in der alten Bundesrepublik. Da es sich

beim Terrorismus der RAF jedoch um ein westdeutsches Phänomen handelt, halte ich dies für zulässig.

76 Richter 1962, 10

77 Sartre 1982, 52

78 Ebenda 54

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die Probleme der Gegenwart hingewiesen werden,80 denn “ jedes Ding, das man benennt, ist nicht mehr ganz und gar dasselbe, es hat seine Unschuld verloren.”81 Durch die Konfrontation mit den verschiedenen Sichtweisen bezüglich eines gesellschaftlichen Zustands wird der Leser herausgefordert, selbständig zu einer eigenen Meinung zu kommen. Anschließend hat er die Wahl, eine Situation bewusst in Stand zu halten oder zu verändern. Auf diese Weise, die Sartre einen „sekundären Modus des Handelns“82 nennt, kann Literatur die Gesellschaft verändern und es ist „die Funktion des Schriftstellers, dafür zu sorgen, daß niemand über die Welt in Unkenntnis bleibt und daß niemand sich für unschuldig an ihr erklären kann.“83 Diese Literaturauffassung ist von großem Einfluss innerhalb der Gruppe 47, da sie nicht auf Indoktrination des Lesers setzt, sondern an dessen freien Willen appelliert.

3.2.3 Poetik Friedrich Christian Delius

In den sechziger Jahren nahm auch der Autor Friedrich Christian Delius an

verschiedenen Tagungen der Gruppe 47 teil84 und wie die meisten deren Vertreter fühlt er sich ebenfalls der aufklärerischen Funktion von Literatur verpflichtet. Und obwohl ihm ein gewisses Misstrauen angesichts des gesellschaftlichen Einflusses von Literatur keineswegs fremd ist, bezeichnet er sich in dem Vorwort zu seinem 2003 erschienenen „Leitfaden für deutsches Denken“ Warum ich schon immer Recht hatte – und andere Irrtümer als einen „altmodischen Menschen, der die

bewusstseinserweiternden Wirkungen von Sprache und Dichtung bei allen Zweifeln lieber überschätzt als unterschätzt.“85

Delius wurde in den sechziger Jahren mit gesellschaftskritischen Gedichten und den dokumentarischen Werken Wir Unternehmer (1966) und Unsere Siemens-Welt (1972) bekannt, wobei ihm letzteres einen Prozess von Seiten der Siemens AG einbrachte. Nach eigener Aussage las er immer lieber belletristische Literatur als politische Manifeste,86 weil ihm „die Kunst, die bekanntlich Widersprüche provoziert und verschärft, letztlich wichtiger war als die Ideologie, die bekanntlich Widersprüche abzuschaffen oder auszugrenzen trachtet.“87 Hiermit ist bereits der zentrale Aspekt

von Delius’ Poetik angesprochen: Literatur ist „Grundlagenforschung der

80 Alfred Andersch spricht in diesem Zusammenhang von einer „Poetik der Deskription“ oder auch

“revolutionär[m] Realismus ” (Scherpe 1984, 13)

81 Sartre 1982, 26

82 Ebenda

83 Ebenda 27

84 1964 Sigtuna (Schweden), 1965 Berlin, 1966 Princeton (USA), 1967 Pulvermühle (Quelle:

http://www.fcdelius.de/biografie [Aufruf: 2. Juli 2007, 15 Uhr]

85 Delius 2003, 7

86 Vgl. Delius 2003, 6

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gesellschaftlichen Reibungen“88 und kann darum als Forum für die Diskussion gesellschaftlich schwieriger Themen dienen. Als

klassisches Medium des Dialogs […]. [Literatur] hält, in den Worten von Elias Canetti, „die Zugänge zwischen den Menschen offen“. Die künftigen

Gesellschaften, wenn sie demokratische sein sollen, brauchen massenhaft genau das Element, das u.a. der Literatur in winzigen, weil individuellen Einheiten ihre winzige, dennoch ungeheure Sprengkraft gibt.89

Literarische Texte behandeln Leidenschaften; Themen, die grundsätzliche

Fragestellungen menschlichen Lebens berühren. Dabei ist die Politik neben Tod und Liebe nur eines von vielen Themen, weshalb Delius sich dem Etikett des politischen Autors mit aller Vehemenz widersetzt. Zwar behandelt die Mehrzahl seiner Texte politische Themen, doch diese sind für ihn nur der Ausdruck seiner Welterfahrung, „aus höchst individuellem Blickwinkel in individueller Sprache“90.

Wenn der Begriff politisch als Bezeichnung für einen Autor überhaupt einen Anflug von Berechtigung hat, dann nur in dem Sinn, dass dieser Autor, ich spreche jetzt der Einfachheit halber von mir, dass ich mich bemühe, möglichst viel von dem, was meine, was unsere Welt ist, zu erfassen und dabei selbstverständlich gesellschaftliche und politische Fundamente, auf denen sich die Subjekte wie schwankend auch immer bewegen, nicht vergesse.“91

Mehr als gegen die politischen Motive richtet Delius sich hiermit gegen den

Gedanken, ein politischer Autor wolle bekehren und schreibe aus einer ideologisch begrenzten Perspektive.92 Da Delius Literatur als ein Mittel sieht, die Welt zu

erfassen, kann er politische Themen schon deshalb nicht ausblenden, weil jedes literarische Subjekt sich vor einem politischen Hintergrund bewegt.93 Betrachtet man sein Werk, dienen die politischen Themen jedoch keineswegs nur als Kulisse für die Erzählhandlung, sondern stellen oft das eigentliche Thema.

Eine andere Form der politischen Motivation tritt in der Bedeutung nach vorn, die Delius der Sprache beimisst. In seinen Gedichten, vor allem aber in den

dokumentarischen Arbeiten, beschäftigt er sich immer wieder mit der Sprache der Mächtigen und leidet unter der Unmöglichkeit, die Wirklichkeit in Worte zu fassen.94 Er betont die „Eigenart der literarischen Kunst [...], die wie unter gebildeten

Menschen bekannt, sich nicht auf die Eindeutigkeit des üblichen Sprachgebrauchs

(23)

reduzieren lässt.“95 Schon diese Polyvalenz der literarischen Sprache macht es unmöglich, eine eindeutige politische Botschaft zu transportieren. „Ereignisse der Zeitgeschichte“, schreibt er im Klappentext des Romans Himmelfahrt eines Staatsfeindes, „waren ein Ausgangspunkt, sind jedoch nicht Gegenstand dieses Romans.“ (HS 9)

Als Motto zu seinem Werk nennt Delius selbst einen Satz von Friedrich Schlegel: „Jeder Satz, jedes Buch, so sich nicht selbst widerspricht ist

unvollständig.“96 Dieser Maxime verpflichtet, sieht er Literatur als eine Form des

Widerstands, der dem „Kampf um Sprache, Bewusstsein, Genauigkeit, Phantasie und die Freiheit des Spielerischen“97 dient. Literatur ist in diesem Sinn keine politische Standortbestimmung, sondern eine Auseinandersetzung mit der individuell

erfahrenen Welt, von der auch die Politik ein Teil ist.

3.2.4 Poetik Christoph Hein

Ähnliches gilt auch für die Literaturauffassung von Christoph Hein. Auch er sieht in der Komplexität und Polyvalenz von Literatur deren aufklärerisches Potential, doch sieht er deren Möglichkeit, Bewusstseinsprozesse herbei zu führen aufgrund der schwindenden gesellschaftlichen Bedeutung von Literatur, abnehmen.

Während einer Ansprache anlässlich der Begegnung Berlin – ein Ort für den Frieden im Jahr 1987 spricht Hein davon, dass „die aufklärerischen Möglichkeiten und Funktionen, die vergleichbare Treffen [gemeint ist die Begegnungswoche] noch vor Jahrzehnten hatten, in dieser Zeit durch die Massenmedien verloren gingen.“98 Nicht nur sei der gesellschaftliche Einfluss von Literatur allgemein zurückgegangen, schon immer erreichte sie nur diejenigen, die für sie empfänglich waren. „Die Botschaft der Antigone kränkte keines Kreon Ohr, denn die besaßen durch die Jahrtausende keins für sie.“99 In einem Gespräch mit Uwe Hornauer und Hans Norbert Janowski sagt

Christoph Hein, „es ist der Literatur abträglich, wenn man meint, sie bewirke allzu viel. Sie tut dies gar nicht, und selbst eine schlecht erzählte Geschichte richtet kaum Schaden an.“100 Das bedeutet jedoch nicht, dass Hein Literatur für funktionslos oder

gar überflüssig hält. „Literatur, “ so schreibt er bei einer anderen Gelegenheit, „ist machtlos, aber sie ist nicht ohnmächtig.“101 Ihre Wirkung liegt in der Kraft, Realität

95 Delius 2003, 52

96 Zitiert nach Delius 2003, 6

97 Delius 2003, 58

98 Hein 19871, 72

99 Hein 19851, 46

100 Hein19852, 79

(24)

zu benennen und so in das Bewusstsein der Leser zu bringen. Diesen Vorgang erläuterte er an einem Beispiel:

Eine Ehe, über Jahre und Jahrzehnte mehr schlecht als recht geführt, wird

urplötzlich aufgelöst. Ihr lange hingenommener Zustand wird eines Tages in Worte gefasst, und dies reicht aus, um sie zu beenden. […] Eine Wirkung der

Beschreibung, nicht der Realität. Die Realität allein blieb folgenlos, aber sie war unbeschreiblich und endete also in dem Moment, wo sie – von einem der

Ehepartner, von dem berühmten guten Freund oder auf der berüchtigten Couch des Psychiaters – beschrieben wurde. Das Unbeschreibliche hätte – unbeschrieben – Bestand gehabt.102

Auf ähnliche Weise hat das Tagebuch der Anne Frank nach Heins Meinung mehr für eine veränderte Haltung gegenüber Verfolgten jeglicher Art erreicht, als das Wissen um die Tatsachen des Holocaust je vermocht hätten. Literatur hat somit die Aufgabe, dem Leser die Welt in der er lebt, bewusst zu machen. Sie kann gesellschaftlichen Wandel zwar nicht direkt beeinflussen, jedoch in den Köpfen der Menschen

vorbereiten. Wie bei Sartre ist es die Aufgabe des Schriftstellers, in seinem Werk gesellschaftliche Missstände zu benennen und das Individuum so an seine

Verantwortung für diese zu erinnern.103

Das bedeutet jedoch nicht, dass Literatur einen rein dokumentarischen Charakter annehmen soll, zumal ein direkter Zugriff auf die Wirklichkeit – wie oben dargestellt – gar nicht möglich ist. Literatur ist vielmehr „ein Reagieren auf

Geschichte, aber kein Urheber derselben.“104 Der Schriftsteller soll sich historischen Stoffen nach Heins Auffassung wie ein Chronist nähern, ohne die Geschehnisse von einer eigenen Deutung bzw. Moral zu versehen. Denn „natürlich ist es die Chronik eines Schriftstellers, sie ist nicht objektiv, sondern sehr viel mehr: Sie ist eingreifend und realistisch und phantastisch und magisch, Poesie eben.“105 Im Unterschied zur Geschichtsschreibung, die nur „eine Frage der Erklärung“106 darstellt, soll Literatur

sich auf die Darstellung der individuellen Erfahrung richten. So liefert Literatur keine Erklärungen für geschichtliche Ereignisse, sondern beschäftigt sich mit dem

Sehen von bisher Ungesehenem, um das Beschreiben des Ungenannten. […] Schreiben heißt also für mich: die von anderen menschlichen

Erkenntnismöglichkeiten nicht beschreibbaren Zustände und Vorgänge zu erfassen und zu benennen, sie sine ira et studio zu verzeichnen.107

(25)

Unabhängig von der bevorzugten Darstellungsweise ist es somit immer die Welt des Schriftsteller, die in dessen Werk zum Ausdruck kommt. Realismus liegt nach diese Auffassung nicht in der detailgenauen Darstellung der Wirklichkeit, sondern legt die Betonung auf die Erfahrung derselben.

(26)

4. Nachrichtenmedien

Während Autoren literarischer Texte ihren Erzählungen oftmals den Hinweis vorausschicken, dass Übereinkünfte zwischen der außerliterarischen Realität und Personen und Ereignissen der Erzählhandlung auf Zufall beruht, entlehnen Nachrichtenmedien ihre Daseinsberechtigung einer wahrheitsgetreuen

Berichterstattung. Doch obwohl es Unterschiede zwischen seriösem und Boulevard-Journalismus zu berücksichtigen gilt, kann es grundsätzlich keine Objektivität geben. Da es keinen direkten Zugriff auf die Wirklichkeit gibt, sind Journalisten wie alle anderen Menschen auf ihre kulturell geprägten Wahrnehmungen angewiesen. Dem ist hinzuzufügen, dass Nachrichten in narrativer Form präsentiert werden. Der Journalist präsentiert somit nicht nur verschiedene Wahrnehmungen, sondern konstruiert Zusammenhänge. Das bedeutet, dass die von ihm präsentierte

Wirklichkeit bereits eine erste Phase der Interpretation durchlaufen hat, bevor sie den Rezipienten erreicht.

Subjektivität ist somit kein Makel eines schlechten Journalisten, sondern unausweichlich. „Die Objektivität der Presse insgesamt stellt sich theoretisch annäherungsweise her in der Pluralität.“108 Erst aus der Rezeption verschiedener

Medien könnte als Durchschnittswert so etwas wie ein neutraler Standpunkt herauskristallisiert werden. Doch auch dieser Standpunkt wäre immer noch durch kulturelle Denkmustern geprägt.

Darüber hinaus ist die Tatsache der Berichterstattung bereits eine erste Wertung. Aus den Tausenden von Meldungen jeden Tages wird nur ein Bruchteil selektiert, um als Nachricht ausgetragen zu werden. Für die

Wirklichkeitswahrnehmung einer Gesellschaft bleibt dies nicht folgenlos, denn

„Ereignisse, die die herrschenden Medien nicht (mehr) diskutieren, werden öffentlich nicht (mehr) wahrgenommen.“109 So bleiben etwa zahlreiche bewaffnete Konflikte

weitgehend unbekannt, weil diese aus Sicht der Entscheidungsträger in

Presseagenturen und Redaktionen nicht relevant genug für die Sendung bzw. Zeitung sind. Luhmann sagt hierzu, dass wir alles, “was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, […]durch die Massenmedien“110 wissen. Das bedeutet, dass ein Ereignis, welches nicht den Status einer Nachricht erreicht, im kollektiven Bewusstsein einer Gesellschaft auch nicht geschehen ist. Auf diese Weise können die Nachrichtenmedien die Wirklichkeitserfahrung einer Gesellschaft steuern.

108 Guha 1983, 52

109 Vgl. Wende 2000, 377

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Indem sie die Erfahrung der Wirklichkeit beeinflussen, werden die

Nachrichtenmedien zu einer vierten Macht im Staat. Bardoel nennt als Beispiel die Berichterstattung der niederländischen Medien über den Krieg in Bosnien in den neunziger Jahren. Vor allem Bilder des Gefangenenlagers Omarska beschworen Parallelen zu Konzentrationslagern der Nationalsozialisten herauf, wodurch die niederländische Intervention in Bosnien vorbereitet und begünstigt wurde.111 Dies ist

nicht der Ort, um über die Frage der Richtigkeit dieses Schrittes zu diskutieren. Es muss aber festgestellt werden, dass die Bilder aus den Nachrichten nicht nur die öffentliche Diskussion, sondern auch das politische Handeln dieser Zeit beeinflusst haben. Bardoel konstatiert, dass der Einfluss der Medien auf politisches Handeln in den letzten Jahren stetig zunahm.112 Indem sie ein Thema von einer bestimmten

Perspektive darstellen und damit die öffentliche Meinung bestimmen, zwingen sie Politiker, die von dieser öffentlichen Meinung abhängig sind, die politischen Konsequenzen aus der Berichterstattung zu ziehen. Somit setzen die

Nachrichtenmedien politische Prozesse in Gang, ohne dass sie zur Verantwortung gezogen werden können.

Inwiefern Zeitungen und Fernsehprogramme diesen Einfluss bewusst einsetzen, hängt von der ideologischen Positionierung des jeweiligen Mediums ab. Neben der weltanschaulichen Ausrichtung sind auch wirtschaftliche Aspekte wie Verkaufszahlen oder Einschaltquoten von Bedeutung für die Auswahl der

Nachrichten. Grundsätzlich kann gesagt werden, dass über Ereignisse berichtet wird, die die Aufmerksamkeit der Rezipienten möglichst lange fesseln. Zwar weist Bourdieu darauf hin, dass eine „bloß ökonomische Erklärung der Entwicklungen im

Journalismus“113 nicht ausreiche, doch scheinen finanzielle Aspekte von zunehmender Bedeutung für diese zu sein. Insgesamt gilt, dass „je breiter das Publikum ist, auf das ein Presseorgan oder überhaupt ein Kommunikationsmedium zielt, je

stromlinienförmiger […] es sich verhalten“114 muss. Dies führt zu einer weitgehenden „Homogenisierung und Banalisierung [sowie dem Ziel] ›konform‹ und ›unpolitisch‹ zu sein“.115 Auf formeller Ebene kommt es so zu einer „Dominanz des Visuellen in

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Um das Publikum an das Nachrichtenmedium zu binden, werden Inhalte somit zum einen auf optisch ansprechende bzw. schockierende Weise präsentiert. Aber auch die Wahl der Ereignisse, die Gegenstand einer Nachricht werden, ist vom unterstellten Interesse des Publikums abhängig. Dabei gilt der Grundsatz, dass nur schlechte Nachrichten gute Nachrichten sind. Im Mittelpunkt stehen dabei emotional angreifende Berichte, wie politische Skandale, sowie Katastrophen und Verbrechen jeglicher Art. Die Empfindung von Schadenfreude, Sensationslust, Angst und Mitgefühl bindet das Publikum stärker an das Nachrichtenmedium als positive

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5. Terrorismus

Bruce Hoffman beginnt sein Buch Terrorismus - der unerklärte Krieg117 (2002) mit

einer auf den ersten Blick leicht zu beantwortenden Frage: „Was ist Terrorismus?“118

Doch die Simplizität der Frage täuscht. Die Definition von Terrorismus ist, wie Martha Crenshaw 2000 richtig anmerkt, ein andauerndes Problem,119 das auch nach 40

Jahren der Terrorismusforschung noch nicht einstimmig gelöst werden konnte. Dies kann mit der Pluralität von Erscheinungsformen erklärt werden, aber auch mit der Subjektivität des Begriffes. Nicht nur gilt bis heute die an Margaret Thatcher zugeschriebene Aussage, dass „one’s terrorist is another one’s freedom fighter“,120 die Bezeichnung des Terroristen fungiert in der internationalen Politik auch als „Ausschließungsbegriff: Den so apostrophierten Akteuren wird bedeutet, dass ihre Anliegen nicht verhandelbar sind – jedenfalls so lange nicht, wie sie sich bestimmter Formen der Gewaltanwendung bedienen.“121 Die Bezeichnung einer militanten Organisation als terroristisch disqualifiziert deren Mitglieder als skrupellose Gewalttäter, deren Ziele aufgrund ihrer Vorgehensweise jeglicher Legitimität

entbehren.122 Der pejorative Charakter des Begriffes lässt sich zudem daran ablesen, dass er auch für die so Bezeichneten keinen adelnden Beiklang hat.123 Sie

legitimieren ihre Angriffe vielmehr mit dem hehren Ziel des Freiheitskampfes gegenüber einem dem repressiven Staat und erfahren sich selbst somit als Terroropfer. Nur in einem sind beide Seiten des Konflikts sich einig: „Terrorism is what the bad guys do.“124 Und das ist der jeweils andere.

Um die Basis einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung des Begriffes zu formen, ist das von den Medien und der Politik geschaffene Bild des Terroristen als einem irrationalen Gewalttäter jedoch kaum hilfreich. Vielmehr ist es von Nöten zu einer Definition jenseits politischer Grabenkämpfe zu kommen, die das Phänomen unabhängig von der spezifischen lokalen Situation beschreibt.

117 Engl. Originaltitel: Inside Terrorism (1998)

118 Hoffman 2002, 13

119 Crenshaw 2000, 405

120

Houen 2002). Terrorism and Modern Literature. From Joseph Conrad to Ciaran Carson. New York: Oxford University Press. 7

121 Münkler, Herfried 2004b, 175

122 Vgl. Münkler 2004b, 176

123 Vgl. Hoffman 2002, 36

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5.1 Definition

Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler schlägt hierzu vor, die „Ökonomien und Strategien der Gewalt“125 des Terrorismus als Ausgangspunkt einer solchen Definition

zu nehmen. Während die Organisationsstruktur, die Lebensbedingungen und die Begründung des Kampfes sich inhaltlich kaum von denen anderer politischer

Extremisten unterscheiden, wird mit den Anschlägen selbst ein abweichender Zweck verfolgt. Zielen die Anschläge paramilitärischer Organisationen vor allem auf die allmähliche Ermüdung des Gegners durch das kontinuierliche Zufügen physischer Schäden, geht es Terroristen vor allem um die psychische Überwältigung des

Gegners. Indem man mit Münkler Terrorismus als „eine Form der Gewaltanwendung beschreib[t], die wesentlich über die indirekten Effekte der Gewalt Erfolg erringen will“,126 beschränkt man das Phänomen auf sein grundsätzliches Element. Die Gewalt dient weniger militärischen Zwecken, sondern muss politisch und symbolisch

verstanden werden.127 Vor diesem Hintergrund definiert der Soziologe Peter

Waldmann Terrorismus als

planmäßig vorbereitete, schockierende Gewaltanschläge gegen eine politische Ordnung aus dem Untergrund. Sie sollen allgemeine Unsicherheit und Schrecken, daneben aber auch Sympathie und Unterstützungsbereitschaft erzeugen.128

Mit Crenshaw kann hinzugefügt werden, Terrorismus sei „meant to hurt, not to destroy.”129 Obwohl diese Aussage angesichts blutiger Anschläge wie in Madrid oder Mumbai mit 191 bzw. 207 Toten vielleicht verharmlosend wirkt, ist die eigentliche Wirkung dieser Anschläge nicht in der Vernichtung von Menschen und Material zu sehen. Der Erfolg eines Anschlages misst sich stattdessen an der gesellschaftlichen Unsicherheit, die dieser verbreitet. So kann ein Anschlag mit wenigen Opfern mitten in einem streng bewachten Regierungsviertel unter Umständen erfolgreicher sein, als ein Aufsehen erregender Anschlag mit Hunderten von Toten an einem allgemein zugänglichen Ort.Zudem ist die Wirkung eines Anschlages abhängig von der

Identität der Opfer. So tötete der Anschlag am 11. Juli 2006 in Mumbai ebenso viel Menschen wie der auf Bali am 12.10.2002 (207 bzw. 202 Tote).130 Die

Berichterstattung sowie gesellschaftliche Wirkung des Anschlages in Bali war jedoch

125 Münkler 2004b, 176 126 Münkler 2004b, 177 127 Crenshaw 2000, 406 128 Waldmann 1998, 10 129 Crenshaw 2000, 406

130 Vgl. Anschlag von Bali: http://de.wikipedia.org/wiki/Anschlag_von_Bali und Bombenattentat in Mumbai

2006: http://de.wikipedia.org/wiki/Bombenattentat_in_Mumbai_2006 [Aufruf beider Seiten: 10. Juli 2007,

(31)

wesentlich weiträumiger, was durch die westliche Herkunft der Opfer erklärt werden kann. Insgesamt gilt, dass

je gewaltloser eine Gesellschaft ist, das heißt je mehr sie sich eigentlich dem Ziel ihrer Friedlichkeit angenähert hat, desto höher ist die Prämie, die Gewaltakteure auch für geringe Formen von Gewalt in ihr einstreichen können.131

Entscheidend ist wiederum nicht der absolute Schaden, sondern die

Außergewöhnlichkeit des Anschlages. Dies hat auch zur Folge, dass Terroristen einen Gewöhnungseffekt bei der Bevölkerung vermeiden müssen und somit nicht zu häufig zuschlagen können. Mit jeglicher Form von Regelmäßigkeit verlieren die Anschläge ihre Äußergewöhnlichkeit und somit einen Teil ihres Schockeffekts.132

Terrorismus ist eine Strategie relativ schwacher Gruppen. Dem Staat, den sie bekämpfen, sind sie sowohl in materieller als auch zahlenmäßiger Hinsicht weit unterlegen. Zudem ist das Agieren als Terrorist mit hohen persönlichen Risiken verbunden, wodurch die Aktionsmöglichkeiten der Gruppe weiter eingeschränkt sind. Dies alles trägt dazu bei, dass ein wirklicher Krieg für Terroristen nicht in Frage kommt. Trotz des großen Einflusses, den Terrorismus auf die Tagespolitik eines Staates haben kann, muss darum festgestellt werden, dass es sich hierbei letztlich um eine „Verlegenheitsstrategie“133 handelt.

Ein maßgeblicher Aspekt der terroristischen Strategie ist der schockierende Charakter der Anschläge.134 Dies gilt für Explosionen genauso wie für Entführungen, bei denen das psychische und physische Leiden des Opfers von Tag zu Tag festgelegt wird (wie etwa im Fall der Schleyer-Entführung) oder dieses vor laufender Kamera ermordet wird (wie in jüngster Vergangenheit mehrfach im Irak geschehen). Die Schockwirkung ist ein zentraler Aspekt der terroristischen Strategie und definiert Terrorismus demzufolge als „bewußte Erzeugung und Ausbeutung von Angst durch Gewalt oder die Drohung mit Gewalt zum Zweck der Erreichung politischer

Veränderung“.135 Hierin unterscheidet terroristische Gewalt sich von in anderen Kriegssituationen auftretenden Gewaltakten. Auch bei einem Massaker während eines Krieges kommt es zu grausamen Szenen, doch ist die Grausamkeit hier nicht das eigentliche Ziel (sondern die Ausrottung eines Dorfes oder etwas

Vergleichbares). Terrorismus zielt jedoch auf den Schockeffekt und nicht die Opfer.

131Auswärtiges Amt 2003, 91

132 In diesem Zusammenhang wäre zu diskutieren inwiefern die andauernden Anschläge im Irak noch als

terroristische Gewalt zu bezeichnen sind. In ihrer Zielsetzung scheint die physische Schwächung der westlichen Mächte mittlerweile zentraler zu stehen als der Schockeffekt.

133 Waldmann 1998, 11

134 David Rapoport spricht in diesem Zusammenhang von einer politics of atrocity, einer Politik der

Grausamkeit. (Vgl. Waldmann 1998, 11)

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Dazu kommt, dass Terrorismus sich auszeichnet durch eine „völlige Irregularität [der Gewalt], insofern er keinerlei Regeln der bewaffneten

Konfliktaustragung anerkennt und keinerlei Begrenzung von Gewalt in Übereinkunft mit dem Gegner akzeptiert“.136 Terroristen agieren außerhalb des rechtlichen

Raumes und missachten beispielsweise den Unterschied zwischen Zivilisten und Kombattanten.137 Da hierdurch prinzipiell jedes Individuum als Terrorismusopfer in

Frage kommt, kann ein einzelner Anschlag wie etwa auf das World Trade Center in New York eine weltweite Verunsicherung zur Folge haben.

In beiden Aspekten des Schockeffektes zeigt sich, dass Terrorismus vor allem eine Kommunikationsstrategie ist. Die Anschläge funktionieren dabei als

Übertragungsmedium politischer Botschaften. Wie in der oben zitierten Definition von Waldmann angedeutet, kennen diese Botschaften zwei Adressaten. In erster Linie sind dies der Staat und seine Repräsentanten. Diesen soll ihre eigene

Verwundbarkeit verdeutlicht werden. Zugleich soll aber auch das Volk angesprochen werden. Einerseits, indem das Vertrauen in die Schutzfähigkeit des Staates

untergraben wird; andererseits, indem die Möglichkeit des Widerstandes gegen den Staat aufgezeigt wird. Diese Gruppe, von Münkler als den „als interessiert

unterstellten Dritten“138 bezeichnet, ist diejenige, in deren Namen die Terroristen zu Kämpfen vorgeben. Es kann sich hierbei um eine ethnische Minderheit, die

Arbeiterklasse oder das Volk als solches handeln. „Die terroristische Botschaft soll bei ihnen nicht Angst und schrecken, sondern Hoffnung, Sympathie und eine politische Aufbruchstimmung erzeugen.“139

5.2 Provokation der Macht

Die Widersprüchlichkeit dieser Botschaft löst sich, wenn man das Selbstverständnis der Terroristen berücksichtigt. Wie oben bereits erwähnt, erfahren diese sich nicht als Kriminelle sondern als Kämpfer gegen einen repressiven Staat. Ausdruck hiervon ist beispielsweise die Zuflucht zu positiv besetzten Bezeichnungen wie Revolutionär,

136 Münkler, Herfried (2004a). Über den Krieg. Stationen der Kriegsgeschichte im Spiegel ihrer

theoretischen Reflexion. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. 173

137 Dies ist ein entscheidender Unterschied zur Situation traditioneller kriegsführender Parteien, d.h.

Staaten. Diese sind nämlich auch im Kriegsfall an gewisse Regeln gebunden. Dem Unterschied zwischen Zivilisten und Kombattanten kommt hierbei eine besondere Bedeutung zu, weil die Beschränkung des Krieges auf die eigentlichen Kriegsteilnehmer (die Angehörigen der beteiligte Armeen) entscheidend für

die Hegung des Krieges ist. (Vgl. Münkler 2004a, 138) Deutliche Grenzen sind eine Voraussetzung, um den

Krieg zu kontrollieren und beenden zu können. Allerdings muss angemerkt werden, dass die

kriegsführende Parteien in den von Münkler als ‚neue Kriege’ bezeichneten Konflikten sich nicht mehr an dieser Hegung orientieren, sondern maßgeblich Kriege gegen die Zivilbevölkerung führen. (Vgl. Münkler

2004b, 28)

138 Münkler, Herfried 1980, 317

Referenties

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