• No results found

Kirchenbilder : der Kirchenraum in der holländischen Malerei um 1650

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2021

Share "Kirchenbilder : der Kirchenraum in der holländischen Malerei um 1650"

Copied!
34
0
0

Bezig met laden.... (Bekijk nu de volledige tekst)

Hele tekst

(1)

Kirchenbilder : der Kirchenraum in der holländischen Malerei um 1650

Pollmer, A.

Citation

Pollmer, A. (2011, January 20). Kirchenbilder : der Kirchenraum in der holländischen Malerei um 1650. Retrieved from https://hdl.handle.net/1887/16352

Version: Not Applicable (or Unknown)

License: Licence agreement concerning inclusion of doctoral thesis in the Institutional Repository of the University of Leiden

Downloaded from: https://hdl.handle.net/1887/16352

Note: To cite this publication please use the final published version (if applicable).

(2)

3 Ecclesia visibilis : Die Verteidigung der sichtbaren Kirche in Delft

3.1 Bausteinen gleich: Das Ineinandergreifen von Kirche und Stadt in Delft

Seit ihren Anfängen mit weniger als 180 Mitgliedern im Jahr 15721 war die reformierte Gemeinde in Delft unaufhörlich gewachsen: um 1600 hatte sich ihre Zahl verzehnfacht2, zu Anfang des Waffenstillstandes mit Spanien 1609 bekannten sich 2675 der etwa 20000 Einwohner Delfts zu ihr3 – im übrigen mehrheitlich Frauen4 –, gegen dessen Ende etwa 3000-3500.5 Bis kurz vor dem Westfälischen Friedensschluß sollten 4902 neue Mitglieder beitreten.6 Wie viele Menschen die reformierte Lehre tatsächlich strukturell erreichte, wie viele Kinder also entsprechend erzogen wurden und Partner ihre bekennenden Gatten zur Predigt begleitet haben, ist ungewiß. Ein (gutes) Viertel der Bevölkerung könnte es um 1620 gewesen sein,7 in der Mitte des Jahrhunderts waren es entsprechend mehr – 35-42% vielleicht, aber wohl sicher weniger als die Hälfte, geht man von 6000-7000 Menschen aus, die den Glauben der staatlich privilegierten Kirche bekannten.8 Diesen standen 5000-5500 Katholiken gegenüber, wie (womöglich positiv gefärbte) Berichte nach Rom bezeugen, welche mit den Angaben der Kommunikanten die Erfolge

1 So die auf den Zahlen der ersten Abendmahlsteilnahme von 1573 basierte Schätzung von JAANUS 1950, 33; vgl.

WOUTERS &ABELS 1994, I, 229.

2 Nach der Annahme von Wouters waren es 1968 Mitglieder im Jahr 1602, 2104 für das Jahr 1603, für die darauffolgenden Jahre ist eine Steigerung um mehr als 200 Mitglieder auf 2380 zu verzeichnen, WOUTERS &

ABELS 1994, I, 233 bzw. PARKER 1997, 56, Anm. 62.

3 Für dieses Jahr ist eine namentliche Übersicht der zum Abendmahl Zugelassenen bewahrt, WOUTERS &ABELS

1994, I, 222f.

4 Bei 1683 Frauen und 992 Männern kann man kann grob von dem Verhältnis 3:2 ausgehen, WOUTERS &

ABELS 1994, I, 222f., 261f., 268; vgl. PARKER 2001, 219f.

5 Auf Basis einer Anfrage bei den Bürgermeistern um eine vierte Pfarrstelle (1618), in welchem die Prädikanten äußern, „den last van eene gemeente over de 3000 personen groot“ zu tragen, geht Wouters von etwa 3500 Reformierten auf 23827 Einwohner der zwei Pfarrgemeinden (24,5% einschließlich der Kinder) aus, WOUTERS

&ABELS 1994, I, 233f. Da in der Volkszählung von 1622 aber offenbar auch Delfshaven mitgezählt wurde, kommen Rogier und Wijsenbeek-Olthuis auf geringere Zahlen für „kerkelijk Delft“ (ca. 22000 bzw. 20400).

Folgt man ihnen, müßte der Anteil der Reformierten ent-sprechend höher auf 26,5 % bzw. 28,5 % anzusetzen sein, ROGIER 1960, 192, 194; WIJSENBEEK-OLTHUIS 1982-83, 58. Die Ergebnisse der Volkszählung von 1622 sind publ. bei VAN DILLEN 1937-39, 174.

6 Dies ergab die systematische Auswertung der Kirchenratsprotokolle für die Zeit von 1619-1645, PARKER 2001, 227. Leider existieren keine Angaben, wie viele Mitglieder in dem Zeitraum konvertiert, emigriert oder gestorben waren.

7 Siehe oben, Anm. 5.

8 Um den Umfang der reformierten Bevölkerung, d.h. einschließlich der Kinder, zu errechnen, hat Ton Wouters als Faustregel die dokumentierte Zahl der Mitglieder um 2/3 erhöht, vgl. WOUTERS &ABELS 1994, I, 202, 239, Tabelle 2.4. Es gibt keine Angaben zur Mitgliederzahl um 1650, doch kennen wir die Zahl der seit 1619 Beigetretenen (oben, Anm. 6). Es waren etwa sechs Prädikanten tätig – wenn zuvor drei für über 1000 Mitglieder zuständig waren (während als angemessene Relation eigentlich 1:750 angesehen wurde, oben, Anm.

5), erscheint mir eine grobe Schätzung von 6000-7000 nicht unrealistisch.

(3)

ihrer Mission beschrieben.9 Die Zahlen sind wohlgemerkt nicht unmittelbar vergleichbar, erinnern wir uns, daß das öffentliche Bekenntnis (belijdenis), das Voraussetzung für die Mitgliedschaft in der reformierten Kirche war, erst im jungen Erwachsenenalter abgelegt wurde, während Katholiken in viel jüngerem Alter die Erstkommunion empfingen. Trotzdem läßt ihr Verhältnis aufmerken, bildeten Reformierte und Katholiken doch in der Jahrhundertmitte zwei bedeutende Blöcke in der dann etwa 25000 Einwohner zählenden Stadt.10

Die privilegierte Position der publieke kerk war rechtlich zwar unangefochten, ihre prominente Rolle im sozialen Gefüge von Delft aber mußte angesichts der quantitativen Bedeutung der Katholiken ständig gerechtfertigt werden. Rechtmäßig Kirche zu sein, ja mehr noch: die einzig wahre Kirche zu bilden, war der Anspruch beider Gruppen. Auf welche Weise der Diskurs zwischen Delfter Prädikanten und denen, die die Legitimität ihrer Kirche in Zweifel zogen, in Disputationen und Schriften ausgetragen wurde, möchte der letzte Teil dieses Kapitels beleuchten.

Um dem etwas vorzugreifen: ein Argument, das die Reformierten zu ihren Gunsten immer wieder ins Feld führten, war ihre Anerkennung durch die städtische Obrigkeit. Ihre etablierte Funktion für Staat und Stadt, ihre öffentlichkeitskirchliche Rolle also, wurde zu einem ekklesiologischen Argument. Um dieses vor historischem Hintergrund besser einschätzen zu können, sollen zunächst die faktischen Grundlagen geklärt werden: Wie gestaltete sich Öffentlichkeitskirche in Delft?

Für die Darstellung kann auf jüngere Forschungsergebnisse zurückgegriffen werden, auf Charles H. Parkers Studien zur reformierten Diakonie und Kirchenzucht in Delft11 sowie auf die 1994 verteidigte Doppeldissertation von Wouters und Abels, Nieuw en ongezien. Kerk en samenleving in de classis Delft en Delfland 1572-1621.12 Sie zeigen, daß die reformierte Gemeinde der Stadt bereits in einem frühen Stadium auf vorbildliche Weise nach calvinistischen Prinzipien geformt wurde und ihr Presbyterium bereits in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens, d.h. vor 1618, eng mit dem Magistrat verflochten war.

9 In Missionsberichten der Apostolischen Vikare werden für die dreißiger bis fünfziger Jahre 4000-5500 Katholiken, d.h. wahrscheinlich zur Kommunion Zugelassene, angegeben, vgl. unten, Kap. 3.3, Anm. 101. Zu Schwierigkeit des Quellenwertes dieser Missionsberichte VAN DER WOUDE,FABER,ROESSINGH &DE KOK

1965. Abels geht von einem katholischen Bevölkerungsanteil von 35% um 1650 aus, ABELS 2002, 318.

10 Die Zahlen der Gesamtbevölkerung nach LOURENS &LUCASSEN 1997, 101ff.; vgl. auch BOK 2001B, 197f.

11 PARKER 1996; PARKER 1997 bzw. PARKER 2001.

12 WOUTERS &ABELS 1994. Im ersten Band (‚De nieuwe kerk‘) behandelt Ton Wouters organisatorische und politische Aspekte, während sich Paul Abels vornehmlich mit sozialen und gesellschaftlichen Fragen beschäftigt (Bd. 2, ‚De nieuwe samenleving‘). Da beide Teile, obwohl auch als selbständige Dissertationen lesbar, komplementär konzipiert sind, wird in der bibliographischen Abkürzung stets auf die doppelte Verfasserschaft referiert. Der Autor kann aus dem jeweiligen Band erschlossen werden.

(4)

3.1.1 Öffentlichkeit und Kirche

Die Alteration bedeutete nicht nur die politische Entscheidung zugunsten der neuen Konfession, sondern auch die Notwendigkeit für die kleine, mit zurückgekehrten Exulanten verstärkten

„Untergrundkirche“, eine funktionierende Gemeindestruktur aufzubauen und mit ihr den öffent- lichen und sozialen Raum zu besetzen. Das Genfer Vorbild war hierin in Delft auf besondere Weise ausschlaggebend. Der dadurch geprägte Prädikant Arent Cornelisz. (1547–1605, tätig in Delft 1573-1605), der dem Delfter Regentengeschlecht Storm van ‘s-Gravenzande entstammte, hatte maßgeblich zur Konsolidierung der reformierten Gemeinde beigetragen.13 Aber auch der überwiegende Teil seiner Kollegen wie Thomas van Thielt (Tilius, ca. 1534–1590, tätig in Delft 1575-1578, 1585-1590), Reijnier Donteclock (1545–1613, tätig in Delft 1577-1590), Wernerus Helmichius (1551–1608, tätig in Delft 1590-1602) oder Jacobus Rolandus (1562–1632, tätig in Delft 1594-1598), die allesamt sowohl Teile ihrer Ausbildung in Genf und/oder Heidelberg absolviert als zuvor unter Exulanten gewirkt hatten, sorgten für die Verankerung calvinisti-scher Ideale in Delft.14 Als besondere Kennzeichen der reformierten Gemeindeorganisation können die starke Stellung eines Prädikanten als primus inter pares,15 eine starke pastorale Orientierung sowie eine „pragmatisch-kritische Beziehung“ zur weltlichen Obrigkeit ge-nannt werden.16

Die von Paul Abels so bezeichnete Relation der reformierten Kirche zum Delfter Magistrat ist im folgenden näher zu bestimmen. Die Trennung der beiden Entitäten war in dieser Stadt wie in den übrigen Gebieten der Vereinigten Provinzen ein nicht zu unterschätzender Grundsatz.17 Der Magistrat war ausschließlich an der Aufrechterhaltung der Ordnung innerhalb der aus Anhängern verschiedener Konfessionen wie religiös Ungebundenen bestehenden städtischen Gesellschaft interessiert. Dieser Aspekt ist vor allem von Joke Spaans in ihrer Untersuchung Haarlems nach der Reformation herausgestellt worden.18 Die tolerante Haltung der Entscheidungsträger, welche, mit Ausnahmen und abhängig von obrigkeitlicher Zustimmung, jede Glaubenspraxis prinzipiell erlaubte, hatte Konsequenzen für die soziale Struktur der holländischen Stadt nach 1572. Da zum

13 Vgl. allg. JAANUS 1950; PARKER 1997, 47f., Anm. 15 mit weiterer, neuerer Lit.; zu Arent Cornelisz. (auch gen.

Crusius oder Croese) vgl. LEURDIJK 1987A; Art. W. Nijenhuis, Art. Cornelisz, Arent, in: BLGN, Bd. 4 (1998), 104-107; WOUTERS &ABELS 1994, I, 607 (Bijl. E.011, mit Lit.).

14 Vgl. WOUTERS &ABELS 1994, I, 527. Zu den Prädikanten vgl. ebd., I, 623 (Bijl. E.074: Van Thielt), ebd., I, 609 (Bijl. E.017: Donteclock), ebd., I, 613 (Bijl. E.032: Helmichius), ebd., I, 618 (Bijl. E.056: Rolandus); zu Donteclock vgl. weiterhin BLGN, Bd. 2 (1983), 173-176.

15 Nach Arent Cornelisz. dominierten Albertus van Oosterwijk (tätig in Delft 1602-1616), Henricus Arnoldi (1575–1637, tätig in Delft ab 1605) und nach ihm Dionysius Spranckhuysen das Presbyterium, vgl. PARKER

2001, 218. Abels setzt anstelle A. van Oosterwijcks, wahrscheinlicher aber zeitlich vor diesen, Jan Barentsz. (van Oosterwijck) (tätig in Delft 1600-1609), siehe folgende Anm.

16 So zusammengefaßt von P.H.A.M. Abels, Art. Spranckhuysen, in: BLGN, Bd. 5 (2001), 483f.

17 Vgl. allg. den Epilog von WOUTERS &ABELS 1994, II, 389-398.

18 SPAANS 1989, etwa 60-64, 228.

(5)

Zeitpunkt der Alteration die kommunale Öffentlichkeit auch als Kultgemeinschaft verstanden werden kann und muß – wenn sie auch nur zu bestimmten religiösen Höhepunkten wie den jährlichen Prozessionen als solche zusammentrat19 –, war die Fortführung bestimmter Aufgaben der alten Kirche unverzichtbar. Obwohl es nun verschiedenen und miteinander konkurrierenden

„Kultgemeinden“ erlaubt war sich zu etablieren, hatte der Stadtrat der reformierten Kirche eine privilegierte Stellung eingeräumt.20 Publieke kerk zu sein bedeutete, daß dieser Konfession das Alleinrecht für Manifestation im öffentlich sichtbaren Bereich zustand – im Hinblick auf die Religion. Die Reformierten erhielten, dies ist noch einmal zu wiederholen, nicht das Eigentums-, wohl aber das Verfügungsrecht über die Kirchengebäude, um dort für jederman zugängliche Gottesdienste abzuhalten. Auch waren sie angehalten, Gottesdienste zu von der weltlichen Autorität angeordneten Dankes- oder Buß- und Bettagen zu veranstalten, die eine für die gesamte soziale Gemeinschaft wichtige Rolle spielen sollten. Rites de passage (Taufe und Eheschließung21) waren ebenfalls unabhängig von der Mitgliedschaft. Die Bibelübersetzung im Auftrag der Generalstände (Statenvertaling) lag in den Händen reformierter Theologen und sollte nach Fertig- stellung 1637 auch an allen Schulen eingeführt werden. Prädikanten wurden von den provinzialen bzw. städtischen Gremien bezahlt, die im Gegenzug Einfluß auf deren Berufung ausüben wollten. Idealiter22 hatten nur diejenigen Männer Zugang zu öffentlichen Ämtern, welche auch Mitglied der reformierten Kirche waren. Das Konzept der Öffentlichkeitskirche bedeutete mithin, daß es zwei Monopole in gesellschaftlicher Wirksamkeit gab, und zwar auf dem staatlichen (bürgerlichen) sowie dem religiösen Terrain, die zueinander in komplementärer Beziehung standen; die Kirche sollte die Republik stützen und stabilisieren, deren Verfassung keineswegs weltanschaulich neutral oder gar „liberal“ war und seinerseits die Privilegien der Reformierten garantieren sollte.23 Die Frage, die sich in den ersten Jahrzehnten der Republik ent- scheiden mußte, war, auf welche Weise die jeweiligen „Auftritte“ sich genau zueinander verhielten.

Da die calvinistischen Gemeinden der Niederlande aus kleinen Untergrundkirchen hervor- gegangen sind und für ihre Strukturen auf die Praxis der Auslandsgemeinden in England und den deutschen Gebieten zurückgegriffen hatten, verstanden sie sich als autonom. Auch wenn eine

19 Vgl. hierzu das anschauliche und verallgemeinerbare Kapitel „Kerk, stad en avondmaal voor 1578“ zu Amsterdam bei ROODENBURG 1990, 47-71.

20 Nur kurzzeitig gab es in einigen Städten Religionsfrieden, die gleichberechtigte Religionsausübung gestatteten, etwa in Haarlem 1577-81; vgl. SPAANS 1989, 49-69.

21 Das Begräbnis als letzter Übergangsritus blieb außerhalb reformierter Zuständigkeit und wurde gewissermaßen

„säkularisiert“, d.h. von den Kerkmeesters verwaltet und von zuständigen „Begräbnisunternehmern“

(dodenbidders) organisiert. Prädikanten konnten gleichwohl (wie im übrigen auch katholische Priester) anwesend sein; hier vgl. ROODENBURG 1990, 85.

22 Gegenbeispiele etwa bei VAN DEURSEN 1996, 325ff., 329. Zusammenfassend zur Öffentlichkeitskirche FRIJHOFF &SPIES 2000, 355ff.

23 Wichtige Ausführungen bei SCHILLING 1980, 248f.

(6)

lokale Gemeinde sich mit örtlichen religiösen Traditionen und dem an sie gerichteten Gesuch, die Funktion der alten Kirche für die Gesamtbevölkerung – in Hinblick auf Taufe und Trauung – fortzuführen, konfrontiert sah, war sie auf ihre Eigenheit bedacht. Auf organisatorischer Ebene kam dies durch die neue, presbyteriale Struktur zum Ausdruck, auf inhaltlicher durch die Glaubenssätze, an welchen jegliches Handeln zu prüfen war. Während sie aufgrund des Bekennt- nisses öffentlichkeitskirchliche Aufgaben einerseits beschränkte, d.h. diese der städtischen Gesetz- barkeit quasi „zurückgab“,24 verpflichtete ihr Credo die Kirche andererseits, positiven Einfluß auf die weltliche Obrigkeit auszuüben, um diese auf ihre Sorge für eine christliche Gesellschaft zu weisen.25 Nach Einschätzung von Paul Abels geschah die Einflußnahme des Presbyteriums um Arend Cornelisz. Storm van ’s-Gravenzande auf äußerst umsichtige Art. Neben formellen Gravamina benutzte es vor allem persönliche Netzwerke und familiäre Beziehungen.

Daß die neue Kirche in Delft mit Magistrat und Rat der Vierzig verflochten war, zeigt sich daran, daß bereits um 1600 mindestens die Hälfte der Ratsmänner (vroedschappen) reformiert war.26 Dies ist um so auffallender, als sich zu der Zeit der reformierte Bevölkerungsanteil auf höchstens 18-19% schätzen läßt.27 Um die Jahrhundertmitte, als bei zunehmender Einwohnerzahl und vorsichtiger Schätzung vier Zehntel der Bevölkerung reformiert gewesen sein könnten, hatte sich das Verhältnis zwischen Stadt und Kirche geklärt und gefestigt. Auf welche Weise dies geschehen ist, soll im folgenden skizziert werden. Dabei wird zunächst die in den drei letzten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts ein-setzende personelle Verflechtung zwischen den obrigkeitlichen und reformierten Gremien, zwischen Magistrat und Presbyterium also, ausgeführt werden, um danach die Veränderung der Kirchenordnung in ihrer Einbindung in die mit den remonstrantisch- kontraremonstrantischen Spannungen zusammenhängenden Machtpolitik näher zu betrachten.

24 Ein gutes Beispiel ist die Eheschließung. Aufgrund der Bundestheologie konnten die Reformierten es beispielsweise nicht verantworten, Ungetaufte mit einem getauften Partner zu verheiraten. Delft war eine der ersten Städte Hollands, in der sie in erster Linie in den Verantwortungsbereich der öffentlichen Verwaltung überging. 1575 wurde im gegenseitigen Einverständnis festgelegt, daß Paare, nachdem sie ihr Verlöbnis im Rathaus angezeigt hatte, zwischen einem Vollzug durch einen Prädikanten oder einen Bürgermeister wählen konnten. Fünf Jahre später verabschiedeten die holländischen Stände eine Verordnung mit ähnlichem Inhalt, WOUTERS &ABELS 1994, II, 176f., 179f.

25 Ebd., II, 119ff., auch für folgendes.

26 Mit Ausnahme der Jahre 1603 (19) und 1608-10 (18) waren ab 1600 waren zwanzig oder mehr veertigraden Mitglieder der reformierten Gemeinde, hinzu kommt ein liefhebber, d.h. ein regelmäßiger Zuhörer (Dirck Evertsz. van Bleyswijck, 1606-18, 1625-41), vgl. WOUTERS &ABELS 1994, I, 276-281, bes. 279, Diagramm 2.3.

27 Die Einwohnerzahl Delfts kann auf 17000 oder 17500 gesetzt werden, vgl. WIJSENBEEK-OLTHUIS 1982-83, 58; auch WIJSENBEEK-OLTHUIS 1987, 22; WOUTERS &ABELS 1994, I, 233. Zur Mitgliederzahl siehe oben, die Einleitung dieses Kapitels, Anm. 2.

(7)

3.1.2 Presbyterium und Magistrat

Noch nach ihrem Treueschwur an Wilhelm von Oranien im Juli 1572 und damit der Beteiligung Delfts am Aufstand hatte die städtische Elite katholische Sympathien gepflegt. Höchstens vier der Vierzig waren zu jenem Zeitpunkt durch Parteinahme für die Reformierten zu Tage getreten.

Ihnen standen elf offen katholische und königstreue Räte gegenüber. Nicht in einem derartigen Schema fangen läßt sich die größte Gruppe, die sich in ihrer Entscheidung von anderen als religiösen Motiven geleitet wußte.28 Lediglich „um des lieben Friedens willen“ tolerierte der Magistrat die reformierten Prädikanten gegebene Zusage des Geusenführers Wilhelm von der Marck-Lumay, die Nieuwe Kerk zu ihren Zwecken in Gebrauch zu nehmen.29 Seine Zustimmung stand unter der Bedingung, die Kirchenausstattung zuvor sicher verwahren zu können. Aus der treuhänderischen Sorge wurden die Güter in der Folge stillschweigend in kommunalen Besitz überführt.30 Oude Kerk und Georgskapelle am Noordeinde blieben dagegen zunächst katholischen Meßfeiern vorbehalten.31 Es ist zu vermuten, daß dies bei Extremisten auf Widerstand stieß, schließlich weigerten die reformierten Vertreter im Magistrat im August 1572 ihre Zustimmung zu einer Resolution der Bürgermeister, welche beiden Konfessionen freie Religionsausübung garantieren sollte.32 Erst gegen Ende jenes und im Laufe des darauffolgenden Jahres verschoben sich die Kräfteverhältnisse in Rat und Regierung langsam. Unter Einfluß des Statthalters wurden fünf vroedschappen, die nach dem Seitenwechsel Delfts emigriert waren, ersetzt, ebenso veränderte sich die Zusammensetzung des Bürgermeisterkollegiums. Nach dem zweiten Delfter Bildersturm am 23. April 1573, dessen Ziel die Oude Kerk war und welcher ein Verbot der freien Ausübung der römischen Religion zur Folge hatte, zogen sich auch die restlichen offen katholischen Regenten zurück. Zu einer „Calvinisierung“ der städtischen Regierung kam es allerdings nicht.

Zwar wurden nach 1573 vier aus dem Exil zurückgekehrte Reformierte in den Rat aufgenommen, 43 der 88 bis 1615 in den Rat Gewählten bekannten sich hingegen nimmer zur neuen Kirche.33 Sie befanden sich als liefhebber an ihrer Peripherie, waren Freigeister oder indifferent, doch keine bekennende Katholiken mehr. Ebensowenig war der „rechte Glaube“ Bedingung, um ein Amt im College van de Wet bestehend aus Schulze (schout), vier Bürgermeistern sowie sieben Schöffen

28 WOUTERS &ABELS 1994, I, 271-283.

29 Zitat („om vredes willen“) ebd., I, 273.

30 Die Forderung Oraniens nach Herausgabe des Kirchensilbers zur Finanzierung des militärischen Aufstands lehnte Bürgermeister Huijg Jansz. van Groenewegen mit der Begründung ab, daß es „den Geistlichen und denen der alten Religion“ gehörte, ebd., I, 274.

31 Vgl. zum Umgang mit den Katholiken während der Alteration in Delft ebd., II, 124-131.

32 Der genaue Inhalt ist unbekannt. Auch die Erkaufung des Einverständisses von seiten der kerkmeesters der Neuen Kirche, indem fl 300 für den Unterhalt reformierter Prädikanten aus der Stadtskasse bereitgestellt wurde, scheiterte, ebd., I, 273.

33 Ebd., 276-283, auch für folgendes.

(8)

(schepenen) zu erlangen.34 Die urbane Oligarchie blieb größtenteils intakt, machtpolitisch war die Beteiligung an der neuen Religion zunächst sekundär.

Orientiert man sich lediglich an den Nachnamen und läßt die komplexen Beziehungsgeflechte außer Acht, so sind von den vierzehn Familien, welche vor wie nach der Alteration Teil der Delfter Oligarchie waren, lediglich fünf auch direkt an der Leitung der neuen Kirche beteiligt.

Acht, teilweise zugereiste Familien stiegen zwischen 1572 und 1621 in Regentenkreise auf, und stellten gleichzeitig reformierte Presbyter.35 Dennoch ist die personelle Verschränkung ein nicht zu vernachlässigendes Faktum. Für den Untersuchungszeitraum 1573-1621 zeigte A.Ph.F.

Wouters, daß etwas weniger als ein Fünftel der Angehörigen des weltlichen bzw. kirchlichen Leitungsgremiums zugleich oder zu einem anderen Zeitpunkt auch Verantwortung im jeweilig anderen Bereich trug.36 Der Prozentsatz ehemaliger oder amtierender Ältester oder Diakone in der städtischen Vertretung wuchs unregelmäßig aber doch stetig. Im College van de Wet verfügte diese Gruppe teilweise bereits in den ersten Dezennien des 17. Jahrhunderts über eine quantita- tive Mehrheit, wobei einschränkend zu bemerken ist, daß sich unter den Bürgermeistern, deren Stimmen schließlich von größerem Gewicht waren, nicht mehr als ein ehemaliger Presbyter pro Amtsperiode befand.37 Trennt man die presbyterialen Ämter in Diakone und Älteste, und unterscheidet somit zwischen den in der Armenfürsorge praktisch Tätigen und denjenigen, denen Aufsicht und Leitung der Gemeinde oblag, so kann ein zweites Phänomen wahrgenommen werden: Zwei Drittel der Ältesten wurden dies erst, nachdem sie in den Rat der Vierzig gewählt

34 Zur Regierungsstruktur in der Stadt Delft vgl. H.W. VAN LEEUWEN 1981.

35 Folgende zehn Familien waren sowohl vor als nach der Alteration an der Stadtregierung beteiligt, ohne daß sie enge Verbindungen zur reformierten Kirchenleitung hätten. Van Adrichem, Van Beaumont, Van Duijst, Van der Dussen, Van Groenewegen, Van den Heuvel, Van der Meer, Meerman, Voorhout.

Bereits vor der Alteration Teil der Oligarchie waren diese fünf Familien, die nach 1572/73 sowohl der städti- schen als der kirchlichen Führung an: Van Bleyswijck, Van der Burch, Graswinckel, Hoogenhouck, Van Santen. Die folgenden acht Familien hatten Vertreter im Presbyterium und waren nach der Alteration auch mit mindestens zwei Personen im Veertigraad vertreten: Van der Block, (Storm van) ’s-Gravenzande, Van der Hoeff, Lodensteijn, De Milde, Vockestaert, Voorburch, Van der Well.

Die Namen sind kompiliert aus WOUTERS &ABELS 1994, I, 276, 393-397, bes. die Tabellen 3.9 und 3.10.

Über Erstegradsverwandtschaft hinausgehende familiäre Beziehungen, also etwa Versippungen durch Heirat, sind in die Übersichten von Wouters nicht eingeflossen und können daher nicht berücksichtigt werden.

Fragt man nach vornehmen Geschlechtern, welche keine oder kaum Verbindungen zur reformierten Gemeinde hatten, dem katholischen Glauben offen treu blieben und damit auch keine Magistrate mehr stellten, stößt man auf Namen wie Van der Aa, Van Berckel, Brasser, Sasbout oder Van Ylen, vgl. ebd., I, 399ff. Zu berücksich- tigen ist allerdings, daß sich Familien in verschiedene konfessionelle Zweige teilten, und damit auch Katholiken direkten Zugang zur Stadtsregierung besaßen, vgl. VAN BERCKEL 1900, 261.

36 WOUTERS &ABELS 1994, I, 397f.

37 Ebd., I, 407-413, bes. 408, Diagramm 3.1. und 410, Diagramm 3.2. Anhand der Delfter Ergebnisse bestreitet Wouters freilich die von Heinz Schilling für Leiden aufgestellte These, wonach eine Tätigkeit im Ältestenrat (als ein Faktor unter vielen) „karrierefördernd“ gewirkt und sozialen Aufstieg und etwa die Wahl in den Veertigraad beschleunigt hätte. Er erkennt an, daß von den Männern, die Zeit ihres Lebens sowohl im Presbyterium als im Magistrat vertreten waren, fast drei Viertel – und damit noch mehr als in Leiden – zunächst in dem kirchlichen Gremium Verantwortung übernommen hatten, ebd., I, 398-400 (auch für folgendes).

(9)

worden waren.38 Auch wenn dieser statistische Zusammenhang nur als einer unter mehreren Faktoren sozialer, wirtschaftlicher, familiärer oder religiöser Art betrachtet werden darf, so ist er doch signifikant für das Ineinandergreifen von weltlicher und kirchlicher Elite. Wichtiger noch als die pure Konstatierung personeller Verschränkung zwischen Stadt und Kirche, welche je nach Perspektive bis zu einem gewissen Grad als „Oligarchisierung“ oder „Presbyterisierung“ inter- pretiert werden kann, ist der von Wouters gezogene Schluß, aufgrund der beschriebenen Überlappung seien Konflikte vermieden worden. In Delft konnten, so der Autor, obrigkeitliches Machtbewußtsein und kirchlicher Autoritätsanspruch kaum direkt kollidieren, da die Entitäten ausreichend miteinander verflochten, das Netzwerk damit stabil und die Kommunikationswege kurz waren.

Daß es gerade 1586 und 1617 zu Spannungsmomenten kam, bestätigt diese Regel geradezu, da in diesen Jahren lediglich ein bzw. kein Bürgermeister über direkte Beziehungen zum Kirchenrat verfügte. Die Divergenzen standen im Zusammenhang mit der Einführung neuer kerkordes, Verfassungen also, die das Selbstverständnis der calvinistischen Gemeinden und ihr Verhältnis zur weltlichen Macht festschreiben sollten. Weil die Ordnungen und die Auseinandersetzungen um dieselben das Fundament für das Verhältnis von Stadt und Kirche in Delft in späterer Zeit bildeten, ist auf sie näher einzugehen.

Die Kirchenverfassung im lokalen und provinzialen machtpolitischen Spannungsfeld

Seit der Alteration war eine Kirchenverfassung, in der das Verhältnis zwischen Staten und Synode, Magistrat und lokaler Gemeinde zu beiderseitiger Zufriedenheit festgeschrieben werden sollte, Reibungspunkt. Im Grunde ging es, verkürzt gesprochen, um das Maß an Autonomie vom jeweiligen weltlichen Gemeinwesen, das der reformierten Kirche zustand, und mithin der Frage, bis zu welchem Grad sie als privilegierte Konfession mit jenem in Einklang stehen und Aufgaben im Sinne einer staatstragenden „zivilen Religion“ wahrnehmen konnte oder sollte. Um ahistorische Begriffe zu verwenden, lag die Spannung zwischen Bekenntnis- und Volkskirche.39 Konkretes Streitobjekt der Kirchenordung (kerkorde) war das Wahlprozedere für Älteste, Diakone und Prädikanten, in welches sich die weltliche Obrigkeit ihres Einflusses als privilegierende Macht

38 Vierzehn von 22 Personen waren erst vroedschap, bevor sie zum Ältesten gewählt worden, zwölf von ihnen hatten (entweder vor oder nach ihrer Wahl in den Rat der Vierzig) bereits das Diakonenamt bekleidet, vgl. ebd., I, 399, bes. Tabelle 3.11.

39 Vgl. VAN EIJNATTEN & VAN LIEBURG 2005, 169-207, unter Verwendung des Begriffs „volkskerk“ auf S. 172;

vgl. auch den Abschnitt „Tussen ‚purior ecclesia‘ en volkskerk“ bei ROODENBURG 1990, 82-85. Der Begriff

„Volkskirche“ stammt von Schleiermacher, Wolfgang Huber, Art. Volkskirche, I, in: TRE, Bd. 35 (2003), 249- 254.

(10)

versichern wollten.40 Delft führte eine 1583 von politischer Seite aufgestellte Kirchenverfassung ein, die synodale kerkordes ersetzen sollte. Daß sich bis auf vier alle anderen Magistrate von Holland und Westfriesland dieses Schrittes enthielten, um Unruhen vorzubeugen, läßt vermuten, daß ein solcher Schritt den Interessen der Delfter Reformierten nicht entgegenstand.41 Drei Jahre später weckte die von der nationalen Synode zu ‘s-Gravenhage erarbeitete neue Kirchenordnung dennoch den Argwohn des Stadtrates, worauf sich das Presbyterium genötigt sah, die Besorgnisse vor einer calvinistischen „tyrannie“ zu entkräften.42 Bis 1621 wurde diese, wie gesagt ausschließ- lich von kirchlicher Seite beschlossene Verfassung neben Niederländischem Glaubensbekenntnis und Heidelberger Katechismus neuberufenen Prädikanten der Delfter Classis zur Unterschrift vorgelegt.43 Bemühungen, weltliche Einflußnahme organisatorisch zu verankern, gab es dennoch.

Auf Betreiben der Staten erarbeitete eine Kommission unter Beteiligung des Delfter Prädikanten Arent Cornelisz. Storm van ‘s-Gravenzande ein Konzept, in dem die Mitglieder des Kirchenrats von einem paritätisch zusammengestellten Gremium nominiert werden.44 Zugleich gewährte der Entwurf dem Magistrat das Recht, einen Vertreter mit beratender Rolle in den Ältestenrat zu entsenden. Ebenfalls einem aus städtischen und gemeindlichen Vertretern bestehenden Ausschuß oblag es, die Prädikanten zu berufen. Ihre Bestimmung sollte somit zu einer lokalen Angelegen- heit zwischen den örtlichen Entitäten werden. In der Tendenz vergrößerte sie die Autonomie der Gemeinden gegenüber dem Verband der Classis ebenso wie sich ihre Abhängigkeit vom Magistrat verstärkte.45 Stieß das Konzept 1591 sowohl bei städtischen Vertretungen – worunter auch dem Delfter Rat – als auch auf kirchlicher Seite auf Widerstand und kam dementsprechend nicht zur Ausführung, so stand es 1615/16 erneut zur Debatte, und zwar auf dringender Empfehlung der holländischen Stände unter Federführung Johans van Oldenbarnevelt.46

Die anvisierte organisatorische Veränderung muß damit im direkten Zusammenhang mit dem remonstrantisch-kontraremonstrantischen Streit betrachtet werden. Seit der Disputation der

40 Vgl., auch für folgendes, WOUTERS &ABELS 1994, I, 341-346.

41 Auch hier läßt sich mit Interessenausgleich durch direkte Kommunikationswege argumentieren: Sowohl 1581, 1583 und 1585 fungierte ein amtierender Ältester zugleich als Bürgermeister (Huijg Jacobsz. van der Dussen bzw. Gerrit Fransz. Meerman), während 1583 und 1584 auch der Schulze und drei Schöffen ehemalige Presbyter waren, vgl. ebd., I, 409f.

42 Vgl. ebd., I, 256.

43 Ebd., I, 92. Im Zuge der kontraremonstrantischen Beschlüsse der Dordrechter Synode 1618-19 wurden die Prädikanten auch auf diese als Zeichen ihrer Loyalität verpflichtet.

44 Älteste und Diakone sollten letztlich durch den Magistrat von der Nominationsliste ausgewählt werden, die Entscheidung konnte durch die Gemeinde lediglich bestätigt oder zurückgewiesen werden.

45 Vgl. für alles HOOIJER 1865, 324-337 (Einleitung und Edition des Entwurfs).

46 Zwar legte der Ende 1615 ausgehende Brief den örtlichen Magistraten und Herren nur nahe, nach eigenem Gutdünken zu entscheiden, die Tatsache aber, daß der kerkorde-Entwurf aufs neue auf die Tages-ordnung gelangte und sein Wortlaut Anlage begefügt wurde, läßt die Absicht erkennen, vgl. WOUTERS &ABELS 1994, I, 166. In Leiden, Rotterdam, Schiedam, Brielle etwa wurde die Kirchenordnung niemals eingeführt, vgl. ebd., I, 343.

(11)

Leidener Professoren Johannes Arminius (ca. 1559–1609) und Franciscus Gomarus (1563–1541) im Jahr 1605, spätestens aber seit Verfassung von Remonstration und Kontraremonstration 1610/11 formierten sich zwei Parteien innerhalb der reformierten Kirche. Strittige Themen waren das Verständnis der Prädestinationslehre, die Rolle der Bekenntnisschriften und die Frage, in welchem Maß die weltlichen Obrigkeit Autorität über die Kirche besäße. Mit Remonstration und Kontraremonstration, Eingaben an die Ständeversammlung Hollands, war bereits von kirchlicher Seite obrigkeitliches Handeln eingefordert.47 Konkurrierend versuchten die Gruppen, Organe des Staates in Dienst zu nehmen – und konkurrierend sollten die politischen Fraktionen sich des innerkirchlich-theologischen Konfliktes bedienen. Dieser wurde aufgegriffen, um den politischen Einfluß auf die reformierte Kirche zu verstärken und sie in das sich während des Waffenstillstands festigende Staatengebilde einzugliedern. Sollte die eher liberale arminianische Strömung domi- nieren, versprach die reformierte Kirche die fragile und in Hinsicht auf ihre politische Struktur fragmentierte Republik doch zu stabilisieren, falls sie die zahlreichen Unentschiedenen, Freidenker, ehemalige Katholiken und irenisch Gesinnte auf die Dauer zu integrieren imstande war. Daher darf man den letztlich die Remonstranten unterstützenden Versuch der Fraktion Oldenbarnevelts, die kirchlichen Entscheidungsprozesse eng mit den politischen zu verbinden, durchaus als Konfessionalisierungsbestrebung im etatististen Sinne auffassen48 – ein Versuch, der in Delft und im Zuge der Dordrechter Synode 1618/19 schließlich auch in der gesamten Republik scheitern sollte, da sich ihm die orthodoxe Mehrheit der Reformierten entzog.

Daß weltliche Herren nach Einführung der neuen kerkordes tatsächlich verstärkten Einfluß auf die Leitung der Gemeinden ausüben konnten, führte nicht nur zu Spannungen in kleineren Dorfgemeinden oder in Haarlem,49 sondern hatte auch entsprechende Auswirkungen auf die Kräfteverhältnisse in Delft. Auf Wunsch des Magistrats hatte der Ältestenrat bereits im Februar 1616 der Verfassungsänderung zugestimmt, um die Berufung eines Nachfolgers des verstorbenen Prädikanten Albertus van Oosterwijck nach neuer Prozedur verlaufen lassen zu können.50 Das Resultat war die Bestimmung des von orthodox-kontraremonstrantischer Seite beargwöhnten Isaac Diamant (ca. 1578–1617). Dem mit der Leidener humanistischen Elite verschwägerten Theologen eilte ein irenischer Ruf voraus, weshalb der Kirchenrat zuvor eine Untersuchung seiner

47 Zum theologischen Streit als der Vorgeschichte der Synode von Dordrecht verweise ich hier nur kurz auf Johannes Pieter van Dooren, Art. Dordrechter Synode, in: TRE, Bd. 9 (1987), 140-147. Einschlägig für eine detaillierte historische und sozialgeschichtliche Darstellung der Vorgänge ist VAN DEURSEN 1974.

48 Wobei man beim Begriff des „Staates“ für die Republik stets das Ineinander von lokalen, provinzialen und interprovinzialen Entscheidungsgremien berücksichtigen muß, vgl. auch Cornelis Augustijn, Art. Niederlande, in: TRE, Bd. 24 (1994), 474-502, hier: 481, und die folgende Anmerkung.

49 Zur Classis Delft WOUTERS & ABELS 1994, I, 166f., zu Haarlem und dem Konflikt um Dionysius Spranckhuysen SPAANS 1989, 206-219, vgl. oben, Kap. 2.3.2, Anm. 215. Wie Oldenbarnevelt bezogen sich die Haarlemer Bürgermeister explizit auf Machtbefugnisse, die die Englische Krone und deutsche Fürsten über ihre Landeskirchen ausübten, SPAANS 1989, 216.

50 Vgl., auch für folgendes, WOUTERS &ABELS 1994, I, 170, 284ff., 341f.

(12)

Gesinnung gefordert hatte, „als dat hij in de leere niet suijver ende op sijn leven iets te seggen soude wesen“.51 Die moderate Einstellung des Theologen wirkte sich in der Folge dahingehend aus, daß seine Predigten auch dissente Mitbürger – etwa Coornhertisten oder Davidjoristen – anzogen.52 Nach Diamants plötzlichem Tod wandte sich eine Gruppe Rechtgläubiger an das Presbyterium, um einen ähnlichen ungenügend orthodoxen Ton in Zukunft zu verhindern. Sie forderte, daß der Nachfolger von ausgesprochen gomaristischer Signatur sein und seine Berufung nach der älteren Kirchenordnung, also ohne Mitwirkung des Magistrats, vonstatten gehen sollte.

Nach eigenem Bekunden wußte sie 400-500 Mitglieder hinter sich.53 Obwohl damit nicht einmal jeder Fünfte diesem, wenn man so will, offensiv kontraremonstrantischen Block angehörte, war dessen lautstarker Einfluß bedeutender als jener der arminianischen Strömung oder von im Bezug auf den theologischen und politischen Konflikt irenisch oder indifferent eingestellten Reformierten.54 Dementsprechend verschob sich das Kräfteverhältnis. Im Juli 1617 wurde ein Vergleich zwischen Kirchenrat und Magistrat zur Wahl von Presbytern und Prädikanten geschlossen, für welchen man größtenteils auf bis vor 1616 Übliches zurückgegriffen hatte. Der Accort tusschen de Magistraten ende kerkenraet der stad Delft opt beroupen van predicanten, het stellen van ouderlingen ende Diaconenlegte fest, daß bei letzterem der Veertigraad lediglich Einspruch bezüglich der vom Presbyterium aufgestellten Nominierungsliste geltend machen durfte. Aus dieser konnten alle männlichen Gemeindemitglieder Älteste und Diakone wählen. Für die Prädikantenberufung war eine sehr enge, doch eher informelle Abstimmung zwischen den Gremien, gefolgt von Approbation der Wahl durch die Bürgermeister vorgesehen. Desgleichen wurde aber die Anwesenheit zweier (der reformierten Kirche zugehörigen) vroedschappen bei Kirchenratssitzungen vereinbart.55 Die städtische Obrigkeit verpflichtete sich gegenüber dem Kirchenrat, an der reformierten Religion festzuhalten und keine anderen als kontraremon-

51 Diamant, ein Schwiegersohn des Theologieprofessors Franciscus Junius, war zuvor mit einem Bredaer Kollegen in Konflikt geraten, da er sich nicht ausdrücklich für die kontraremonstrantische Sache aus-gesprochen hatte. Es fehlen allerdings Belege für eine eindeutig remonstrantische Stellungnahme, A.Ph.F. Wouters, Art. Diamant, Isaac, in: BLGN, Bd. 5 (2001), 138 bzw. WOUTERS &ABELS 1994, I, 490f., Zitat an beiden Orten.

52 WOUTERS &ABELS 1994, I, 198.

53 Ebd., I, 342f. Die Gruppe kann nicht mehr als 14-18% der Gesamtmitgliederzahl umfaßt haben, welche bei ca.

2800-3000 anzusetzen ist, vgl. oben, Anm. 5, bzw. ROGIER 1960, 200. Anzumerken ist, daß zur gleichen Zeit der Magistrat sein Einfluß auf die Gemeinde zu verstärken suchte, indem er Stimmrecht für seinen Abgesandten im Presbyterium verlangte. Dieses Ansinnen wurde jedoch seitens des Presbyteriums zurückgewiesen, vgl.

WOUTERS &ABELS 1994, I, 342f.

54 Vermutet werden kann, daß die remonstrantische Sache in Delft größtenteils von liefhebbers getragen wurde, Kirchgängern also, die keine Gemeindemitglieder waren und deshalb nicht direkt auf die kirchlichen Ent- scheidungen einwirken konnten, vgl. WOUTERS &ABELS 1994, II, 396. Auffallend ist, daß Johannes Taurinus noch 1617 mehrere belijdenis-Kandidaten vorschlug, einige von ihnen allerdings im Prädikantenkollegium als (offenbar im kontraremonstrantischen Sinne) nicht glaubensfest genug angesehen wurden, vgl. ebd., I, 213.

55 Vgl. WOUTERS &ABELS 1994, I, 343-346, kurz: BISSCHOP 1993B, 116; GOUDAPPEL 1981A, 104.

(13)

strantische Prädikanten zu unterstützen.56 Mit Henricus Swalmius (ca. 1578–nach 1649) und Isaac Hagius (1586–1624) berief der Kirchenrat daraufhin ausdrücklich als solche bekannte Theologen auf die zwei inzwischen vakanten Pfarrstellen.57 Zugleich leitete man ein Verfahren gegen Johannes Taurinus (ca. 1587–1637) ein, welches die rechte Lehre des seit 1609 in Delft tätigen Prädikanten untersuchen sollte und letztlich zu dessen Amtsenthebung wegen remonstran- tischer Sympathien hätte führen können, wäre er nicht aufgrund einer Berufung nach Den Haag entlassen worden.58 Im April 1618 war das gesamte Kollegium vom orthodoxen Gomarismus geprägt. Während der sich bis zur Spaltung verstärkenden remonstrantischen Spannungen inner- halb der Delfter Classis waren die Prädikanten der Stadt gar als Wölfe verrufen, die aus dem Schafstall vertrieben werden müßten.59

Der Delfter Magistrat hatte, wie festzuhalten bleibt, bereits für die Kontraremonstranten Partei ergriffen, bevor von außen eingeschritten wurde. Auf provinzialer Ebene verschob sich die Position der Stadt Delft zumindest in die Richtung von Neutralität. Im August 1617 hatte die Abordnung des mehrheitlich arminianischen Rates zwar noch der „Scharfen Resolution“ Johan van Oldenbarnevelts zugestimmt, mit der dieser auf die Entscheidung des Statthalters Moritz von Oranien zugunsten der Kontraremonstranten reagiert hatte, doch sollte die Stadt keinen Gebrauch mehr von den verfaßten Beschlüssen machen.60 Seine Entscheidung in der Frage, ob eine nationale Synode einberufen werden sollte, hatte der Stadtrat lange offengelassen, doch sollte er, nachdem die Unruhe bei der orthodoxen Mehrheit der Bevölkerung zu übermächtig geworden war, als daß remonstrantische Positionen noch aufrecht erhalten werden konnten, schließlich den

56 Im Kirchenratsprotokoll (d.d. 12.6.1617, 8.7.1617) wurde notiert, „dat se in hare kercke alhijer geen andere dan contra-remonstratsche predicanten willen gepromoveert hebben.“, zit. nach WOUTERS &ABELS 1994, I, 285.

57 Zu Swalmius’ Berufung mit entsprechenden Reaktion vonseiten der Gemeindeglieder mit remonstrantischen Sympathien ebd., I, 170ff., 621 (Bijl. E.067); sein Bruder Eleazar (1582–1652) wird als Streiter gegen Arminianer charakterisiert, R.B. Evenhuis, Art. Swalmius, Eleasar, in: BLGN, Bd. 1 (1978), 366. Zu Hagius vgl. ebd., I, 612 (Bijl. E.029). Die zweite offene Stelle war durch den Tod von Josias Heinsius (1574–1617) entstanden.

58 Vgl. ebd., I, 173f., 491-494, GOUDAPPEL 1981A, 106f. Taurinus’ Bruder, Jacobus (gest. 1618) war Prädikant in Utrecht und eine der arminischen Leitfiguren. Während die Berufung nach Den Haag keinen Vollzug fand, wirkte Taurinus dennoch weiterhin innerhalb der orthodoxen reformierten Kirche (Maasland), da er ein Schuldbekenntnis abgelegt und Zustimmung zu den kontraremonstrantischen Grundsätzen bezeugt hatte. Nach einer erneuten Konfrontation 1627, welche zu seiner Absetzung führte, ließ er sich ohne Amt wieder in Delft nieder, vgl. ebd., I, 178f., 622 (Bijl. E.070). John Michael Montias’ beiläufig aufgestellte Behauptung, Taurinus hätte Johannes Vermeer taufen können (für dessen Vater der Prädikant 1615 eine Bescheinigung aus Anlaß der kirchlichen Hochzeit in Amsterdam ausgestellt hatte), entbehrt deshalb der Grundlage, vgl. MONTIAS 1989, 13f., 65, so noch BEGHEYN 2008, 45.

59 So äußerte sich der Prädikant von Schipluiden, Johannes Stangerus (ca. 1591–1636), in einer Predigt, vgl.

WOUTERS &ABELS 1994, I, 176. Zur remonstrantischen Spaltung der Classis vgl. ebd., I, 174-180.

60 Im Gegensatz etwa zu Leiden stellte Delft keine eignen Söldner zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung (anstelle der statthalterlicher Armee) an.

(14)

Oranier unterstützen.61 Nach der Arrestierung Oldenbarnevelts im August des Folgejahres und der endgültigen Verschiebung der Machtverhältnisse zugunsten des Statthalters, griff Moritz in die Zusammensetzung des Delfter Rates ein und ersetzte vierzehn der vierzig Ratsherren – eine Maßnahme also, mit der die politischen und kirchlichen Entscheidungsträger auf eine, wenn nicht einheitliche, so doch nicht allzu stark divergierende Linie gebracht werden sollten, um die Souveränitätsansprüche des Oraniers zu unterstützen. Dies geschah auf der Grundlage zuvor angefertigten Übersichten zur Gesinnung der Magistraten. Die Tatsache, daß nur ein Teil der zwanzig 1617/18 als „heel quaet“ typierten Stadträte entlassen wurde, erklärt sich aus den diversen Moritz’ Entscheidung motivierenden Faktoren. Neben dem theologischen Standpunkt ist vor allem deren jeweilige Haltung zum Verhältnis zwischen Staat und Kirche und zur Frage einer nationalen Synode – welche ja letztlich die Frage der provinzialen Souveränität berührte – zu nennen.62 Festzustellen ist, daß es in der Folge keineswegs zu einer vollständigen „Calvini- sierung“ des Rates gekommen war, da, wie tendentiell bereits zuvor, konfessionell Ungebundene zwar die Minderheit, trotzdem aber eine bedeutende Gruppe formten.63

Die Konsequenzen der Parteinahme bekamen insbesondere auch die katholischen Einwohner der Stadt Delft zu spüren. So sah sich der eigentlich weder Reformierten noch Altgläubigen zugetane Schulze Dirck Bruijnsz. van der Dussen (gest. 1623) angehalten, strenger gegenüber der Aus- übung ihres Zeremoniells bzw. entsprechender Glaubensunterweisung aufzutreten.64

3.1.3 Pastorat und gesellschaftlicher Einfluß

Paul Abels’ Charakterisierung zufolge zeichnete sich die reformierte Gemeinde von Delft durch eine starke pastorale Orientierung aus.65 Aspekte von Seelsorge und Kirchenzucht sollen im folgenden zusammengefaßt werden, da sie nicht nur einen Einblick in die innere Verfaßtheit der

61 ISRAEL 1995, 442f.; WOUTERS &ABELS 1994, I, 285-292, auch für folgendes.

62 Eine 1614/15 aufgestellte Liste prüfte mehr oder weniger die theologische Haltung. 11 (11) der Magistrate waren „tegen de nieuwicheijt“, d.h. gegen die Remonstranten, 5 (3) remonstrantisch oder „partijdich“ sowie 8 (3) „moderaet“ oder „goet“, aber auch vier „in der Religion unerfahren“, unverständig oder mit wenig Unterscheidungsvermögen ausgestattet. Zu 10 (6) gibt es keine Aussage. Drei Jahre darauf wurden 11 (8) als

„goet“, 10 (6) als „tamelick“, 20 (9) als „heel quaet“ eingeschätzt. (In Klammern steht die Anzahl der Ratsherren, die jeweils Mitglieder der reformierten Gemeinde waren.) Nicht immer korrespondieren die Urteile in den beiden Listen, vgl. ebd., I, 288f., Tabelle 2.13.

63 Ebd., I, 292. Darüberhinaus wurden fünf der vierzehn entlassenenen Magistrate 1623 wieder in ihr Amt eingesetzt, vgl. H.W. VAN LEEUWEN 1981, 21.

64 Vgl. MENSINK 1958, 120f.; WOUTERS &ABELS 1994, I, 285, 292, II, 133-137; dies schlägt sich auch in der Chronik des Norbertus Aerts zur Geschichte der Jesuiten in Delft nieder, VAN HOECK 1948, 414.

Die Lutheraner spürten offenbar keinerlei Folgen und konnten, trotz Intervention des reformierten Presbyte- riums beim Magistrat, in einem 1618 erworbenen Haus am Verversdijk ungestört ihren Gottesdienst feiern.

Täufer und andere, weniger organisierte dissente Gruppen formten gerade während der Zeit innercalvinistischer Spannungen eine starke Konkurrenz für die reformierte Kirche, mußten aber von Seiten der weltlichen Obrig- keit keinerlei Konsequenzen befürchten, vgl. WOUTERS &ABELS 1994, II, 157f.

65 Vgl. oben, Anm. 16.

(15)

reformierten Kirche von Delft gewähren, sondern auch als die Bereiche anzusehen sind, in denen diese – obwohl selbstverständlich nur in der Reichweite bekennender Gemeindemitglieder – in die städtische Gesellschaft hineinwirkte. Für die Zeit bis ca. 1620 sind die Kirchenratsprotokolle im Hinblick auf quantitative und qualitative Aspekte der Kirchenzucht untersucht.66 Dieser historisch faßbare Gesichtspunkt des Pastorats wurde im Rahmen der Sozialdisziplinierung inter- pretiert, besaß aber neben der individuellen Seelsorge immer auch das theologische Ziel, die Reinheit der Abendmahlsgemeinschaft zu gewährleisten.67 Sie war ausdrücklich als „geistliche Strafe“ gemeint und ersetzte keineswegs obrigkeitliche Gerichtsbarkeit.68

Das Abendmahl wurde in Delft sechs Mal pro Jahr – und damit außergewöhnlich häufig – begangen.69 In den Wochen vor Stattfinden einer Feier waren Prädikanten und Kirchenälteste bestrebt, alle Mitglieder aufzusuchen, die nach öffentlicher Ankündigung zuvor selbst angehalten waren, ihr Gewissen zu prüfen.70 Die Sonntage der Feiern selbst besaßen den Charakter von

„Hochfesten“ und hatten Auswirkungen auf die gesamte Stadt.71

Wie Paul Abels und Charles H. Parker für die ersten 50 Jahre des Bestehens der reformierten Gemeinde herausgearbeitet haben, betrafen Zuchtmaßnahmen einen relativ großen Teil ihrer

66 WOUTERS &ABELS 1994, II, 15-113; sowie die oben, in Anm. 11, genannten Studien von Parker.

67 Im Rahmen des klassischen Konfessionalisierungsparadigmas wurde die Kirchenzucht nicht zu Unrecht als Sozialdisziplinierungsmaßnahme begriffen, wobei die den Reformierten eigene Intention zumeist im Bewußtsein blieb: SCHILLING 1994; vgl. KLUETING 1998, 323ff. Zur Kritik an der Fixierung auf die Kirchenzucht in der Konfessionalisierungsforschung z.B. HOLZEM 1999, 84f.

68 Zum Verständnis der Zuchtpraxis seien lediglich auf die – bei beharrlicher Sünde – nacheinander ab-laufenden Schritte erwähnt, die vom inoffiziellen Gespräch zur offiziellen Ermahnung vor dem Presbyterium über das Verbot der Abendmahlsteilnahme zum heimlichen oder öffentlichen Schuldbekenntnis, zur anonymen und erneuten zweifachen namentlichen Publikmachung des Vergehens und, als ultima ratio und mit Option der Rückkehr, der Exkommunikation („afsnijding“) reichen konnten. Stein des Anstoßes konnten Abweichungen in der Lehre (dissente Glaubensauffassung oder Zauberei) sein, aber auch unsoziales Verhalten und/oder persönliche Schwächen und Abhängigkeiten (Unfriede in Ehe oder Familie, Ehebruch, Trunkenheit, Gewalttätigkeit usw.). Selbstverständlich erstreckte sich die Zucht ausschließlich auf Mitglieder der Gemeinde, d.h. Erwachsene, die ihre Übereinstimmung mit der Lehre der Kirche öffentlich bezeugt und damit „belijdenis des geloofs“ abgelegt haben, vgl. die Kirchenordnung 1619, § 71-81, abgedruckt in HOOIJER 1865, 449-459, hier: 457ff.

69 Obwohl die Dordrechter Kirchenordnung 1619 einen zweimonatlichen Rhythmus vorsah (§ 63, vgl. HOOIJER

1865, 456), waren Abendmahlsfeiern (wie in Genf) einmal pro Quartal oder drei Mal im Jahr weitaus üblicher, vgl. VAN DEURSEN 1974, 196. Zwischen 1574 und 1611 wurde in Delft an den letzten Sonntagen der Monate Februar, April etc. Abendmahl gehalten, danach an den ersten Sonntagen der Monate Januar, März etc., vgl.

WOUTERS &ABELS 1994, I, 209f. Mit dieser Einteilung vermied man bewußt, an die kirchlichen Festtage anzuschließen (Noch für 1639 und 1654 wird diese – wiederum nur vergleichsweise – hohe Frequenz des Abendmahls bestätigt, GOUDAPPEL 1981A, 105 bzw. DE WITTE 1654, 91, weshalb ich annehmen möchte, daß sich diese Gewohnheit auch in späterer Zeit fortgesetzt hat.

70 Inwieweit die Hausbesuche tatsächlich regelmäßig stattfanden, läßt sich schwerlich sagen. Wachsende Mitgliederzahlen geboten sicherlich Modifizierungen. In Zeiten länger vakanter Pfarrstellen ist doku-mentiert, daß fällige Besuche verschoben wurden, PARKER 2001, 228.

71 Vgl. oben, Kap. 1.2, Anm. 47.

(16)

Angehörigen.72 Der von letzterem gezogene Vergleich des jährlichen Durchschnitts von 36 mit den 44 Fällen im wesentlich größeren Amsterdam der selben Periode zeigt die Intensität der Bemühungen des Delfter Presbyteriums auf.73 In anderen Städten der Vereinigten Provinzen lagen die Werte weitaus niedriger.74 Der Erfolg kann skeptisch beurteilt werden. Die wachsende Mitgliederzahl machte es notwendig, zunehmend Exempel zu statuieren anstatt alle Vergehen zu maßregeln.75 Auch die sinkende Rate neuer vor den Kirchenrat gebrachter Zuchtfälle in den drei darauffolgenden Jahrzehnte – wohlgemerkt bei wachsenden absoluten Mitgliederzahlen – läßt verschiedene Schlußfolgerungen zu. Entweder hatten sich die Sitten tatsächlich als Folge verschiedener kirchlicher und weltlicher Erziehungsmaßnahmen (man denke an Bildung und die Absenz die Stadt direkt betreffender kriegerischen Auseinandersetzungen) verbessert oder die Kirchenältesten setzen schlechterdings andere Prioritäten. Wie Parker gezeigt hat, diskutierten die Presbyter zwischen den 1620er und den 1640er Jahren zunehmend über organisatorische und personelle Fragen sowie Angelegenheiten, die ihr Verhältnis zur kerkfabriek oder wohltätigen Stiftungen betrafen. Obwohl man sich wieder von Zeit zu Zeit den Sitten der Gemeinde wid- mete,76 verlagerte sich der Schwerpunkt damit von innergemeindlichen hin zu gesellschaftlichen Vorgängen, die über die reformierte Gemeinschaft hinausgingen. Mit Parker kann man folgern, daß die Kirche auf diese Weise „in ihre Rolle als Öffentlichkeitskirche“ hineinwuchs.77

Bei allen überregionalen Spannungen, die das Verhältnis zwischen reformierter Religion und der politisch-gesellschaftlichen Ebene im ersten halben Jahrhundert der Republik charakterisiert

72 Abels schätzt die Zahl auf höchstens 1200, d.h. minimal 1157, maximal 1199 Personen, bei 1735 vor den Kirchenrat getragenen Klagen, WOUTERS &ABELS 1994, II, 105; vgl. PARKER 2001, 218f. Damit beläuft sich prozentuale Anteil an der Gesamtmitgliederzahl auf 0,3%-5,0% in den Anfangsjahren 1573-1579, auf 1,1%- 3,9% im ersten Jahrzehnt des 17. Jh., auf 0,7% im (unruhigen) Jahr 1618 und 1621 auf 1,8%, WOUTERS &

ABELS 1994, II, 90-94.

73 PARKER 2001, 218ff., im Bezug auf die Studien von Abels, s.o., und Roodenburg. Vorsicht ist beim Zahlenspiel geboten. Amsterdam weist starke Schwankungen per Jahrzehnt (mit Extremen von 30 Fällen [1591-1600] und 67 Fällen [1611-1620]) und einen Anstieg des Mittelwertes nach 1620 (Gesamtdurchschnitt 1620-1690: 51) auf; auch werden, so Roodenburg, nicht alle Fälle von Abend-mahlsmeidung konsequent verzeichnet sein und sind Erfassungsprobleme nicht zu vermeiden, ROODENBURG 1990, 136f., bes. Tabelle 3.1. sowie 142ff.

Obwohl es für Amsterdam keine Mitgliederregistrierung gibt, sei zur Einschätzung der Dimensionen auf Zahl der Pfarrstellen verwiesen: Während Delft zwischen 1587 und 1640 nur vier Prädikantenstellen hatte, stieg die Zahl in Amsterdam bis 1650 auf fünfzehn, vgl. VAN LIEBURG 1996B, II, Sp. 13.

74 PARKER 2001, 219, nennt Dordrecht (14,3 Fälle im Mittel der Jahre 1572-1579) und Deventer (13,5 im Zeitraum 1592-1619).

75 So Abels in Übereinstimmung mit Feststellung Roodenburg für Amsterdam. Der Autor sieht sich allerdings nicht in der Lage, wie jener auch tatsächlich ein „disziplinierteres“ Verhalten zu konstatieren, vgl. WOUTERS &

ABELS 1994, II, 112f., vgl. auch PARKER 2001, 228.

76 Wie im bereits im zuvor betrachteten Zeitraum standen in drei- bis fünfjährigen Abständen wesentlich mehr Zuchtfälle auf der Tagesordnung, vgl. die Zählung ebd., 224, Tabelle 4 sowie die Graphik bei WOUTERS &

ABELS 1994, II, 90.

77 PARKER 2001, 222f., 230, Zitat aus der dt. Zusammenfassung, ebd., 231.

(17)

haben, zeichnet es sich in Delft durch Pragmatik und Konsens aus. Die Harmonie wurde im Jahr 1617 nur kurzzeitig gestört; der politische Einfluß weitete sich jedoch nicht auf Einmischung in theologische Fragen aus.78 Es ging darum, die Einflußbereiche der jeweiligen Autoritäten voneinander abzugrenzen und, noch entscheidender, zu respektieren. In Protokollen zur Kirchen- zucht etwa zeigt sich die Rücksichtnahme auf das Autoritätsgebiet der weltlichen Obrigkeit, indem der Kirchenrat stets den Eindruck vermeiden wollte, ihm zu Ohren gekommene Vergehen der weltlichen Gerichtsbarkeit gemeldet zu haben.79 Weltliches und geistlich-reformiertes Regiment sollten gut abgegrenzten Mosaiksteinen gleich ineinander greifen und dabei weder verschmelzen noch miteinander wetteifern. Daß dies in Delft gut gelang, kann auf ihre oben ausgeführte enge Verflechtung und die kurzen Kommunikationswege zurückgeführt werden. Wie Paul Abels feststellt, griff keine Seite ihr Gegenüber „mit Wort oder Schwert“ radikal an.80 Die Kirche mäßigte, wie der Autor weiter darlegt, ihren Ehrgeiz, die gesamte Gesellschaft verändern zu wollen und beschränkte sich im Hinblick auf die Regenten darauf, Mißstände ihres Schriftverständnisses zu benennen. Niemals verlangte sie, Delft „bibliokratisch“ zu regieren. Und obwohl die bürgerliche Regierung ihre Aufforderungen nicht immer befolgte, so kam sie der öffentlichen Kirche doch oft auch entgegen. Sie erkannte die „normierende Rolle der neuen Kirche“ an, ohne sie in eine „breite Volkskirche“ verändern und damit ihren reformierten Bekenntnischarakter antasten zu wollen.81 Sich selbst betrachtete sie als die Obrigkeit einer „wel gepolitieerde christelicke gereformeerde stadt.“82 Wohlgemerkt ist hier weder eine allgemein christliche Gesellschaft, in der der öffentliche Raum Platz für jegliche Konfession bietet, noch eine spezifisch-calvinistische gemeint. Die „nieuwe samenleving“ von Delft gegen Ende seines Untersuchungszeitraumes im Blick, folgert Abels, daß die Gesellschaft als eine im allgemeinen

„reformatorisch gefärbte“ zu verstehen sei, „modelliert nach den Normen der Heiligen Schrift – mit der Maßgabe, daß es die calvinistische Interpretation der Bibel war, an welcher die Obrigkeit Gesetzgebung und Politik überprüfte und überprüfen ließ, jedoch ohne eine Spur von Rigorismus.

Der Calvinismus fungierte dabei als das moralische Gewissen der Nation, nicht als moralische Zwangsjacke.“83

78 Vgl. WOUTERS &ABELS 1994, II, 393f.

79 Vgl. ebd., II, 121.

80 Ebd., II, 394.

81 Ebd., II, 391f., er formuliert weiter: „Zij [die weltliche Obrigkeit] accepteerde het onderscheid tussen ‘kinderen van God’ en ‘kinderen van de wereld’, met alle beperkingen die dit met zich meebracht voor de toetreding. De kerkelijke wachters voor het Avondmaal, in de gedaante van geloofsonderzoek en tucht, werden door de Delftse regenten niet gestoord in hun werk. Dit impliceerde dat de regenten zeer wel konden leven met een officiële kerk, die weliswaar in sociaal opzicht een redelijke afspiegeling van de stedelijke samenleving vormde, maar numeriek slechts een minderheid van de Delftenaren tot haar leden rekende.“

82 Zitat ebd., II, 391, jedoch ohne Quellenangabe, Hervorhebung bei Abels.

83 Ebd. (meine Übersetzung).

Referenties

GERELATEERDE DOCUMENTEN

Im Wortspiel „insien“ (ein- oder hineinsehen, vgl. perspicere) bedient sich der Prädikant dabei einer Terminologie, welche an perspektivische Raumwahrnehmung

Gelijck oock hier te Delft op het rapport van de Kerck plunderingen in de nabuerige Landtstreecken (hoewel by de Geestelijcken / de Gilden / en.. 20 Widerstand rief

7 Ein Kontext für die streng symmetrisch organisierten Durchsichten, auch den hier nicht eingegangen werden kann, sind Perspektivkästen wie die in Kopenhagen, welche (wohl

Pieter Rijcxs (gest. 1681), der auch für das Epitaph für Jacob van Delff in der Oude Kerk verantwortlich zeichnete, 203 hat es nach einem Entwurf von Jacob Lois (gest. Im

79 Die Frage ist auch, ob sie sich für die Betrachter von Emanuel de Wittes Gemälde auf diese Weise erschlossen haben werden – wahrscheinlich ist dies nicht.. Wenn

Jahrhundert zurückreichende Vorbilder zurückgeht – ein Kupferstich in der Art Philippe de Champaignes (1602–1674) mag dem römischen Original ähnlich gewesen sein

Auch wenn sie sich nicht ausdrücklich auf die eine oder andere Theorie gestützt haben, war der Ausgangspunkt der Bildanalysen dieser Arbeit stets, die Wirkung der Gemälde auf

2 Gerard Houckgeest, Interieur der Nieuwe Kerk in Delft mit dem Grabmal von Wilhelm von Oranien, 1650, Holz, 125,7 x 89 cm, Hamburg, Hamburger Kunsthalle... 3 Dirck van