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Die kaiserliche Großstadt Die Berliner Siedlungsentwicklung während des Deutschen Kaiserreichs

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Die kaiserliche Großstadt

Die Berliner Siedlungsentwicklung während des Deutschen

Kaiserreichs

Naam: Tolgan Raben Studentnummer: 0723045

Onderdeel: Masterscriptie Duitslandstudies Code: LDD999M20

Docent: Dr. E.H.K. Karel

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Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung ...3

2 Von der Doppelstadt bis zur Großgemeinde...10

Die Berliner Urbanisierungsgeschichte bis 1920 2.1 Die Berliner Industrialisierung ...11

2.2 Berlin wird Reichshauptstadt ...16

2.3 Mietskasernen und Villenvororten...19

2.4 Der Hobrechtplan...24

2.5 Zusammenfassung ...28

3 Die Bahnen erschließen Berlin...31

Der Einfluss des Verkehrs auf die Berliner Urbanisierung 3.1 Eisenbahnen in Preußen und Berlin ...33

3.2 Die Ringbahn und die Stadtbahn ...38

3.3 Der innerstädtische Verkehr ...43

3.4 Die Hoch- und Untergrundbahn ...47

3.5 Zusammenfassung ...50

4 Der Streit um die Residenz ...53

Das Verhältnis zwischen Berlin und Preußen während des Kaiserreichs und dessen Einfluss auf die räumliche Entwicklung Berlins 4.1 Der Kompetenzstreit ...53

4.2 Die Eingemeindungsdiskussion ...58

4.3 Der Verkehr ...61

4.4 Die Macht der Privatwirtschaft in Berlin ...64

4.5 Der Zweckverband und das Groß-Berlin-Gesetz ...67

4.6 Zusammenfassung ...69

5 Die fantastischen Vier ...71

Die Berliner Siedlungsentwicklung im Vergleich zu London, Paris und Wien 5.1 Stadtentwicklung in Europa zwischen 1850 und 1920...71

5.2 London...75 5.3 Paris...79 5.4 Wien...84 5.5 Zusammenfassung ...88 6 Schlussfolgerungen ...90 7 Literaturverzeichnis...94

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1 Einleitung

Seitdem Berlin 1990 erneut zur deutschen Hauptstadt ernannt worden ist, ist die Stadt wieder das politische Zentrum Deutschlands. Auch will sich die Stadt wieder zu einem wichtigen europäischen Wirtschaftsstandort und Schienenkreuz entwickeln. Die Berliner Innenstadt ist aus diesem Grund seit der Wende eine permanente Baustelle. Der erneute Glanz der innerstädtischen Viertel soll in den nächsten Jahren viele Großfirmen nach Berlin locken. Der Neubau des Berliner Hauptbahnhofs hat darüber hinaus dazu geführt, dass die Stadt ihre zentrale Position im europäischen Eisenbahnnetz zurückerobert hat. Die heutigen räumlichen und infrastrukturellen Entwicklungen erinnern ein wenig an die glorreichen Jahre während des Kaiserreichs, als sich Berlin zum Wirtschafts- und Eisenbahnzentrum Mitteleuropas entwickelte. Wie ausgedehnt Berlin am Ende dieser Periode bereits war, wird deutlich wenn man die Einwohnerzahlen des heutigen Berlins mit seinen “goldenen Jahren“ während der zwanziger Jahre vergleicht. Das Berliner Stadtgebiet hat heutzutage Berlin einen Umfang von 892 Quadratkilometern, auf dem 2005 3.4 Millionen Menschen leben.1 Als 1920 die

Einheitsgemeinde Groß-Berlin gebildet wurde, umfasste das Berliner Weichbild eine Fläche von 878 Quadratkilometern und zählte die Stadt sogar 3,8 Millionen Einwohner. Die heutigen räumlichen Entwicklungen in Berlin weisen nicht nur Charakteristiken des 19. und frühren 20. Jahrhundert auf, sondern bilden im Grunde auch eine Fortsetzung der Bauaktivitäten im Kaiserreich. Sie sollen in dieser Diplomarbeit deswegen den Ansatz bieten um die Siedlungsentwicklung während des Kaiserreichs zu beschreiben So ist der Bau des neuen Hauptbahnhofs im Grunde nichts Neues. Bereits im 19. Jahrhunderts war er ein breit gehegter Wunsch. Außerdem wäre der Bahnhof nie möglich gewesen, hätte es nicht die Stadtbahn gegeben, die schon in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts errichtet wurde.

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In dieser Diplomarbeit wird nachgegangen, wie sich die Berliner Siedlungsentwicklung während des Kaiserreichs, ab der Reichsgründung 1871 bis zur Bildung der Großgemeinde Berlin im Jahre 1920, als Berlin und seine umliegenden Kommunen in einer Großgemeinde vereinigt wurden, verlief. Wie war es möglich, dass sich Berlin gerade in dieser Periode räumlich so ausdehnen konnte? Was lag dem spektakulären Bevölkerungszuwachs zugrunde? Obwohl sich Preußen bereits in den fünfziger Jahren zur Konzipierung eines städtebaulichen Plans entschloss, der später unter dem Namen Hobrechtplan bekannte, soll nachgegangen werden, inwiefern der Staat imstande war das Berlin Wachstum zu lenken. Als Berlin 1871 zur Hauptstadt des neu gebildeten Deutschen Kaiserreichs ernannt wurde, hatte die Stadt zwar eine bewegte Geschichte hinter sich. Berlin war seit dem 18. Jahrhundert die Hauptstadt Preußens und wuchs im 19. Jahrhundert zu einem wichtigen Industriestandort heraus. Im Vergleich zu den Entwicklungen von der Reichsgründung bis zur Bildung der Einheitsgemeinde Groß-Berlin war das Ausmaß der früheren Ereignisse jedoch relativ bescheiden. Das halbe Jahrhundert, in dem das Kaiserreich existierte, ereignete sich eine spektakuläre räumliche Erweiterung in Berlin und transformierte es sich in einer Großstadt mit internationalem Flair. Diese Jahrzehnte sollten sich als ausschlaggebend für die weitere Siedlungsentwicklung zeigen und prägen das heutige Stadtbild noch immer. Es ereignete sich bis zur Bildung der Großgemeinde eine explosionsartige Bevölkerungs- und räumlichen Entwicklung in Berlin und seinem Umland. Verschlafene Dörfer, die noch bis Mitte des 19. Jahrhunderts dutzende Kilometer von Berlin entfernt waren, wurden innerhalb von einigen Jahrzehnten Teil einer riesigen Agglomeration, die im Jahre 1900 schon 2,5 Millionen Einwohner zählte. Der gewaltige Bevölkerungszuwachs führte in Berlin und in seinen Vororten zu eine massiver Wohnungsnot. Zugleich entstanden im Berliner Umland ausgedehnte Villenvororte

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Bevölkerungswachstums seine Einwohner unterbringen konnte. Zweitens, wie die räumlichen Folgen der Herausbildung von verschiedenen Stadtvierteln, Wohnvierteln, Gewerbegebiete und einem Geschäftsviertel gemeistert werden sollte. Die Berliner Siedlungsentwicklung wurde erschwert von der Tatsache, dass Berlin sowohl einen Industriestandort, einen Verkehrsknotenpunkt als auch eine Residenz in sich vereinigte. Deswegen ist zu klären, inwiefern die Eisenbahnen und andere Verkehrsträger das räumliche Wachstum in Berlin beeinflussten. Sie legten nämlich sowohl den Grundstein für den Berliner Aufstieg im 19. Jahrhundert, weil durch ihr Aufkommen Berlin zum größten Industriestandort Deutschlands und größten Eisenbahnknotenpunkt Europas auswuchs. Die Eisenbahnen sollten aber eine ambivalente Rolle während des Kaiserreichs spielen. Sie waren zugleich dafür verantwortlich, dass sich die Berliner Raumbeziehungen nach der Reichsgründung völlig veränderten. Sie lösten ein sehr starkes räumliches Wachstum entlang den verschiedenen Eisenbahnlinien aus, die, obwohl es vielleicht paradox zu sein scheint, teils an der enormen Berliner Wohnungsnot Schuld hatten. Andererseits erhoffte sich der Berliner Magistrat von den Schienenverkehrsträgern, dass sie die Wohnungsnot lindern konnten, indem sie Verbindungen zu Vororten herstellten. Wenn auch der Berliner Magistrat die Eisenbahnen zur Bekämpfung der Wohnungsnot einsetzen wollte, hatten sie aber zugleich eine sehr hohe wirtschaftliche Priorität, da Berlin der wichtigste Knotenpunkt des preußischen Eisenbahnnetzes war. Die Eisenbahnen hatten eine immense Bedeutung für die preußische Wirtschaft. Vor allem nachdem sie verstaatlicht wurden, nahm ihr Gewicht zu und war der preußische Staatshaushalt zu einem erheblichen Teil von den Einnahmen der Eisenbahnen abhängig. Dies führte zu Interessenskonflikte zwischen der Stadt und dem Staat.

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kommunalen Angelegenheiten viel mehr beschränkt als andere preußische Großstädte. Demzufolge erhebt auch sich die Frage, ob Berlin während des Kaiserreichs eigentlich über kommunale Selbstverwaltung verfügte oder ob die Stadt der Macht des Staates ausgeliefert war? Zum Schluss, wie waren in Preußen und in Berlin die Aufsichts- und Genehmigungskompetenzen in den Bereichen Raumplanung und Verkehr festgelegt. Die Berliner Urbanisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war aber keine gesonderte Entwicklung. In fast allen europäischen Hauptstädten ereigneten sich solche räumliche Entwicklungen. Wie ist die Berliner Siedlungsentwicklung zu beurteilen, wenn man die räumlichen Entwicklungen in mehr oder weniger vergleichbare europäischen Haupt- und Großstädten, wie London, Paris oder Wien, näher betrachtet? Die Städte hatten, wie Berlin, eine wirtschaftliche, kulturelle und politische Vormachtstellung in ihren jeweiligen Staaten. Der Vergleich mit anderen europäischen Hauptstädten zeigt, dass in dieser Diplomarbeit die Berliner Siedlungsgeschichte nicht gesondert betrachtet wird. Obwohl die Berliner Urbanisierung lange als missglückter Einzelfall betrachtet worden ist, ist es sinnvoll die räumlichen Entwicklungen in Berlin mit anderen Großstädten zu vergleichen. Diese Interpretation ist lange dem Urteil Werner Hegemanns gefolgt, der in seinem 1930 erschienenen Werk Das steinerne Berlin vor allem den Hobrechtplan als Hauptursache sieht. Ihnen soll in dieser Arbeit neuere Ansichten gegenüber gestellt werden.

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Hobrechtplan bestimmt eine Auswirkung auf die Siedlungsentwicklung, auch diese Wirkung soll kurz beleuchtet werden. Im dritten Kapitel wird die Berliner Verkehrsentwicklung im Zeitraum 1871-1920 erläutert. Es soll begründet werden, inwiefern die verschiedenen Verkehrsmittel die Berliner Siedlungsentwicklung beeinflussten. Zuerst wird einiges zu der preußischen Eisenbahngeschichte, zu dessen Mittelpunkt sich Berlin entwickelte, näher betrachtet. Danach werden die Verkehrsmittel im Einzelnen dargestellt und erläutert welche räumlichen Folgen sie in Berlin hatten.

Im vierten Kapitel dieser Arbeit soll das Verhältnis zwischen der Stadt Berlin und dem preußischen Staat näher betrachtet werden. Die Paragraphen zur Kompetenzstreit und zur Eingemeindungsdiskussion sollen zeigen, wie Interventionen des Staates die Berliner Siedlungsentwicklung beeinträchtigten. Darüber hinaus soll erläutert werden, wie die Verbindungen zwischen Staat und der Privatwirtschaft sich auf die räumliche Entwicklung ausgewirkt haben. Schließlich soll im fünften Kapitel die Berlin Urbanisierung aus einer europäischen Perspektive betrachten werden. Die räumlichen Entwicklungen in London, Paris und Wien verglichen werden kurz erläutert. Es soll geschildert werden, welche Parallele oder Unterschiede die Siedlungs- und Infrastrukturentwicklung in diesen Städten ab der Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg aufwiesen. Darüber hinaus soll dieses Kapitel einen Rahmen bieten zur Siedlungsentwicklung europäischer Großstädte.

Diese Diplomarbeit ist keineswegs ausreichend um nur annähernd die enorme Anzahl von Publikationen zur Siedlungsgeschichte Berlins zu beschreiben. Wie erwähnt wurde, ist die Berliner Siedlungsgeschichte lange von Vorurteilen und negative Beurteilungen geprägt worden. Werner Hegemanns Werk Das steinerne Berlin hat die Meinungsbildung zu Berliner Siedlungsgeschichte sogar bis in die achtziger Jahre, wie anhand des Werks Die

große Zerstörung Berlins von Hans Reuther beeinflusst. Eine weniger negative

Beurteilung der Berliner Urbanisierung bietet Ingrid Thienel. Ihr Artikel

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ein komplettes Bild zur Berliner Siedlungsentwicklung im 19. Jahrhundert. Darüber hinaus beschreibt Thienel welche Auseinandersetzungen zwischen Berlin und Preußen ereigneten während des Kaiserreichs. Auch David Clay Large und Berthold Grzywatz schenken in ihren Werken dem Kompetenzstreit zwischen Stadt und Staat Beachtung. Obwohl Grzywatz’ Werk Stadt, Bürgertum

und Staat im 19. Jahrhundert. Selbstverwaltung, Partizipation und Repräsentation in Berlin und Preußen 1806 bis 1918 eine detaillierte Übersicht

über die preußische und Berliner Verwaltungsaufbau bietet und David Clay Large in seinem Werk Berlin. Biographie einer Stadt eher die Siedlungsgeschichte von der Reichsgründung bis zum heutigen Tage beschreibt, haben beide miteinander gemein, dass sie das Spannungsfeld zwischen Berlin und Preußen darstellen.

Auch Elfi Bendikat beschreibt in ihren Beiträgen Öffentliche

Verkehrssysteme im Spannungsfeld kommunaler Intervention im Metropolenvergleich Berlin und Paris 1890-1914 und Nahverkehrspolitische

Konflikte und kommunale Interventionen in Berlin und Paris: 1890-1914 das Verhältnis zwischen Berlin und Preußen. Sie richtet sich dabei vornehmlich auf den öffentlichen Personen-Nahverkehr in Berlin und Paris am Ende des 19. und am Anfang des 20 Jahrhunderts sowie deren Einfluss auf die Stadtentwicklung. Heinrich Johannes Schwippe bietet mit seinem Beitrag Öffentlicher

Personen-Nahverkehr, Stadtentwicklung und Dezentralisierung, Berlin 1860-1910 ebenfalls

eine Übersicht über die Verkehrsentwicklung und deren Folgen für den Wohnungsmarkt und die Berliner Raumplanung. Im Gegensatz zu den vorigen Autoren richtet sich Thomas Hall in seinem Werk Planning Europe’s Capital

Cities nicht ausschließlich auf die Berliner Siedlungsentwicklung, sondern

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2 Von der Doppelstadt bis zur Großgemeinde

Die Berliner Urbanisierungsgeschichte bis 1920

Berlin entstand auf dem rechten Spreeufer als Handelsniederlassung und wurde erstmals Mitte des 13. Jahrhunderts urkundlich genannt. Die Siedlung wurde im Jahre 1307 mit Cölln, das auf dem linken Spreeufer lag, vereinigt. Die beiden Städte bildeten ab diesem Zeitpunkt eine Doppelstadt, die sich ab den 14. Jahrhundert neben Frankfurt an der Oder zu einer der bedeutendsten Handelsstädte Brandenburgs entwickeln konnte. Wie Dieter Jung in seinem Artikel Wasserwege in und um Berlin betont, verdankte Berlin seinen wirtschaftlichen Fortschritt vor allem seiner verkehrgünstigen Lage. Die sich in Berlins unmittelbare Nähe befindenden Flüsse Havel und Spree stellten beinahe eine vollständige Querverbindung zu den Flüssen Oder und Elbe her, die im damaligen Mitteleuropa zu den wichtigsten Transportwegen zählten.2 Auch was

den Landstraßen anbelangte, verfügte Berlin über eine verkehrgünstige Lage. Die Stadt lag Berlin auf einer Anhöhe, die einen natürlichen Durchgang durch die Sümpfe des Spreewaldes bot. Auf dieser Stelle bildete sich eine Kreuzung von Handelsstraßen zwischen Leipzig und Dresden im Süden, Magdeburg im Westen und Frankfurt an der Oder im Osten heraus.3 Besonders durch den Bau verschiedener Kanäle im 17. Jahrhundert konnte sich Berlin zu einem wichtigen Umschlagplatz für den Nord-Süd-Handel entwickeln. Mit dem Bau der Kanäle wurden die Querverbindungen zur Oder und Elbe verbessert und erlangte Berlin eine Schlüsselposition zwischen Hamburg und Lüneburg im Norden und dem schlesischen Breslau im Süden.4 Ein anderer Faktor die den Aufstieg Berlins vorantrieb, war der Umstand, dass die Stadt im 15. Jahrhundert die Residenz der Hohenzollern wurde. Wie Thomas Hall in seinem Werk Planning Europe’s Capital

Cities belegt, war die Entwicklung Berlins eng verbunden mit dem Aufstieg

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Brandenburgs zu einer der führenden deutschen Staaten und dem der Hohenzollern zum wichtigsten deutschen Fürstenhaus.5

2.1 Die Berliner Industrialisierung

Im 17. Jahrhundert kündigte sich während der Residenz des “Großen“ Kurfürsten Friedrich Wilhelm, eine erste Blütezeit in Berlin an, dank des Baus vieler neuen Wasserstraßennetzes aber auch dank der vielen hugenottischen Einwanderer. Der neue Status der Stadt zeigte sich, als sie zu einer Festungsstadt ausgebaut wurde. Im Laufe des 17. Jahrhundert entstanden verschiedene Vorstädte um Berlin. Von denen wurden Friedrichswerder, die Dorotheen- als auch die Friedrichstadt zur Residenz ernannt, so dass es neben Berlin und Cölln fünf königliche Residenzstädte gab. Im Jahre 1710, wurden die fünf Städte nach königlicher Verfügung vereinigt und bildete sich Berlin endgültig als Preußens “Königlichen Haupt- und Residenzstadt" heraus.6

Abbildung 2.1 Die königliche Haupt- und Residenzstadt Berlin um 1710

1 Berlin 2 Cölln

3 Friedrichswerder 4 Dorotheenstadt 5 Friedrichstadt

Berlin erlebte eine erneute Blütezeit und entwickelte sich seitdem zum politischen und wirtschaftlichen Zentrum Preußens. Nach der Zusammenfügung der fünf Residenzstädte wurden die Festungswerke geschleift und errichtete man an ihrer Stelle in den 1730er Jahren eine Akzisemauer. Die 14,5 Kilometer lange

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Zollmauer umschloss die zusammengefügten Stadtteile und sollte dem Warenschmuggel, der Umgehung von Steuern sowie dem unerlaubten Zuzug Fremder Einhalt gebieten. Außerdem sollte sich die Akzisemauer, sei es dieses Mal keineswegs beabsichtigt, ein Jahrhundert später als ein wichtiges Hindernis bei der städtebaulichen und verkehrstechnischen Entwicklung Berlins erweisen. Im 18 Jahrhundert spielte dies aber noch keine Rolle und würde sich die Einwohnerzahl der Stadt, infolge des stetigen Bevölkerungswachstums und Eingemeindungen verdreifachen, von etwa 50.000 auf nahezu 170.000 am Ende des Jahrhunderts.7

Seit Mitte des 18. Jahrhunderts begann sich Berlin als Industriestadt zu entwickeln. Erste Manufakturen wurden, oft im Auftrag des Hofes, gegründet, wie zum Beispiel im Textilgewerbe oder die Königliche Porzellanmanufaktur. Der entscheidende Aufstieg zur industriellen Großstadt bekam Berlin aber erst im 19. Jahrhundert. Am Anfang des neuen Jahrhunderts erschien in der Residenz ein neuer Industriezweig: die Eisenindustrie. Im Jahre 1804 wurde im Berliner Norden die Königliche Eisengießerei errichtet, die laut Hella Jordan in ihrem Artikel Brunnenstraße – ein Museum der der Stadterneuerung von großer Bedeutung war für die spätere industrielle Entwicklung Berlins. Sie betrachtet die Königliche Eisengießerei daher wohl als „Keimzelle der Berliner Eisen- und Maschinenbauindustrie“. 8 Ingrid Thienel zufolge siedelten sich Eisen- und Maschinenbauindustriefirmen, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu Weltkonzernen heranwuchsen, wie Borsig, Egells oder Schwartzkopff, ab den dreißiger Jahren in der Nähe der Königlichen Eisengießerei an. Sie gründeten ihre Unternehmen in der Oranienburger und der Rosenthaler Vorstadt sowie in Moabit.9

Der Standortwahl der Eisen- und Maschinenbauindustrie hatte verschiedene Ursachen. Zum einen verfügten die Werke dieser Industrien zu jenem Zeitpunkt noch nicht über eigene Gießereien und wäre der Transport der

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Gussteile nach anderen Stadtteilen zu kostenaufwendig geworden.10 Zum anderen führten die niedrigen Grundstückspreise im Berliner Norden dazu, dass sich die flächenintensive Eisen- und Maschinenbauindustrie dort zusammenballte.11 Ein dritter Grund sollte ebenfalls beachtet werden. Wie Jutta Lubowtzki erläutert, war die Industrie bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts noch in hohem Maße von menschlicher Arbeitskraft abhängig. Industrielle Standorte befanden sich dadurch meist in der Nähe von Wohnvierteln. Gerade in den nördlichen Berliner Stadtteilen standen der Industrie nach dem Niedergang des Berliner Textilgewerbes, reichlich mechanisch gut ausgebildete Arbeitskräfte zur Verfügung.12

Der industrielle Aufstieg Berlins wurde am Anfang des 19. Jahrhunderts von einigen wichtigen politischen, wirtschaftlichen und verwaltungstechnischen Reformen in Preußen vorangetrieben. Unter der Leitung der Minister Stein und Hardenberg boten die so genannten preußischen Reformen in vielen Bereichen wichtige Voraussetzungen für die Entwickelung Preußens in Richtung eines modernen Staates. Besonders die neue preußische Gewerbeordnung aus den Jahren 1810/11, der die Zunftregeln lockerte und die Gewerbefreiheit sowie die Freizügigkeit der Landbevölkerung einführte, waren von großer Bedeutung für die zukünftige Industrialisierung Preußens und Berlins.13 Sie bildeten die Grund-lage der preußischen Wirtschaftspolitik und des späteren Aufschwungs im 19. Jahrhundert. Sie sollten auch die industrielle Entwicklung in Berlin, als preußischer Hauptstadt und Manufakturstandort, begünstigten. Nicht desto trotz bildeten diese Reformen lediglich den Rahmen, sei es einen wichtigen. Der wirkliche Katalysator der Industrialisierung in Preußen und Berlin waren die Eisenbahnen. Sie sind, wie Richard H. Tilly in seinem Werk Vom Zollverein zum

Industriestaat schildert, als Führungssektor der Take-Off-Phase der deutschen

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Industrialisierung zwischen den vierziger und den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts zu betrachten.14

Es ist nicht Sinn dieser Arbeit die Theorie ausführlich zu erläutern, was jedoch hier wichtig ist, sind die Effekte die die Eisenbahnen auslösten. Der Bau der Eisenbahnen führte einerseits zu sinkenden Gütertransportpreise, stimulierte andererseits die Industrieinvestitionen, indem er die Nachfrage nach Roheisen, Steinkohlen und Kapital verstärkte.15 Außerdem kurbelten die Eisenbahnen die Nachfrage nach Eisenbahnprodukten an, die zu einer Hochkonjunktur im Berliner Eisenbaubau führte, wie Rolf Külz in seinem Artikel Zur Entwicklung des

städtischen Nahverkehrs in Berlin erläutert.16

In Berlin, das sich dank seiner verkehrsgünstigen Lage zum Eisenbahnkreuz Mitteleuropas entwickelte, sollten die Eisenbahnen auf diese Weise einen enormen Einfluss auf die zukünftige industrielle, verkehrliche, ja sogar auf die gesamte weitere Siedlungsentwicklung haben, worauf im zweiten Kapitel noch ausführlich zurückzukommen sein soll. Die Eisenbahnen erschlossen die Stadt und bohrten neue Absatzmärkte für die Berliner Industrie an. Sie beschleunigten den Ausbau der Eisen- und Maschinenbauindustrie im Berliner Norden, die durch die Eisenbahnen eine günstige Standortlage erlangte.17 So wurde die Oranienburger Vorstadt von der Stettiner Bahn und Moabit von der Hamburger Bahn erschlossen.18

Als Folge des starken industriellen Wachstums expandierten die flächenintensiven Maschinenbaufirmen und kam es Mitte der fünfziger Jahre zu ersten Werksverlegungen. Weil zudem konstant neuer Arbeiter zuströmten, begann sich die Berliner Urbanisierung ab Mitte der fünfziger Jahre wirklich zu entfalten. Ab diesem Zeitpunkt war sein Wachstum kaum mit dem anderer deutscher Städten zu vergleichen, wie Günter Richter in seinem Beitrag

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1855 noch 434.000 Einwohner, sechs Jahre später war dies schon 547.000.20 Die Bevölkerung wuchs also innerhalb einiger Jahre mit mehr als 25 Prozent. Übrigens sollte dabei schon erwähnt werden, dass Berlin infolge verschiedener Eingemeindungen, sowie der Erwerb einiger Freiflächen sein Weichbild 1861 von 35 auf 59 Quadratkilometer ausdehnte, wie aus der nachfolgenden Abbildung hervorgeht. Die rote Linie stellt die Akzisemauer dar, die die alten 1710 vereinigten Städte Berlin, Cölln, Friedrichswerder, die Dorotheen- und die Friedrichstadt umschloss. Die Stadterweiterung trug ebenfalls, sei es in geringem Maße, am Bevölkerungswachstums bei.21

Abbildung 2.2 Berlin nach der Stadterweiterung 1861

1 Berlin 10 Innere Luisenstadt 2 Cölln 11 Äuß. Luisenstadt 3 Friedrichswerder 12 S&T Vorstadt22

4 Friedrichsstadt 13 Friedrichvorstadt 5 Dorotheenstadt 14 Tiergarten 6 Fr.-Wilhelmstadt 15 Moabit

7 Spandauer Viertel 16 Oranienburg.Vorst. 8 Königstadt 17 Wedding

9 Stralauer Viertel 18 Rosenthaler Vorst.

Durch die demographische Entwicklung bildete sich allmählich eine Agglomeration heraus, die neben Berlin die Vororte Spandau, Köpenick, Moabit und Charlottenburg umfasste. Berlin und seine Vorstädte wuchsen noch nicht über ihre Kommunalgrenzen hinweg, rückten jedoch schon näher aneinander.23 Ähnlich dem seit 1866 preußischen Hannover und den nicht preußischen Städten Hamburg und Bremen, wies Berlin dabei, wie Horst Matzerath in seinem Werk

Urbanisierung in Preußen 1850-1914 erläutert, ein konzentrisches Wachstum

auf, während in anderen deutschen Großstädten und Ballungsgebieten, wie Köln und Düsseldorf oder dem Rhein-Main-Gebiet, eher ein dezentrales Wachstum

20 Thienel 1977, 63 21 Schulz 1998, 36

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sichtbar war.24 Dieses konzentrische Wachstum sollte in späteren Jahren noch zu erheblichen Problemen führen, als die Vorstädte und Berlin sich bei deren Stadterweiterung gegenseitig behinderten. Obwohl dies Mitte der fünfziger Jahre noch nicht der Fall war, erlitt Berlin bereits damals, wie Werner Hegemann erläutert, einem Mangel an Bauland.25

2.2 Berlin wird Reichshauptstadt

Mit der Reichsgründung 1871 wurde Berlin zur Hauptstadt des Deutschen Reiches ernannt. Die Euphorie, die der einheitliche deutsche Staat und die darauf folgende Gründerzeit auslösten, noch verstärkt von den französischen Kriegsreparationen in Höhe von vier Milliarden Mark, hatte einen ausschlaggebenden Einfluss auf die künftige Berliner Siedlungsentwicklung.26 Erstens löste die Bildung des neuen Kaiserreichs insbesondere in Alt-Berlin eine riesige Investitionswelle aus. Hunderte von neuen Aktiengesellschaften wurden gegründet, von denen viele auf spekulativer Basis. Sie verstärkten die Herausbildung eines innerstädtischen Geschäftsviertels in Berlin. Diese Citybildung betraf besonders die Stadtteile Cölln, Friedrichswerder, die Friedrichstadt und die Dorotheenstadt.27 Berlin war nicht nur die administrative und industrielle Hauptstadt des Deutschen Reiches, sondern entwickelte sich auch zum finanziellen Zentrum. Banken und Handelsgesellschaften wurden entweder neu gegründet oder verlegten ihre Hauptverwaltungen in die neue Hauptstadt.

Darüber hinaus bedeutete die Reichsgründung, dass Berlin, neben den obersten preußischen Staatsbehörden, Verwaltungssitz vieler Reichsministerien und -Behörden wurde, die sich in und um der Wilhelmstraße, in der Friedrichsstadt konzentrierten, wie im Hans Reuther in seinem Die große

Zerstörung Berlins schildert.28 Der östliche Rand des Tiergartens bildete das

24 Matzerath 1985, 270 25 Hegemann 1979, 198

26 Elsner und Mummelthey 2006, 131 27 Thienel 1977, 62

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Regierungs- und Diplomatenviertel. 29 Zwischen dem Alexanderplatz und Potsdamer Platz entstand eine City, die von modernen Kaufhäusern, Kultureinrichtungen, Banken, Hotels, Verwaltungsgebäuden verschiedener Großkonzerne geprägt wurde. Die Leipziger und die Friedrich Straße wurden zu den Haupteinkaufsstraßen Berlins.30 Außerdem sollte die junge Hauptstadt, wie David Clay Large in seinem Werk Berlin: Biographie einer Stadt erläutert, den Glanz des neuen Kaiserreichs zeigen. Vor allem unter der Herrschaft Wilhelm des Zweiten, ab 1888, wurden viele Prunkbauten, wie der Ausbau der Museumsinsel, der Deutsche Dom oder die Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche errichtet.31

Wie im Dienstleistungssektor führte die Reichsgründung ebenfalls in der Industrie zu einem Boom. Die Berliner Eisenbahnindustrie verzeichnete bereits in den sechziger Jahren einen großen Aufschwung. Nach der Reichsgründung wurden ihre Fabrikanlagen bald zu eng um die riesige Nachfrage decken zu können.32 Als 1877 eine neue Eisenbahnlinie um Berlin herum vollendet worden

war, die Ringbahn, auf die im nächsten Kapitel noch näher eingegangen wird, setzte eine erste Randwanderung der Industrie ein. Dies sollte die Raumbeziehungen in Berlin völlig verändern. Dieser Prozess wiederholte sich in den neunziger Jahren, als die Industrie seine Werke noch weiter nach außen verlegte und in einer Entfernung von 12 bis 20 Kilometer vom Berliner Stadtzentrum eine zweite suburbane Industriezone entstand, wie Elfi Bendikat in ihrem Artikel Öffentliche Verkehrssysteme im Spannungsfeld kommunaler

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sich ebenfalls in den Nordwesten Berlins, in Wedding, an.35 Dies wurde eine realistische Alternative, weil die Industrie in den Außengebieten nicht nur eine direkte Schienenanbindung verfügte, sondern sich in der Nähe von Wasserwegen befand. Darüber hinaus waren die Grundstückspreise in den Außenbezirken viel günstiger als in der teueren Innenstadt, die unter dem Einfluss der Citybildung und der noch Bodenspekulation dauernd anstiegen. Ein dritter aber keineswegs unwichtiger Grund war der verfügbare Freiraum. Die expandierenden Firmen fehlte es, aufgrund der oben erwähnten Gründe an Expansionsmöglichkeiten.36

Ein dritter räumlicher Prozess in Berlin stellte den fast unaufhaltsamen Zustrom neuer Arbeiter dar, so dass die Einwohnerzahl Berlins nach der Reichsgründung förmlich explodierte. Die Hauptstadt mit ihrem großen Industriesektor hatte eine enorme Anziehungskraft auf die Landbevölkerung, die seit der Bauernbefreiung und der allgemeinen Freizügigkeit vom Land in die Stadt zogen. Zu der Berliner Bevölkerungsexplosion kommentierte Rolf Külz, dass sie „teilweise Züge, die an Industrialisierungsprozesse der so genannten 3. Welt denken lassen.“37

Tabelle 2.1 Berliner Bevölkerungsentwicklung ab der Industrialisierung

Jahr Einwohnerzahl Stadtfläche in qkm Einwohner je qkm

1840 322.626 35 9218 1849 412.154 35 11.776 1861 547.571 59 9281 1871 825.937 59 13.999 1890 1,578.794 59 26.759 1900 1,888.848 63 29.882 1910 2,071.907 63 32.887 1914 1,835.094 63 29.128 1919 1,928.432 65 30.610 192038 3,879.000 878 4418 35 Erbe 1987, 730 36 Thienel 1977, 60 37 Külz 1984, 59

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Wie Tabelle 2.1 zeigt, lebten 1871 noch 825.000 Menschen in Berlin, nur vier Jahre später lag die Einwohnerzahl schon über eine Million. Dieser Bevölkerungszuwachs war, wie Eckart Elsner und Reinhard Mummelthey in ihrem Artikel Vom Ende der Gründerzeit bis zur Neuorganisation der Hauptstadt betonen, nicht Geburtenüberschüssen zu verdanken, sondern vor allem die Folge des Zuzugs von Arbeitssuchenden,39 von denen die meisten Einwanderer aus Pommern, Schlesien und aus der brandenburgischen Umgebung Berlins stammten.40 Schon 1870 war Berlin dadurch eine Immigrantenstadt geworden, in der nur 40 Prozent der Einwohner auch tatsachlich in der Stadt geboren worden waren. Der übergroße Teil war von außerhalb zugezogen, wie Pamela E. Swett in ihrem Artikel Political Networks, Rail Networks: Public Transportation and

Neighbourhood Radicalism in Weimar Berlin zeigt.41

2.3 Mietskasernen und Villenvororten

In den Jahren nach der Reichsgründung erreichte die um 1850 einsetzende Berliner Verstädterung ihr volles Ausmaß.42 Unter dem Einfluss der räumlichen Entwicklungen, die Citybildung in Alt-Berlin, die Randwanderung der Industrie und das starke Bevölkerungswachstum veränderten sich endgültig die Raumbeziehungen. Wie Wolfgang Hofmann in seinem Beitrag Der Verkehr beim Wettbewerb Groß-Berlin 1908-1910 erläutert, hatten sie eine funktionale Trennung des Berliner Stadtgebietes zur Folge, in der die bis dahin enge Beziehung zwischen Wohnort und Arbeitsplatz entflochten wurde.43 Außerdem entwickelte sich nach 1871 eine massive Wohnungsnot in der Stadt. Wie aus Tabelle 2.1 deutlich wird, verdoppelte sich die Berliner Bevölkerung innerhalb von zwanzig Jahren. Dies hatte einen gewaltigen Einfluss auf dem Berliner Wohnungsmarkt, wo sich bereits vor der Reichsgründung Wohnungsknappheit als ein Problem darstellte.44 Weil neben der konstanten Zuwanderung zugleich die innerstädtischen Wohnviertel als Folge der Citybildung entvölkerten, wurde

39 Elsner und Mummelthey 2006, 134 40 Tilly 1990, 135

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die Arbeiterbevölkerung immer mehr nach außen gedrängt. Es verursachte einen großen Mangel an bezahlbarem Wohnraum in Berlin und eine extreme bauliche Verdichtung in den Arbeiterviertel innerhalb der Akzisemauer, wo sich die Arbeiterbevölkerung in den Vierteln, die an der Innenstadt grenzten, zusammenballte.

Die Wohnungsnot in Berlin war übrigens nicht nur Folge der Entvölkerung oder der Zuwanderung, sondern auch der Bodenspekulation, die zudem zu überhöhten Mietpreisen führte. Die Arbeiterbevölkerung war wegen des Wohnungsmangels und der hohen Mieten gezwungen in so genannten Mietskasernen zu wohnen. Diese Mietskasernen waren gigantische Wohnkomplexe, die meist aus ein Vorderhaus und verschiedene Hinterhäuser aufgebaut waren und durch kleine Innenhöfe miteinander verbunden. Ausreichendes Tageslicht oder frische Luft spielten hier eine untergeordnete Rolle. Es ging den Eigentümern, meist Boden- und Terraingesellschaften, fast ausnahmslos spekulative Baugesellschaften, darum soviel wie möglich Profit zu erwirtschaften. Darüber hinaus spielte auch die private Baufreiheit eine wichtige Rolle, weil der Wohnungsbau in Preußen vornehmlich eine privatwirtschaftliche Angelegenheit war, in der der Staat den Grundstückseigentümern kaum bauliche Einschränkungen auferlegte.45

Den Bauherren wurde außerdem geholfen von einer unzulänglichen Baugesetzgebung, worauf im vierten Kapitel noch ausführlicher zurückzukommen ist. Die Berliner Bauordnung aus dem Jahre 1853 bestand vornehmlich aus feuerpolizeilichen Schutzbestimmungen und Mindestmaße für Wohngebäude.46 Ein Wohngebäude durfte zum Beispiel eine Höhe von 22 Metern haben, wenn die Straße davor eine Breite von 15 Metern aufwies. Die Innenhöfe sollten eine Mindestfläche von 5,30 Meter: 5,30 Meter haben, weil diese Ausmaße noch das Wenden einer Feuerspritze ermöglichten.47 Die öffentliche Verwaltung mischte sich nicht ein in die gesundheitlichen oder hygienischen Innenverhältnisse in den Häusern, weder die Stadt noch der Staat.

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Dies im Gegensatz zu zum Beispiel Sachsen oder Bayern, wo die Städteordnungen hygienische Zielbestimmungen enthielten. 48 Auf einem Grundstück befanden sich in Berlin dadurch im Durchschnitt 77 Personen, zusammengepackt in Kleinwohnungen von ungefähr 20 bis maximal 45 Quadratmeter groß.49 Während der ganzen Kaiserzeit waren derartige Wohnver-hältnisse in Berlin für die meisten Einwohner Realität. Noch 1910 machten Wohnungen in Mietskasernen 48 Prozent des gesamten Berliner Wohnungsbestandes aus.50 Um diese Wohnungsnot zu bekämpfen, bemühte sich der Berliner Magistrat um die verkehrliche Erschließung des Berliner Umlandes. Sie eiferte für die Abwanderung von Bevölkerungsgruppen mit geringem Einkommen in die Vororte. Damit verfolgte der Magistrat ein doppeltes Ziel. Erstens erhoffte er sich, dass durch die Abwanderung eine Entspannung des Wohnungsmarktes in der Stadt entstehen würde.51 Zweitens sollten in den Vororten, wo noch niedrige Grundpreise vorherrschten, menschwürdiger Wohnungen gebaut werden, für diejenigen, die auf dem Berliner Wohnungsmarkt nur schwierig eine Wohnung finden konnten

Die enorme Bevölkerungszuwachs und die Errichtung von Mietskasernen bildeten nur eine Seite der Berliner Siedlungsentwicklung während des Kaiserreichs. Der Berliner Raum entwickelte sich zu dieser Zeit nämlich diametral. Als die Arbeiterbevölkerung sich in den Mietskasernengürtel zusammenballte, ereignete sich seit den sechziger aber vor allem ab den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts eine Stadtflucht des Berliner Großbürgertums. Sie wanderten in die ländlichen westlichen und südwestlichen Vororte Berlins ab, wie Wilmersdorf, Charlottenburg, Schöneberg oder Zehlendorf und ließen dort gigantische Villen errichten. Heinz Reif kennzeichnete Berlin in seinem Beitrag Dynamics of Sub-urbanisation. The Growing Periphery

of the Metropolis. Berlin 1890 – 2000 deswegen als „bipolar city“.52

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Die Bevölkerungsentwicklung der Vororte war noch spektakulärer als die des Hauptortes. Das Umland Berlins wurde noch lange Zeit, auch nach der Reichsgründung, landschaftlich geprägt. Berlin wurde von Dörfern und Kleinstädten umgeben. Dieser Umstand sollte sich in der Folgezeit entscheidend auf die Berliner Siedlungsentwicklung auswirken. Während 1890 lediglich ein Sechstel der Einwohner des Berliner Ballungsraums in den Vorstädten wohnte, war dies dreißig Jahre später, 1919, fast schon die Hälfte.53 Als Berlin zum Beispiel 1871 Reichshauptstadt wurde, hatten nur Spandau und Charlottenburg um die 20.000 Einwohner. Die anderen Vororte waren kaum mehr als kleine Dörfer.

Die kleinen Landgemeinden wuchsen jedoch durch die Abwanderung des Großbürgertums und später, als die Berliner Bauordnung 1887 für seine Vororte gültig wurde und damit dort ebenfalls Mietskasernenbebbauung erlaubte, zu Großstädten aus.54 Wie Friedrich Leyden erläuterte, ermöglichte dies die Errichtung von großzügigen städtischen Vierteln in ländlichen Gebieten, die erschlossen und parzelliert wurden als gehörten sie zu den Mietskasernenvierteln.55 Durch diese Entwicklungen konnten zum Beispiel

Schö-neberg und Lichtenberg, die 1871 noch brandenburgische Dorfgemeinden waren wo nicht einmal fünftausend Menschen wohnten, 1919 auf 175.000 beziehungsweise 144.000 Einwohner auswachsen.56 Besonders die westlichen Berliner Vororte, vor allem Charlottenburg, zeigten ein großes Wachstum auf.57 Die Stadt war eines der wohlhabendsten Vororte Berlins, nach Wiesbaden sogar die reichste Stadt Preußens.58 Ein Jahr vor der Bildung der Großgemeinde 1920 war es bereits zur 11. größten Stadt Deutschlands herangewachsen und zählte 322.000 Einwohner.59 Bei der Erschließung der Vorstädte waren es nicht die Kommunen, die sich mit dem Bau von Villen oder Mietskasernen befassten, sondern wurden reichlich belohnt für den Verkauf ihrer Flächen. Es waren die

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meist spekulative Boden- und Terraingesellschaften, die die siedlungsfördernden Möglichkeiten der sich entwickelnden Schienenverkehrsmittel erkannten. Dadurch würden die Vororte zeitlich viel näher an Berlin heranrücken und auf diese Weise ein sehr attraktiver Wohnort für die gehobenen Schichten wurden, worauf im zweiten Kapitel zurückzukommen ist.

Obwohl wegen der räumlichen Ausdehnung Berlins, seinem Zusammenwachsen mit den Nachbargemeinden und dem raschen Bevölkerungswachstums die Notwendigkeit von übergeordneter Planung erkannt worden war, weigerte sich der Staat einzugreifen. Dadurch verfolgte der räumliche Wachstumsprozess Berlins, trotz Bitten des Berliner Magistrats, in diesen Jahren keinen übergeordneten Plan. Statt langfristiger Planung war er eher von einem Rentabilitätsdenken geprägt.60 Es gab zwar neben Mietska-sernen und Villenvororten auf den Wohnungsmarkt im Berliner Ballungsraum auch andere Initiativen, wie zum Beispiel Villenkolonien. Sie. wurden ab Ende der sechziger Jahre außerhalb des städtischen Gebietes gebaut. Villenkolonien, wie Lichterfelde, die vom Hamburger Industriellen Carstenn gegründet wurde, konnten sich dem Bodenwucher entziehen und so durch relativ niedrige Grundpreise mittlere Bevölkerungsschichten dort wohnen ließen. Auch gab es seit den 1840er Jahren gemeinnütziger Wohnungsbau, der in erster Linie Wohnungen für die Arbeiterklasse baute, sein Anteil war allerdings gering, nur fünf Prozent des gesamten Wohnungsbaus.61 Das gleiche traf auf den Einfluss von Reformbewegungen zu, wie die Deutsche Gartenstadtbewegung, auch deren Anteil war in Berlin gering.62

Nach dem Ende des Kaiserreichs wurde die Berlin erst mit seinen umliegenden Vororten, die bereits seit einigen Jahrzehnten sowohl räumlich als auch wirtschaftlich mit Berlin verwachsen waren, in einer Gemeinde vereinigt. Die Großgemeinde umfasste neben Berlin sieben Städte Charlottenburg, Wilmersdorf Schoneber, Neukölln, Lichtenberg, Köpenick und Spandau, 59 Landgemeinden und 27 Gutsbezirke. Das Weichbild des alten Berlins wurde um

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mehr als 800 Quadratkilometern erweitert und umfasste von da ab eine Fläche von 878 Quadratkilometern. Die Einwohnerzahl der Stadt stieg außerdem auf fast vier Millionen (3.858.000). Berlin war damit nach New York und London die drittgrößte der Welt. Flächenmäßig war Berlin nach Los Angeles sogar die zweitgrößte Stadt der Welt.63 Im letzten Kapitel dieser Diplomarbeit soll auf diese Parallele zwischen Berlin und Los Angeles noch zurückzukommen sein.

Abbildung 2.3 Die Großgemeinde Berlin

1 Friedrichshain 11 Zehlendorf 2 Mitte 12 Spandau 3 Kreuzberg 13Reinickendorf 4 Tiergarten 14 Pankow 5 Prenzlauer Berg 15 Weißensee 6 Wedding 16 Lichtenberg 7 Schöneberg 17 Köpenick 8 Wilmersdorf 18 Treptow 9 Charlottenburg 19 Neukölln 10 Steglitz 20 Tempelhof

2.4 Der Hobrechtplan

Trotz der Privatwirtschaftlichkeit des Wohnungsbaus wurde die räumliche Entwicklung Berlins vor allem von Seiten des preußischen Staates bestimmt, übrigens sehr zum Missfallen Berlins, worauf in Kapitel vier noch zurückzukommen sein wird. Obwohl eine Bevölkerungsentwicklung, sowie sie sich ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ereignete, Ende der 1850er noch nicht vorhersehbar war, war es den preußischen Verantwortlichen klar, dass sie die räumliche Entwicklung ihrer Hauptstadt für die kommenden Jahrzehnte angemessen lenken sollten. Nach Analogie des Bebauungsplans des Pariser Seinepräfekten Georges-Eugène Haussmann beauftragte der preußische Staat Ende der fünfziger Jahre deswegen die Erstellung eines städtebaulichen Plans, der außerdem aus gesundheitlichen Gründen erforderlich geworden war.

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So sollte sich der Plan mit dem Bau einer Kanalisation befassen und die Berliner Trinkwasserversorgung verbessern, wie Miron Mislin in seinem Artikel Die

Entwicklung des Mietwohnhauses in der Industriestadt Berlin im Vergleich zu Paris, Wien und London erläutert.64 So entstand unter der Leitung des damals erst kürzlich einberufenen Berliner Stadtbaurats James Hobrecht, der

Bebauungsplan von den Umgebungen Berlins.65 Der 1862 veröffentlichte Plan war keine Gesamtdarstellung, sondern bestand aus vierzehn einzelnen Teilen, die alle die zukünftige Entwicklung der verschiedenen Stadtteile und benachbarten Gebieten beschrieben.

Im Vergleich zu seinem Pariser Vorbild wich der Berliner Bebauungsplan in fast allen wesentlichen Punkten ab. Während Haussmann sich in Paris vor allem auf die Sanierung der mittelalterlicher Innenstadt konzentrierte, was im fünften Kapitel noch näher erläutert werden soll, befasste sich der Berliner Bebauungsplan überhaupt nicht mit dem alten Stadtkern. Der Hobrechtplan wollte einen Ausgangspunkt bilden für zukünftige räumliche Entwicklungen in und um Berlin.66 Auch in der Ausführung sollte sich der Berliner Bebauungsplan als einen großen Gegensatz zu seinem Pariser Vorbild erweisen. Große Straßendurchbrüchen wie in Pariser, war der Hobrechtschen Planungskommission, wegen möglichen hohen Enteignungskosten oder Schadenersatzanträgen, strengstens untersagt. Der Staat wollte auf keinen Fall, dass der Berliner Bebauungsplan, zu einem finanziellen Fiasko führen würde.

Obwohl der Hobrechtplan nur die zukünftigen Entwicklungen schildern sollte, galt der Plan lange Zeit Als Hauptverantwortliche für die Entstehung der Mietskasernen. Diese Kritik auf den Plan ertönte schon im 19. Jahrhundert, geht aber vor allem auf das Urteil Werner Hegemanns zurück. Seine Bemängelungen, die er in seinem Werk Das steinerne Berlin 1930 formulierte, überwogen lange in den verschiedenen Beurteilungen. Er hielt Hobrecht und der von ihm erstellte Plan größtenteils für die Wohnverhältnisse in den Hinterhöfen und Mietskasernen verantwortlich. Schon der Untertitel seines Werks Geschichte der größten

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Mietskasernenstadt der Welt zeigt, was Hegemann von der Auswirkung des

Hobrechtschen Plans hielt. Er bezeichnete den Bebauungsplan als „unerhört schlechten Berliner Bebauungsplan.“67 Hegemann betrachtete ihn sogar als ein Verbrechen, „das an der Berliner Bevölkerung verübt wurde“. 68 Dem Hobrechtplan wurden zwei Kritikpunkte vorgeworfen. Zum einen sei er für die dichte Innenhofbebauung der Mietskasernen verantwortlich und zum anderen sollte er die polyzentrische räumliche Ausdehnung Berlins ermöglicht haben. Bis in die 1960er Jahre wurde Hegemanns Urteil befolgt und den Hobrechtplan für die Wohnungsnot in Berlin verantwortlich gehalten.

Neuere Erkenntnisse beurteilen den Hobrechtplan viel nuancierter. Jutta Lubowitzki weist erstens darauf hin, dass der Bebauungsplan zwar im Nachhinein den Namen Hobrechtplan erhielt, dies eigentlich zu Unrecht ist. Der Plan ist nicht von Hobrecht aufgestellt worden, sondern entstanden nach den Entscheidungen und Zustimmungen des preußischen Handelsministers sowie des Königs.69 Wie Thomas Hall betont, kann Hobrecht deswegen auch nicht so

viel vorgeworfen werden. Seine Aufgabe war es schlicht, die bestehenden Pläne in einem Plan zu vereinigen. Eine detaillierte Ausarbeitung der Pläne war weder gefragt noch erwünscht.70 Hall ist der Meinung, dass wenn Hobrecht kritisiert

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Seiner Ansicht nach übersieht eine derartige Beurteilung des Plans, dass massive Wohnungsnot nicht nur Berlin existierte, sondern auch in London, Paris oder Wien.73 Außerdem sei die Berliner Mietskaserne vielleicht Symbol für das Wohnelend während des Kaiserreichs in Deutschland geworden, man sollte aber nicht daran vorbeigehen, dass sie ebenfalls in Köln, Dresden und Leipzig standen. Bernet zufolge Man ist Plan auch nicht als Bebauungsplan zu betrachten, sondern eher als Straßenplan, der sowohl die bereits existierenden Straßen, Plätze und Bebauung kartieren sollte als auch einen Verkehrsplan darstellte.74

Ingrid Thienel schließt, dass nicht der Bebauungsplan, sondern vielmehr das Zusammenwirken der Privatwirtschaftlichkeit des Wohnungsbaus, des Fehlens einer regionalen Abstimmung im Wohnungsmarkt und verschiedener preußischen Gesetze im Bereich der Raumplanung, vor allem die Berliner Bauordnung, zu einer unkontrollierten räumlichen Entwicklung führten.75 In der Tat sind die breiten Straßenzüge, die im Plan konzipiert wurden, und die hohe, mehrstöckige Wohnungen und tiefe Innenhofe um der Innenstadt herum ermöglichten, gemäß den gesetzlichen Bedingungen der Berliner Bauordnung gebaut worden. Jutta Lubowitzki ist deswegen der Meinung, dass Hobrecht auch deswegen wenig vorgeworfen werden kann. Sein Bebauungsplan erhielt zwar keinerlei Vorgaben zu der Bauweise, die sollte er aber auch nicht erhalten. Die Art der Bebauung war dem Eigentümer überlassen, ob er nun eine Villa im Grünen bauen wollte oder eine Mietskaserne, wo hunderten von Bewohnern auf engstem Raum leben sollten.76

Schließlich bringt Peter Georg Ahrens in seinem Beitrag Neuzeitliche

Entwicklung Preußens und Steuerung städtebaulicher Funktionen Berlins ein

Argument vor, mit dem er den Hobrechtplan verteidigt. Ahrens betont, dass der Plan in einer Zeit verfasst wurde, als es noch keine leistungsfähigen innerstädtischen Verkehrsmittel gab. Einen Pendlerverkehr nach modernen

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Maßstäben existierte Anfang der sechziger Jahre noch nicht. Deswegen berücksichtigte der Plan kaum Massenverkehrsmittel und zukünftige Schienenverkehrsinnovationen. Als der Plan konzipiert wurde, war darüber hinaus die Ringbahn noch nicht gebaut worden. Auch der Ausbau der Berliner Pferdeeisenbahn, als leistungsfähiges innerstädtisches Verkehrsmittel, fing erst 1873 richtig an. Der Plan betrachtete Berlin denn auch als eine kompakte Stadt, in der die Einwohner ihre innerstädtischen Ziele zu fuß oder mit dem Pferdefuhrwerk zurücklegten. Wie Anthony Sutcliffe in seinem Artikel Die

Bedeutung der Innovation in der Modernisierung städtischer Verkehrssysteme in Europa zwischen 1860 und 1914 betont, war es gerade dieses Fehlen

leistungsfähiger innerstädtischen Straßenverkehrsmittel vor 1890, die eine Verdichtung der Städte zur Folge hatte.77 Dies war also auch in Berlin der Fall. Aus diesem Grund war es also nicht unlogisch, dass der Hobrechtplan den Einfluss des Verkehrs auf die Berliner Siedlungsentwicklung nicht besonders berücksichtigte. Dieser Grund hat laut Ahrens wesentlich dazu beigetragen, dass nach dem Bebauungsplan die Gebäude in die Höhe gebaut werden sollten, statt in der Breite, damit die Abstände innerhalb der Stadt gering blieben.78 Zudem

weist Jutta Lubowitzki darauf hin, dass obwohl während der Erstellung des Berliner Bebauungsplan Eisenbahnlinien seit über zwanzig Jahre in Berlin gebaut wurden, der Eisenbahnbau der Ende fünfziger Jahre gerade eine Periode der Stagnation verzeichnete. Ein Höhenflug des Eisenbahnverkehrs war laut Lubowitzki auch deshalb nicht unbedingt vorhersehbar.79

2.5 Zusammenfassung

Berlin wuchs im 19. Jahrhundert von einer mittelgroßen Residenz zu einer der größten europäischen Städte und Industriemetropolen heraus. Dies verdankte Berlin unter anderem seiner verkehrgünstigen Lage, die schon ab dem 13. Jahrhundert das Berliner Wachstum begünstigte. Auch der Aufstieg der Eisenbahnen und die daraus folgende Industrialisierung Berlins waren

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maßgeblich an dieser Entwicklung beteiligt. Die Reichsgründung 1871 und der Eröffnung der Ringbahn im selben Jahr waren die entscheidenden Auslöser des gigantischen räumlichen und Bevölkerungswachstums. Sie setzten verschiedene räumliche Prozesse in Berlin in Gang, die sich größtenteils zwischen 1871 und 1920 vollzogen. So bewirkten sie eine funktionale Differenzierung des Berliner Stadtgebietes. Es bildeten sich Stadtteile mit unterschiedlichen Funktionen heraus, wie Wohnvierteln, Gewerbegebieten und einem zentralen Geschäftsviertel. Ab den siebziger Jahren erreichte die Verstädterung ihr volles Ausmaß. Unter dem Einfluss der räumlichen Entwicklungen in Berlin, die Citybildung in Alt-Berlin, die Zuwanderung hunderttausender Migranten, die Abwanderung der Wohnbevölkerung in die Außenbezirke und die Randwanderung der Industrie veränderten sich die Raumbeziehungen in Berlin endgültig.

Als Folge der massiven Zuwanderung und der Entflechtung der bis dahin engen Beziehung zwischen Wohnort und Arbeitsstelle, entstand eine große Wohnungsnot in Berlin. Hunderttausende Berliner wurden in Mietskasernen zusammengepackt. Die Mietskasernen wurden einerseits durch Spekulation ermöglicht, die die Mietpreise in die Höhe trieb, was wiederum zu einem großen Mangel an billigen Wohnungen führte. Andererseits waren die unzulängliche preußischen Baugesetzgebung und die preußischen Baufreiheit schuld an deren Entstehung. Der Wohnungsmarkt im Berliner Ballungsraum entwickelte sich nach der Reichsgründung aber diametral. Zugleich mit den Mietskasernen entstanden nämlich im ländlichen Berliner Umland dutzende Villenvororten als Folge der Stadtflucht des Berliner Großbürgertums.

Die Entwicklungen auf dem Berliner Wohnungsmarkt, vor allem die Wohnungsnot und die Entstehung der Mietskasernen wurde lange dem Hobrechtplan zugeschrieben. Insbesondere Werner Hegemanns Werk Das

steinerne Berlin hatte viele Interpretationen zur Berliner Siedlungsentwicklung

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Privatwirtschaftlichkeit des Wohnungsmarkts für die Wohnungsnot verantwortlich. Eine dritte Hauptursache stellte, obwohl vielleicht paradox, der Ausbau des Schienennetzes dar. Die Entwicklung der Schienenverkehrsmittel beschleunigte einerseits die funktionale Differenzierung des Stadtgebietes und damit die Abwanderung der innerstädtischen Bevölkerung, sie ermöglichte andererseits die Errichtung von Villenvororten außerhalb Berlins. Gerade die siedlungsfördernden Möglichkeiten der Eisenbahnen waren auf diese Weise an der polyzentrischen räumlichen Ausdehnung Berlins beteiligt, worauf im nächsten Kapitel weiter eingegangen wird.

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3 Die Bahnen erschließen Berlin

Der Einfluss des Verkehrs auf die Berliner Urbanisierung

Wie im vorigen Kapitel erläutert, war die Berliner Entstehungsgeschichte eng mit dem Verkehr verknüpft. Dies traf sicherlich auch in hohem Maße auf die Siedlungsentwicklung im 19. Jahrhundert und insbesondere auf die Kaiserzeit zu. Der Zeitzeuge Friedrich Leyden beurteilte 1933 das Gewicht, dass den Verkehrsmitteln in der räumlichen Entwicklung Berlins zukam folgendermaßen: „Ohne die Entwicklung der [Verkehrs]Technik ist das moderne Groß-Berlin nicht denkbar.“80 Leyden wies daraufhin, dass der Ballungsraum Berlin mit vier Millionen Menschen ohne die modernen Nahverkehrsmittel wahrscheinlich nie hätte funktionieren können. Es ist sogar fraglich, ob Berlin ohne die Entwicklungen der Schienenverkehrsmittel zu einem so ausgedehnten Ballungsgebiet hätte heranwachsen können. Wie Ralf Roth in seinem Artikel

Interactions between railways and cities in nineteenth-century Germany betont,

bildete die Erschließung Berlins per Schiene die Voraussetzung für die wirtschaftliche Entwicklung Berlins. Die preußische Hauptstadt hatte ihre Gründung zwar einer verkehrsgünstigen Lage zu verdanken, Mitte des 19. Jahrhunderts war sie dennoch weit entfernt von Wirtschaftszentren, wie Köln, Düsseldorf oder Frankfurt. Deswegen schließt Roth: „railways were a necessary prerequisite for its further development.“81

Ausschlaggebend für die Berliner Siedlungsentwicklung war erstens der Bau des preußischen Eisenbahnnetzes ab den 1830er Jahren. Sie löste einerseits ein explosionsartiges Wachstum der Berliner Industrie aus, die ihrerseits einen gigantischen Bevölkerungszuzug bewirkte. Andererseits wuchs Berlin während der Kaiserzeit nicht nur zum wichtigsten preußischen Eisenbahnknotenpunkt heran, sondern zum überragenden Eisenbahnzentrum in Mitteleuropa. Von Berlin aus strahlten die verschiedenen Fernbahnen in allen

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Himmelsrichtungen. Eine zweite entscheidende Entwicklung für die Berliner Urbanisierung stellte die Verkehrsrevolution im Berliner Nahverkehr dar, insbesondere nach dem Bau der preußischen Ring- und Stadtbahn. Sie veränderten, wie Heinrich Johannes Schwippe erläutert, ab Mitte der siebziger Jahre die Standortbedingungen und Lagebeziehungen in Berlin und seinem Umland fast völlig und lösten die Beziehung zwischen Wohnort und Arbeitsplatz auf.82 Als 1871 Berlin zur Reichshauptstadt ernannt wurde, lag die gesamte Zahl der beförderten Personen in allen öffentlichen Personenverkehrsmittel noch unterhalb 20 Millionen.83 Im Jahre 1919 wurden aber, wie Wolf-Dieter Zach und Klaus Evers in ihrem Artikel Die Berliner Schnellbahnnetze – ihre Entwicklung

und ihre Funktionen erläutern, mehr als 1,5 Milliarden Personen jährlich

befördert.84 Obwohl Zach und Evers zufolge der Begriff “Beförderungsfälle“ in diesem Falle der korrekter wäre, weil auf einer Reise mehrere Verkehrsmittel benutzt werden können, zeigt die Zahl dennoch, welchen enormen Aufschwung der Berliner Nah- und Regionalverkehr während der Kaiserzeit genommen hatte.

Der gigantische Anstieg des Fahrgastaufkommens war sicher eine Folge der gestiegenen Einwohnerzahlen und der Ausdehnung der Stadtfläche. Er war aber ebenso das Ergebnis, der von den Eisenbahnen und den, sei es in geringerem Maße, innerstädtischen Nahverkehrsmitteln ausgelöste funktionale Differenzierung Berlins. Wie Wolfgang Hofmann erläutert, verstärkten sich der Ausbau von Verkehrsmitteln und die Expansion des Siedlungsraumes gegenseitig.85 Wie im vorigen Kapitel geschildert, riefen sie die Herausbildung von Industriezonen und eine Abwanderung der Industrie an den Berliner Stadtrand hervor und ermöglichten sie die Suburbanisierung des Wohnens. Diese Entwicklungen, zusammen mit dem Entstehen einer City, führten zu einer Zunahme der wirtschaftlichen Verflechtungen, die umso mehr Verkehr erzeugten.86 Ralf Roth unterstreicht daher, dass die Schienenverkehrsträger eine ambivalente Rolle in Berlin gespielt haben. Einerseits brachten sie Berlin

82 Schwippe 1996, 178

83 Zahlen nach Schwippe 1996, 171 84Zahlen nach Zach und Evers 2003, 270. 85 Hofmann 1996, 214

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industriellen Fortschritt und Reichtum, setzten aber andererseits komplizierte räumliche Probleme in Gang, und führten zu massiver Zuwanderung und katastrophalen Wohnungsverhältnissen.87 Zugleich betrachtete man ausgerech-net die Schienennahverkehrsmittel als die einzige wirkliche Lösung für die Berliner Wohnungsprobleme. Laut Heinrich Johannes Schwippe sah der Berliner Magistrat im Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs sogar den „zentralen Schlüssel zur Lösung des Versorgungsproblems auf dem Wohnungsmarkt.“88

3.1 Eisenbahnen in Preußen und Berlin

Die Eisenbahnen standen also an der Wiege der Berliner Industrialisierung und der räumlichen Erweiterung Berlins. Sie verbanden Berlin, weit außerhalb der Kohlefördergebiete, mit den Kohlerevieren in Schlesien und an der Ruhr, wie Rainer Fremdling in seinem Werk Statistik der Eisenbahnen in Deutschland,

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Knotenpunkt des preußischen Eisenbahnnetzes war und alle Ost-West-Verbindungen über die Stadt verliefen.92

In einigen deutschen Staaten, wie Braunschweig, Baden oder Württemberg, wurden von Anfang an Staatsbahnen betrieben, Preußen dahingegen hielt sich zunächst vom Betreiben der Bahnen fern. Während dieser privatwirtschaftlichen Phase, die in Preußen bis zur Verstaatlichung Ende der siebziger Jahre dauerte, wurden Eisenbahnlinien weniger nach einem übergeordneten Plan angelegt, sondern eher augrund der Interessen privatwirtschaftlicher Bahngesellschaften und Rentabilitätsgründen, wie Dieter Ziegler in seinem Werk Eisenbahnen und Staat im Zeitalter der Industrialisierung verdeutlicht.93 Dennoch beschäftigte sich der Staat schon zu diesem Zeitpunkt aktiv mit den Eisenbahnen. Preußen beteiligte sich an Eisenbahngesellschaften in Form von direkten Kapitalbeteiligungen in Aktien. Zudem war er oft Hauptaktionär beim Bau neuer Linien. Einer der wichtigsten Erfolgsgründe des Eisenbahnbaus in Preußen war ein 1842 errichteter Baufonds, in dem der Staat Eisenbahnprojekten Zinsgarantien zusicherte.94 Außerdem stellte der Staat, Volker Then in seinem Werk Eisenbahnen und Eisenbahnunternehmer in der

Industriellen Revolution zufolge, den Eisenbahngesellschaften kurzfristige Kredite bereit und finanzierte bei Liquiditätsproblemen die Planung einer Linie vor.95 Die Folge dieser Maßnamen war allerdings eine hohe Staatsverschuldung Preußens.96

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deshalb bereits ab den vierziger Jahren die Eisenbahnen zu verstaatlichen. Dies scheiterte jedoch aufgrund Haushaltsdefizite und der Opposition wirtschaftsliberaler Kräfte, wie Lothar Gall und Manfred Pohl in ihrem Werk Die

Eisenbahnen in Deutschland schildern.98 Der preußische Verstaatlichungs-wunsch bezog sich vor allem auf die Transportmöglichkeiten der Eisenbahnen. Sie waren militärischen sehr wertvoll, weil sie in der Lage waren viele Truppen auf einmal zu befördern und schnelle Verbindungen zwischen den Fronten herzustellen. Darüber hinaus wollte der Staat im Falle eines Kriegs die vollständige Kontrolle über die Schieneninfrastruktur sicherstellen.99

Als die Eisenbahnen verstaatlicht worden waren, zeigte sich erst richtig welche Bedeutung die Eisenbahnen für den preußischen Haushalt hatten. Die Eisenbahnen waren der größte Arbeitergeber Deutschlands und waren die treibende Kraft der deutschen Wirtschaft.100 Obgleich die Eisenbahnen nach 1880 nicht mehr so stark am Wirtschaftswachstum beitragen konnten, waren sie außerdem die wichtigste Einnahmequelle für den preußischen Haushalt. Sie trugen sogar einen sehr größeren Teil bei, als die regulären Steuereinnahmen. Vor allem als sich Preußen mehr und mehr sozialwirtschaftlich engagierte, wurden die Einnahmen der Eisenbahnen eine unentbehrliche Erwerbsquelle.101

Im Jahre 1880 belief sich der gesamte preußische Etat auf 799,2 Millionen Mark. Der Anteil der Eisenbahneinnahmen lag mit 299,73 Millionen Mark über 35 Prozent des gesamten Haushalts.102 Zwanzig Jahre später, im Jahre 1900, war die Abhängigkeit der Eisenbahneinnahmen noch viel größer. Bei einem Etat von 2,472 Millionen Mark wurde über 50 Prozent der staatlichen Erträge, 1,363 Millionen Mark, von den Eisenbahnen erwirtschaftet.103

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Angeregt von den staatlichen Zinsgarantien und hohen Gewinnerwartungen der Eisenbahnen entstanden in kurzer Zeit verschiedene Eisenbahnlinien und -Gesellschaften in Berlin. Im Jahre 1841 folgte die Anhalter Bahn und ein Jahr nach seinem Bau die Stettiner und die Frankfurter Bahn. Im Jahre 1846 wurde die Hamburger Bahn fertig gestellt.104 Damit war Berlin in allen Himmels-richtungen mit wichtigen Zielen verbunden. Die verschiedenen Eisenbahnstrecken in und um Berlin waren allerdings anfangs nicht miteinander verbunden, was rasch zu Verkehrsstockungen führte. Im Jahre 1851 wurde aber eine Verbindungsbahn gebaut, die die Bahnhöfe aufeinander anschloss. Die Bahn verlief entlang der alten Zollmauer, die erst 1868 geschleift werden sollte, und war als dreiviertel Ring um Berlin konzipiert. Sie verlief vom Stettiner Bahnhof bis zum Frankfurter Bahnhof. Wie Wolf-Dieter Zach und Klaus Evers erläutern, wurde die Bahn errichtet, als bei einer allgemeinen Mobilmachung 1850 erhebliche logistische Probleme ans Licht kamen.105 Auch hier spielte also militärische Gründe eine wesentliche Rolle. Die Bahn, die nicht dem Personen-, sondern dem Güterverkehr diente, war aber keineswegs ein Erfolg. Sie war als eingleisige, ebenerdige Bahn gebaut worden und verband zwar die verschiedenen Bahnhöfe, sie verursachte jedoch zugleich große Behinderungen im Straßenverkehr und wurde deshalb hinsichtlich des Baus einer neuen Ringbahn Ende der sechziger Jahre stillgelegt.

Nach der ersten Periode der Hochkonjunktur im Berliner Eisenbahnbau, die mit der Fertigstellung der Hamburger Bahn endete, dauerte es zwanzig Jahre, bevor eine neue Fernbahn eröffnet wurde. Erst im Laufe der sechziger Jahre breitete sich das Berliner Eisenbahnnetz wieder aus.106 Im Jahre 1866 nahm die Berlin-Görlitzer Bahn ihren Betrieb auf. Diese Bahn wurde ein Jahr später von der Ostbahn in Richtung Königsberg gefolgt. Noch drei weitere Fernbahnen sollten gebaut werden. Im Jahre 1871 wurde die Lehrter Bahn in Richtung Hannover dem Verkehr freigegeben, 1875 die Dresdner Bahn und 1877 die Nordbahn, die Berlin mit Stralsund verband. Abgesehen vom Bau der

104 Schmidt 1984, 12

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Kremmener Bahn, die von Bedeutung war für den Aufstieg des AEG-Konzerns und Erweiterungen bestehender Linien in den neunziger Jahren, war das Fernbahnnetz im Berliner Raum Ende der siebziger weitgehend ausgebaut worden. 107

Durch den kontinuierlichen Ausbau des Fernbahnnetzes in und um Berlin entstanden in den sechziger Jahren immer mehr logistische Probleme. Der zunehmende Güter- und Personenverkehr, die starke Industrialisierung und der wachsende Bevölkerungsdruck zeigten immer deutlicher, dass das Berliner Bahnnetz die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit erreichte. Überlastung drohte, weil sowohl der Güterverkehr als auch der Personenverkehr über die Vorortbahnen in die verschiedenen Kopfbahnhöfe geleitet wurden und die ebenerdige und eingleise Verbindungsbahn ihren Aufgabe nicht gewachsen war.

Außerdem stellten die Kopfbahnhöfe und Gleisanlagen am Rande der alten Stadt, ein immer größeres Hindernis für den Stadtverkehr und die innerstädtische Entwicklung dar. Hans Reuther urteilt sogar, dass die „Ursachen der fortschreitenden Zerstörung des organischen Stadtbildes …in der Schaffung der neuen Verkehrswege, vor allem in der Anlage von Eisenbahnen“ sichtbar wurden.108 Reuther zufolge zogen die privatwirtschaftlichen Bahngesellschaften

den Durchgangsverkehr dem Zielverkehr vor. Sie interessierten sich kaum für den Vor- oder Nachlauf des Verkehrs, sondern wollten ihre Züge so schnell wie möglich am Zielort eintreffen lassen. Auch deswegen endeten ihre Bahnen, so Reuther, in Kopfbahnhöfen am Rande der Stadt.109 Weil darüber hinaus die Kopfbahnhöfe, wie übrigens auch in Paris, London oder Wien, nicht miteinander verbunden waren, wurde der Durchgangsverkehr sicherlich erschwert.110 Dies zeigte sich vor allem, als sich die Berliner Raumbeziehungen ab dem Ende der sechziger Jahre allmählich auflösten. So setzte zum Beispiel ab 1868 ein erster regelmäßiger Schienenberufsvorortverkehr ein, als die Berlin-Hamburger Bahngesellschaft die Arbeiter der preußischen Artilleriewerkstätten zwischen

107 Zach und Evers 2003, 266 108 Reuther 1985, 50

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dem Hamburger Bahnhof und Spandau beförderte. Wie der Guter- und Personenverkehr musste auch der Pendlerverkehr die schon stark befahrenen Linien der Fernbahnen benutzen.

3.2 Die Ringbahn und die Stadtbahn

Im Jahr der Reichsgründung, 1871, wurde der erste, östliche Abschnitt Streckenabschnitt der Ringbahn fertig gestellt.Die Bahn wurde vom preußischen Staat, wie ihre Vorläuferin die Verbindungsbahn aus militärischen Gründen errichtet und war zunächst für den Güter- und nicht für den Personenverkehr beabsichtigt. Sie entstand im Vorlauf des deutsch-französischen Kriegs, zur schnellen Erschließung des Exerzierplatzes Tempelhofer Feld.111 Laut Eduard Knödler Bunter in seinem Artikel Gesellschaftsgeschichte der Berliner S-Bahn war dies typisch für die Planung der Berliner Infrastruktur. Er ist der Meinung, dass sie „nur da [vorausschauend ist], wo militärische oder repräsentative Interessen im Spiel sind.“112 Ein Jahr nach der Inbetriebnahme der Ringbahn wurde sie aber dem Personenverkehr freigegeben. Der Grund war einfach. Berlin brauchte die Bahn nach der Reichsgründung aufgrund des stark angestiegenen Eisenbahnverkehrs. Die Ringbahn war zum einen unentbehrliches Bindeglied im preußischen Eisenbahnnetz geworden.

Abbildung 3.1 Die Ringbahn, Stadtbahn und die Vorortbahnen

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Mit der Inbetriebnahme des zweiten, westlichen Teilstücks war die Ringbahn 1877 vollendet. Die Bahn war fast 37 Kilometer lang und verband alle, wie in Abbildung 3.1 gezeigt wird, von und nach Berlin führenden Eisenbahnstrecken miteinander.113 Die räumliche Folgen des Baus der preußischen Ringbahn waren gigantisch. Durch die Ringbahn änderten sich, wie im ersten Kapitel dargestellt wurde, die Berliner Raumstrukturen völlig. Viele Unternehmen verlegten ab den achtziger Jahren ihren Sitz an die neue Bahn, weil sie dort über eine bessere Verkehrsanbindung verfügten. Obwohl bei dieser ersten Randwanderung die Beziehung zwischen Wohngebiet und Industriestandort noch einigermaßen intakt blieb, zwang sie bereits ein Teil der Berliner Arbeiterschaft zum täglichen Pendeln.114 In den 1890er leiteten die Eisenbahnen eine zweite Welle der industriellen Standortverlagerungen aus, die dieses Mal zu einer völligen Trennung von Wohnung und Arbeitsplatz führte. Weil die neuen Industriezonen sich ab diesem Zeitpunkt 12 bis 20 Kilometer vom Berliner Stadtzentrum entfernt lagen, wurden völlig neue Anforderungen an den Verkehr gestellt.

Eine zweite Folge der Ringbahn bezog sich auf die Dezentralisierung des Wohnens. Die Ringbahn sollte sich als Auslöser dieser Verlagerung erweisen. Aufgrund der immer massiver werdenden innerstädtischen Wohnungsnot sahen die Berliner Stadtverwalter bereits in den sechziger Jahren die Möglichkeiten, die die Ringbahn für den Wohnungsmarkt bot. Berlin wollte mit Hilfe des öffentlichen Nahverkehrs die Wohnungsprobleme in Berlin lösen. Der Magistrat ging davon aus, dass die hohen Berliner Mietpreise eine Folge des Mangels an Bauland innerhalb des Gebiets des Hobrechtplans war. Deshalb drängte die Stadt beim Bau der Ringbahn bei den preußischen Planungsbehörden auf den weiteren Ausbau des Regionalverkehrsangebots. Berlin befürwortete die Errichtung von Trabantstädten, die durch neue, leistungsfähige Verkehrsmittel mit dem Hauptort verbunden werden sollten.115 Auf diese Weise hätte, wie im ersten Kapitel dargestellt wurde, ein Teil der Arbeiterbevölkerung in die Vororte abwandern

Referenties

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