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Empfindliches Gleichgewicht. Die Ehe bei Fassbinder im Spannungsfeld von Geschichte und Gegenwart.

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Universiteit van Amsterdam

Faculteit der Geesteswetenschappen Masterscriptie 2015-2016

Dozentin: Dr. Nicole Colin 2. Leser: Dr. Anna Seidl

Empfindliches Gleichgewicht

Die Ehe bei Fassbinder im Spannungsfeld von Geschichte und

Gegenwart

15.06.2016 Chiara Tissen

Literary Studies German, Master tissen@xs4all.nl

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Inhalt

Einleitung S. 3

1. Die Ehefilme als chronologische Darstellung S. 6

der deutschen Geschichte

1.1 Fontane Effie Briest S. 8

1.2 Bolwieser S. 10

1.3 Die Ehe der Maria Braun S. 12

1.4 Angst essen Seele auf S. 14

1.5 Martha S. 15

2. Fassbinder und die Nachkriegsgeschichte S. 17

2.1 Nachkriegszeit S. 18

2.2 Die sechziger Jahre S. 22

2.3 Die Generation 68 und Fassbinder S. 25

2.4 Fassbinders Position im deutschen Film S. 26

2.5 Die siebziger Jahre S. 29

3. Ehefilme und Epochemix S. 34

3.1 Fontane Effi Briest und Martha S. 35

3.2 Bolwieser S. 40

3.3 Die Ehe der Maria Braun S. 45

3.4 Angst essen Seele auf S. 48

4. Machtverhältnisse in den Ehefilmen S. 52

4.1 Geld und Besitz S. 54

4.2 Die Beziehung zur Gesellschaft S. 60

4.3 Opfer und Täterrollen S. 65

Schlussfolgerung S. 76

Anhang S. 79

(3)

Einleitung

Rainer Werner Fassbinder zeigt in seinen Filmen, die er zwischen 1965 und 1982 drehte, eine intensive Beschäftigung mit der Geschichte Deutschlands. Er erzählt in seinen Filmen über ganz verschiedene Menschen aus

unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten in ganz verschiedenen Lagen. Arbeiter, Geschäftsleute, Kleinbürger, Wohlhabenende, Gastarbeiter, Menschen aus dem Show-Business, es gibt keine Bevölkerungsgruppe, die er nicht in seinen Filmen auftreten lässt. Fassbinders Geschichtsschreibung ist eine private. Es ist seine persönliche Sicht auf menschliche Schicksale, die in der offiziellen Geschichtsschreibung keinen Stellenwert haben, die aber ihrerseits durch gesellschaftspolitische Probleme determiniert sind.1 In seinen Filmen, die sich

mit verschiedenen Epochen der (west-)deutschen Geschichte auseinandersetzen, ist die Ehe ein konstantes Element der Reflexion. Aus diesem Grund wird in vorliegender Arbeit eine Auswahl von Filmen, in denen Fassbinder sich mit der Ehe beschäftigt, untersucht werden: Fontane, Effie Briest, Bolwieser, Die Ehe der Maria Braun, Martha und Angst essen Seele auf, die in dieser Arbeit als Ehefilme auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden. Warum hat

Fassbinder sich so ausführlich mit der Ehe beschäftigt? Fassbinder selbst meint, dass er vor allem weiblichen Heldinnen starke Rollen zuweist, da er mit Hilfe dieser Frauenfiguren gesellschaftliche Mechanismen verdeutlichen will.2 Seine Filme wurden schon hinsichtlich ihrer Darstellung von Minoritäten sowie von Frauen und Feminismus untersucht, aber eine Erörterung der Fassbinderischen Ehe als Konstrukt, als Macht(un)gleichgewicht zwischen Mann und Frau, blieb bis jetzt im Hintergrund. Die hier untersuchten Ehefilme, die im ersten Kapitel einleitend vorgestellt werden, beschreiben die Zeit zwischen 1890 und 1975, und wurden alle zwischen 1972 und 1979 gedreht. Sie überbrücken fast die       

1 Vgl. Pott, Sabine: Film als Geschichtsschreibung bei Rainer Werner Fassbinder. Fassbinders

Darstellung der Bundesrepublik Deutschland anhand ausgewählter Frauenfiguren in seiner „BRD-Trilogie”: Die Ehe der Maria Braun (1978), Lola (1981) und die Sehnsucht der Veronika Voss (1982). Frankfurt am Main: Peter Lang 2002. S. 20.

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Geschichte eines ganzen Jahrhunderts, aber in diesen Filmen wird vor allem die Ehe thematisiert, deren Konstrukt mit wechselnden Tendenzen durch die Zeit hin aufrecht geblieben ist.

In den ersten drei Kapiteln wird die historische Perspektive dieser Filme untersucht werden. Im ersten Kapitel werden die Ehefilme als chronologische Darstellung der deutschen Geschichte beschrieben. Die Filme wurden aber alle in den siebziger Jahren gedreht und sie als nur als historisch zu kennzeichnen, würde ihre Mehrschichtigkeit leugnen. Im zweiten Kapitel wird die

Nachkriegszeit, in der Fassbinder aufwuchs, und seine Position in der

deutschen Filmlandschaft geschildert. Im dritten Kapitel wird versucht werden die Filme als Vermischungsfilme der verschiedenen Epochen zu kennzeichnen: Wo schimmert die Epoche der Siebziger durch die Historizität hindurch? Schon Thomas Elsaesser beschreibt diese Vermischung schon:

It was above all the period from the mid 1950s to the mid 1970s that retained Fassbinder’s attention, who treated these two decades as a kind of telescope, whose sections could be pulled out and extended, in order to look backwards towards the history of the German bougeoisie, the family, the heterosexual couple as it had developed since the foundation of the Bismarckian Reich in the 1870s.3

Von der geschichtlichen Perspektive wird anschließend die Aufmerksamkeit auf die Ehen selbst verschoben werden. Anhand eines Zitats Foucaults aus Sexualtiät und Wahrheit wird die Ehe in ihrer Urform präsentiert. Welche Faktoren aus Foucaults Beschreibung der Ehe haben Einfluss auf das Machtgleichgewicht, das es in allen Ehen angeblich gibt? Welche Rollen spielen Geld oder Besitz und welche Rolle spielt die Beziehung der Eheleute zur Gesellschaft ? Sind die Unterdrückten, wie erwartet, immer die Frauen, oder gibt es auch umgekehrte Mechanismen?

      

3 Elsaesser, Thomas: Fassbinder’s Germany. History Identity Subject. Amsterdam: Amsterdam

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Im vierten Kapitel wird versucht werden diese Fragen, die sich mit dem Macht(un)gleichgewicht innerhalb der Ehe beschäftigen, zu beantworten und die Ehefilme werden in ihrer Mehrschichtigkeit analysiert. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Ehe sich bei Fassbinder immer im Spannungsfeld von Geschichte und Gegenwart befindet und dass die Ehen geeignet sind ein empfindliches Gleichgewicht darzustellen, welches sich schwierig fassen lässt. Die biographische Hintergründe von Rainer Werner Fassbinder bleiben hier meistens außer Betracht. Der Schwerpunkt dieser Arbeit liegt vielmehr auf seinen Werken. Im Anhang befindet sich von jedem Film eine

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1.  Die Ehefilme als chronologische Darstellung der deutschen Geschichte

Als Rainer Werner Fassbinder 1982 starb, kam es selbstverständlich zu Versuchen seine Werke und seine Position in der deutschen Kulturlandschaft einzuschätzen. Obwohl Fassbinder das Oberhausener Manifest des Neuen Deutschen (Spiel)Films, auf das im nächsten Kapitel weiter eingegangen wird, nie unterschrieben hat und immer ein Außenseiter geblieben ist, wurde er doch als wichtiger Vertreter dieser gesellschaftskritischen Strömung gesehen. Fassbinder wurde von dem Journalisten und Filmkritiker Wolfram Schütte das Herz dieses Neuen Deutschen Films genannt4: sein Tod wurde entsprechend mit dem Ableben des Neuen Deutschen Filmes gleichgesetzt.5 Wie neu dieser Neue Deutsche Film im Vergleich zu dem, was es davor in der deutschen Filmlandschaft gegeben hat, war, wird auch im nächsten Kapitel erwähnt werden. In diesem Kapitel wird der deutsche Aspekt und zwar die deutsche Geschichtsschreibung in Fassbinders Filmen näher betrachtet werden. Die Filme Fassbinders wurden nach seinem Tod von Wolfram Schütte ¸historische Filme in statu nascendi’ genannt.6 Aber wie historisch waren sie eigentlich? Die fünf Filme, die in dieser Arbeit im Mittelpunt stehen, können in einer chronologischen Reihenfolge, der deutsche Geschichte nach, aufgelistet werden:

Fontane Effi Briest Anfang des Kaiserreiches

Bolwieser Weimarer Zeit, nach dem ersten

Weltkrieg

Die Ehe der Maria Braun Nach dem zweiten Weltkrieg/ Wirtschaftswunder

Martha/ Angst essen Seele auf Nach dem Wiederaufbau

      

4 Schütte, Wolfram: Das Herz des neuen Deutschen Films. Rückblicke auf die Ära Fassbinder.

In: http://www.fassbinderfoundation.de/werk/ ma. 30.05.2016. 21:36.

5 Vgl. Senta Siewert: Fassbinder und Deleuze. Körper, Leiden, Entgrenzung. Marburg: Tectum

Verlag 2009. S. 13.

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Dazu gibt es bei Fassbinder noch viele Filme, die hier nicht erwähnt werden, aber die bestimmt auch zu dieser Chronik gehören, wie die beiden anderen Filme der BRD Trilogie: Lola und Die Sehnsucht der Veronika Voss, wie Berlin Alexanderplatz zu der Weimarer Zeit, Lili Marleen zu der Nazizeit,

Deutschland im Herbst zu den 70-ern und Querelle zum Anfang der 80-er Jahren.

Diese Filme umfassen fast 100 Jahre der (west-)deutschen Geschichte. Da es in den letzten Jahrzehnten ganz viele Verfilmungen von Ereignissen aus der deutschen Geschichte gibt, fällt Fassbinders geschichtsumfassendes Oeuvre heute vielleicht weniger auf. So wurde März 2013 die Fernsehreihe Unsere Mütter, unsere Väter mit viel Publizität präsentiert, als wäre es das erste Mal, dass es sich in einem Kriegsfilm um ¸unsere’ Mütter, Großmütter, Väter und Großväter, also um normale Menschen, statt um bekannte historische Personen handle. Fassbinder machte in seinen Geschichtsfilmen schon diesen Schritt. In seinen Filmen werden normale Menschen aus sehr differenzierten Klassen und sozialen Gruppen, somit in ihrem Alltag gezeigt. Nach Deutschland im Herbst (1977) wollte Fassbinder einen weiteren Kooperationsfilm drehen, der Die Ehen unserer Eltern heißen sollte. Der Film sollte sich mit der Elterngeneration auseinandersetzen. Als diese Produktion nicht zustande kam, wurden seine Ideen in das Drehbuch von Die Ehe der Maria Braun aufgenommen.7 Aleida Assmann schreibt in einem Artikel über Unsere Mütter, unsere Väter: „Die neue Ära des Geschichtsfilms setzt nicht mehr auf Zeitzeugen, sondern auf die Fiktionalisierung von Geschichte in Form einer packenden Story und einer am Hollywoodkino orientierten realistischen Optik (…)”8 Erstaunlich, dass ein Film wie Die Ehe der Maria Braun hier aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden zu sein scheint. Die Verfilmung Unsere Mütter, unsere Väter hatte zum Ziel, die Wirklichkeit des Zweiten Weltkriegs den nachwachsenden Generation zu vermitteln und somit das Schweigen über die Wahrheit zu

brechen, denn manche Großeltern konnten ja gerade noch nach ihrem Verhalten       

7 Vgl. Pott, Sabine. S.88.

8 Assmann, Aleida: Arbeit am deutschen Familiengedächtnis. In: Das neue Unbehagen an der

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im Krieg gefragt werden.9 Fassbinders Interesse an der Vergangenheit war ein wenig anders. Er wollte nicht so sehr die Wirklichkeit der Geschichte

vermitteln, sondern er meinte, dass die Deutschen so wenig von der Geschichte gelernt haben, dass man als Filmemacher aus allen Informationen, die man nachholen kann, eine Geschichte macht, die dazu beiträgt die Wirklichkeit begreifbarer zu machen.10 Der Unterschied zwischen dem Regisseur von Unsere Mütter, unsere Väter und Fassbinder ist vor allem der, dass es beim ersten darum geht, alles ¸so wie es war’ zu zeigen.11 Bei Fassbinder dagegen hat die Wirklichkeit immer mit einer neu geformten Wirklichkeit zu tun, „die dann im Zusammenhang mit dem Bewusstsein dessen, der etwas sieht, wieder Wirklichkeit wird. Es ist keine Wiederholung von Wirklichkeit”.12 Das zeigen seine Geschichtsfilme (und auch seine Gegenwartsfilme), dadurch, dass es in ihrer Konstruktion und Struktur immer artifizielle Elemente gibt, die den Zuschauer davon abhalten, sich ganz und gar in dem Film zu verlieren. Dadurch hat die verfilmte Wirklichkeit immer auch mit der Wirklichkeit des Rezipienten zu tun. Im Folgenden wird versucht werden, die

Geschichtsschreibung und ihrer Gestaltung in Fassbinders Filme zu kennzeichnen.

1.1 Fontane Effi Briest

In Fontane Effi Briest werden die Übergänge zwischen den Szenen durch Weißblenden markiert, die so wirken, als ob man ein Buch liest und die Seiten umblättert. Zwischendurch gibt es wie im Stummfilm Zwischentexte: ebenfalls auf weißem Untergrund und in gotischer Schrift. Diese äußeren Merkmale zeigen, dass der Regisseur sich der Historizität des Materials bewusst ist und sie entsprechen außerdem Fassbinders Adaptionsbegriff, den er in einer

Erläuterung zu seinem letzten Film Querelle formuliert hat:       

9 Ebd., S. 33.

10 Vgl. Fassbinder, Rainer Werner: Die Anarchie der Phantasie. Gespräche und Interviews. Hg.

v. Michael Töteberg. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 1986. S. 146.

11 Vgl. Assmann. S. 41.

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Ein Film, der sich mit Literatur und Sprache auseinandersetzt, muß diese Auseinandersetzung ganz deutlich, klar und transparent machen, darf in keinem Moment seine Phantasie zur allgemeinen werden lassen, muß sich immer in jeder Phase als eine Möglichkeit der Beschäftigung mit bereits formulierter Kunst zu erkennen geben.13

Fassbinder selbst spricht die Worte Fontanes, der seinen mittlerweile

kanonisierten Roman 1894/1895 veröffentlichte, ohne Emotion, als Voice-Over. Der Film ist in Schwarz-Weiß gedreht und wirkt hell und kühl. Die Ehe

zwischen Effi und Instetten ist eine arrangierte Ehe. Die Distanz, die es zwischen Effi und ihrem erzieherischen Ehemann gibt, spiegelt sich in der Gestaltung des Films wider. Es ist kein Film, in dem der Zuschauer alles aus der Perspektive der Hauptfigur miterlebt. Fontanes Roman zeigt ein klares Bewusstsein einer großen geschichtlichen Wende: Der Niedergang des preußischen Adels und der Aufstieg der bürgerlichen Mittelschichte. Die Auswirkung dieser Wende auf Familie und Ehe ist Fontanes Thema.14

Fassbinder hat seinen Film auf die zwei Hauptpersonen des Romans und somit auf deren Ehe beschränkt. In der Arbeit wird in Kapitel vier auf die Ehe selbst eingegangen werden, die von Erziehung, Angst und Terror geprägt ist. Fontane kritisiert hier das Sittenbild der untergehenden altpreußischen Gesellschaft. Fassbinder wollte aber vor allem einen Film über den Dichter Fontane machen, und zwar:

über die Haltung eines Dichters zu seiner Gesellschaft. Es ist kein Film, der eine Geschichte erzählt, sondern es ist ein Film, der eine Haltung nachvollzieht. Es ist die Haltung von einem, der die Fehler und Schwächen seiner

Gesellschaft durchschaut und sie auch kritisiert, aber dennoch diese Gesellschaft als die für ihn gültige anerkannt.15

      

13 Fassbinder, Rainer Werner: Vorbemerkungen zu Querelle, in: Filme befreien den Kopf –

Essays und Arbeitsnotizen. Hg. v. Michael Töteberg. Frankfurt am Main Fischer 1984. S. 116.

14 Vgl. Elsaesser, Thomas. Fassbinder’s Germany. S. 282. 15 Fassbinder. Filme befreien den Kopf. S. 54.

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Eine ähnliche Haltung nimmt auch Fassbinder in seiner eigenen Zeit der Gesellschaft gegenüber ein:

Mein Problem ist nicht gewesen, einen publikumswirksamen Film zu machen, mein Problem ist gewesen, meine Haltung zu der Gesellschaft, in der ich lebe, dadurch klar zu machen, indem ich versuche einen Film über Fontane zu machen.16

In Fontane Effi Briest wird eine geschichtliche Brücke zwischen der Zeit des Niedergangs des preußischen Adels und der Zeit, in der Fassbinder lebte, geschlagen. Er zeigt, wie tief verwurzelt die Ehe in unserer Gesellschaft ist. Fassbinder behauptet, anhand des Gespräches in Fontane Effi Briest zwischen Instetten und Wüllersdorf, in dem klar wird, dass der Mann eine Rolle in dieser Gesellschaft hat, die er zu spielen hat, dass er über Frauen besser etwas über Geschichte erzählen kann als über Männer, da Männer eine vorgeschriebene Rolle in der Geschichtsschreibung haben.17 Es stellt sich dann auch aus seinen Ehefilmen heraus, dass er über die Ereignisse in Frauenleben, versucht, sich der Geschichte anzunähern. Diese Ehefilme sind aber nie ‘nur’ Frauenfilme, es handelt sich hier immer um die Ehe und die Gesellschaft.

1.2 Bolwieser

Bolwieser ist ebenfalls eine Literaturadaption. Dieser Roman wurde 1929 von Oskar Maria Graf (1894-1967) veröffentlicht. Die Werke des damals aus der Vergessenheit wieder aufgetauchten Schriftstellers wurden gerade in den siebziger Jahren wieder neu herausgegeben. Fassbinder setzt mit Bolwieser also fort, was er mit Fontane Effi Briest angefangen hatte: die traditionelle

realistische deutsche Literatur neu zu interpretieren um sich den Zugang zu der deutschen sozialen Geschichte zu verschaffen.18 Außerdem muss Fassbinder       

16 Fassbinder. Die Anarchie der Phantasie. S. 54. 17 Vgl. Pott, Sabine. S.22.

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sich dem Graf verwandt gefühlt haben. Wie Graf über Menschen schreibt entspricht der doppeldeutigen Art und Weise wie Fassbinder seine Figuren auftreten lässt:

Kein Mensch (...) ist innerlich klar, einfach und durchsichtig. Die Zwiespältigkeit macht unser aller Leben aus. Gerade die Kraftvollsten, Lebenshungrigen und Gesündesten sind die Zwiespältigsten.(...) Sie sind gewissermaßen geheimnisvoll getriebene, schuldlose Lügner, unbewußte Schauspieler und instinktive Irrerführer. Sie leiden darunter, aber sie können nicht anders. Sie glauben, sich ständig wehren zu müssen, und wissen nicht einmal gegen wen.19

Graf war nicht der einzige, der sich in seiner Zeit mit Gedanken über die Ehe beschäftigte. Alfred Döblin, dessen Berlin Alexanderplatz Fassbinder ebenfalls, wie auch Bolwieser für das Fernsehen adaptierte, schrieb genau in der Zeit der Weimarer Republik ein Theaterstück, die Ehe, das „die zerstörende Wirkung des kapitalistischen Wirtschafsystem auf die menschlichen Beziehungen in Ehe und Familie aufzeigen sollte”.20 Fassbinder setzt sich in seinem Bolwieser fast beiläufig mit der Weimarer Zeit auseinander, da er sich auf die Ehe von Bolwieser und Hanni konzentriert. Die Gesellschaft ist im Verfall und nähert sich einer wirtschaftlichen Krise. Von Streik wird schon gesprochen, aber Bolwieser, als Beamter, bleibt verschont. Die Atmosphäre der damaligen Gesellschaft; der Nihilismus und die spießbürgerliche Moral ist aber sehr anwesend und „zu den Stärken von Bolwieser gehören jene Augenblicken, in denen(…) hinter dem unreifen Kleinbürger Bolwieser der Typ des Untertans sichtbar wird, auf den sich das nachfolgende Naziregime stützen konnte”.21 Das zeigt sich vor allem am Schluss in dem sich in Rage redenden Richter, der den kleinen Verstoß von Bolwieser angreift, so dass Bolwiesers private Leben auf einmal ins Rampenlicht der Öffentlichkeit gezogen wird:

      

19 Graf, Oskar Maria. Bolwieser. Roman einer Ehe. Berlin. List Taschenbuch 2010. S. 185, 186. 20 Prangel, Matthias: Alfred Döblin. 2. neubearbeitete Auflage. Stuttgart: Metzler 1987. S. 68. 21 Roth, Wilhelm: Kommentierte Filmografie. In: Rainer Werner Fassbinder. Reihe Film 2. Hg.

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Dass er als Beamter einen Berufsstand angehört, der heute mehr denn je eine tragende Säule unserer bürgerlichen Gesellschaft ist. Der Angeklagte hat seinen Berufsstand und damit den gesamten deutschen Beamtentum eine nichtwiedergutzumachenden Scham zugefügt, der die Vertrauensbasis der Bevölkerung in allen Institutionen unseres Reiches schwächt.

Im Publikum sind dann einige, und zwar seine ehemaligen Arbeitnehmer, schon in Nazi-Unform gekleidet.

Der ursprüngliche Untertitel des Romans war: Roman eines Ehemannes. 1964 wurde ein neuer Untertitel hinzugefügt: Die Ehe des Herrn Bolwiesers. In der letzten Veröffentlichung von 201022 heißt es: Roman einer Ehe. Diese

Verschiebung der Perspektive könnte Fassbinder zuzuschreiben sein, da er, im Gegensatz zu Graf, mehr aus Hannis Perspektive als aus der von Bolwieser erzählt. Im vierten Kapitel wird analysiert werden, wie Fassbinder hier Opfer und Täterrollen umdreht. Die Umgebung, die Kleinstadt mit ihrem Klatsch, wird in Bolwieser bis aufs dramaturgisch Notwendige reduziert. Fast alle Szenen spielen sich in Innenräumen und hautnah an den Hauptfiguren ab. Die kleinbürgerliche Umwelt ist präsent, aber man ahnt sie vor allem.

1.3 Die Ehe der Maria Braun

Die Ehe der Maria Braun könnte als pur historischer Film, im Sinne der Geschichtsschreibung, betrachtet werden, aber dann beschränkt man sich auf eine einzige Ebene. Der Film, der aus der Idee, ein Film über die

Elterngeneration zu drehen, entstand, heißt eine Frau in der fünfziger Jahren zu beschreiben. Im Titel befindet sich aber der Schlüssel des Films: Obwohl Marias Mann die ganze Zeit nicht da ist, handelt es sich im Film doch um ihre Ehe. Die Geschichte ist eingeklammert zwischen der Eheschließung im       

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Standesamt und dem Moment, etwa zehn Jahre später, in dem die Eheleute ihr gemeinsames Leben endlich anfangen werden. Dennoch gibt es einen wichtigen historischen Kontext, einen, mit dem Fassbinder sich auseinandersetzen möchte, jedoch aus der Perspektive der Siebziger Jahren. Die Historizität ist schon aus dem Ton des Filmes abzuleiten; die Tonfolgen bilden eine geschichtliche Kontinuität.23 Das Radio läuft ständig. Zuerst hört man die Meldungen des Suchdienstes, zwischendurch andere Meldungen, dann zwei Reden Adenauers (in der ersten ist er gegen die Wiederaufrüstung, in der zweiten dafür.) Man hört während bestimmter wichtiger Szenen (z.B. während der Szene, in der Maria am Telefon zu hören bekommt, dass ihr Mann Hermann aus dem Gefängnis entlassen worden ist) die Geräusche von Drillbohrern draußen auf der Straße als Zeichen der Wiederaufbau. Schließlich hört man das Finale des Weltmeisterfußballspiels 1954, Ungarn gegen Deutschland, welches

Deutschland gewann. Die letzten Minuten des Filmes laufen parallel zu den letzten sieben Minuten der Radioreportage des Spiels in realer Zeit, da wurde in der Aufnahme des Tons nicht geschnitten. Die Explosion am Ende des Filmes korrespondiert mit dem Bombenregen am Anfang des Filmes. So gibt es Symmetrie im Film: der Film fängt an mit dem fallenden Hitler-Portrait und endet mit den Portraits der Bundeskanzler der BRD bis Schmidt. „Fassbinders Charaktere sind alle in einem Kreislauf gefangen, über den sie keine Kontrolle haben”24, wobei mit dem Kreislauf nicht nur die private Geschichte, sondern auch die politischen Zusammenhänge gemeint sind. Das gilt in Die Ehe der Maria Braun vor allem für die Rahmenstruktur der Geschichte. Marias Geschichte ist eine Geschichte in der deutschen Geschichte und

selbstverständlich auch von dieser geprägt.

Aber dennoch zeigt Fassbinder manchmal einige Diskontinuitäten in der sonst kontinuierlichen Abfolge, wie zum Beispiel eine Zigarettenschachtel, die unverkennbar aus den siebziger Jahren stammt, oder man sieht bei den Zettel am Bahnhof eines mit der Unterschrift: Michael Ballhaus, der Fassbinders       

23 Vgl. Pott, Sabine. S. 79. 24 Pott, Sabine. S. 220.

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Kameramann war. In dieser bewussten Diskrepanz zwischen zwei Epochen bewegt sich die Geschichte von Maria Braun.

1.4 Angst essen Seele auf

In Angst essen Seele auf ist der historische Kontext wie sie zur Zeit der

Entstehung des Filmes war: Deutschland Anfang der siebziger Jahren. Emmi ist eine Witwe, die früher mit einem Polen (d.h. mit einem Ausländer) verheiratet war. Sie spricht unreflektiert über die Vergangenheit, in der ja „alle in der Partei waren”. Ohne Schuldgefühle oder Scham wird über Hitler gesprochen, Ali und Emmi gehen sogar am Hochzeitstag auf Emmis Wunsch in dem Lokal in München essen, in dem Hitler früher so gerne gegessen hat. Emmi liest die Speisekarte vor und sagt über goldenen Kaviar: „Den kriegt doch nur der Schah von Persien” – eine Anpsielung auf den Besuch des Schah von Persien 1967, und den damit verbundenen Tod von Benno Ohnesorg, der die

Studentenrevolte in Deutschland ausgelöst hat, die gleichzeitig die politische Naivität Emmis zeigt, die von all dem nichts zu wissen scheint. In Angst essen Seele auf spiegelt sich die sogenannte Freiheit der siebziger Jahre am meisten in Emmis unbewussten und überhaupt nicht emanzipierten Verhalten wider. Sie reagiert unerwartet milde, wenn Ali ihr mitteilt, dass er mit einer anderen Frau geschlafen hat. Ihre Kinder benehmen sich spießbürgerlich und vertreten die Moral der fünfziger Jahre. Der Schwiegersohn kommandiert seine Frau herum, kommt nicht darüber hinweg, dass bei seiner Arbeit der Meister ein Türke sei und meldet sich deshalb andauernd krank. Die jüngeren Frauen in der Kneipe sind neidisch auf die Beziehung zwischen Ali und Emmi.

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1.5 Martha

Diese Moral der Fünfziger Jahre ist auch in Martha präsent, ein Film, der nur einige Monate nach Angst essen Seele auf zum ersten Mal ausgestrahlt wurde. Martha ist gewissermaßen Fassbinders Effi Briest. Von allen Ehefilmen wird nur in Martha die Welt außerhalb Deutschlands gezeigt. Martha ist mit ihrem Vater in Rom. Sie geht mit ihrem Vater die Spanische Treppe hinauf und hält Schritt mit ihrem Vater, ahmt unbewusst seine Körperhaltung nach, so wie Effi Briest Schritt hält mit ihrer Mutter, wenn sie zusammen im Freien spazieren, bevor sie verheiratet ist. In beiden Filmen laufen die noch unverheirateten Frauen nachdenklich, mit den Armen auf dem Rücken, neben einem ihrer Elternteile. Der Vater von Martha stirbt auf der Spanischen Treppe an einem Herzschlag. Martha begegnet am gleichen Tag vor dem deutschen Konsulat ihrem zukünftigen Mann Helmut, der sich, wie Effis Instetten, als ein

erzieherischer Ehemann entpuppt. Im Film macht Martha eine Entwicklung durch, die der Entwicklung der Frauen in den siebziger Jahren entgegenläuft. Anfangs arbeitet sie in einer Bibliothek. Sie ist zufrieden mit ihrer Arbeit und lehnt den Heiratsantrag ihres Chefs ab. Nach dem Tod ihres Vaters fängt sie zu rauchen an und sie scheint ihre Freiheit zu genießen. Von dem Moment an, da sie Helmut geheiratet hat, werden aber alle ihre Freiheiten rückgängig gemacht. Als ob Fassbinder eine Parallele zwischen den Rollen der Frauen (und der Männer) der Nachkriegszeit und den siebziger Jahren ziehen wolle. Anders gesagt: Als ob es die sechziger Jahre, die Studentenrevolten und den radikalen Feminismus überhaupt nicht gegeben hätte.25

Wie die Welt in Deutschland zur Zeit des Wiederaufbaus und zur Zeit des Aufwachsens von Fassbinder selbst aussah, und welche Chancen Deutschland       

25 Vgl. Hennesy, Mary: Fassbinder’s female complaint: Martha (1974) and the 1940s

“Womans’s Film”. In: The German Quarterly, Amercian Assoiation of Teachers of German 89.1 (2016). S. 67 - S. 79. Hier: S. 75.

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damals hatte und vielleicht nicht aufgegriffen hat, wird im nächsten Kapitel untersucht werden.

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2. Fassbinder und die Nachkriegsgeschichte

Die Filme, die in dieser Arbeit besprochen werden, wurden alle zwischen 1972 und 1979 gedreht. Angst Essen Seele auf ist der Film, der von den Filmen in dieser Arbeit als erster uraufgeführt wurde und zwar im März 1974. Zwei Monate später, Mai 1974, folgte Martha im Fernsehen. Juni 1974 gab es die Uraufführung von Fontane Effi Briest. Drei Jahre später, Juli 1977, wurde Bolwieser ausgestrahlt und anderthalb Jahre später, Februar 1979, kam Die Ehe der Maria Braun ins Kino. Wie können wir Fassbinders Faszination für die deutsche Geschichte verstehen? Ist sie exemplarisch für seine Generation, die nach dem Krieg aufwuchs in einer Gesellschaft, die von restaurativen

Tendenzen geprägt war? Im Folgenden wird zuerst die Nachkriegszeit skizziert, in der Fassbinder aufwuchs und die Situation in den sechziger und siebziger Jahren. Schließlich wird die Position Fassbinders im deutschen Film

gekennzeichnet.

2.1 Nachkriegszeit 

Rainer Werner Fassbinder wurde im Mai 1945 geboren. Die Lage, in der Fassbinder in seinen ersten Lebensjahren aufwuchs, gleicht der Situation am Anfang in Die Ehe der Maria Braun. Obwohl sein Vater, anders als die Männer in Maria Braun, als Assistenzarzt nicht an die Front geschickt worden war und also nicht abwesend war, lebte Fassbinder ebenfalls in einer Art Großfamilie mit seiner Oma und seinem Onkel und Untermietern in einem Haus ohne Glas in den Fenstern.26 Seine Eltern trennten sich, als er fünf Jahre alt war. In ganz Deutschland war die Position der Frauen kurz nach dem Krieg ganz anders als vor dem Krieg. Die Frauen handelten auf dem Schwarzmarkt, pflegten, was noch übrig war vom Haus, arbeiteten womöglich, sorgten für den

Lebensunterhalt und hatten mehr Freiheiten als zuvor. Die männerbeherrschte       

26 Vgl. Töteberg, Michael: Rainer Werner Fassbinder. 2. Auflage. Reinbek bei Hamburg:

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Naziwelt war ins Wanken gekommen und mit ihr der Mythos ¸Mann’.27 Auch in Die Ehe der Maria Braun wird das klar. Am Anfang des Filmes sind alle deutschen Männer alt und Krüppel, wie der demente Opa, der nur herumlungert. Ansonsten sind die Männer feige, wie in der Szene, in der es eine von zwei Jungen ausgelöste Bombenexplosion gibt. Ein Mann, der gerade etwas Holz stehlen will, erschrickt und flieht sofort. Maria reagiert: „Sind auch keine Männer mehr, heute.” Und: „Da muss sich etwas ändern.” Aus dieser Aussage spricht Hoffnung für die Position der Frauen, die sich so kurz nach dem Kriege in emanzipatorischer Hinsicht bedeutend verbessert hat.

Als dann schließlich die Männer aus ihrer Kriegsgefangenschaft heimkehrten, fanden sie dort selbständige Frauen an, die sich nicht mehr so leicht

unterordnen ließen. Das hatte Folgen. Oft trennten sich die Frauen von ihren Männern, obwohl die Chance auf eine neue Ehe klein war. Es gab ja

einen ,Frauenüberschuss’, ein Wort, das die Frauen fast als Waren, als Objekte bezeichnet. Die Zahl der Scheidungen aber hatte sich in fast zehn Jahren Zeit (zwischen 1939 und 1948) verdoppelt von 8,9 auf 10 000 Einwohner auf 18,8 auf 10 000. Bei seinem Regierungsantritt 1949, erklärte Bundeskanzler Adenauer:

Es bedarf wohl keiner Versicherung, daß wir fest und entschieden gegenüber allen entgegengesetzten Tendenzen auf dem Boden des Artikels 6 des Grundgesetzes stehen, in dem es heißt: “Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung.” Das Problem des

Frauenüberschusses erschöpft sich aber nicht in der Frage der notgedrungenen Ehelosigkeit eines großen Teiles der Frauen; es ist umfassender und

weitreichender. Wir müssen den Frauen neue Berufe und

Ausbildungsmöglichkeiten zu erschließen versuchen. Es wird - wenn es vielleicht zunächst auch nicht so wichtig aussieht - auch beim Wohnungsbau darauf geachtet werden müssen, daß den unverheiratet gebliebenen Frauen

      

27 Vgl. Hirsch, Helga: Endlich wieder leben. Die fünfziger Jahre im Rückblick von Frauen.

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wenigstens in etwa ein Ersatz für die fehlende häusliche Behaglichkeit geboten wird.28

Erst Mitte der fünfziger Jahre sank die Scheidungsrate auf den Stand von 1939. Diese Rückgang kam nicht aus dem Nichts. Obwohl die

Ausbildungsmöglichkeiten für unverheiratete Frauen stimuliert werden sollten, war Frauenarbeit unattraktiv. Eine Scheidung ¸lohnte’ sich nicht. Der

durchschnittliche Bruttolohn lag in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre mindestens 35 Prozent unter dem der Männer und bei verheirateten Frauen konnte der Ehemann über die Berufstätigkeit der Frau entscheiden.29 Maria Brauns Verhalten ist mit dieser Kenntnis vor Augen eine logische,

wirtschaftliche Konsequenz: „Ich schlafe mit Oswald, weil er mein Arbeitsgeber ist, ich von ihm abhängig bin,” erklärt sie ihrem Mann im Gefängnis. In der DDR dagegen arbeiteten die Frauen, damit schuf sich die CDU/CSU Fraktion in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre ein Argument gegen die Berufstätigkeit der Frauen, die angeblich zu einer ¸brutalen Sowjetisierung der Frau’ führe. Erst 1957 waren Männer und Frauen

gleichberechtigt. Frauen brauchten nicht mehr die Erlaubnis des Mannes um ein Konto einzurichten oder den Führerschein zu machen. Der Mann besaß auch nicht mehr das Recht, ein Dienstverhältnis seiner Frau zu kündigen. Im Alltag jedoch behielten die Männer die patriarchale Autorität.30 Zu dieser Zeit war das ,Wirtschaftswunder’ eine Tatsache. Die ersten Jahren nach dem Krieg waren noch von ¸Zwangswirtschaft’, so wie sie es in den Hitler-Jahren war, geprägt. Der Staat bestimmte, was produziert wurde. Obwohl ganz Deutschland in Trümmern lag, gab es noch relativ viel Industrie. Das dritte Reich hatte viel in Fabriken zum Beispiel in Werkzeugmaschinen investiert. Mit Hilfe des Marshallplans und nach dem Verlassen der Zwangswirtschaft wuchs die Wirtschaft explosiv. Ein gutes Beispiel dafür ist die Volkswagenfabrik in Wolfsburg. Vor 1945 hat diese Fabrik nur für die NSDAP und die Wehrmacht       

28 http://www.konrad-adenauer.de/dokumente/erklarungen/regierungserklarung 20.4.2016 16:43. 29Vgl. Hirsch, Helga. S. 33.

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produziert, aber in den fünfziger Jahren wurde Volkswagen ein großer

Exportverdiener für Westdeutschland und Volkswagen wurde zum Symbol des Wirtschaftswunders. Aber nicht nur Werkzeugmaschinenfabriken, sondern auch Banken, Versicherungsgesellschaften und Großhändler, die das dritte Reich überwunden hatten, florierten. Zu dem Wirschaftswunder trug auch bei, dass die Arbeitnehmer mit weniger zufrieden waren, so lange sie für ihr Geld etwas kaufen konnten. Der Unterschied zwischen Armen und Reichen wurde größer, aber ein reicher Geschäftsmann, der ja im freien Markt operierte, wurde mehr geschätzt als ein Schwarzmarkthändler.31

Das spiegelt sich auch in Die Ehe der Maria Braun wider. Fassbinder selbst spielt hier den Schwarzmarkthändler. Die Szene ist aus einem geschichtlichen Gesichtspunkt interessant. Es ist eine Scharnierszene. Der

Schwarzmarkthändler bietet Maria eine Gesamtausgabe des Werkes von Heinrich von Kleist an, aber Maria erwidert: „Bücher brennen so leicht und machen deshalb nicht warm.” Einerseits triumphiert hier Pragmatik über die ehemalige, aber schon von den Nazis zerstörte, deutsche bildungsidealistische Identität und ist es eine Anspielung auf die Bücherverbrennung. Anderseits kauft Maria hier statt Kleists Werke ein Kleid ,für’s Geschäft’, das „die Grundlage ihres wirtschaftlichen Aufschwungs bildet”.32 Unter der Szene hört man die erste Strophe des Deutschlandliedes. Der Schwarzmarkthändler verschwindet aus dem Film und Maria bewegt sich vorwärts. Die Männer, die sie von diesem Moment an begegnet, tragen zu ihrem Aufschwung bei, und werden von ihr dazu auch ausgenutzt; ein amerikanischer Soldat und ein französischer Geschäftsmann, Oswald. In der Schwarzmarktszene fängt Marias „da muss sich etwas ändern” an. Nach Sabine Pott sind Fassbinders Auftritte in seinen Filmen nie rein zufällig oder spielerisch. Fassbinder steht in dieser Rolle an einem „Fixpunkt der deutschen Geschichte”.33 Dass die deutsche

Gesellschaft sich ab knapp fünf Jahren nach dem Krieg in einer konservativen       

31 Vgl. Nicholls, A.J. The Bonn Republic. West German Democracy, 1945-1990. London/New

York: Longman 1997. S. 50-72.

32 Pott, Sabine. S. 25. 33 Ebd., S. 26.

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Richtung, ja sogar in die Restauration der Werte der Vorkriegszeit

weiterentwickelt hat, bedauert Fassbinder sehr und dieses Bedauern könnte zu einem seiner Themen gerechnet werden:

Unsere Väter, die nach Ende des Krieges Chancen gehabt haben, einen Staat zu errichten, der so sein hätte können, wie es humaner und freier vorher keinen gegeben hat, und zu was diese Chancen letztlich verkommen sind.34

Diese Enttäuschung zeigt Fassbinder vor allem in Martha. Der Film spielt in den siebziger Jahre, aber Fassbinder zieht eine irritierende Parallele zwischen den Geschlechterrollen im Nachkriegsdeutschland der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre, in der die Trümmerlandschaft sich in ein modernes Land verwandelt hatte, und den Geschlechterrollen in Deutschland der siebziger Jahre.35 Nach Ehemann Helmut muss die Frau zu Hause bleiben: „Wenn ein Mann seine Frau ernähren kann, ist es nur peinlich, wenn sie arbeiten geht.” Dabei war es den Männern sowieso peinlich, dass die Frauen damals, nach dem Krieg, „übermüdet in derben Schuhen, Kopftüchern und Kittelschürzen wie geschlechtslose Wesen herumgelaufen waren und gehamstert, getauscht und Mangel verwaltet hatten”.36 Die Chance auf eine emanzipierte Gesellschaft ist damals von weder von Frauen noch Männer ergriffen worden. Das unter anderem scheint uns Fassbinder in Martha vorzuwerfen.

Schließlich könnte Fassbinder in seiner Schwarzmarktszene auch noch an Kleists Das Erdbeben in Chili referiert haben. In dieser Geschichte gibt es auch eine Art Neuanfang, eine Stunde Null, die sich ebenfalls nicht durchsetzt und die ebenfalls pessimistisch die Restauration der alten Werte und Vorurteile zeigt. In Die Ehe der Maria Braun aber herrscht noch lange der Optimismus des Wirtschaftswunders. Optimismus über Kapitalismus als wirtschaftliches System, das Energie auslöst und das nur wirkt, wenn Menschen nicht mehr um ihre Existenz kämpfen müssen, wenn sie intelligent im Kopf, Körper und Herz       

34 Fassbinder. Filme befreien den Kopf. S. 73. 35 Vgl. Hennesy, Mary. S. 75.

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sind und wenn sie ein Bankkonto haben wie Maria Braun.37 In der Gesellschaft, waren die fünfziger Jahre voller Ambivalenzen; einerseits herrschte die

Restauration, in der die Frauen wieder die Begleiterinnen ihrer Männer waren und sich anstrengen mussten, den Anforderungen an die äußeren Erscheinungen gerecht zu werden, andererseits wehrte sich die Jugend gegen diese Art

gesellschaftliche Zwänge. Die Jugendrebellion gegen den Konformitätsdruck der modernen Gesellschaft und gegen die Sicherheit, Wohlfahrt und die in Watte manipulierte Humanität waren Vorboten von dem, was sich in den 68er-Studentenunruhen schließlich seine Bahn brach.38

2.2 Die sechziger Jahre

Bevor es aber zu diesen Ausbrüchen kam, blieb noch Vieles beim Alten. Im Bürgerlichen Gesetzbuch in §1356 wurde die mögliche Frauenrolle noch bis 1977 folgendermaßen umschrieben: „Die Frau führt den Haushalt in eigener Verantwortung. Sie ist berechtigt, erwerbstätig zu sein, soweit die mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist”.39

Heute steht da:

(1) Die Ehegatten regeln die Haushaltsführung im gegenseitigen

Einvernehmen. Ist die Haushaltsführung einem der Ehegatten überlassen, so leitet dieser den Haushalt in eigener Verantwortung.

(2) Beide Ehegatten sind berechtigt, erwerbstätig zu sein. Bei der Wahl und Ausübung einer Erwerbstätigkeit haben sie auf die Belange des anderen Ehegatten und der Familie die gebotene Rücksicht zu nehmen.40

      

37 Vgl. Elsaesser, Thomas. Fassbinder’s Germany. S. 127. 38 Vgl. Hirsch, Helga. S. 257.

39 Langer, Ingrid: Vor dem Aufbruch. Die soziale Stellung der Frauen in den 60er Jahren. In:

Unbekannte Wesen. Frauen in den 60er Jahren. Berlin: Elefanten Press, 1987. S. 113 - S. 129. Hier: S. 114.

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Aus verschiedenen sozialen Studien aus den sechziger Jahren, die auf großen Umfragen basieren, ist eine interessante Annahme zu entdecken. Erstens gab es eine große Untersuchung von Elisabet Pfeils aus dem Jahr 1961: Die

Berufstätigkeit von Müttern. Sie unterscheidet verschiedene Frauentypen wie z.B. Hausmuttertyp extremer Ausprägung, modifizierter Hausmuttertyp, Berufsfrauentyp familienzugewandt und Berufsfrauentyp familienentfremdet. Es ist nicht erstaunlich, dass in der Kategorie der Hausmuttertypen meistens ungelernte Arbeiterinnen und die niedrigen Beamtinnen zu finden sind, während die Frauen mit freien Berufen und die akademischen Beamtinnen in der zweiten Gruppen untergeordnet werden können. Obwohl etwas weniger als die Hälfte der Frauen am liebsten im Beruf sein würde, schließt Elisabeth Pfeil aus, dass die familienbezogene Hausfrau je aussterben wird:

denn wir sehen in ihrem Vorhandensein nicht nur das Überbleibsel einer überholten Gesellschaftsform, sondern eine in sich berechtigte Lebensform, die viel zu sehr mit dem Wesen der Frau übereinstimmt.41

Bei seiner Studie einige Jahre später: Die Lage der Mütter in der Bundesrepublik Deutschland, kam Reinhold Junker zu einem ähnlichen Ergebnis. Seine Untersuchung fand über mehrere Jahre (1965-1967) und unter sehr verschiedenen Gruppen statt. Frauen wurden gefragt vorformulierte Sätze (Die Frau ist…) abzulehnen oder zuzustimmen:

Das Reich der Frau ist der Haushalt, alles andere ist Sache des Mannes. ( 61%)

Der Beruf der Hausfrau ist der schönste und vielseitigste Beruf der Frau (73,5%)

Die Mutterschaft ist die wichtigste Lebensaufgabe der Frau. (85,5%) Herr im Haus ist der Mann, danach sollte die Frau sich richten. (44%)

      

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Ein Mehrzahl, die Zahlen zwischen den Klammern, der Frauen bejahte diese Stellungnahmen. Andere Sätze aber, die eher Forderungen darstellten ( Die Frau sollte…) hatten einen höheren Prozentsatz:

Die Frau sollte nicht nur für Haus und Familie leben, sondern auch noch andere Interessen haben. (90,5%)

Mann und Frau sollten gleiche Rechte und Pflichten haben.(89%)

Vielleicht liegt der relativ große Unterschied dazwischen daran, dass die beiden letzten Sätze ausdrücken, wie es eigentlich sein sollte und die vier ersten Sätze formulieren, wie es nun mal ist. Das ruft einen Widerspruch hervor in den Ergebnissen aller Studien. Hat man untersucht, wie es erwünscht war, oder wie es nun einmal war? Die Schlussfolgerung der Untersuchung hat diesen

Widerspruch nicht wahrgenommen.

Dass von einem, von der traditionellen Geschlechterrollenideologie getragenen, Leitbild der Frau ausgegangen wurde, liegt vielleicht daran, dass man schlicht davon ausging, es sei, wie Elisabeth Pfeil konkludierte, das Wesen der Frau, Hausfrau und Mutter zu sein.42

In Kapitel 4 wird auf diese ‚Heterosexual Imperative’, wie Judith Butler 1993 die immer wiederholte Bestätigung der Geschlechterrollen definierte, in Bezug auf die Ehefilme Fassbinders eingegangen werden.

In allen diesen Filmen können wir die Typen von Elisabeth Pfeil finden. Interessant wird es, wenn Fassbinder Umkehrungen dieser Stereotypen macht, wie zum Beispiel in Angst essen Seele auf. Emmi ist eine Frau, die in den Nachkriegsjahren ihre Kinder erzogen hat. Sie ist verwitwet und arbeitet als Putzfrau. Sie ist aber vor allem Hausfrau, sie kocht und ist stolz auf ihren Kaffee, den allen so mögen. Anfangs will sie kein Geld von Ali bekommen: „Mit Geld geht jede Freundschaft kaputt, ich will von dir kein Geld. Ich habe doch soviel Freude”, sagt sie ihm. Wenn sie aber verheiratet sind, gibt er ihr jede Woche sein Geld, das sie für den Haushalt benutzt, denn der Haushalt ist       

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das Reich der Frau. Trotzdem gibt es Risse in diesem Leitbild: Sie ist Ali nicht untergeordnet, im Gegenteil. Dagegen einzuwenden wäre, dass Ali eine

Minorität in der deutschen Gesellschaft repräsentiert. Andererseits könnte man annehmen, dass Ali aus einer Gesellschaft stammt, die noch patriarchaler eingestellt sein müsste als die deutsche.

Auch in Bolwieser wird die Umkehrung des Stereotyps einer Ehefrau aus dem Hausfrauentypen dargestellt. Hanni hat zwar jeden Tag das Mittagessen fertig. Doch ist auch Hanni nicht nur eine Hausmutter, (Mutter ist sie sowieso nicht: „Aber gell, kein Kind Xaverl, kein Kind vorläufig! Da warten wir noch!”) sondern vor allem eine Frau, nach der sich der Herr richten soll. In Fontane Effi Briest und in Martha scheint Fassbinder von der Rolle der untergeordneten Hausfrau auszugehen, die 1974 noch gesetzlich festlag. Die Ehe der Maria Braun, den Fassbinder 1978 drehte, scheint sich von diesem stereotypen Leitbild zu distanzieren. Der familienzugewandte Berufstyp, den Maria repräsentiert, ist aber auch in diesem Fassbinderfilm nicht unkompliziert oder unproblematisch, was an späterer Stelle noch genauer betrachtet wird. Zunächst soll doch

die gesellschaftliche und politische Lage, in der Fassbinder seine Theater- und Filmtätigkeiten anfing, skizziert werden, um die Entstehung der Ehefilme in ihrem totalen sozial-geschichtlichen Kontext anschaulichzu machen.

2.3 Die Generation 68 und Fassbinder

 

Ende der sechziger Jahre erwachte die junge Generation. Schulklassen sahen sich anfangs der sechziger Jahre Erwin Leisers Dokumentarfilm ‚Mein Kampf’ an. Dieser zweistündige Film zeigt chronologisch, wie es zum Zweiten

Weltkrieg kam. Er erzählt über den Aufstieg von Adolf Hitler, über die nationalsozialistische Diktatur und über den Völkermord und die

Vernichtungslager. Diejenigen, die kurz nach dem Krieg und in den fünfziger Jahren geboren waren, wurde es im Laufe der Zeit immer deutlicher, was im

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Krieg passiert war und dass die Bundesrepublik nicht mit der Vergangenheit gebrochen hatte.43 Ein Beispiel für die herrschende Empörung ist die Kanzler-Ohrfeige, die die damals 28-jährige Beate Klarsfeld 1968 dem Bundeskanzler verabreichte, weil es für sie unakzeptabel war, „daß jemand, der einem verbrecherischen Regime gedient hat, heute das deutsche Volk vertritt”.44 Die Generation 68 gab es natürlich nicht nur in Deutschland. Es war eine Bewegung, die aber in verschiedenen Ländern verschiedene Schwerpunkte hatte. Prinzipiell gab es überall marxistische Tendenzen, Frauen-Befreiungsaktionen, Anti-Vietnamdemonstrationen, und Anti-Autoritärismus. Fassbinders 1967

gegründetes Action-Theater, später aber umbenannt zu antiteater (bewusst anti-bürgerlich kleingeschrieben und ohne Dehnungs-h), sollte die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft radikal in Frage stellen. Länger als bis Ende 1969 dauerte diese Utopie des Zusammenlebens und des gemeinsamen Produzierens nicht. Fassbinder teilte sowieso nicht die Illusion der Studentenbewegung. Seine Haltung dem Fortschrittsoptimismus der Linken gegenüber war eher distanziert.45 Die Revolutionsromantik stellte er misstrauisch in Frage; war nicht eher Gier nach sexueller Macht oder finanziellem Gewinn unter dem Deckmantel der sozialen Gerechtigkeit und die Befreiung der Massen, die Triebfeder der Aktivisten?46 Diese doppeldeutige Haltung, die nie für oder gegen eine eindeutige politische Position spricht, findet man in seinen Werken immer wieder zurück. Fassbinder hat aber immer in seinen Filmen durch die Reflexion des Historischen die Gegenwart verstehen wollen. Seine Filme waren in der Filmlandschaft der Nachkriegszeit irritierende Ereignisse.

2.4 Fassbinders Position im deutschen Film

Der deutsche Nachkriegsfilm wurde in den ersten Nachkriegsjahren von der Vergangenheitsbewältigung geprägt. So gab es in den ersten Jahren nach dem       

43 Vgl. Elsaesser, Thomas: Rainer Werner Fassbinder. Berlin: Bertz + Fischer 2012. S. 32. 44 Wilmes, Annette: Blumen für die Kanzler-Ohrfeige. In: Unbekannte Wesen.Frauen in den

60er Jahren. Berlin: Elefanten Press 1987. S. 142 - S.143. Hier. S. 142.

45 Vgl. Töteberg, Michael. S. 29-44. 46 Vgl. Elsaesser, Thomas. RWF. S. 34.

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Krieg vor allem sogenannte Trümmerfilme, in denen die Nachkriegszeit selbst dokumentiert und verarbeitet wurde. Die Vergangenheitsbewältigung bestand nicht darin, die Zeit des Nationalsozialismus zu erklären, sondern in dem „kollektiv-psychologischen Auftrag an den neuen Staat, (und an seine Bürger), durch sein Wirken die vergangene Zeit vergessen zu machen”.47 Die Ehe der Maria Braun fängt als ein klassischer Trümmerfilm an. Wir sehen eine kaputtbombardierte Stadt, in der Maria sich ziemlich gutgelaunt ein neues Leben aufzubauen versucht. In Trümmerfilmen wurde einerseits nie versäumt die Nachkriegszeit als materielle und geistige Not zugleich zu benennen. In diesen Filmen wurde aber auch immer das Aufarbeiten materieller Not als der Weg von geistiger Neubestimmung propagiert.48 Bei Fassbinder wird das Aufarbeiten materieller Not rücksichtslos als der Weg des finanziellen Aufstiegs und gerade das Verlassen geistiger Werte (Schwarzmarktszene) gezeigt. Fassbinder bedient sich vom Topos der Trümmerfilme, aber biegt ihre Richtung leicht um.

Erst in den fünfziger Jahren kam es zu einigen Filmen, in denen es um die Schuldfrage ging. Nach diesen Filmen konnte es sich, wenn es um die

nationalsozialistische Vergangenheit ging, nie um eine Kollektivschuld handeln, da die Bürger im Dritten Reich ja auch nur Opfer waren. Schuld waren nicht die Mitläufer, diejenigen, die alles geduldet hatten, sondern einige wenige

verantwortliche Täter. Die normalen Bürger waren eigentlich nur betroffen von den politischen Entscheidungen. Die Fragen nach den Folgen des

Nationalsozialismus als politische Herrschaft wurde in diesen Filmen nicht gestellt. Es ging in diesen Filmen nur darum, wie der gute Mensch unter dieser politischen Herrschaft operiert.49 Fassbinder versucht in seinen Filmen, und vielleicht vor allem in seinen Ehefilmen, den Zeitraum der Nachkriegsfilme fast teleskopisch zu benutzen, um die Geschichte des deutschen Bürgertums, der       

47 Beker, Wolfgang; Norbert Schöll: In jenen Tagen… Wie der deutsche Nachkriegsfilm die

Vergangenheit bewältigte. Opladen: Leske + Budrich 1995. S. 14.

48 Ebd., S. 15.

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Familie mit dem Vater als Familienoberhaupt, zu explorieren, weil diese

Geschichte die Krise der Staatsautorität in den siebziger Jahren erklären könnte. Darauf wird später in dieser Arbeit eingegangen werden.

Weit populärer als Trümmerfilme und Schuldfragefilme wurden in den Fünfzigern die Heimatfilme, die in unzerstörten farbigen

touristenpostkartenartigen Landschaften Deutschlands spielten und harmlose Ereignisse thematisierten. Es ginge zu weit um Fassbinders Martha mit einem Heimatfilm zu vergleichen, aber manche Landschaften, die Aufnahmen in Italien, die Autofahrt, und die Aufnahmen am Bodensee referieren an diese Filme. In Heimatfilmen geht es immer um eine geschlossene heile Welt. Filmhistoriker werten den Heimatfilm als Symptom für restaurative Tendenzen in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre. Die Heimatfilme waren für ein großes Publikum gedacht und wurden massenhaft produziert.50 Daneben gab es

in den sechziger Jahren Schlagerfilme und Rock-and-Roll-Filme, also alle Arten kommerziell produzierter Unterhaltungsfilme, die weit bis in die siebziger Jahren erfolgreich blieben. 1962 kam es bei den Westdeutschen Kurzfilmtagen in Oberhausen zu einem Manifest, das den Neuen Deutschen Film ankündigte und das folgendermaßen abgeschlossen wurde:

Dieser neue Film braucht neue Freiheiten. […] Freiheit von der Beeinflussung durch kommerzielle Partner. Freiheit von der Bevormundung durch

Interessengruppen. Wir haben von der Produktion des neuen deutschen Filmes konkrete geistige, formale und wirtschaftliche Vorstellungen. Wir sind

gemeinsam bereit, wirtschaftliche Risiken zu tragen. Der alte Film ist tot. Wir glauben an den neuen.51

Hiermit war der Neue Deutsche Film gegründet und obwohl Fassbinder das Manifest nicht unterschrieben hat und immer ein Außenseiter bleiben würde,       

50 Vgl. Höfig, Willi: Der deutsche Heimatfilm. 1947-1960. Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag

1973. S. 71.

51

http://www.oberhausener-manifest.com/fileadmin/Kurzfilmtage/Kurzfilmtage_allgemein/Manifest/heller_ob_manifest_te xt.jpg 7.2.2016 10:13.

(29)

wurde er doch als wichtiger Vertreter dieser gesellschaftskritischen Strömung gesehen. So „wurde sein Tod im Jahre 1982 mit dem Ableben des Neuen Deutschen Filmes gleichgesetzt”.52 Dennoch war Fassbinders Position in dieser Filmlandschaft nicht unproblematisch.

Das deutsche Publikum tauschte anfangs der siebziger Jahren den deutschen kommerziellen Film ein für Hollywood Blockbusters und französische Komödien. Der deutsche Film wurde im Ausland als provinziell

gekennzeichnet und nicht ernst genommen. Der Neue Deutsche Film aber versuchte Deutschland auf kritische Weise zu repräsentieren. Fassbinder aber affirmierte weder mit seinen Filmen ein erkennbares Bild von Deutschland noch sprach er im Namen von bestimmten Gruppierungen (wie z.B.

Homosexuellen oder Intellektuellen).53 Seine Außenseiterposition benutzte er, um in seinen Filmen die deutsche Konsumgesellschaft und ihren Wohlstand grundsätzlich in Frage zu stellen, aber er brauchte diese Gesellschaft um gerade diese Filme zu finanzieren.54 Beispielhaft für seine Außenseiterposition könnte

das Zustandekommen von seinem Beitrag an Deutschland im Herbst gesehen werden. Dazu wird jetzt kurz die politische Situation in der ersten Hälfte der siebziger Jahre beschrieben werden.

2.5. Die siebziger Jahre

Die 68er-Studentenbewegung fand in ganz Westeuropa sowie in den

Vereinigten Staaten Anklang und war auch eine Reaktion auf den Kalten Krieg und seine Folgen. In Deutschland wurde diese Reaktion verknüpft mit einem Bruch mit der bürgerlichen Nachkriegsgesellschaft, die noch von

faschistischen Tendenzen geprägt war.55 Natürlich gab es auch in anderen Ländern Konflikte mit der Elterngeneration, aber in Deutschland waren, wie

      

52 Senta Siewert: Fassbinder und Deleuze. Körper, Leiden, Entgrenzung. Marburg: Tectum

Verlag 2009. S. 13.

53 Vgl. Elsaesser, Thomas. RWF. S. 22. 54 Vgl. Ebd., S. 25.

55 Vgl. Politik mit dem Körper. Performativen Praktiken in Theater, Medien und Alltagskultur

seit 1968. Hg. v. Friedemann Kreuder u. Michael Bachmann. Bielefeld: transcrip-Verlag 2009. S. 7.

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schon erwähnt, die Verhältnisse der Generationen bereits vor den Studentenprotesten ziemlich porös.56 Es entstanden mehrere

Widerstandsgruppen, die gegen die kapitalistische Gesellschaft kämpften und die Begriffe wie ‚faschistisch’ und ‚faschistoid’ im politischen Diskurs meist wahllos verwendeten. Die Rote Armee Fraktion, die 1970 entstand, war einer dieser Widerstandsgruppen, deren politisches Programm zu einer Stadtguerilla aufrief, die im Laufe der Zeit zu verschiedenen terroristischen Anschlägen führte. Die RAF könnte als eine militante Abrechnung mit der vorher schon erwähnten, aus der NS-Vergangenheit stammenden, Elterngeneration gesehen werden.57 Die Spitze der RAF wurde bereits 1972 verhaftet, wie: Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe. Sie wurden im Gefängnis in Stammheim unter strenger Bewachung gefangen gehalten. Die zweite Generation der RAF bemühte sich die inhaftierte Spitze durch weitere Anschläge und Besetzungen frei zu erpressen. Als sich 1976 Ulrike Meinhof erhängt hatte und April 1977 u. a. Baader, Ensslin und Raspe zu lebenslanger Haft verurteilt waren, startete die RAF die ¸Offensive 77’. Verschiedene Würdenträger wurden ermordet und schließlich wurde am 5. September 1977 Hans Martin Schleyer, der als Symbolfigur des deutschen Unternehmertums galt und der seine NS-Vergangenheit zwar bekannt aber nie öffentlich bedauert hatte,58 von der RAF entführt. Am 13. Oktober wurde weiterhin eine

Lufthansa-Maschine, die Landshut, auf dem Rückflug von Palma de Mallorca entführt um den Staat zu erpressen, auf die Forderungen der

Schleyer-Entführer einzugehen. Nach mehreren Tagen landete die Landshut in

Mogadishu. Der Kapitän war schon erschossen worden. Die 86 Geiseln waren noch am Leben. In der Nacht vom 17. auf den18. Oktober stürmte die GSG-9, eine Sondereinheit der deutschen Polizei, das Flugzeug. Die Geiseln wurden befreit, drei der vier Geiselnehmer wurden getötet. Am Morgen des 18. Oktobers wurden Baader, Ensslin und Raspe tot in ihren Zellen aufgefunden. Baader und Raspe hatten sich erschossen und Ensslin hatte sich erhängt. Am

      

56 Michael Schneider: Den Kopf verkehrt aufgesetzt oder die melancholische Linke. Aspekte

des Kulturzerfalls in den siebziger Jahre. Darmstadt und Neuwied: Sammlung Luchterhand 1981. S. 10.

57 Vgl. Lexikon der “Vergangenheitsbewältigung” in Deutschland. Debatten- und

Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. 2. Auflage. Hg. v. Fischer,Torben; Matthias N. Lorenz. Bielefeld: transcript Verlag 2007. S. 194.

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19. Oktober gab es einen Hinweis bei der Deutschen Presseagentur, der zu dem in seinem Kofferraum liegenden toten Schleyer irgendwo im Elsass führte. Bis dahin hatte die Regierung über ihre Handlungen oder ihre eventuellen Einwilligungen auf die Forderungen nicht kommuniziert.59 Am 20. Oktober erklärte Helmut Schmidt, dass alle Forderungen der Geiselnehmer abgelehnt worden waren. Am 25. Oktober wurde Hans Martin Schleyer beerdigt. Am 27. Oktober Baader, Ensslin und Raspe.

Direkt nach diesen Ereignissen reagierten zehn deutsche Filmemacher auf diese politische Situation. Der Filmverlag der Autoren sprach gleich am Tag nach der Ermordung und den Selbstmorden, nach dieser Kettenreaktion von Geschehnissen mit Volker Schlöndorff, Alexander Kluge und Rainer Werner Fassbinder über die Notwendigkeit etwas zu machen. Nicht um ihre

Betroffenheit zu zeigen, sondern um eine Gegenöffentlichkeit herzustellen. Die Berichterstattung in den Medien war gleichförmig und polarisiert: Schleyer war der Märtyrer und die Terroristen galten als der Abschaum der Menschheit. Für Schleyer kam es zu einem Staatsbegräbnis und die Terroristen waren wie ausgegrenzt, denn sie durften fast nicht auf einem öffentlichen Friedhof begraben werden. Die Toten müssten gleich behandelt worden, so die Filmemacher, die aus der gleichen Generation wie die Terroristen waren und die eine ähnliche Entwicklung durchgemacht hatten. Sie kamen aus der Studentenbewegung und hatten eine Kulturrevolution durchgemacht, die sich politisiert hatte. Nur im Fall der RAF Mitglieder hatte sich diese

Kulturrevolution fanatisiert. Man wollte also in dieser Auseinandersetzung eine andere Stimme einbringen und einen anderen Blickwinkel. Rainer Werner Fassbinder verließ die Versammlung ohne das Ende abzuwarten: „Ok, macht das, fahrt dahin, ich denke mal über etwas nach.” 60

Während des Wochenendes vor den beiden Beerdigungen, hatte Fassbinder schon angefangen in seinem Münchner Appartement einen Film über die       

59 Michaela Kromer: Rainer Werner Fassbinder in Deutschland im Herbst: Fassbinders radikale

filmische Selbstentblößung. München: GRIN Verlag. 1993. S. 3.

60 Chiara Tissen: Auf der Suche nach dem utopischen Körper. Fassbinders Deutschland im

Herbst aus körperliche Perspektive. Hausarbeit zum Thema ,Körperliche Textualität’ im

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letzten Tage zu drehen; wie aus dem Stand heraus hat er seinen Beitrag an Deutschland im Herbst gemacht.61 Am Anfang von diesem 20 Minuten dauernden Beitrag telefoniert Fassbinder mit einem Journalisten. Er möchte, dass der Schluss eines Interviews, das er angeblich gegeben hat, weggelassen wird. In der nächsten Szene sehen wir, wie Fassbinder sich in diesem Interview aufregt über die Ehe:

Ich glaube, dass die Ehe eine Form des Zusammenlebens ist, die etwas Künstliches ist. Egal wie man, wenn man so erzogen ist wie wir, das auch braucht und nötig hat, finde ich, ist die Ehe etwas Künstliches. Ich mache meine Filme auch dafür, dass zum Beispiel Leute, die verheiratet sind, oder eine Ehe haben die in einer Krise ist meinetwegen, die Filme sehen, die ich über die Ehe mache, dass sie ihre Ehe wieder ganz konkret problematisieren. Und ich finde es zum Beispiel unheimlich viel positiver, wenn so eine Ehe wirklich in die Brüche geht, als dass die Ehe als Institution ungefragt und unüberprüft erhalten bleibt.

Zu dieser Zeit (1977) hatte Fassbinder fast alle seine Ehefilme schon gedreht und in Deutschland im Herbst sehen wir ihn in seiner eigenen Ehe, in der es selbstverständlich auch kriselt.

Was zeigen die Filme, die so eng aufeinander konzipiert und gedreht wurden, über die Epoche, in der sie entstanden sind, und die Fassbinder immer in seiner Arbeit miteinbezogen hat? Die siebziger Jahre waren auch die Jahre des

radikalen Feminismus. Der Begriff der Geschlechterverhältnisse wurde tragend, um zum Beispiel systematische Frauenunterdrückung zu analysieren und

anzuprangern. Wie Fassbinder diese Geschlechterverhältnisse verarbeitet, wird im vierten Kapitel gezeigt werden.

      

61 Vgl. Interview mit Volker Schlöndorff. In: Deutschland im Herbst. DVD. Leipzig: Kinowelt

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Im nächsten Kapitel wird versucht werden, die Vermischung der

geschichtlichen Epochen in den Filmen mit der Entstehungsepoche dieser Ehefilme zu erörtern

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3. Ehefilme und Epochenmix

Wie im ersten Kapitel gezeigt wurde, lassen sich die Ehefilme von Fassbinder in einer chronologischen Reihenfolge auflisten, die sich insofern mit der deutschen Geschichte beschäftigt, als dass die Filme mehr oder weniger den historischen Kontext, in der die jeweilige Geschichte sich abspielt,

widerspiegeln. Die Filme als historische Filme zu benennen, wäre aber falsch, wenn damit gemeint wäre, dass der Film nur die Historizität zum Thema hätte. Fassbinders Filme sind immer als mehrschichtige Gegenwartsfilme zu

kennzeichnen. So hat Fassbinder selbst zum Beispiel über Fontane Effi Briest erklärt,

dass er einen Film über Fontane machte, um seine Haltung der Gesellschaft seiner eigenen Zeit gegenüber klarzumachen.62

Nicht nur wird in Fassbinders Filmen die Gegenwart in die Vergangenheit projiziert, sondern auch umgekehrt. Martha zum Beispiel ist, wie Fassbinder es nennt, seine persönliche Version von Fontanes Geschichte.63 Dieser Film repräsentiert unter anderem ein anachronistisches Verhaltensmuster von Unterwerfung und patriarchaler Überlegenheit.

Am deutlichsten kommuniziert Fassbinder die Vermischung der Epochen in Die Ehe der Maria Braun. Die Ehe der Maria Braun scheint ein historischer Film zu sein, der sich im Nachkriegsdeutschland abspielt und 1954 mit einer Radioreportage des Endspiels der Fussballweltmeisterschaft, in dem

Deutschland gegen die ungarische Mannschaft spielt und gewinnt, endet. Der Film endet aber auch mit Negativbildern von allen Bundeskanzlern (außer Willy Brandt) nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Portrait von Helmut       

62 Vgl. Fassbinder: Anarchie. S. 54.

63 Vgl.Fassbinder, Rainer Werner: Ich will, dass man diesen Film liest. Rainer Werner

Fassbinder über Fontane Effi Briest, über Anarchisten und Terroristen und über seine

Frauenfilme. In: Robert Fischer (Hg.) Fassbinder über Fassbinder. Die ungekürzten Interviews. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren 2004. S. 101f.

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Schmidt (Bundeskanzler von1974-1982), das sich ins Positiv umblendet, und deshalb so aussieht wie das Bild von Adolf Hitler mit dem der Film anfängt. Mit dieser Fotogalerie wird der Zuschauer wieder in die Realität gezogen. Die beiden im Positiv gezeigten Portraits umklammern den ganzen Film und zeigen also die Verbindung zwischen der Vergangenheit und dem Entstehungsjahr des Films und auch die Verbindung mit der Gegenwart des Zuschauers. Nicht nur in äußeren Merkmalen zeigt sich aber die Vermischung der Epochen in Fassbinders Ehefilmen. In den nächsten Paragraphen wird, außer im ersten Paragraph, die geschichtliche Reihenfolge der Filme, die nicht der Reihenfolge der Entstehung entspricht, gefolgt werden.

3.1 Fontane Effi Briest und Martha

Fontane Effi Briest hat einen langen Untertitel:

Viele, die eine Ahnung haben von ihren Möglichkeiten und Bedürfnissen und dennoch das herrschende System in ihrem Kopf akzeptieren durch ihre Taten und es somit festigen und es durchaus bestätigen.

Dieser Untertitel könnte eigentlich als Thema aller Ehefilme gelten. Das

herrschende System der Ehe und ihres Ehrenkodex, ihrer Moralvorstellung und die Abhängigkeitsmuster, auf denen gesellschaftliches Zusammenleben beruht, gilt für alle Protagonisten. In einer Filmkritik über einen Film von Claude Chabrol wirft Fassbinder Chabrol vor, gegen die Heuchelei in der Ehe, gegen den Besitzanspruch, statt gegen die Ehe selbst zu sein.64

In den Ehefilmen ist die Hochzeit selbst immer das Ereignis, auf dem das ganze Leben ausgerichtet wird. Die Hochzeit, die in allen Filme unbedeutend scheint, weil sie schnell vollzogen (Die Ehe der Maria Braun) oder gar nicht gezeigt wird (Fontane Effi Briest, Martha, Angst essen Seele auf) , oder schon       

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vollzogen (Bolwieser) worden ist, dominiert alle Gedanken und Handlungen der Figuren in den Filmen. Die Ehe in Fontane Effi Briest könnte als Prototyp der Ehen dieser Filme gelten. Die Ehen in den anderen Filmen sind Variationen darauf, Gegenteile dazu und Erweiterungen von der Ehe zwischen Effi und Instetten. Fontane Effi Briest zeigt uns die kühle distanzierte Erzählung einer Verstandesehe. Die bürgerliche Geborgenheit in Fontanes Roman ist Fassbinder zuwider und er lässt sie wie selbstverständlich aus der Inszenierung. Er dreht den Film in Schwarz-Weiß, und benutzt nicht die schillernd hellen Technicolor Farben wie in Martha. In den frühen Farbfilmen wurde der Farbe die Rolle der Verfremdung zugeschrieben, und wenn Martha und Fontane Effi Briest in dem Sinne miteinander verglichen werden, ist es, als ob Marthas Geschichte die Verfremdung der Wirklichkeit von Effi Briests Leben darstellt. Mit Fontane Effi Briest beabsichtigte Fassbinder das Denken der Zuschauer zu stimulieren65

und es ist, als ob wir in dieser Schwarz-Weißinszenierung einerseits etwas Seriöses und Objektives wie die Nachrichten betrachten, anderseits aber ein Blick in eine archeologische Vergangenheit werfen. In Fontane Effi Briest zeigt Fassbinder bewusst alle Fremdheit, die diese Epoche für uns hat. Die etwa achtzig Jahre, die zwischen Fontanes Roman und der Erstehung des Filmes liegen, werden dem Zuschauer bewusst gemacht.66 Die Ehe wird in ihrer meist unverblümten Form gezeigt als asymmetrische Machtkonstellation, wie sie Michel Foucault in seinem Sexualität und Wahrheit, im Unterkapitel ¸Ökonomik’ benennt:

aber verheiratet sein heißt vor allem, das Oberhaupt einer Familie zu sein, eine Autorität zu besitzen und eine Macht auszuüben, die im ‘ Haus’ ihren Ort hat, und dort Verpflichtungen zu haben, die auf seine Reputation als Bürger ausstrahlen. (…) Das gebot, nur mit ihrem Gatten zu verkehren, folgt für die Frau daraus, daß sie seiner Macht untersteht. Dagegen ist für den Mann das

      

65 Vgl. Fassbinder: Anarchie der Phantasie. S. 55. 66 Vgl. R.W. Fassbinder. Reihe Film. 2. S. 144.

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Gebot, nur mit seiner Gatttin zu verkehren, die schönste Art, seine Macht über sie auszuüben.67

Diese Asymmetrie der Ehe, die auf die hellenistische Zeit zurückführt, trifft auf alle Ehen in Fassbinders Ehefilmen zu, nur immer in anderen

Zusammenstellungen. In Fontane Effi Briest wird aber die ¸Urform’ gezeigt, die Fassbinder dann auch nicht abschwächen oder verharmlosen möchte; er zeigt die Ehe, wie sie in der deutschen Gesellschaft verwurzelt ist. Am

schlimmsten für die weiblichen emanzipierten Zuschauer der siebziger Jahren muss wohl der Schluss des Films gewesen sein, in dem Effi alles akzeptiert, was Instetten gemacht hat und ihm in allem Recht gibt. Ob Martha sich mit ihrem Schicksal versöhnt, oder ob sie das als „die größte masochistische Erfüllung”68, wie Fassbinder es in seinem Unterdrückungsgespräch mit Margit Carstensen (die Darstellerin der Martha Rolle) behauptet, erfährt, bleibt im Schluss von Martha wenigstens offen.

In Martha, der ja als Fassbinders persönliche Version von der Geschichte von Effi Briest gilt, scheint Fassbinder anfangs eine moderne Frau vorzuführen. Martha hat einen Job, sie führt das Leben einer selbstständigen Frau, die nach dem Tod ihres Vaters munter ihre erste Zigarette raucht und die Liebe und Sorge für ihre Mutter einsetzt, um keine Verstandsehe mit ihrem Chef einzugehen. Nach dem Tod ihres Vaters aber, verliebt sie sich blitzartig in Helmut und vertauscht ihr Leben im Elternhaus für das Leben als Hausfrau. Fassbinder referiert im Film (eine Dampflokomotive bringt die Leiche von Marthas Vater zurück nach Deutschland) eine vergangenen Zeit und bekannte Hollywood-Filme, die eine paranoide Frau zum Thema haben, so wie Gaslight (1944) Rebecca (1940) und Notorious(1946).69 Die Anspielungen in diesen

Filmen sind sehr deutlich und vielfältig und Fassbinder scheint also an die Zeit       

67 Foucault, Michel: Die Weisheit der Ehe. In: Sexualität und Wahrheit, 4.2 der Gebrauch der

Lüste. In: Michael Foucault: Die Hauptwerke. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2008. S. 1279.

68 Rainer Werner Fassbinder und Margrit Carstensen: Ein Unterdrückungsgespräch. In: Die

Anarchie der Phantasie. S. 199.

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der vierziger Jahre näher heranrücken zu wollen. Die Szene zum Beispiel, in der Martha eine neue Frisur hat und Helmut sie auslacht und sie fragt, ob sie nicht ein bisschen zu alt für so eine Frisur ist, ist genauso demütigend wie die Szene in Rebecca, in der Rebecca versucht gut auszusehen, indem sie eine andere Haartracht nimmt. Ihr Mann, der sie ständig infantilisiert, kritisiert ihren Versuch, so wie Helmut. Die wiederholten Selbstmordversuche von Marthas Mutter, nach dem Tod des Vaters und nach Marthas Heiratsankündigung, geben Helmut den Anlass, seine Schwiegermutter in eine psychiatrische Anstalt zu bringen. Ihre vielleicht erbliche Geisteskrankheit benutzt er auch als Argument gegen eine eventuelle Schwangerschaft von Martha. In Gaslight macht der Ehemann (Gregory) das Gleiche, indem er der Hauptfigur Paula vorhält, dass ihre Mutter verrückt war und unterstellt, dass Paula ebenfalls allmählich wahnsinnig wird. Der Ton in dem Helmut, wie zu einem Kind, zu Martha spricht (Du hast nicht etwa Angst, Martha), ähnelt dem von Gregory zu Paula (Don’t get hysterical, Paula). Gaslight spielt sich ebenfalls in einem

mysteriösem Haus ab wie Martha und am Ende gibt es einen jungen schönen Helden, der Rettung bietet. Den schönen Held gibt es in Martha auch, Rettung bringt er allerdings nicht. Martha und Paula werden beide von ihren

Ehemännern manipuliert. Diese Manipulation verursacht in beiden Filme große Verunsicherung bei den Ehefrauen. Wenn Helmut die Schweinenierchen in Burgundsoße ablehnt, die Martha für in gemacht hat und er behauptet, dass er schon immer allergisch gegen dieses Gericht gewesen sei, weiß der Zuschauer, dass er lügt, weil er auf der Hochzeitsreise gesagt hat, dass dies sein

Lieblingsgericht ist. Er tröstet Martha: „[das ist doch] kein Grund zum Weinen. Ich weiß doch, dass du es gut gemeint hast. Du bist einfach verwirrt.” Diese Szene verursacht eine große Spannung beim Zuschauer, da der Zuschauer, zusammen mit Martha, gezwungen wird Helmuts pervertierte Sichtweise zu akzeptieren. Logik, Rede und Gedächtnis existieren auf den Voraussetzungen des Mannes.70 Das verbindet Martha wieder mit Effi Briest und mit der Definition Foucaults, der der Macht des Ehemannes unterstehenden Frau.       

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