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Autobiographische Jugendliteratur am Beispiel Krokodil im Nacken

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Ester Sondern

Autobiographische

Erinnerungen an

die DDR als

Jugendbuch

Krokodil im Nacken von Klaus Kordon

Ester Sondern

13-12-2018

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Inhalt

1 Einleitung ... 2

2 Überlegungen zur Kinder- und Jugendliteratur ... 3

2.1 Die Entwicklung der modernen Kinder- und Jugendliteratur ... 3

2.2 Doppelte Adressierung ... 5

2.3 Akkommodationen in der Kinder- und Jugendliteratur ... 7

2.4 Crossover-Literatur oder All-Age Literatur ... 8

2.5 Historische (Kinder- und Jugend)Literatur ... 9

3 Autobiographisches Schreiben über die DDR ...13

3.1 Historische und thematische Kontextualisierung ...13

3.2 Was ist eine Autobiographie? ...17

3.3 Autobiographie und Erinnerung ...19

3.4 Zeitgeschichtliche autobiographische Jugendliteratur ...21

3.4.1 Die Wende in der Kinder- und Jugendliteratur ...24

4 Stilistische Analyse von „Krokodil im Nacken“ ...26

4.1 Über den Autor Klaus Kordon ...26

4.2 Inhaltsangabe „Krokodil im Nacken“ ...28

4.3 Strukturierung ...29

4.4 Die Person des Manfred Lenz ...30

4.5 Augenzeugenbericht ...32 4.6 Spannungsaufbau ...33 4.7 Erzählstil ...35 4.7.1 Detaillierte Personenbeschreibungen ...35 4.7.2 Metaphern ...36 4.7.3 Literarische Vergleiche ...37

4.7.4 Darstellung von Gewalt und Folter ...38

4.7.5 Satire ...40

5 Inhaltliche Analyse von „Krokodil im Nacken“ ...41

5.1 Rezeption ...42

5.2 Denkfehler der Ideologie führten in den Unrechtstaat ...43

5.3 Sozialistische Unterdrückung zerstört kommunistische Träume ...45

5.4 Sozialistisches Denken schränkt persönliche Freiheit ein ...46

5.5 Verbindung DDR und NS-Diktatur ...48

5.6 Autobiographische Themen ...49

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2 6 Fazit ...52 7 Literaturverzeichnis ...53 Primärliteratur ...53 Sekundärliteratur ...53

1 Einleitung

Historische Themen sind beliebte Themen der Kinder- und Jugendliteratur. Vor allem die zeitgeschichtliche Kinder- und Jugendliteratur, die sich seit den 1970er Jahren mit der Aufarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus, des Zweiten Weltkriegs und Holocausts beschäftigt, hat einen wichtigen Beitrag dazu geliefert jüngeren Generationen diese Zeit zu erklären. Darüber hinaus ist sie auch ein Spiegel der gesellschaftlichen Diskurse innerhalb der Bundesrepublik Deutschlands über den richtigen Umgang mit der Geschichte.

Auch in der neueren deutschen Zeitgeschichte gibt es noch viel aufzuarbeiten – insbesondere hinsichtlich der deutschen Teilung. Der autobiografisch geprägte Jugendroman „Krokodil im

Nacken“, (erschienen 2002) in dem sich Klaus Kordon (Jahrgang 1943) intensiv mit der

Geschichte der DDR und mit seiner Zeit als politischer Häftling im Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen beschäftigt, ist einer der ersten Jugendromane, die sich mit der DDR-Vergangenheit beschäftigen.

Ziel dieser Arbeit ist es zu untersuchen, wie Kordon dieses Thema aufgreift und wie es ihm gelingt aus einem ernsten Thema Unterhaltungsliteratur für Jugendliche zu machen. Hieraus ergeben sich weitere Fragen: Trägt „Krokodil im Nacken“ bei zur Verarbeitung der DDR-Geschichte? Was ist die Botschaft des Romans? Gibt es Gemeinsamkeiten mit anderen Werken, die sich mit der DDR beschäftigen? Und nicht zuletzt soll die Frage beantworten werden, wie die autobiographische Aufarbeitung den Roman beeinflusst. Um diese Fragen beantworten zu können, gilt es zunächst eine Begriffsbestimmung vorzunehmen, und den theoretischen Rahmen der Analyse festzusetzen.

„Krokodil im Nacken“ ist 2002 im Jugendbuchverlag Beltz&Gelberg erschienen. Laut

Altersangabe des Verlags richtet der Roman sich an Leser ab 14 Jahren.1 In der Vermarktung richtete sich der Verlag also an ältere Jugendliche und das Buch hat den Deutschen

Jugendliteraturpreis gewonnen. Allerdings gab es auch eine bei DTV erschienene Ausgabe ohne Hinweise darauf, dass es sich um ein Jugendbuch handeln sollte und der Autor hat angegeben weniger als bei früheren Romanen sich explizit an ein jugendliches Publikum gerichtet zu haben.2 Der Roman lässt sich deswegen in die sogenannte Crossover Literatur einordnen. In diesem Genre überschneiden sich Jugendliteratur und Allgemeinliteratur. Zur genaueren Begriffsbestimmung wird in Kapitel 2 die folgende Frage beantwortet: Welche Merkmale machen ein Buch zum Jugendbuch? Außerdem wird in Kapitel 2 die Crossover Literatur besprochen. Auch befasst dieses Kapitel sich mit den Besonderheiten des historischen

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https://www.beltz.de/kinder_jugendbuch/produkte/produkt_produktdetails/7709-krokodil_im_nacken.html (zuletzt konsultiert 14.11.2018)

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Jugendromans, da „Krokodil im Nacken“ eine fiktive Handlung mit historischen Ereignissen verbindet.

Da „Krokodil im Nacken“ nicht nur ein fiktives Jugendbuch ist, sondern auf den Erfahrungen des Autors beruht, untersucht Kapitel 3 die Gattung der Autobiographie und geht näher ein auf das Spannungsfeld zwischen subjektiver Erinnerung und objektiver Geschichtsschreibung.

Außerdem wird in diesem Kapitel erläutert, auf welche Weise die deutsch-deutsche Teilung und die Wiedervereinigung in der Nachwendezeit literarisch verarbeiten wurden und dargestellt, welche Erkenntnisse über autobiographisches Schreiben in der Jugendliteratur es gibt. Kapitel 4 & 5 widmen sich dem Roman „Krokodil im Nacken“. In Kapitel 4 wird zunächst der Schriftsteller Klaus Kordon vorgestellt. Hieran schließt sich die Untersuchung des Erzählstils Kordons an. In Kapitel 5 wird auf die Rezeption und die Botschaft Kordons an die Leser eingegangen werden. Kapitel 6 fasst schließlich die gewonnenen Erkenntnisse zusammen.

2 Überlegungen zur Kinder- und Jugendliteratur

„Jugendliteratur ist meist erzählende Literatur ohne moderne literarische Mittel, macht

Erfahrungs- Identifikations- und Deutungsangebote und kommt dabei dem jugendlichen Leser und seinem Wahrnehmungs- und Reflexionshorizont entgegen.“3

Diese Definition fasst das allgemeine Verständnis von Kinder- und Jugendliteratur vermutlich gut zusammen. Aber was bedeutet diese Definition konkret? Was ist gemeint mit „moderne literarische Mittel? Woran erkennt man, dass der Inhalt dem jugendlichen

Wahrnehmungshorizont entgegen kommt? Welche Angebote macht KJL Jugendlichen? Nicht zuletzt lesen Kinder und Jugendliche auch Literatur, welche nicht unbedingt intentional für diese Zielgruppe geschrieben wurde. Auch die Frage, welche Texte „geeignet“ sind für Kinder und Jugendliche, ist nicht allgemein zu beantworten. Eine tiefergehende Analyse der

Besonderheiten der Kinder- und Jugendliteratur vor allem auf der Rezeptionsebene soll in diesem Kapitel vorgenommen werden. Untersuchungsgegenstand ist dabei die Kinder- und Jugendliteratur, wie diese sich seit den 1950er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland etabliert hat.

2.1 Die Entwicklung der modernen Kinder- und Jugendliteratur

Familien- und Bildungspolitik wurde in den 1950er Jahren ein eigenständiges Ressort der Politik mit der Gründung des Familienministeriums 1953. 1955 wurde auf Initiative des Familienministeriums hin der Arbeitskreis für Jugendliteratur gegründet, der seit 1956 den Jugendliteraturpreis vergibt.4 Bis Ende der 1960er Jahre war die Kinder- und Jugendliteratur eine Domäne der Pädagogik, nicht der Literaturwissenschaft. Kinder- und Jugendliteratur hatte vor allem eine moralisch-soziale Funktion, was auch der Grund ist, dass sie bis in die heutige Zeit in vielen literarischen Kreisen als literarisch wenig avanciert gilt.5 KJL jener Zeit sollte vor allem unterhalten und/oder erziehen. Man war der Auffassung, Kinder von den Problemen der

3 Sauer, Michael: „Historische Kinder- und Jugendliteratur“ in „Geschichte Lernen“, H. 71, 1999, S.21. 4 Kümmerling-Meibauer, Bettina: „Kinder- und Jugendliteratur - Eine Einführung“, Wissenschaftliche

Buchgesellschaft, Darmstadt, 2012, S.16.

5 Gansel, Carsten, „Moderne Kinder- und Jugendliteratur – Vorschläge für einen kompetenzorientieren

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Erwachsenenwelt fernhalten zu müssen. Diese Art der Kinder- und Jugendliteratur wird deswegen auch „Heile-Welt-Literatur“ genannt.

Der gesellschaftliche Wandel der 1970er Jahre zeigte sich auch in der Kinder- und

Jugendliteratur. Es setzte sich die Auffassung durch, dass die Lebenswelt von Kindern und Erwachsenen sich im Grunde nicht unterscheidet. Die Grenzen zwischen Kindheit und Erwachsensein verwischen seit jener Zeit immer mehr. Der Generationenkonflikt wurde entschärft, Kinder und Jugendliche haben unter anderem durch den Trend zur Kleinfamilie mehr und gleichberechtigtes Mitspracherecht bei Entscheidungen innerhalb der Familie. Patriarchale Strukturen und fest definierte Geschlechterrollen sind aufgebrochen worden. Sowohl stilistisch als auch thematisch änderten sich dadurch die Inhalte und der Kinder- und Jugendliteratur und die Intention der Autoren.6 Es gibt im Grunde nur noch graduelle

Unterschiede zwischen Jugendliteratur und Erwachsenenliteratur, keine prinzipiellen.7 Seit den 1970er Jahren wird Kinder- und Jugendliteratur auch unter literarischen und ästhetischen Aspekten literaturwissenschaftlich untersucht, was zu einer Aufwertung des der Kinder- und Jugendliteratur geführt hat.8 Maßgeblich dazu beigetragen hat die Gründung des Instituts für Jugendliteratur an der Universität Frankfurt 1963.

Dabei hat sich gezeigt, dass alle Themen und stilistische Ausprägungen der Allgemeinliteratur sich, wenn auch oft zeitverzögert, sich auch in Jugendbüchern wieder wiederfinden und das die Funktion, die Kinder- und Jugendliteratur hatte, sich an den gesellschaftlichen Wandel

anpasste. In den 1950er und 1960er Jahren stand die „Theorie des guten Jugendbuchs“ im Mittelpunkt der Kinder- und Jugendbuchforschung; ab den 1970er Jahren die Vermittlung der Gesellschafts- und Rollenbilder; ab den 1980er Jahren die Lesesozialisationsforschung und Rezeption und ab den 90er Jahren komparatistische Perspektiven (zum Beispiel

Interkulturalitätsforschung, Motiv- und Stoffgeschichte und Intertextualität).9 Die Wende und deutsche Wiedervereinigung werden seit den 1990er Jahren in Kinder- und Jugendbüchern thematisiert, stellen aber keinen Bruch in der Entwicklung des Genres dar. Die Entwicklung der Kinder- und Jugendliteratur – vor allem die stetige Ausweitung des Themenspektrums und die Annäherung an die Entwicklungen in der Erwachsenenliteratur - verlief in beiden deutschen Staaten ähnlich.10 Diese Entwicklung setzte sich nach der Wende fort.

Innerhalb der modernen Kinder- und Jugendliteratur haben sich verschiedene Subgattungen etabliert, wobei die Übergänge allerdings meist fließend sind.11 Der problemorientierte oder sozialkritische Jugendroman kennzeichnet sich durch eine große Themenpalette

gesellschaftlicher Themen wie Politik, Krieg, Arbeitslosigkeit, Liebe, Tod, Behinderung, Dritte Welt und Unterdrückung.12 In diesen Romanen wird fast ausschließlich aus der Sicht und dem Erfahrungshorizont Jugendlicher geschrieben. Die Autoren schreiben über kleine Leute, normale Alltagssituationen. Viele Protagonisten kommen aus der gesellschaftlichen

6 Gansel, Carsten, „Moderne Kinder- und Jugendliteratur“, S.105. 7 Gansel, Carsten, „Moderne Kinder- und Jugendliteratur“, S.107. 8 Kümmerling-Meibauer, S.16.

9 Kümmerling-Meibauer, S.17.

10 Gansel, Carsten, „Moderne Kinder- und Jugendliteratur“, S.101. 11 Gansel, Carsten, „Moderne Kinder- und Jugendliteratur“, S. 109. 12 Gansel, Carsten, „Moderne Kinder- und Jugendliteratur“, S. 111.

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Unterschicht.13 Es handelt sich häufig um sozialkritische Problemerzählungen mit klar definierten didaktischen Funktionen der Wissensvermittlung und verallgemeinerten Lösungsvorschlägen.14

In psychologischen Jugendromanen geht es primär um die Auswirkungen des Alltags und von Konflikten auf die Psyche des jugendlichen Protagonisten.15 Die Selbstreflexion des

Protagonisten steht im Vordergrund. Stilistische Kennzeichen des psychologischen Jugendromans sind innerer Monolog, Ich-Erzählung Gedankenwiedergabe, erlebte Rede, Rückblenden und rascher Wechsel der Zeitebenen und Tempusformen. Der jugendliche Protagonist muss die Probleme selbständig rational erfassen und emotional bewältigen.16 Er zeigt dabei auch Schwächen und Selbstzweifel. Dies macht die Romane attraktiv für ein größeres Leserpublikum und vor allem auch Erwachsene.17 Der komische Jugendroman dagegen geht mit Problemen und Spannungen locker, gelassen, humorvoll und ironisch umgegangen. Im Zentrum stehen Spaß und Lebenslust.18

Der phantastische Kinder- und Jugendroman schließlich knüpft an Mythen, Sagen und Märchen an. Raum und Handlung dieser Romane haben mit der realen Welt nicht viel zu tun.19 Das wohl bekannteste Beispiel ist „Momo“ von Michael Ende, erschienen 1973.20 Die vorliegende Arbeit geht nicht weiter ein auf die Besonderheiten phantastischer Literatur und beschränkt sich auf die Analyse realistischer Literatur, aber es soll nicht unerwähnt bleiben, dass die Bedeutung phantastischer Literatur in den letzten Jahrzehnten immer größer geworden ist.

2.2 Doppelte Adressierung

Nachdem nun die Entwicklung der Kinder- und Jugendliteratur dargestellt wurde, ist es zur weiteren Eingrenzen notwendig zu untersuchen, welche formalen Aspekte die Kinder- und Jugendliteratur von der Erwachsenenliteratur unterscheidet. Ein besonders wichtiger Punkt ist dabei die doppelte Adressierung.

Der ehemalige Leiter des Instituts für Kinder- und Jugendbuchforschung der Universität Frankfurt Hans-Heino Ewers definiert Literatur über ihre kommunikative Funktion als

Überbringer einer literarischen Botschaft vom Sender (Autor) zum Adressaten (Leser).21 Dieser Definition folgend ist ein Jugendbuch ein Buch, das von Jugendlichen gelesen wird, unabhängig von Inhalt oder Form. Meist erreicht ein Buch den jugendlichen Leser aber nicht auf direkten Weg, sondern nur über Erwachsene (Eltern, Verleger, Bibliothekare, Lehrer etc.), welche die

13 Henke-Bockschatz, Gerhard, „Zeitgeschichtliche Kinder- und Jugendliteratur als Medium historischen

Lernens“ in Von Glasenapp, Gabriele, Ewers, Hans-Heino (Hrsg.) „Kriegs- und Nachkriegskindheiten – Studien zur literarischen Erinnerungskultur für junge Leser“, Peter Lang, Frankfurt 2008, S.198.

14 Weinmann, Andrea: „Geschichte der Kinderliteratur der Bundesrepublik nach 1945“ in Lange, Günter

(Hrsg.) „Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart“, Schneider Verlag, Hohengehren 2012, S. 34.

15 Gansel, Carsten, „Moderne Kinder- und Jugendliteratur“, S. 119. 16 Gansel, Carsten, „Moderne Kinder- und Jugendliteratur“, S. 118. 17 Gansel, Carsten, „Moderne Kinder- und Jugendliteratur“, S. 120. 18 Gansel, Carsten, „Moderne Kinder- und Jugendliteratur“, S. 128. 19 Gansel, Carsten, „Moderne Kinder- und Jugendliteratur“, S. 131.

20 Schikorsky, Isa: „Kurze Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur“, Books on Demand, Norderstedt,

2012, S. 132.

21 Ewers, Hans-Heino: „Kinder- und Jugendliteratur – Begriffsdefinitionen“ in Lange, Günter (Hrsg.)

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Funktion des Vermittlers ausüben. Der Vermittler gibt dem Kind das Buch in die Hand, ist aber auch aktiv am Leseprozess beteiligt, durch Vorlesen oder Erklären zum Beispiel. Deswegen gibt es Ewers zufolge in der Kinder- und Jugendliteratur oft zwei Adressaten, den offiziellen (Kinder und Jugendliche) und den inoffiziellen (den erwachsenen Vermittler).

Diese doppelte Adressierung lässt sich in allen Jugendbüchern finden, kann allerdings auf viele verschiedene Arten erfolgen. Sie kann im Text selbst oder auch im Paratext (Vorwort, Nachwort, Klappentext, Einbandgestaltung) sichtbar sein. Das Melden von Literaturpreisen, die ein Buch gewonnen hat - auf dem Einband oder Klappentext - ist Beispiel für ein Signal an den Vermittler, dass dies ein geeignetes Buch sei. Kinder und Jugendliche achten weniger auf solche

Auszeichnungen. Auch große Teile des Epitext (Interviews mit dem Autor, Lesungen, Werbung usw.) richten sich an den Vermittler und nicht den jugendlichen Adressaten selbst.22

Einige Experten vertreten die Auffassung, dass ein Buch erst zum Kinderbuch werde, wenn es auch als solches beworben werde.23 Zum Beispiel wenn die Adressierung an Kinder und Jugendliche durch die Gestaltung des Einbandes mit Bildern deutlich wird, aber mit einer anderen Einbandgestaltung, ein anderer Effekt erreicht werden würde.24

In der Art und Weise der Adressierung und wie ein Buch seinen Leser erreicht unterscheidet sich Kinder- und Jugendliteratur dementsprechend von Erwachsenenliteratur. Kinder- und Jugendliteratur kann dabei dieser Definition folgend jegliche Art von Buch sein, so lange es von Kindern und Jugendlichen gelesen wird, entweder selbst ausgesucht, oder von Erwachsenen empfohlen. Schulbücher und Literatur, die ausschließlich im Rahmen des Schulunterrichts gelesen wird (Pflichtlektüre), sind von dieser Definition im Prinzip ausgenommen da diese nicht freiwillig gelesen werden.25

Kinder- und Jugendbücher müssen also nicht nur Kinder und Jugendliche ansprechen, sondern auch den Erwartungen der Erwachsenen entsprechen. Diese Erwartungen können aber sehr unterschiedlich sein. Erwachsene können erwarten, dass ein Buch erzieherische Absichten verfolgt, zur Vermittlung von Kenntnis und Wissen beiträgt oder moralischen Verhalten stimuliert.26 Hieraus ergeben sich unterschiedliche Auffassungen davon, was ein Buch zu geeigneter Lektüre für Kinder und Jugendliche macht. Eine genaue Definition, welche thematischen, stilistischen oder sonstigen textuellen Merkmale Kinder- und Jugendliteratur verbindet, ist deswegen nicht möglich. Die meisten Autoren von Kinder- und Jugendliteratur passen ihre Erzählweise allerdinge dem Erwartung- und Erfahrungshorizont der Zielgruppe an. Wie dies aussehen kann, wird im Folgenden dargestellt.

22 Ewers, Hans-Heino „Literatur für Kinder und Jugendliche - Eine Einführung“, UTB GmbH, Paderborn,

2012. S. 39.

23 Ewers, Hans-Heino: „Von der Zielgruppen- zur All-Age-Literatur. Kinder- und Jugendliteratur im Sog

der Crossover-Vermarktung“ unter:

https://www.uni-frankfurt.de/63882700/Von-der-Zielgruppenzur-AllAgeLiteratur_-Kinderund-Jugendliteratur-im-Sog-der-CrossoverVermarktung.pdf, S.1 (konsultiert (14.11.2018)

24 Ewers, Hans-Heino: „Von der Zielgruppen- zur All-Age-Literatur, S.11

25 Ewers, Hans-Heino „Literatur für Kinder und Jugendliche - Eine Einführung“, S.7 26 Henke-Bockschatz, S. 206.

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2.3 Akkommodationen in der Kinder- und Jugendliteratur

Das wichtigste Kriterium, welches ein Buch zum Jugendbuch macht, ist wie bereits festgestellt wurde, dass es von Jugendlichen gelesen wird, also den Adressaten erreicht. Um die Zielgruppe anzusprechen, kann ein Autor verschiedene Mittel einsetzen und Anpassungen vornehmen um die Textverständlichkeit zu vereinfachen und den Neigungen, Interessen und Vorlieben

jugendlicher Leser entgegenzukommen.27 Eine wichtige Funktion von Jugendliteratur ist die Heranführung jugendlicher Leser an das Lesen und dadurch eine literarische Sozialisation.28 Dieses funktioniert vor allem, wenn das Lesen zu einer positiven Erfahrung wird.

Der moderne Jugendroman beschäftigt sich mit den Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens und der Identitätsfindung anstatt nur der Ablenkung und Unterhaltung zu bieten.29 Kinder- und Jugendliteratur wird Handlungen, Figuren und Stil immer an die jugendlichen Adressaten angepasst. Wie diese Anpassung aussieht, unterscheidet sich stark, je nach Autor, Leseweise, Thema und nicht zuletzt auch Vermarktung. Hierbei gilt, je älter die angesprochene Zielgruppe, je weniger eindeutig die Adressierung erkennbar ist. Bei Kinderbüchern für Leseanfänger gilt zum Beispiel viel mehr das Kriterium der Einfachheit, als bei Jugendbüchern.30

Weitverbreitete Akkommodationen sind Anpassungen im Bereich der Morphologie, Syntax, Redeformen und Semantik; die Anlehnung an mündliche Erzählstile oder den Redestil

Jugendlicher; die Anpassung an die Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit Jugendlicher durch kalkulierte Überraschungseffekte und Spannungskurve, überschaubare Handlung und deutlich erkennbare Fronten zwischen gut und schlecht.31 Vor allem humoristische

Komponenten sind für Kinder und Jugendliche wichtig.32 Kinder und Jugendlichen hilft es bei der Orientierung, wenn ein Buch über ein deutlich erkennbares Handlungsmuster und Struktur verfügt. Zu einfach gestrickt und durchschaubar sollte Kinder- und Jugendliteratur dagegen wieder auch nicht sein, da Jugendliche ernst genommen werden wollen.33 In dieser Hinsicht hatte Heinrich Wolgast in seinem Aufruf „Das Elend unserer Jugendliteratur“ 1896 wohl schon Recht. Er kritisierte, dass in der Jugendliteratur entweder der erhobene Zeigefinger im

Mittelpunkt stehe oder die Unterhaltung. „Wenn man schwimmen lernen wolle, dann müsse man allerdings ins tiefe Wasser springen, sonst könnte man es nicht lernen.“34

27 Ewers, Hans-Heino „Literatur für Kinder und Jugendliche - Eine Einführung“, S.169.

28 Rank, Bernhard: „Einleitung“ in „Erfolgreiche Kinder- und Jugendbücher. Was macht Lust auf

Lesen?“, Schneider Verlag Hohengehren 1999, S.5.

29 Ewers, Hans-Heino: „Paradigmenwechsel der Kinder-und Jugendliteratur um 1970“ unter:

http://kinderundjugendmedien.de/index.php/literatur/104-mediageschichte/literaturgeschichte/659-paradigmenwechsel-der-kinder-und-jugendliteratur-um-1970 (konsultiert 14.11.2018)

30 Gansel, Carsten: „Einem Kind wäre schon ein einziges Opfer zuviel gewesen. Der Nationalsozialismus

als Gegenstand in der Literatur für Kinder und Jugendliche.“ in Ächtler, Norman u. Rox-Helmer, Monika (Hrsg.) „Zwischen Schweigen und Schreiben – Interdisziplinäre Perspektiven auf zeitgeschichtliche Jugendromane von Kirsten Boie und Gina Mayer“, Peter Lang, Frankfurt am Main, 2013, S. 16.

31 Ewers, Hans-Heino „Literatur für Kinder und Jugendliche - Eine Einführung“, S. 177-188

32 Tabbert, Reinbert: „Wie Eisberge in der Bücherflut. Erfolgreiche Kinderbücher“ in Rank, Bernhard

(Hrsg.) „Erfolgreiche Kinder- und Jugendbücher. Was macht Lust auf Lesen?“, Schneider Verlag Hohengehren 1999, S. 10.

33 Tabbert, S. 13.

34 Wolgast, Heinrich: „Das Elend unserer Jugendliteratur“, 1896 unter:

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Besonders wichtig ist die thematische Akkommodation, die man erreichen kann durch den Einsatz von jugendlichen Hauptpersonen aus deren Perspektive das Thema geschildert wird. Eine andere Möglichkeit ist gesellschaftliche Themen und Themen aus der

Erwachsenenliteratur aufzugreifen, aber gleichzeitig Themen der Kindheit und Jugend in die Handlung zu integrieren, wie die Suche nach der eigenen Identität, die Entwicklung eigener Ansichten über Politik, Kultur, Moralvorstellungen, erste Liebe und Sexualität.35 Auch spricht es jugendliche Leser an, wenn für den jugendlichen Leser vertraute Elemente (Familien- oder Schulszenen zum Beispiel) mit neuen und fremden Erfahrungen verbunden werden, damit Spannung aufkommt und Neues erfahren wird.36 Ein Buch muss des Erwartungshorizont des Lesers entgegenkommen, diesen dann allerdings durchkreuzen um einen Überraschungseffekt zu erzeugen.37

Bei der Analyse erfolgreicher Kinder- und Jugendbücher, die (erwachsenen) Kritikern und Kindern gleichermaßen gefallen, hat Reinbert Tabbert außerdem festgestellt, dass erfolgreiche Kinderbuchautoren oft selbst (unbewältigte) Kindheiten erlebt haben, die von der Norm

abweichen. Diese Kindheitserfahrungen fließen Tabbert zufolge immer in das literarische Werk des Autors ein, da der Autor beim Schreiben von KJL in seine eigene Kindheit eintauche. Durch die autobiographischen Komponenten wird Tabbert zufolge beim Leser die emotionale Ebene angesprochen. Weiter argumentiert Tabbert argumentiert, dass der jugendliche Leser sich mit den Protagonisten des Buches identifizieren, ihn bewundern, bedauern oder auch belächeln können muss. Dadurch könne der Leser eigene Angst und Unterlegenheitsgefühle vergessen oder sogar überwinden. Damit eine Erzählung jugendlichen Lesern gefalle, sei ein eindeutiges Happy End notwendig. Ein offenes Ende verunsichere Kinder und Jugendliche. 38

Abschießend lässt sich feststellen, dass die in diesem Abschnitt dargestellten Gemeinsamkeiten in Sprache und Thematik für die meisten Jugendbücher zutreffen, aber nicht jedes Buch, auch nicht jedes erfolgreiche Jugendbuch alle Kriterien erfüllt. Vor allem seit den 1990er Jahren wird auch auf dem Gebiet der Jugendliteratur viel experimentiert mit Formen, Stilen, Komik, Ironie, Intertextualität, Erzählperspektive und Handlungsmustern. Auch das obligatorische Happy End ist nicht immer mehr gegeben. Die Qualität eines Jugendbuches wird heutzutage vor allem von Thema und Botschaft bestimmt. Literarische Ästhetik ist dabei wichtiger geworden.

Realitätsnähe, Nachvollziehbarkeit und Verständlichkeit sind aber immer noch wichtig für die Akzeptanz eines Jugendbuches durch die Jugendlichen selbst.39

2.4 Crossover-Literatur oder All-Age Literatur

Eine Sondergruppe auf der Schnittstelle zwischen Jugendliteratur und Erwachsenenliteratur ist die All-Age bzw. Crossover-Literatur. Hierbei handelt es sich um Literatur, die sowohl von Erwachsenen als Jugendlichen zum persönlichen Vergnügen gelesen wird.40 Viele All-Age Werke geben Erwachsene andere Deutungsmöglichkeiten als Jugendlichen, oder sprechen Erwachsene

35 Gansel, Carsten, „Moderne Kinder- und Jugendliteratur“, S.168.

36 Ewers, Hans-Heino „Literatur für Kinder und Jugendliche - Eine Einführung“, S. 189. 37 Tabbert, S. 18.

38 Tabbert, S. 17.

39Knödler, Christine: „Quo vadis? Eine eigenständige Kinder- und Jugendliteratur braucht eine

eigenständige Kinder- und Jugendliteraturkritik. Und umgekehrt – Ein Plädoyer“, S.144.

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auf andere Weise an.41 Aber dies hat anders als bei traditioneller KJL nichts mit einer doppelten Adressierung zu tun, die darauf ausgerichtet ist, dass Erwachsene Kinder zum Lesen animieren. Die unterschiedlichen Interpretationen sind vielmehr auf einen unterschiedlichen

Erfahrungshorizont zurückzuführen, da erwachsene Leser mehr Vorkenntnisse haben und andere Erwartungen mitbringen und diese die Rezeption beeinflussen. Auch beinhaltet Crossover-Literatur oft Wortspiele oder Andeutungen, die jüngere Leser nicht/anders verstehen, oder worüber sie schlicht hinweg lesen.42

Die Protagonisten in Crossover-Literatur sind meist Jugendliche, womit eine

Identifikationsmöglichkeit für jugendliche Leser geschaffen wird, was für diese Zielgruppe besonders wichtig ist. Allerdings ist die Handlungsperspektive meistens nicht ausschließlich dem jugendlichen Erfahrungshorizont angepasst, damit auch Erwachsene sind angesprochen fühlen können und sich wiedererkennen. All-Age bedeutet deswegen meistens nicht wirklich All-Age, die meisten Romane, die als Crossover angedeutet werden, sprechen am meisten Leser im Alter von ca. 12-30 Jahren an.43

Weitere Kennzeichen der All-Age Literatur sind, dass die Handlung milieu- und

generationenübergreifend geschildert wird, Emotionen und Spannung erzeugt werden, die Erzählung deutlich und nachvollziehbar konstruiert ist und in einer angemessenen (einfachen) Sprache geschrieben. Eigenschaften, die man in Jugendbüchern auch findet. Gabriele von Glasenapp erklärt den Erfolg mehrfach adressierter Texte dann auch mit dem Wunsch „nach

moderner und postmoderner Literatur einfach mal wieder richtig gute Geschichten zu lesen.“44 Eine Folge dessen ist, dass mehrfach adressierte Bücher oft oben in den Beststellerlisten zu finden sind.45 Nicht selten handelt es sich dabei um Bücher, die sich wie „Krokodil im Nacken“ mit historischen Themen beschäftigen. Die Beschäftigung mit historischen Themen in

literarischer Form stellt dabei besondere Anforderungen an den Autor und auch die Erwartungshaltung des Lesers unterscheidet sich von rein fiktiven Werken.

2.5 Historische (Kinder- und Jugend)Literatur

Im historischen Roman werden geschichtliche Ereignisse, Personen und Lebensverhältnisse narrativ in fiktionalen Konstruktionen dargestellt. In den 1970er Jahren entstand innerhalb des Genres der problemorientierten Jugendliteratur auch der Zweig der historischen und

zeitgeschichtlichen Jugendliteratur, mit der Zielsetzung: Jugendliche anzuregen kritisch über die (deutsche) Geschichte nachzudenken. Eingepackt in die Handlung werden in diesen Romanen historische Ereignisse erläutert und erklärt, um bei den Jugendlichen Geschichtsbewusstsein zu schaffen und Wissen zu vermitteln.46

41 Ewers, Hans-Heino „Literatur für Kinder und Jugendliche Eine Einführung“, S .60. 42 Ewers, Hans-Heino „Literatur für Kinder und Jugendliche Eine Einführung“, S. 61.

43 Vogel, Anke: „Crossreading – publikumszentrierte Ansätze zur Erklärung des All-Age-Booms im

Buchmarkt.“ S.25.

44 von Glasenapp, Gabriele: „Grenzüberschreitungen. Kinderliteratur und ihre erwachsenen Leser“ in

Haug, Christine, Vogel, Anke (Hrsg.) „Quo vadis, Kinderbuch? – Gegenwart und Zukunft der Literatur für junge Leser“, Harrassowitz, Wiesbaden 2001, S. 43.

45 Ewers, Hans-Heino „Literatur für Kinder und Jugendliche Eine Einführung“, S. 59.

46 Von Glasenapp, Gabriele: „Geschichtliche und zeitgeschichtliche Kinder- und Jugendliteratur“ in Lange,

Günter (Hrsg.) „Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart“, Schneider Verlag, Hohengehren, 2012, S. 269.

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Spätestens nach der Veröffentlichung von Umberto Ecos Werk „Der Name der Rose“, über eine mittelalterliche Benediktinerabtei, in der mysteriöse Morde geschehen, 1980, wurde der historische Roman auch in der Erwachsenenliteratur ein beliebtes Genre der

Unterhaltungsliteratur. Anders als in der Jugendliteratur, wird in der Erwachsenenliteratur der historische Rahmen meist nicht näher erläutert und erklärt, da geschichtliche Grundkenntnisse vorausgesetzt werden. Historische Romane der Allgemeinliteratur richten sich meist an den an Geschichte sowieso schon interessierten und informierten Leser.47

Seit den 1990er Jahren gab einen regelrechten Geschichtsboom.48 Historische Themen werden seitdem in fast alle literarischen Genres eingearbeitet. Mit der Authentizitätsfiktion wurde gebrochen, das heißt es hat für viele Autoren nicht mehr Priorität, Fiktion so darzustellen, als wären die Ereignisse authentisch. Außerdem gibt einen Trend weg vom auktorialen,

erklärenden Erzähler. Es geht den Autoren historischer Romane nicht mehr darum eine allgemeingültige Wahrheit zu zeigen, sondern Geschichte wird seit den 1990er Jahren als individuell erfahrbare Erfahrung des handelnden Subjekts dargestellt.49 Neu ist auch die Verbindung mit phantastischer Literatur in der historische „Anderswelten“ beschrieben werden, welche historisch anmuten, es aber so nie gegeben hat.50

Der Hauptunterschied zwischen wissenschaftlich-historischen Werken und historischen Romanen besteht darin, dass historische Romane nicht in erster Linie informieren und

analysieren möchten, was die Grundlage der Geschichtswissenschaft ist, sondern beabsichtigen den Leser auf emotionaler Ebene anzusprechen und zu unterhalten.51 Im historischen Roman bilden die historischen Umstände oft lediglich den Hintergrund einer Handlung, welche um die geschichtlichen Fakten herum konstruiert wird. In der eigentlichen Erzählung geht es dann um zeitlose Lebensfragen.52 Durch diese fiktiven Elemente kann der Autor die historischen

Gegebenheiten verknüpfen mit der eigenen Gegenwart des Lesers. Hierdurch kann der Leser sich in die Handlung einfühlen und wird das Interesse des Lesers aufrechterhalten.53 Diese fiktiven Elemente können vielfältig variiert werden. Im historischen Roman deswegen viele Romangenres, besonders gerne werden Elemente aus Kriminalromanen und Liebesromanen eingesetzt.54

Heutzutage sind 5-10% aller Neuerscheinungen von Kinder- und Jugendbüchern historische Romane.55 Historische Kinder- und Jugendliteratur ist damit eines der wichtigsten Subgenres

47 Von Glasenapp, Gabriele: „Geschichtliche und zeitgeschichtliche Kinder- und Jugendliteratur“, S. 273. 48 Pirkler, Eva Ulrike & Rüdiger, Mark: „Authentizitätsfiktionen in populären Geschichtskulturen:

Annäherungen“, in Pirkler, Eva Ulrike & Rüdiger, Mark u.a.: „Echte Geschichte. Authentizitätsfiktionen in populären Geschichtskulturen“, Transcript Verlag, Bielefeld, 2010. S.11.

49 von Glasenapp, Gabriele, „Was ist Historie? Mit Historie will man was. Geschichtsdarstellungen in der

neueren Kinder- und Jugendliteratur“ in Von Glasenapp, Gabriele u. Wilkending, Gisela (Hrsg.) „Geschichte und Geschichten. Die Kinder- und Jugendliteratur und das kulturelle und politische Gedächtnis“, Peter Lang, Frankfurt, 2005, S. 32.

50 von Glasenapp, Gabriele, „Was ist Historie? Mit Historie will man was“, S. 33. 51 von Glasenapp, Gabriele, „Was ist Historie? Mit Historie will man was“, S. 21. 52 Henke-Bockschatz, S. 204.

53 von Glasenapp, Gabriele, „Was ist Historie? Mit Historie will man was“, S. 18. 54 von Glasenapp, Gabriele, „Was ist Historie? Mit Historie will man was“, S. 21. 55 Sauer, S.18.

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der Kinder- und Jugendliteratur. Anders als bei anderen Gattungen der KJL dominieren bei der historischen KJL oft noch didaktische Intentionen. Von historischer KJL wird deswegen

erwartet, dass die Handlung um historische Fakten und Daten herum logisch aufgebaut wird, wobei der Leser immer die Möglichkeit haben sollte, genau zu unterscheiden was Tatsachen sind und was Fiktion. Anders als bei Literatur, die ausschließlich aus Fiktion besteht, sollte der Leser sich nicht in der Geschichte verlieren, sondern immer seinen Verstand benützen

müssen.56

Bei modernen historischen Jugendromanen steht das Vermitteln von Geschichtsverständnis im Vordergrund. Die Zusammenhänge von sozialen, politischen und ökonomischen Bedingungen sollen erklärt werden Ein zweiter Aspekt ist die „Zeitdiagnostik“ - gesellschaftliche

Konfliktfelder der Gegenwart sollen an Hand von Beispielen aus der Geschichte thematisiert werden (z.B. die Integration von Randgruppen oder Frauenrecht).57 Letztlich aber macht das Spannungsverhältnis von wissensvermittelnden und unterhaltsamen Elementen, die

Popularität des Genres aus,58 Nicht nur bei Jugendlichen; generationenübergreifende

Erzählweisen sorgen dafür, dass historische Literatur ein wichtiger Bestandteil der Crossover-Literatur ist.59

Die Hauptkritik an historischen Romanen besteht darin, dass ein historischer Roman Unmögliches versucht, da man nicht eine wissenschaftlich korrekte Wiedergabe von

historischen Ereignissen darstellen und gleichzeitig alle Möglichkeiten literarischer Ästhetik ausschöpfen kann. Die literarische Freiheit des Autors ist bei historischen Stoffen begrenzt, weil der Ausgang eines historischen Ereignisses bereits bekannt ist und der Autor andere Wege finden muss, einen Spannungsbogen aufzubauen, oder den Leser auf emotionaler Ebene zu erreichen. Auf der anderen Seite verhindert gerade diese emotionale Ebene eine objektive und zuverlässige Darstellung von Geschichte.60 Bei historischen Jugendromanen wird die

dichterische Freiheit durch die Aufgabe historische Korrektheit mit Jugendgemäßheit zu verbinden noch weiter begrenzt. Die Absicht Geschichte so darzustellen, dass Jugendliche sie verstehen und einordnen können, hat deswegen oft negative Auswirkungen auf den

Unterhaltungswert des Romans.61

Ein anderer Kritikpunkt an historischer Literatur ist die fehlende empirische Absicherung der historischen Elemente. Ob die Darstellung der historischen Ereignisse in historische Romanen empirisch belegt werden kann, liegt aber vor allem daran, wie sorgfältig der Autor, die von ihm

56 Sauer, S.19.

57 Von Glasenapp, Gabriele: „Geschichtliche und zeitgeschichtliche Kinder- und Jugendliteratur“, S. 275. 58 Ächtler, Norman: „Nachbohren, recherchieren – und erfinden. Die verlorenen Schuhe und Ringel,

Rangel, Rosen in gattungstheoretischer und narratologischer Perspektive mit einem literaturdidakischen Ausblick“, in Ächtler, Norman u. Rox-Helmer, Monika (Hrsg.) „Zwischen Schweigen und Schreiben – Interdisziplinäre Perspektiven auf zeitgeschichtliche Jugendromane von Kirsten Boie und Gina Mayer“, Peter Lang, Frankfurt am Main, 2013, S. 45.

59 Ewers, Hans-Heino: „Von der Zielgruppen- zur All-Age-Literatur, S. 5. 60 von Glasenapp, Gabriele, „Was ist Historie? Mit Historie will man was“, S. 17.

61 Ewers, Hans-Heino, „Zwischen geschichtlicher Belehrung und autobiographischer Erinnerungsarbeit.

Zeitgeschichtliche Kinder- und Jugendliteratur von Autorinnen und Autoren der Generation der Kriegs- und Nachkriegskinder“ in Von Glasenapp, Gabriele u. Wilkending, Gisela (Hrsg.) „Geschichte und Geschichten Die Kinder- und Jugendliteratur und das kulturelle und politische Gedächtnis“, Peter Lang, Frankfurt, 2005, S. 101.

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beschriebenen Ereignisse recherchiert. Die Kritik richtet sich dann auch meistens auf die Interpretation und Verarbeitung der Fakten, nicht die historisch belegbaren Fakten selbst.62 Allerdings kann die Darstellung von Geschichte sowieso nie vollständig sein, meint Aleida Assmann. „Der Abstand zwischen Geschichte als vergangener Realität und erlebter Wirklichkeit einerseits und Geschichte als Erzählung von dieser Realität und ihrer Erfahrung ist und bleibt (egal ob wissenschaftlich oder fiktional) unüberbrückbar.“63

Anders als bei der Lektüre von Sachtexten, bewirkt die Identifikation mit fiktionalen Figuren eine persönliche Betroffenheit, die zum Einfühlen auch in den historischen Kontext anregt. In historischen Romanen wird der Zeitgeist veranschaulicht durch die Beschreibung von

Stimmungen, persönlichen Interessen der Figuren, aber auch sichtbare Details wie

Wohnungseinrichtungen, Mode oder Nahrungsmittel. Die fiktiven Füllungen, die in Sachtexten nicht angetroffen werden können, da es keine empirischen Belege gibt, bilden aber die Brücke zur eigenen Gegenwart und, schaffen Geschichtsbewusstsein und machen Veränderungen greifbar. 64

Die Autoren historischer Romane sind meist sehr bemüht zu zeigen, dass die erzählte Geschichte auf historischen Begebenheiten basiert.65 Hierbei handelt es sich um eine Authentizitätsfiktion, also die Erzeugung der Illusion einer gefühlten und erfahrenen

Geschichte, wobei sich Realität, Fiktion und subjektive Erfahrungen und Erwartungen von Autor und Rezipient vermischen. „Je größer die Schnittmenge und die Einbettung in gesellschaftliche Kontexte sind, desto authentischer erscheint eine Darstellung. Angebot und Erwartung müssen einander bestärken, um diesen Eindruck zu erwecken und zu erhalten.“ schreiben Pirkler und Rüdiger66 Die geschilderten Ereignisse werden bei der Authentizitätsfiktion als real erfahren, nicht, weil sie sich genauso ereignet haben wie dargestellt, sondern weil man sich an sie erinnert und sie sich in eine chronologisch geordnete Abfolge einreihen lassen.“67 Carsten Gansel ist der Ausfassung, dass der Autor sich seiner Verantwortung dem

(jugendlichen) Leser gegenüber bewusst sein sollte. Der Leser sollte davon ausgehen können, dass die historischen Fakten richtig wiedergegeben sind;68 wenngleich der Autor eines historischen Romans zur ästhetisch ansprechenden und unterhaltsamen Gestaltung von Personen und Handlungen nicht immer ausschließlich auf empirisch abgesicherte Fakten zurückgreifen kann und der Autor Lücken ausfüllt.69 Deswegen beschrieb bereits Aristoteles den Unterschied zwischen dem Geschichtsschreiber und dem Dichter folgendermaßen: „ Denn

62 Henke-Bockschatz, Gerhard, S. 202.

63 Assmann, Aleida: „Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur, eine Intervention“, C.H.Beck,

München, 2013, S. 70.

64 Rox-Helmer, Monika: „Geschichte durch Romane rüberbringen? Historisches Lernen durch

Identifikation und Irritation am Beispiel Die verlorenen Schuhe und Ringel, Rangel, Rosen.“ In Ächtler, Norman u. Rox-Helmer, Monika (Hrsg.) „Zwischen Schweigen und Schreiben – Interdisziplinäre Perspektiven auf zeitgeschichtliche Jugendromane von Kirsten Boie und Gina Mayer“, Peter Lang, Frankfurt am Main, 2013, S. 70-74.

65 von Glasenapp, Gabriele, „Was ist Historie? Mit Historie will man was“, S. 28. 66 Pirkler u. Rüdiger, S.21.

67 von Glasenapp, Gabriele, „Was ist Historie? Mit Historie will man was“, S. 29. 68 Gansel, Carsten: „Einem Kind wäre schon ein einziges Opfer zuviel gewesen.“ S. 17. 69 Henke-Bockschatz, S. 204.

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der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich […] dadurch […], dass der eine erzählt was geschehen ist, der andere, wies es hätte geschehen können.“70

3 Autobiographisches Schreiben über die DDR

In Kapitel 2 wurde dargestellt, was Kinder- und Jugendliteratur ausmacht, welche Ansprüche an sie gestellt werden und welche Anforderungen ein Autor eines historischen Romans beachten sollte, um den Leser anzusprechen. Dabei ist deutlich geworden, dass die Rezeption von zentraler Bedeutung ist bei (historischer) Kinder- und Jugendliteratur, da Kinder- und

Jugendliteratur sich hauptsächlich über den die jugendlichen Adressaten definiert und weniger durch stilistische oder thematische Merkmale. Es ist deswegen immer ein Anliegen von

Jugendbuchautoren, Bücher zu schreiben die Jugendlichen gefallen und Erwachsene dazu animieren, Jugendlichen das Buch zu vermitteln.

In diesem Kapitel werden die Merkmale autobiographischen Schreibens besprochen. Diese wiedersprechen den Merkmalen jugendliterarischen Schreibens in gewisser Weise, da autobiographisches Schreiben vordergründig die Auseinandersetzung mit der persönlichen Vergangenheit beinhaltet und sich nicht an der Rezeption orientiert. Deswegen ist es besonders interessant zu untersuchen, wie sich die beiden Genres in einem autobiographischen

Jugendroman vereinen.

Eine weitere Besonderheit bei der Analyse von „Krokodil im Nacken“ ist außerdem, dass Kordon nicht nur persönliche Aufarbeitung betreibt, sondern – wie viele Autoren seit 1990 – sich mit der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit beschäftigt, welche noch keineswegs abgeschlossen ist. Der Roman ist dadurch Teil der gesellschaftlichen Debatte um den richtigen Umgang mit der DDR ist und es ist interessant zu sehen, wie sich Kordons Darstellung und Kritik an der DDR in diese Debatte einfügt. Deswegen zunächst eine Übersicht dessen, wie die DDR und deren Ende literarisch thematisiert wurden.

3.1 Historische und thematische Kontextualisierung

Am 03.11.1989 sprach der kurzzeitige Generalsekretär der SED Egon Krenz von einer „Wende“ in der SED-Politik. er versucht dadurch den Begriff der damals in aller Munde war positiv mit der SED-Politik zu verbinden. Dabei wird „Wende“, eigentlich die friedliche Revolution der Gesellschaft der DDR gemeint wird, die sich gerade dadurch kennzeichnet, dass sie sich gegen das SED-Regime richtete.71 Mit dem Begriff der Wende, werden seitdem viele positive Aspekte wie Zukunft und Hoffnung verbunden, kein Wunder, dass die SED lieber als Partei, die die Wende einsetzte in die Geschichtsbücher eingehen wollte, denn als Unrechtspartei. Dass die politischen Ereignisse der Jahre 1989/1990 eine „Wende“ in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands darstellten, ist politisch und gesellschaftlich unumstritten. Welchen Einfluss die Wende auf die Entwicklung der literarischen Debatte hatte, und ob man vielleicht sogar von einem neuen Literaturgenre, einer „Wendeliteratur“ sprechen kann, ist weniger eindeutig.

70 Von Glasenapp, Gabriele: „Geschichtliche und zeitgeschichtliche Kinder- und Jugendliteratur“ ,S. 269. 71 Scholz, Hannelore: „Die unheimliche Suche nach der deutschen Identität“ in Scholz, Hannelore, Merkel,

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Insbesondere die Auseinandersetzung mit Geschichte und Erinnerung rückte den 1990er Jahren in den Fokus der Debatte.72

Frank Thomas Grub hat 2003 in einem Handbuch „Wende' und 'Einheit' im Spiegel der deutschsprachigen Literatur“ viele Texte, die Bezug haben auf die Wende in der deutschen Politik untersucht und in fünf Kategorien eingeteilt. Literatur mit thematisch-stofflichem Bezug zur Wende; Literatur, die erst nach dem Wegfall von Publikationsbeschränkungen erscheinen durfte; Texte, die das Leben in Deutschland vor und nach der Wende aus der Perspektive der Nachwendezeit reflektieren; Forschungsberichte und dokumentarische Texte über die DDR; Literatur, die vor 1989 erschienen ist, aber die Wende mehr oder weniger mit vorbereitet hat, weil sie Missstände der DDR thematisiert hat.73 Bei der letztgenannten Kategorie spielt die Literatur, der aus der DDR ausgebürgerten oder übergesiedelten Autoren eine große Rolle, wobei es in dieser Gruppe auch sehr viele gab, die der Bundesrepublik Misstrauen entgegen brachten, nicht freiwillig gegangen waren und vom Leben im Westen ernüchtert waren.74 Das Ende der DDR ist in den von Grub untersuchten Texten nicht zwangsläufig thematisiert. Er erkennt aber in der Wende einen Auslöser vieler Autoren für die Beschäftigung mit sich selbst und der eigenen Vergangenheit. Es handelt sich dabei vielfach um Autobiographien und biographische Texte, durch die Grub zufolge ein Informationsbedarf der Bevölkerung an

persönlicher Erinnerung gedeckt wurde.75 Zu der gleichen Einschätzung kommen Hermann und Horstkotte, die schreiben, dass „Umbruch und kulturelle Integration zentrale Themen vieler Romane der 1990er Jahre waren, es liegt nahe, dass die Wende die Autoren bei ihrer

Themenwahl maßgeblich beeinflusst hat.76 Alle in diesem Zusammenhang untersuchten Texte unterscheiden sich stark in Form und Inhalt, „Wendeliteratur“ ist deswegen kein

literaturwissenschaftlicher Gattungsbegriff, sondern ein thematisch ausgerichteter Begriff.77 Bei literarischen Texten, die nach 1989 erschienen sind lassen sich allerdings einige Trends erkennen. Den literarischen Texten der Wendeliteratur ist oft gemein, dass literarisches Ich und Autor nahezu deckungsgleich sind.78 Der Schauplatz vieler Romane, die sich mit der Einheit beschäftigen, ist Berlin. Was nicht weiter verwunderlich ist, da Berlin der Brennpunt der ost-west Gegensätze ist.79 Autobiographische Texte dominieren den Diskurs. Grub zufolge sind nach 1989 unzählige Autobiographien erschienen und fand Geschichtsbewältigung primär in Form von Autobiographien statt.80 In den Autobiographien wurde die neue politische Situation von

72 Herrmann, Leonhard & Horstkotte, Silke: „Gegenwartsliteratur – Eine Einführung“, J.B. Metzler Verlag,

Stuttgart, 2016, S.3.

73 Grub, Frank Thomas: „Wende' und 'Einheit' im Spiegel der deutschsprachigen Literatur: Ein Handbuch.

Bd 1“, De Gruyter, Berlin, 2003, S. 69-81.

74 Emmerich, Wolfgang: „Kleine Literaturgeschichte der DDR“, Gustav Kiepenheuer Verlag, Leipzig, 1996,

S. 419-421.

75 Grub, S. 79.

76 Herrmann u. Horstkotte, S. 3. 77 Grub, S. 84.

78 Grub, S. 250.

79 Wehdeking, Volker: „Vorwort“ in Wehdeking, Volker (Hrsg.): „Mentalitätswandel in der deutschen

Literatur zur Einheit (1990-2000)“, Erich Schmidt Verlag, Berlin, 2000, S. 9.

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sehr unterschiedlichen Positionen aus betrachtet und sie sind deswegen unverzichtbar für die Auseinandersetzung mit der deutsch-deutschen Geschichte.81

Elisabeth Herrmann spricht in dem Zusammenhang von einer „Wende des Erinnerns“, weg von ereignisorientierter Geschichtsdarstellung hin zur Vermittlung persönlicher Erfahrungen, wobei der persönliche Blickwinken bewusst funktionalisiert wird mit dem Ziel der Aufklärung über einen historischen Zustand.82 Hannelore Scholz meinte knapp zehn Jahre nach der Wende, dass die Vielzahl von Autobiographien sich durch die die Suche nach einer gesamtdeutschen

Identität, wovon die eigene Identität Teil ist, erklären lässt.83 Bei allen Differenzen vermittelt das Genre „Wenderoman“ jedoch den Abschied von der großen Geschichtsdeutung zugunsten subversiver Fragmentierung der Geschichte.84

Wichtiger als die Frage nach formalen Elementen und der Definition eines literarischen Begriffs der Wendeliteratur, ist die Frage ob und wie die Aufarbeitung der DDR-Geschichte und

Wendezeit in literarischen Werken geschieht. Leonhard Herrmann und Silke Horstkotte gehen davon aus, dass die wichtigste Frage in diesem Zusammenhangwohl sei: „Wie bewerten wir die DDR heute, nach ihrem Ende?“85 Mit dem wir ist die Gesellschaft als Ganzes gemeint, aber auch die persönlichen Erinnerungen Einzelner. Die DDR als retrospektiv imaginierte Gesellschaft, wie sie in vielen Nach-Wende-Texten, Filmen und Ausstellungen entstand und entsteht, entspricht in ihrer Einheitlichkeit und Verbindlichkeit jedenfalls nicht der Vielfalt historischer Erfahrungen von DDR-Bürgern.86

Wenn man sich die Literatur die Ende der 1990er Jahre über die DDR erschienen ist, dann dringt sich der Eindruck auf, dass die „Ostalgie“ überherrscht. Witzige und skurrile Anekdoten aus dem DDR- Alltag kamen und kommen gut an beim Publikum. Ostalgie hatte eine

identitätsstiftende Wirkung, mit Ostprodukten wurden ein positives Image verbunden, während Westprodukte als fremd eingestuft wurden.87 Satire überherrschte. Die TAZ nannte diesen Schreibstil naiv-keck oder kalkuliert-nostalgisch.88 Die Ostalgie war um 2000 auf ihrem Höhepunkt wie an Fernsehsendungen wie die DDR-Show (RTL) oder die Ostalgie-Show (ZDF) schreibt Katja Warchold in ihrer Dissertation.89 Es ist auch nachzuvollziehen, dass es diese Ostalgie – die Sehnsucht nach den guten Erinnerungen an die DDR - zehn Jahre nach der Wende gab, Menschen hatten Zeit gehabt zu reflektieren und sich in der neuen Wirklichkeit

81 Scholz, S. 12.

82Herrmann, Elisabeth: „Individuelle Erinnerung als kollektive Identitätsstiftung nach dem Ende des Real-Sozialismus in Daniela Dahns Westwärts und nicht vergessen und Jana Hensels Zonenkindern“, in Gansel Carsten. (Hrsg.), „Rhetorik der Erinnerung: Literatur und Gedächtnis in den "geschlossenen Gesellschaften" des Real-Sozialismus“, V&R unipress, Göttingen, 2009, S.385.

83 Scholz, S.13.

84 Herrmann u. Horstkotte, S. 46. 85 Herrmann u. Horstkotte, S. 34. 86 Herrmann u. Horstkotte, S. 34. 87 Grub, S. 563.

88 Schmidt, Jochen: „Bevor der Osten Pop wurde“ unter

https://www.taz.de/Archiv-Suche/!824465&s=kordon&SuchRahmen=Print/ (zuletzt konsultiert 14.1.2018)

89 Warchold, Katja: „Erschriebene Heimat – Erinnerungen an Kindheit und Jugend in der DDR und im Nachwendedeutschland von AutorInnen der Jahrgänge 1964-1976“, Dissertation, Galway, 2013, S.4.

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zurechtzufinden, außerdem trat unter der Bevölkerung Ernüchterung auf im Angesicht von Arbeitslosigkeit und schlechter Zukunftsperspektiven.

Hannelore Scholz weist darauf hin, dass in Folge der Wende Millionen Menschen ihre eigenen Erinnerungen hinterfragen. „War denn alles schlecht?“.90 Hierin zeigt sich die Diskrepanz

zwischen staatlicher Erinnerungskultur und lokal verwurzelter Erinnerungsgemeinschaften wie dies nicht nur mit Bezug auf die DDR besteht.91 Die Bürger der ehemaligen DDR, die sich in der neuen Welt des Kapitalismus zurechtfinden mussten, erinnerten sich gerne an typische DDR-Dinge wie Lebensmittel von DDR-Marken, die Institution der Kinderkrippen, Jugendweihe oder die traditionellen Werte der Familie, die im Osten einen höheren Stellenwert zu haben schienen als im Westen. Man grenzte sich auch gerne ab von der „Erlebnisgesellschaft“ der

Bundesdeutschen.92 Positive Erinnerungsorte an die DDR gewannen große Sichtbarkeit und wurden touristisch produktiv vermarktet, während die Orte des Terrors und Unrechts – mit wenigen Ausnahmen- verblassten.93 Es gibt viele Romane, die sich mit der Normalität des Lebens in der DDR beschäftigten, weit weg von der Diktatur. Viele dieser Romane wurden geschrieben von jüngeren Autoren, die die DDR nur als Kind und Jungerwachsene erlebt hatten, zum Beispiel „Zonenkinder“ von Jana Hensel oder „Helden wie wir“ von Thomas Brussig, zwei Romane, die immer auftauchen, wenn es um den Begriff der Wendeliteratur geht.94

Vom geschichtswissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet, wird die DDR verharmlost wiedergegeben, aber für viele Menschen, war diese verharmloste DDR ihre Wirklichkeit.95 Die Romane illustrieren dabei den Prozess, die eigenen Erinnerungen mit der historischen Realität der DDR-Diktatur in Einklang zu bringen und einzuordnen. Autobiographien sind deswegen für Volker Wehdeking die ideale Gattung für den nach der Wende einsetzenden Mentalitätswandel und der Identitätsüberprüfung bzw. –Findung. Sowohl für den Autor selbst als auch für den Leser. Persönliche Erfahrungsberichte über die Suche nach der eigenen Identität stoßen auf reges Interesse, weil sie einen Wiedererkennungswert haben.96 Die Konstituierung eines kollektiven Gedächtnisses zur Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit der deutsch-deutschen Teilung war ein wichtiger Effekt der Literatur der 1990er Jahre.97 Vielleicht gerade, weil es dabei ein Spannungsfeld gab von Selbstreflexion, Verklärung und Nostalgie, autobiographische Rechtfertigung und polarisierende Verteidigung der DDR.98

Die Schwierigkeiten der Annäherung zwischen Ost und West erklären sich auch als dem jahrzehntelang propagandierten offiziellen Selbstbild der DDR als der wahre antifaschistische Staat, der nach der Niederlage von Hitler-Deutschland durch kommunistische

90 Scholz, S. 15.

91 Bekes, Peter: „Geschichte im Hinterhof. Klaus Kordons Jugendroman Die roten Matrosen oder Ein

vergessener Winter (1984)“, in Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, 71, 1, 2009, S. 365.

92 Wehdeking, Volker: „Vorwort“, S. 7.

93 Assmann, Aleida: „Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur, eine Intervention“, S. 120. 94 Warchold, S.4.

95 Warchold, S.10.

96 Wehdeking, Volker: „Mentalitätswandel im deutschen Roman zur Einheit“ in Wehdeking, Volker

(Hrsg.): „Mentalitätswandel in der deutschen Literatur zur Einheit (1990-2000)“, Erich Schmidt Verlag, Berlin, 2000, S.33.

97 Herrmann, S. 371. 98 Herrmann, S. 384.

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Widerstandskämpfer aufgebaut worden war.99 Dies verhinderte zu einem wichtigen Teil die Beschäftigung mit der Schuldfrage des Nationalsozialismus innerhalb der DDR. Aleida Assmann meint, dass sich in der Bundesrepublik spätestens nach dem Kniefall Willy Brandts als Bitte um Verzeihung für die NS-Verbrechen, obwohl dieser selbst nicht Teil davon gewesen war, die Auffassung durch setzte, dass Mitläufer sich auch schuldig gemacht hatten. Während in der DDR die Sichtweise die Bevölkerung als Opfer des Nationalsozialismus zu sehen bestehen blieb.100 Innerhalb einer geschlossenen Erinnerungsgesellschaft können Erinnerungen geteilt werden und verstanden werden. Anders verhält es sich, wenn man versucht außenstehenden, die nicht das Gleiche erlebt haben, zu vermitteln, wie es war. Das einzige von dem der Erzähler sich dann sicher sein kann, ist die eigene Erfahrung, auf die er sich dann auch beruft, womit die

individuelle Erfahrung einen Allgemeingültigkeitsanspruch erhält.101

Da es innerhalb einer Gesellschaft verschiedene Erinnerungsgesellschaften gibt, auf Grund unterschiedlicher Erfahrungen, erklärt sich, warum verschiedene Autoren sich die DDR

unterschiedlich erinnern und jeweils die eigene Erinnerung für die Wahrheit halten. Insgesamt dienen die autobiographischen Erinnerungen der Archivierung und Vermittlung von

Alltagsgeschichte. Durch autobiographische Elemente wird historische Wirklichkeit sichtbar, verständlich und vermittelbar.102

3.2 Was ist eine Autobiographie?

Die literarische Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit fand zu einem großen Teil in autobiographisch geprägten Texten stand. Eine Autobiographie ist eine Beschreibung

(graphein) des Lebens (bios) eines Einzelnen durch diesen selbst (auto).103 Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts gibt es die Autobiographie als literarische Form.104 Seit den 1990er Jahren gibt es einen Trend zur Biographie und Autobiographie in der Literatur. Das Interesse von Lesern an authentischen Erfahrungen nicht nur von bekannten Persönlichkeiten, sondern auch von alltäglichen Personen, ist seitdem stetig gewachsen.105 Von authentischen, selbst erlebten Erfahrungen des Autors erhofft der Leser sich einen Mehrwert für das eigene Leseerlebnis.106

Philippe Lejeune hat 1975 als eine Definition der Autobiographie erstellt, an die bis in die heutige Zeit referiert wird. Er beschreibt Autobiographie als „rückblickende Prosaerzählung einer tatsächlichen Person über ihre eigene Existenz, wenn sie den Nachdruck auf ihr persönliches Leben und insbesondere auf die Geschichte ihrer Persönlichkeit legt.“107 Für Lejeune ist ein Buch nur eine Autobiographie, wenn der biographische Bezug eindeutig ist,

99 Herrmann u. Horstkotte, S. 33.

100 Assmann, Aleida: „Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur, eine Intervention“, S.111 101 Herrmann, S. 374.

102 Herrmann, S. 385.

103 Becker, Sabina, Hummel Christine & Sander, Gabriele: „Grundkurs Literaturwissenschaft“, Reclam,

Stuttgart, 2006, S. 204.

104 Kelm, Heike: „Autobiographische Spuren im Narrativ ausgewählter Kinder- und Jugendbuchautoren

der Nachkriegsgeneration“, Dissertation, Münster, 2006, S.17.

105 Kelm, S. 11. 106 Kelm, S. 18.

107 Lejeune, Philippe: „Der Autobiographische Pakt“ aus dem Französischen von Wolfram Bayer und

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Protagonist und Autor den gleichen Namen tragen und das Werk keine fiktiven Elemente enthält.108

Lejeune folgend ist die Ausgansposition des Lesers beim Lesen einer Autobiographie anders als bei einem Roman. In einer Autobiographie sucht der Leser ihm zufolge nach Unterschieden zwischen Autor und der Hauptfigur, in einen Roman, der nicht als autobiographisch

ausgewiesen ist, nach Ähnlichkeiten zwischen Protagonist und Autor, also genau das

Umgekehrte. Der Leser hat an die Autobiographie außerdem einen Wahrheitsanspruch. Er muss davon ausgehen können, dass alles genau so passiert ist, wie dargestellt. Diese

Erwartungshaltung des Lesers, die der Autor respektieren sollte, nennt Lejeune den „Autobiographischen Pakt.“109 Thematisch steht für Lejeune in einer Autobiographie die Reflexion über das eigene Ich immer im Vordergrund.110

Fast keine Autobiographie erfüllt alle durch Lejeune festgestellten Kriterien. Für die Analyse eines Werkes über das Leben eines Autors, durch ihn selbst geschrieben ist, ist es daher sinnvoller von einem autobiographischen Roman zu sprechen und dabei zu beachten, dass ein gewisses Maß an Selbstzensur und Selbstkritik Bestandteil des Werkes ist. Martina Wagner-Engelhaaf weist darauf hin, dass der autobiographische Pakt, also der Vertrag zwischen Leser und Autor, dass der Autor wahrheitsgemäß über sein eigenes Leben erzählt und der Leser dies auch als Wahrheit rezipiert, durchaus nützlich ist bei der Analyse autobiographischer Schriften, auch wenn Lejeunes Kriterien wie der Gebrauch des Eigennamens nicht erfüllt werden.111 Eine Autobiographie kennzeichnet sich durch die subjektive Autorenposition und die subjektive Wahrnehmungsperspektive, dies macht sie als historische Quelle unzuverlässig, auch wenn Autobiographien die Abbildung historischer Realität für sich beanspruchen.112

Meist spielt die Kindheit in der Autobiographie eine große Rolle, vor allem, wenn es dem Autor darum geht, durch das Schreiben sich selbst besser zu verstehen.113 Der Wunsch

Selbsterkenntnis zu erlangen ist neben der Freude an der Selbstdarstellung deswegen die Hauptmotivation zum Schreiben einer Autobiographie meint Wagner-Engelhaaf.114 Außerdem ist der Wunsch historische Ereignisse in das eigene Leben einzuordnen, um Geschichte am Einzelschicksal zu verdeutlichen, eine wichtige Schreibmotivation.115 Da ein Autor nie über jedes einzelne Detail seines Lebens berichten kann, muss er zwangsläufig auswählen, welche Erinnerungen er in seine Autobiographie aufnimmt und welche nicht. Autobiographien

thematisieren oft das Überwinden eines Traumas. Andere Themen sind Trauer, Krieg, Unrecht, Menschenrechtsverletzungen, Krankheiten, Gewalt, Terror, Umgang mit Behinderung,

psychische Probleme, Abhängigkeit, Älterwerden, das Auseinandersetzen mit dem eigenen Tod ein Coming-out oder die Darstellung der Familiengeschichte.116 Ein Roman ist in sich

108 Lejeune, S. 27. 109 Lejeune, S. 30. 110 Lejeune, S. 42.

111 Wagner-Engelhaaf, Martina: „Autobiographie“, Metzler, Stuttgart/Weimar, 2000, S. 7. 112 Kelm, S. 18.

113 Wagner-Engelhaaf, S. 40. 114 Wagner-Engelhaaf, S. 41. 115Grub, S.305.

116 Smith, Sidonie & Watson Julia: “Reading Autobiography, A guide for Interpreting life narratives”,

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geschlossen eine Autobiographie nicht.117 Die typischen Schreibweisen von Autobiographen sind bekennen, erzählen oder berichten.118 Erzählend organisieren, interpretieren und re-interpretieren Individuen ihre Erfahrungsrealität und stabilisieren so ihr autobiographisches Bewusstsein.119

In einer Autobiographie wird das eigene Leben oft mit historisch wichtigen Ereignissen verbunden. Durch diese Fixpunkte, speichern Erinnerungen sich besser ab und man erinnert sich an beide Ereignisse im Zusammenhang mit einander. Außerdem haben Erinnerungen eine soziale Funktion, der Mensch sucht immer nach anderen, die die Erinnerung teilen, oder gemeinsame Erlebnisse, die den Zusammenhalt einer Gruppe stärken. 120 Der Kindheit wird in Autobiographien traditionell viel Platz eingeräumt, da diese für das Verstehen der eigenen Identität wichtig erscheint.121 Da Erinnerungen auf subjektiven Erfahrungen basieren, stellt eine Autobiographie nie objektiv historischer Ereignisse dar.

3.3 Autobiographie und Erinnerung

Lejeune ging davon aus, dass es eine verifizierbare historische Realität gibt, die sich in einer Autobiographie darstellen lässt, neuere Forschung sieht dies anders.122Vollkommen objektiv auf das eigene Leben zurückblicken ist nach dem heutigen Stand der Gedächtnisforschung

unmöglich. Außerdem haben Untersuchungen ergeben, dass der Zeitgeist bewusst und unbewusst Einfluss auf autobiographisches Schreiben hat. Zehn Jahre früher oder später geschrieben, würde vermutlich ein anderes Resultat zeigen.123 Dies hat damit zu tun erklärt die Gedächtnisforscherin Aleida Assmann, dass unsere Erinnerungen alles andere als zuverlässig sind. Sie sind kein exakter Spiegel eines vormaligen Geschehens, sondern immer schon gebrochen durch die Beschränkung unserer Perspektive, unserer Wahrnehmung, unserer Bedürfnisse und Emotionen. Außerdem verändern sie sich im Laufe der Zeit durch immer neue Rekonstruktionen.124

Martina Wagner-Egelhaaf gibt an, dass Wahrheit durch den Autobiographen selbst nicht dargestellt werden könne, er müsse aber den Willen zur Wahrheit haben, den Wunsch die Wahrheit zu erzählen. „Informationen müssen wahr sein. Wahr gewesen sein, oder hätten wahr

sein können.“125 Und der Autor muss vor allem selbst von seiner Wahrheit überzeugt sein. Stellt man als Interpret Unwahrheiten oder Fehler fest, dürfe er dabei nicht die Grenzen des

Gedächtnisses eines Jeden vergessen, die vollständige Reproduzierbarkeit verhindern da wir uns nicht an das Ereignis selbst, sondern an das Bild des Ereignisses in unserem Kopf

117 Wagner-Engelhaaf, S. 49. 118 Wagner-Engelhaaf, S. 57. 119 Warchold, S. 2. 120 Wagner-Engelhaaf, S. 85. 121 Wagner-Engelhaaf, S. 34. 122 Warchold, S. 25.

123 Becker, Hummel & Sander, S. 207.

124 Assmann, Aleida: „Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen.

Erich Schmidt Verlag, Berlin, 2006, S.181.

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erinnern.126 Wagner-Egelhaaf sieht die Autobiographie deswegen als Grenzgängertum zwischen Geschichte und Literatur.127

Erinnerung basiert nicht nur auf persönlichen Erfahrungen sondern auch auf der bewussten und unbewussten Übernahme von Fakten die uns durch andere (Eltern, Institutionen, Gesellschaft) mitgegeben werden. Wirklichkeit ist nicht vorgegeben, sondern wird von den interagierenden Teilnehmern einer Kultur oder Gesellschaft beständig konstruiert.128 In jeder Gesellschaft existieren allerdings konkurrierende Erinnerungsgesellschaften.129

Autobiographische Ereignisse werden bei der Erinnerung schon interpretiert so dass diese kompatibel sind mit dem Selbstbild.130Wir lernen schon in früher Kindheit, welche

Erinnerungen in unserer Umgebung und Kultur es wert sind, nicht zu vergessen.131 Kindheitsbilder prägen zudem das kulturelle Gedächtnis einer Gemeinschaft.132

Der Begriff kommunikatives Gedächtnis wurde 1992 durch den Erinnerungsforscher Jan Assmann geprägt.133 Beim kollektiven Gedächtnis wird zwischen dem kommunikativen Gedächtnis und dem kulturellen Gedächtnis unterschieden. Kommunikatives Gedächtnis verwandelt sich in langfristiges kulturelles Gedächtnis einer Gesellschaft.134 Eine Gesellschaft hat kein kollektives Gedächtnis, sie macht es mithilfe unterschiedlicher symbolischer Medien wie Texten, Bildern, Denkmälern und Jahrestagen. Mit der Hilfe von gemeinsamen, für ihre jeweilige Bevölkerung verbindlichen Bezugspunkten in der Vergangenheit und in der

kulturellen Überlieferung machen solche Kollektive damit zugleich eine Wir-Identität, die nicht Sache der individuellen Herkunft und Abstammung ist, sondern in Form von Lernen, Teilnahme an Riten, Identifikation und anderen Formen praktizierter Zugehörigkeit erworben wird. Bis vor kurzem ging es Aleida Assmann zufolge dabei darum ein heroisches Selbstbild der politischen Wir-gruppe zu konstruieren. Seit den 1990er Jahren begannen verschiedene Staaten ihrer Meinung nach damit historische Schuld zu reflektieren und in Form öffentlicher Bekenntnisse als ein negatives Gedächtnis in ihr Selbstbild aufzunehmen.135 Diese neue Erinnerungskultur ist in Deutschland in den letzten 30 Jahren intensiv aufgebaut worden und ganz selbstverständlich im Alltag vertreten.136

Zeitgeschichtliche Kinder- und Jugendliteratur ist Teil dieser Erinnerungskultur. Diese

unterscheidet sich deswegen von historischer Kinder- und Jugendliteratur, wie diese in Kapitel 2 besprochen wurde. Der Hauptunterschied dabei ist, dass zeitgeschichtliche Kinder- und Jugendliteratur historische Themen aufgreift, über deren Interpretation sich in der Gesellschaft sich noch kein abschließender Konsens geformt hat.

126 Wagner-Engelhaaf, S. 42. 127 Wagner-Engelhaaf, S. 2. 128 Wagner-Engelhaaf, S. 59. 129 Warchold, S. 46. 130 Wagner-Engelhaaf, S. 87. 131 Smith u. Watson, S. 22. 132 Kümmerling-Meibauer, S.23. 133 Henke-Bockschatz, S. 199.

134 Assmann, Aleida: „Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur, eine Intervention“, S.120. 135 Assmann, Aleida: „Einführung in die Kulturwissenschaft.“, S. 181.

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3.4 Zeitgeschichtliche autobiographische Jugendliteratur

Vor dem Zweiten Weltkrieg, gab es den Begriff Zeitgeschichte nicht.137 Zeitgeschichte in der Kinder- und Jugendliteratur wird von Malte Dahrendorf definiert als „eine Vergangenheit in derer unmittelbarer Auswirkung wir heute noch leben“ oder auch „derjenige Zeitraum, über den die Mitglieder einer Gesellschaft noch aus eigener Erfahrung berichten können.“

Demnach umfasst die Zeitgeschichte einen Zeitraum von ca. 75-90 Jahren und entspricht damit genau dem Umfang des kommunikativen Gedächtnisses, die Erinnerung einer Gesellschaft an Ereignisse die von Zeitzeugen aus erster Hand und eigener Erfahrung (mündlich)

weitergegeben werden.138 Dies erklärt auch, warum zeitgeschichtliche Romane oft (teilweise) autobiographisch sind. Die Erlebnisse und Erfahrungen, die der Autor selbst als Kind gemacht hat, spielen nicht selten eine Hauptrolle in zeitgeschichtlicher Jugendliteratur.139

In zeitgeschichtlichen Romanen werden Vergangenheit und Gegenwart gleichwertig behandelt und zeitgeschichtliche Romane sind meist gleichzeitig politisch und geschichtserzählend motiviert.140 Die politischen Fragen und Umstände der Gegenwart bestimmen dabei das

Interesse an der Vergangenheit, weil in den Ereignissen der Vergangenheit die Erklärung für die Probleme der Gegenwart gesucht wird. In der Zeitgeschichte kann es deswegen keine scharfe Unterteilung zwischen Vergangenheit und Gegenwart und zwischen Geschichte und Politik geben, weil es sich bei Zeitgeschichte nicht um eine abgeschlossene Ära handelt, welche erledigt und abgeschlossen ist. Sie verändert sich und wirkt sich auf die Gegenwart aus. Es gibt über zeitgeschichtliche Themen in der Gesellschaft oft noch keinen Konsensus und wissenschaftliche Aussagen stehen oft im Gegensatz zu den aktuellen Lebensgeschichten der Einzelnen.141

Die zeitgeschichtliche Kinder- und Jugendliteratur zählt zum Genre der problemorientierten Jugendliteratur, welche sich in den 1970er Jahren etablierte, nachdem im Rahmen der 68er-Bewegung auch eine „Emanzipation des Kindes“ stattgefunden hatte.142 Mehr noch als bei anderen Jugendbuchgenres ist bei zeitgeschichtlicher Jugendliteratur die Funktion der erwachsenen Vermittler von Bedeutung. Da die Intention historischer Literatur nie nur ist zu unterhalten, sondern Wissen vermitteln und erzieherische Absichten über moralisch gutes oder schlechtes Verhalten. In zeitgeschichtlichen Jugendromanen wird meist die Sozial- Alltags- Mentalitäts- und Kulturgeschichte der „kleinen Leute“ beschrieben, sie ergreifen häufig Partei für die Verlierer.143 Die meisten zeitgeschichtlichen Jugendromane sind von Autoren

geschrieben, welche den Nationalsozialismus, Krieg und Nachkriegszeit selbst als Kinder und Jugendliche erlebt haben, es ist deswegen nicht verwunderlich, dass die jugendlichen

Protagonisten dieser Romane häufig eine Nähe zur Biographie des Autors aufweisen. Dieses erkennt man auch an den Themen, die häufig aufgegriffen werden wie der Verlust des Vaters, zerbombte Städte, Armut, Hunger, Krankheit, Flucht, Vertreibung und Besatzung. Ereignisse, die

137 Von Glasenapp, Gabriele: „Geschichtliche und zeitgeschichtliche Kinder- und Jugendliteratur“, S. 269. 138 Henke-Bockschatz, S.199.

139 von Glasenapp, Gabriele, „Was ist Historie? Mit Historie will man was“, S. 32. 140 von Glasenapp, Gabriele, „Was ist Historie? Mit Historie will man was“, S. 27. 141 Henke-Bockschatz, S. 199.

142 Weinmann, S. 30.

Referenties

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