Eleonora Vlasova / Eleonora Gillberg Datum afgifte: 29 juni 2017
Welche Rolle spielt die Melancholie
im Roman Simplicissimus Teutsch?
Universiteit van Amsterdam Hoofdbegeleider: Elisabeth Meyer Tweede lezer: Elke Huwiler
INHALTSVERZEICHNIS
1. Einleitung ... 3
2. Begriffserklärung der Melancholie ... 4
2.1 Die Melancholie-Beispiele im V. Buch des Simplicissimus Teutsch ... 8
2.2 Die Unbeständigkeit der menschlichen Natur – ein Grund für die Melancholie .. 18
2.3 Vanitas-Motiv ... 22
3. Das Weltbild des Barock: Antithetik und Melancholie ... 28
3.1 Die moralisch-didaktische Bedeutung der Pflaumen-Episode in Continuatio ... 36
3.2 Die innere Zerrissenheit von Simplicissimus - Dualismus ... 47
3.3 Die Weltflucht als ein Versuch der Melancholie zu entfliehen ... 53
3.4 Zwischen Utopie und Chaos ... 59
3.5 Satire als Kehrseite der Melancholie ... 66
4. Schluss ... 73
5. Literaturverzeichnis ... 75
1. Einleitung
Der Abentheuerliche Simplicissimus Teutsch gilt als ein Lehrbuch barocker Weltanschauung. Der Autor Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen beschreibt in seinem Schelmenroman die grausamen Erfahrungen des Dreißigjährigen Krieges (1618–1648) und seine sichtbaren Folgen der Zerstörung. Es ist eine sehr gefährliche Zeit, die bei Menschen Melancholie hervorruft. Doch nicht nur die Kriegssituation sorgt für eine melancholische Stimmung. Melancholie ist auch mit den damaligen Überzeugungen
verbunden.
Melancholie zählt zu der bekanntesten Seelenkrankheit der Barockzeit. Auch die Hauptfigur Simplicius ist der Melancholie, der typischen Krankheit seiner Zeit, verfallen: „man haette eine Zeitlang an meinem
melancholischen Humor wol gesehen / daß ich halber desperat gewest waere […]“ (Buch V, Kapitel 12). Das Seelenleben der Hauptfigur
Simplicius ist auch einer der Hauptschlüssel, der uns hilft, den Grund der Melancholie im Schelmenroman und gleichzeitig auch in der damaligen Epoche zu verstehen.
Demzufolge möchte ich in dieser Arbeit auf die folgende Frage eingehen: Welche Rolle spielt die Melancholie im Simplicissimus Teutsch?
In den kommenden Kapiteln erläutere ich einige Gründe des damals herrschenden melancholischen Gemütszustands. Hierfür untersuche ich unterschiedliche Szenen aus dem Schelmenroman Simplicissimus Teutsch und analysiere mögliche Ursachen dieser typischen Seelenkrankheit der Barockzeit.
2. Begriffserklärung der Melancholie
Melancholie kann heutzutage auf verschiedene Weisen erklärt werden: philosophisch, theologisch oder auch psychoanalytisch. Doch haben diese Erklärungsversuche immer viel miteinander gemeinsam, sie alle beziehen sich auf einen inneren Gemütszustand eines Menschen.
Um die Melancholie im Schelmenroman Simplicissimus Teutsch erläutern zu können, wende ich mich, neben den theologisch-philosophischen, auch den gegenwärtigen psychoanalytischen Darlegungen zu diesem Thema zu. Ich untersuche aus welchen Blickrichtungen sie den melancholischen Gemütszustand der damaligen Epoche erklären können.
Aus der heutigen Sicht können wir Folgendes über die Melancholie sagen:
„Die Melancholie ist das psychosomatische Krankheitsbild des Zeitalters. Der Begriff ‚psychisch-somatisch‘ (Heinroth) wird neben Schlafstörungen zunächst auf die Melancholie angewandt“1.
Andreas Härter beschreibt in seiner Studie die Melancholie als ‚Stimmungslage einer resignativen Schwermut‘ und reiht sie in ein ‚Krankheitsbild psychisch manifestierter Gemütsverfassung ein‘2.
Zu dem melancholischen Temperament
„gesellt sich im weiteren eine erhitzte, schwärmerische Einbildungskraft bei, die ‚fixe Ideen‘ produziert, insbesondere ‚falsche Religionsbegriffe‘, etwas solche von einem strafenden, ungnädigen Gott, von der eigenen Sündhaftigkeit oder
schwärmerischen Ideen vom Paradies. Die Symptome reichen von
1 Marion Schmaus: Psychosomatik: literarische, philosophische und medizinische
Geschichten zur Entstehung eines Diskurses (1778-1936). Walter de Gruyter. Johann
Wolfgang Goethe-Universit t Frankfurt/M. 2009. S. 52.
2 Sebastian Schmitter: Basis, Wahrnehmung und Konsequenz: zur literarischen Präsenz des
Melancholischen in den Schriften von Hugo von Hofmannsthal und Robert Musil.
Traurigkeit, Trägheit, Stumpfsinn und Wahnsinn bis zu Mord oder Selbstmord“3.
Einer der älteren humoralpathologischen Befunde der religiösen Melancholie ist die schwarze Galle. Die medizinische Metaphorik der schwarzen Galle hat einerseits eine religionsinterne, polemische Funktion, andererseits ist sie
„Ausdruck einer Naturalisierung des Verständnisses vom Menschen; was vormals als teuflische Versuchung verstanden wurde, wird nun ‚natürlich‘, d.h. naturwissenschaftlich begründet. Die religiöse Melancholie wird dabei zum exponierten Anwendungsfall psychosomatischer Erklärungsmuster: Entweder wird sie als
Einwirkung des Körpers auf die Seele gefasst, d.h. auf die natürliche Ursache eines Nervenfiebers, einer Milzsucht etc. zurückgeführt; oder umgekehrt als Einwirkung der Seele auf den Körper“4.
Wenn der innere melancholische Gemütszustand sich in einer körperlichen Form äußert, spricht man heutzutage von der Psychosomatik. Die
Psychosomatik kann u.a. mit Hilfe von zwei Bedeutungsebenen erläutert werden: holistisch und psychogenetisch. Die holistische bezieht sich auf ein ganzheitliches Menschenbild-Verständnis,
„auf die Einheit von Leib und Seele, die psychogenetische Bedeutung‚ ‚implies an etiologic hypothesis about the role of psychologic factors in human disease‘. Psychogenese der Krankheit und Psychotherapie gehen im psychosomatischen Diskurs schon früh eine Verbindung ein“5.
Das psychosomatische Krankheitsbild lässt sich gut mit verschiedenen psychischen Kurmethoden heilen, besonders „im Falle von auf Ideen
3 Marion Schmaus: Psychosomatik: literarische, philosophische und medizinische
Geschichten zur Entstehung eines Diskurses (1778-1936). Walter de Gruyter, Johann
Wolfgang Goethe-Universit t Frankfurt/M. 2009. S. 53.
4 Vgl. Ebd. S. 54. 5 Vgl. Ebd. S. 3.
basierenden Krankheiten“6. Im vierten Buch des Simplicissimus Teutsch
erleidet Simplicius an einer zeitlichen Hautkrankheit. Seine seelische Erkrankung Melancholie verwandelt sich in eine körperliche Erkrankung und wird äußerlich sichtbar. Diese entspricht dem psychosomatischen Krankheitsbild. In weiteren Kapiteln gehe ich näher auf dieses
psychosomatische Beispiel ein.
Im Fall von Simplicissimus kann man auch behaupten, dass sein
psychosomatisches Leiden sich aus der religiösen Melancholie entwickelt hat.
Die religiöse Melancholie ist eine schichtenspezifische Volkskrankheit in der Zeit des Barock. Diese Melancholie ist auch
„ein Beispiel für das punktuelle epidemische Auftreten
psychosomatischer Leiden. In der Wahrnehmung psychosomatischer Leiden als Zeitkrankheiten sedimentiert sich ein insbesondere durch Freud ausformuliertes Verständnis von Psychogenese. Krankheiten sind als eine Form des aktiven Verhaltens in Reaktion auf eine
bestimmte Situation und eine historische Problemlage aufzufassen, ja sie erscheinen als fehlgehende Problemlösungsstrategie und als ein ebensolches Heilungsbemühen der leibseelischen Einheit Mensch. Diese Leiden sind Ausdruck eines Konflikts des Individuums mit seiner Umwelt, sie stellen in unverständlicher, hermeneutischer Anstrengungen bedürftiger Sprache ein Kommunikationsgebot dar. Diese Symptomsprache ist historisch und kulturell wandelbar“7.
Die Symptome sind also von der Zeit und der Kultur abhängig, so gibt es einige Anzeichen, die von der Gesellschaft oder von einem Arzt anerkannt werden können. So gilt zu der Zeit des Schelmenromans Simplicissimus
Teutsch u.a. die schwarze Galle als ein deutliches Zeichen der bestehenden
Melancholie.
6 Vgl. Marion Schmaus: Psychosomatik: literarische, philosophische und medizinische
Geschichten zur Entstehung eines Diskurses (1778-1936). S. 3.
Bei vielen Fällen der religiösen Melancholie kann es sich um Wahnvorstellungen handeln, die sich auf „Gewissens- und
Religionsgegenstände beziehen“8. Viele Fälle handeln von einem Wahnsinn,
der aus einer religiösen Überspannung hervorgeht, wenn jemand von seiner ewiger Verdammnis überzeugt ist. Die religiöse Melancholie ist sehr präsent in der damaligen Zeit und quält viele Menschen. Die Umstände des
Dreißigjährigen Krieges machen es umso schwieriger, sich an das Idealbild eines Christen zu halten. Dieses verursacht eine innere Zerrissenheit. Lettgen (2010) beschreibt die Melancholie als ein erkenntnistheoretisches Problem:
„Die Melancholie fragt nach der Bedeutung der Welt. Sie ist auf der Suche nach Grund und Sinn – vor allem ihres eigenen Zustandes. Der Melancholiker versucht hinter die Dinge zu schauen, an deren
Oberfläche er keine offensichtliche Bedeutung erkennen kann“9.
Auch wir wollen in dieser Arbeit auf die Suche nach Grund und Sinn der Melancholie im Simplicissimus Teutsch gehen.
8 Vgl. Marion Schmaus: Psychosomatik: literarische, philosophische und medizinische
Geschichten zur Entstehung eines Diskurses (1778-1936). S. 53.
9 Daniel Lettgen: „…und hat zu retten keine Kraft.“ Die Melancholie der Musik. SCHOTT
2.1 Die Melancholie-Beispiele im V. Buch des Simplicissimus
Teutsch
In diesem Kapitel möchte ich auf einige Textstellen aus dem fünften Buch des Simplicissimus Teutsch eingehen, die auf einen melancholischen Gemütszustand weisen. Um den vorhanden Melancholie-Gedanken festzulegen, werde ich diese Textstellen beschreiben und analysieren. Ich beginne mit einer Bibelstelle, die Grimmelshausen gern in seinem
Schelmenroman zitiert:
„Das kommende Friedensreich Gottes“
1 In den letzten Tagen aber wird der Berg, darauf des HERRN Haus ist, fest stehen, höher denn alle Berge, und über die Hügel erhaben sein, und die Völker werden dazu laufen, (Jesaja 2.2-4) 2 und viele Heiden werden gehen und sagen: Kommt, laßt uns hinauf zum Berge des HERRN gehen und zum Hause des Gottes Jakobs, daß er uns lehre seine Wege und wir auf seiner Straße wandeln! Denn aus Zion wird das Gesetz ausgehen und des HERRN Wort aus Jerusalem. (Lukas 24.47) 3 Er wird unter großen Völkern richten und viele Heiden strafen in fernen Landen. Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Es wird kein Volk wider das andere ein Schwert aufheben und werden nicht mehr kriegen lernen. 4 Ein jeglicher wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen ohne Scheu; denn der Mund des HERRN Zebaoth hat's geredet. (1. Könige 5.5) (Sacharja 3.10)
5 Denn ein jegliches Volk wandelt im Namen seines Gottes; aber wir wandeln im Namen des HERRN, unsers Gottes, immer und ewiglich.
Dieser Auszug aus der Bibel gibt den Menschen Hoffnung auf ein
paradiesisches Zusammenleben auf der Erde. Weinstock und Feigenbaum stehen symbolisch für ein utopisches, friedvolles Leben. Der Prophet Micha spricht von diesem zukünftigen seelischen Gemütszustand: "Ein jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen." (Micha 1, 4)
Die menschliche Welt, die im Simplicissimus Teutsch beschrieben wird, befindet sich im Chaos. Es herrscht der Dreißigjährige Krieg. Menschen befinden sich in schwierigen Lebenssituationen und leben unter
katastrophalen Bedingungen. Die biblischen Texte geben den Menschen Trost und Hoffnung auf eine Besserung der Situation.
Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen verweist in seinem
Schelmenroman an mehreren Textstellen auf die Bibelanspielung, indem er den Weinstock und Feigenbaum erwähnt. Im fünften Buch beschreibt er die Möglichkeit eines friedenvollen Zusammenlebens, die er in anderen
Ländern erlebt hatte:
„da sahe ich die Leute in dem Frieden handlen und wandlen / die Staelle stunden voll Viehe / die Baurn-Hoef lieffen voll Huener / Gaens und Endten / die Strassen wurden sicher von den Raesenden gebraucht / die Wirthshaeuser sassen voll Leute die sich lustig machten / da war gantz keine Forcht vor dem Feind / keine Sorg vor der Pluederung / und keine Angst / sein gut Leib noch Leben zu verlieren / ein jeder lebte sicher unter seinem Weinstock und Feigenbaum“ (449,28 f.).
Die soziokulturelle Wirklichkeit der Entstehungsepoche des Romans sieht sehr düster aus. Die Melancholie unter den Menschen entsteht u.a. durch die damalige, historische Situation. Doch aus dieser Düsterheit und
Verzweiflung wächst auch ein Wunsch nach Frieden und einer Vereinigung Teutschlads. Später in dieser Arbeit wende ich mich der utopischen Welt der Unterwasserwesen zu, die diesen Wunsch nach einem paradiesischen Leben bestätigt.
Eine weitere Textstelle, wo es sich um die Bibelanspielung von Weinstock und Feigenbaum handelt ist die Folgende:
„Ach grosser Gott / es seuffzet aber alle Welt nach dem Frieden / und versprechen ein grosse Besserung / warumb woltestdu ihnen dann solchen noch laenger verweigern koennen? Ja / […] sie seuffzen wol /
aber nit meinet- sondern ihrentwillen; Nicht / daß jeder unter seinem Weinstock und Feigenbaum Gott loben / sondern daß sie deren edle Fruechten mit guter Ruhe / und in allem Wollust geniessen moechten“ (463,36 f.).
Diese Textstelle bestätigt nicht nur den großen Wunsch und Verlangen der Menschen nach einem Frieden, sondern gibt auch eine Antwort darauf, wieso die Welt diesen Frieden noch nicht haben kann. Die Erklärung ist, dass die Menschen noch zu wollüstig sind und es bevorzugen in Sünde leben. Sie folgen den göttlichen Lehren nicht, loben und bieten Gott erst an, wenn sie Etwas von ihm haben wollen. Sie geben sich lieber den irdischen Reizen hin, statt sich um ihre Mitmenschen und ihren eigenen Seelenheil zu kümmern. Diese Textstelle gibt somit die ersten Hinweise zur Besserung der herrschenden Situation an. Gleichzeitig macht sie einen Hinweis darauf, wie man seine Melancholie heilen könnte, nämlich indem man sich mehr seinem Seelenheil widmet. Wie wir schon im vorherigen Kapitel beschrieben
haben, handelt es sich bei der Melancholie um eine Seelenkrankheit.
Auch die Hauptfigur des Schelmenromans ist an der Seelenkrankheit der Melancholie erkrankt. Schon in den jungen Jahren verliert Simplicissimus sich selbst, in der Vielfalt der sündigen Welt. Dieses ist ihm bewusst und er entwickelt ein schlechtes Gewissen, das ihn immer wieder in einen
melancholischen Zustand versetzt:
„als einer den man zum Galgen fuehrt / mein Gewissen fieng mich an zu druecken / und in dem ich allerley Gedancken machte / stelleten sich alle meine Bubenstueck vor Augen / die ich mein Lebtag je begangen / da beklagte ich erst die verlorne Unschuld / die ich auß dem Wald gebracht / und in der Welt so vielfaeltig verscherzt hatte / und was meinen Jammer vermehrte / […] als haette er meine
Verdammnus gewust / und an mir bejammert.“ (451,1)
Simplisissimus beklagt sich selbst und ist unzufrieden mit sich selbst. Bisher hat er sich noch keiner bestimmten religiösen Gruppe angeschlossen, weil er zu viel Schamgefühl vor seinen Taten empfand. Letztlich entscheidet er sich
zu beichten und den katholischen Glauben anzunehmen. Er geht in die Kirche, weil er sein seelisches Leiden, die hoellische Pein, erleichtern will. Jedoch, als er sich der Communion bereit erklärt und bereit ist beichten, geschehen wundersame Dinge. Simplicissmus hört einen greuslichen
Gesang des Teufels: der Geist schrye abermal auß dem Besessenen (452, 15).
Im selbigen Augenblick jedoch empfindet er eine Reue über seine Sünden und ein Begehren sein Leben zu bessern.
Eine derartige „Bekehrung und Besserung“ begegnet man vielfach im geistlichen Schuldrama, so z.B. in Bidermanns Cenodoxus, aber auch im Roman Philotheus des Laurentius von Schnüffis10. Grimmelshausen
beschreibt solche psychischen Wendepunkte auch im WVI und II.
Nach der Bekehrung fühlt Simplicissimus sich sehr gut und dankbar für die Wunder, die er durch seine Bekehrung erlebt hat. Vierzehn Tage lang befindet er sich in einer Glücksseligkeit und dankt Gott für Alles. Doch mit der Zeit fühlt er sich wieder melancholisch, weil er sich an seine Feinde erinnert und was sie ihm angetan haben.
„doch waehrete solches auch so lang als es mochte; dann gleich wie meine Bekehrung ihren Ursprung nicht auß Liebe zu Gott /
genommen: sondern auß Angst und Forcht verdampft zu werden; also wurde ich auch nach und nach wider gantz lau und traeg“ (453,21 – 23).
Die Lebensfreude sinkt und Simplicissmus erfährt einen typischen Rückfall des Bekehrten. Trägheit und Gottesfern treten ein. Diesen Zustand nennt man Acedia – die gottferne Melancholie11, die mit immer neuen Versuchen
der Rückbesinnung bekämpft werden muss. Der Begriff Acedia ist seit
10 Hans Jacob Christoffel Grimmelshausen: Simplicissimus Teutsch. Dieter Breuer (Hrsg.).
Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main. 1989. S. 943.
Mittelalter als ein melancholischer Gemütszustand bekannt. In
theologischen Zusammenhängen wird sie überwiegend negativ bewertet12.
Außerdem entsteht die Wendung zur Kirche, aus einem Gegensatz der Motivation zur Bekehrung. Hier findet die Antithetik zwischen Liebe und Hass statt.
„In der geistigen Literatur der frühen Neuzeit (z. B. Friedrich Spee, Güldenes Tugen-Buch) sowie in zahlreichen (autobiographischen) Bekehrungsschriften“13
wird diese Antithetik der Bekehrungsmotivation immer wieder benannt. In den weiteren Kapiteln werde ich näher auf den Begriff der Antithetik eingehen.
Simplicissimus ist seine Rückkehr zu dem melancholischen Dasein bewusst und er möchte dieses vorkommen. Um den Müßiggang und Melancholie zu vermeiden wendet er sich der Diätetik zu.
„in solcher müssigen Zeit erzehlte er mir seinen Lebenslauff […] worauff ich ihm auch erzehlte / wie mirs ergangen / sint sein Vatter seel. Gestorben / dann wir uns bißher noch niemal so viel Zeit genommen“ (455,24-28).
Das Erzählen über sein Leben, über die Vergangenheit steht im Dienste der Diätetik14. Sie dient der Heilung oder der Gesunderhaltung sowohl
körperlich als auch seelisch. Es geht um eine geregelte Lebensweise, die mit der gesunden Ernährung und körperlicher Aktivität verbunden ist. Ganz im Zeichen der Diätetik zieht es Simplicissimus zu den Heilbädern, die zu den traditionellen Heilmethoden der Therapie der Melancholie-Therapie zählen.
12Stephanie Bölts. Krankheiten und Textgattungen: Gattungsspezifisches Wissen in
Literatur und Medizin um 1800. Walter de Gruyter. Berlin/Boston 2016. S. 325.
13 Vgl. Hans Jacob Christoffel Grimmelshausen: Simplicissimus Teutsch. 1989. S. 943. 14 Vgl. Ebd. S. 944.
„ein anderer gefaehrlicher Zustand / den die Medici anfaenglich nit gleich erkennen konten / dann er wurde lahm an allen vieren / wie ein Cholericus den die Gall verderbt / und war doch am wenigsten
selbiger Complexion noch dem Zorn beygethan / nichts desto weniger wurde ihm Saurbrunnen-Cur gerathen / und hierzu der Grießbach an dem Schwartzwald vorgeschlagen.“ (460,18)
Die Brunnenbeschreibungen verweisen auf die diätetischen
Wirkmöglichkeiten, die zur Gesunderhaltung oder Heilung beitragen können. Der Aufenthalt im Bad Griesbach war damals bekannt für seine eisenhaltigen Quellen, die über eine besondere Heilkraft verfügen. Der Autor Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen selbst war oft am Kurort in Griesbach. Der Choleriker und die damit verbundene verdorbene Galle, von der hier die Rede ist, bezieht sich auf die physischen Kennzeichen der Melancholie. Die körperliche Äußerung der Melancholie als der
Schwarzgalligkeit entsteht aus dem inneren seelischen Zustand von Schwermut oder Traurigkeit.
Grimmelshausen knüpft das Krankheitsbild an die Humoralpathologie an. Das hitzige und zum Zorn neigende Temperament eines Cholerikers kann sich zu einer brennenden schwarzen Galle (melancholia adusta) entwickeln und in das extreme Gegenteil (Lähmung) verkehrt werden.
“Die Melancholie wird positiv gewertet, wenn die Temperatur bestimmter Säfte des Körpers im Normalbereich bleibt
(Humoralpathologie)“15. Wenn jedoch der Saft der schwarzen Galle zu warm wird, „führt dies zu manischen Zuständen, während Kälte depressive Verstimmung hervorruft“16.
Nach der Humoralpathologie ist ein Übermaß an schwarzer Galle
verantwortlich für den melancholischen Zustand, dessen Symptome auf die Hauptfigur Simplicius zutreffen.
15 Vgl. Hans Jacob Christoffel Grimmelshausen: Simplicissimus Teutsch. 1989. S. 947. 16 Vgl. Stephanie Bölts: Krankheiten und Textgattungen: Gattungsspezifisches Wissen in
Im Reich der Unterwasserwesen gibt es eine Stelle, wo Simplicissimus noch einmal auf seine Melancholie hinweist:
„diese Cur sey mir als einem Colerico, zu hitzig; mir wuerde nichts lieber seyn / als wann ich meinen Mit-Menschen eine heilsame rare Quelle mit mir auff den Erdboden bringen koennte / welches ihnen zu nutz / ihrem Koenig aber zur Ehr: mir aber zu einem unsterblichen Nahmen“ (514,7).
Simplicissimus äußert seinen Wunsch nach einen Gesundheitsbrunnen dem Sylphen König. Nebenbei denkt Simplicissimus an die Möglichkeit, durch die heilenden Quellen Reichtum zu erwerben. So fährt Simplicissimus fort und verrät Folgendes:
„Jm uebrigen war ich im Sinn mit meinem Saurbrunnen so reich / daß alle meine Witz und Gedanken genug zu thun hatten / zu
berathschlagen / wo ich ihn hin setzen / und wie ich mir ihn zu Nutz machen wolte“ (516,7 f.).
Der Wunsch von Simplicissimus vom Gebrauch des Gesundheitsbrunnens zu profitieren wird als etwas unehrenvolles und moralisch verwerfliches gesehen. Es zählt als ein unchristlicher Eigennutz beziehungsweise Geiz, der den Menschen folglich selbst bestrafft. Der Fürst vom Mummelsee schenkt Simplicissimus einen Stein, der den Eingang zu dem heilsamen Sauerbrunnen ermöglicht. Das tut der Fürst jedoch erst, nachdem er glaubt in Simplicissimus einen wahrhaftigen Christen erkennt zu haben,
„Jch haette vermeynt / du wuerdest etliche grosse Smaragd auß dem Americanischen Meer mit dir genommen / und gebetten haben / dir solche auff den Erdboden passieren zu lassen? Jetzt sehe ich / daß kein Geitz bey euch Christen ist“ (515,17).
Der Wunsch nach einer profitablen Nutzung eines Sauerbrunnens „verweist auf eine psychisch-mentale Grundbefindlichkeit der frühen Neuzeit, die Melancholie“17. Die moralisch-didaktische Warnung des Autors
Grimmelshausen an seine Leser hier ist, sein Seelenheil mit Hilfe von Buße und Reue zu beschützen. Auch zeigt er, dass der Mensch durch eine
aufrichtige Beichte zu einer besseren Selbsterkenntnis gelangen kann. Und als ein Mensch sein Leben nach einem Idealbild eines Christen führt, kann selbst die Melancholie geheilt werden.
Weitere physischen Merkmale der Melancholie findet man in Krankheiten und kriegerischen Situationen allgemein wieder. In der traditionellen moraltheologischen Argumentation gelten Krieg, Teuerung und Sterben (Pest) als die Hauptstrafen Gottes für die Sünden der Menschen.
„seynd sie nicht aerger worden / und selbst mit in Krieg geloffen wie zu einer Kirmeß? Oder haben sie sich villeicht wegen der Theurung bekehret / die ich ihnen zu gesandt / darinn so viel tausend Seelen Hungers gestorben; Oder hat sie villeicht das grausame Sterben erschreckt / daß so viel Milliionen hingerafft) daß sie sich gebessert? Nein […] die uebrig verbliebene / die den elenden Jammer mit ihren Augen angesehen / haben sich nit allein nit gebessert / sondern seynd viel aerger worden als sie zuvor jemals gewesen!“ (463,13-16)
Schon im dritten Buch von Simplicissimus Teutsch findet eine sarkastische Bemerkung von Simplicissimus statt, in der er die Gottesstrafen wie Pest und Krieg uneffektiv findet. Er meint, dass nur eine große Ausrottung der Menschheit, wie durch Wasser in Noahs Zeit, die Menschen zur Besinnung bringen könnte (254,29-255,6).
Ein anderer Hinweis auf die melancholische Natur der Hauptfigur
Simplicissimus ist die Gaiß-Milch (479,23). Die Gaiß-Milch ist ein Hinweis auf eine psychische Krankheit, bei der es zu Milch und Speichelveränderung nach heftigen Aufregungen kommt. Außerdem dient es hier als ein Motiv, dass auf seine Geburt unter widrigen Umständen hinweist. Seine Geburt ähnelt dem Schema der Heroengeburt, die in „zahlreichen antiken Mythen (Zeus, Dionysos), […] in der Bibel (Moses, Jesus)“18 zu finden ist.
Simplicissimus ist wie ein Gott aus dem Zeus-Mythos, mit Milch einer Ziege als Kind ernährt worden. Seine leibliche Mutter starb kurz nach der
Geburt und Simplicissimus wurde von einer anderen Familie erzogen. Ein weiteres traditionelles Merkmal des epischen Helden und gleichzeitig auch ein Hinweis auf die naturhafte (endogene) Melancholie19 ist ein Muttermal:
„einen schwartzen haarigen Klecjen […] auff der Brust“ (480,16). Ein weiterer bekannter Heilmittel der Melancholie ist Kunst und Musik. Sie soll positiv auf die melancholische Stimmung wirken. Jedoch selbst der
melancholie-bannende Gesang der Nachtigallen verfehlt bei Simplicissimus seine Wirkung (487,21).
Das letzte prägende Bild der Melancholie, das ich in diesem Kapitel erläutern möchte, kommt aus der Kunst. Es handelt von Albrecht Dürers
Geometra Begriff, die Simplicissimus in Verband mit der Melancholie
erwähnt. „486,8 Geometra / (Lat.) Feldmesser; seit Dürers „Melancholia I“ (1514) fest eingebunden im Typus des Melancholikers“20.
Genialität und Melancholie sind schon seit der Antike ein beliebtes Thema, so sind der antike griechische Philosoph Plato und Aristoteles von ihren Zusammenhang überzeugt. So entsteht immer wieder die gleiche Frage
„Warum erweisen sich alle außergewöhnlichen Männer in Philosophie oder Politik oder Dichtung oder in den Künsten als Melancholiker; und zwar ein Teil von ihnen so stark, daß sie sogar von krankhaften Erscheinungen, die von der schwarzen Galle ausgehen, ergriffen werden?“21
Melancholie ist bei allen negativen Begleiterscheinungen auch eine Auszeichnung für herausragende Individuen22.
Albrecht Dürer (1471-1528) hat die Verbindung der Melancholie und Genialität beispielhaft und allegorisch auf dem Kupferstich Melencolia I
19 Vgl. Hans Jacob Christoffel Grimmelshausen: Simplicissimus Teutsch. S.955. 20 Vgl. Ebd. S.957.
21 Vgl. Stephanie Bölts: Krankheiten und Textgattungen: Gattungsspezifisches Wissen in
Literatur und Medizin um 1800. S. 325.
22 Christopher Meid: Die griechische Tragödie im Drama der Aufklärung: "bei den Alten in
dargestellt. Dieses Kunstwerk wurde mehrfach und kontrovers interpretiert. Doch die genaue, allumfassende Deutung des Kupferstiches gibt es nicht. Bekannt ist, dass Dürer selbst manchmal unter einer melancholischen Stimmung litt. Aus diesem Grund u.a. behaupten Manche, dass der Künstler sich selbst auf diesem Kupferstich dargestellt habe:
„Es ist daher kein Zufall, daß Dichter in Gestalten des Wahnsinns wie in Symbolen das Wesen des Menschseins, seine höchsten und
entsetzlichsten Möglichkeiten, seine Größe und seinen Fall zur Darstellung brachten“23.
Auf dem Bild wird ein allegorisches Inventar der Melancholie gezeigt (Geometra). Die leblosen Objekte, die man sieht gehören zu den Vanitas-Darstellungen. Die leblosen Vanitas-Objekte stehen für die Unbeständigkeit der weltlichen Dinge und betonen das Fehlen menschlicher Gemeinschaft. Die Darstellung der Melancholie reflektiert die innere Schwermut eines Menschen. Der Kupferstich Melencolia I ist eine versinnbildlichte Allegorie der Melancholie, die über viele Epochen in der Erinnerung hängen bleibt. In den nächsten Kapiteln erläutere ich anschaulich den Vanitas-Motiv und beschreibe seine Bedeutung für die Melancholie.
23 Karl Jaspers: Allgemeine Psychopathologie. Springer. Berlin 1913, 9. Auflage 1973. S.
2.2 Die Unbeständigkeit der menschlichen Natur – ein Grund
für die Melancholie
In der Zeit des Dreißigjährigen Krieges spielt der Unbeständigkeitsgedanke eine große Rolle. Viele Menschen befinden sich in einer ständigen Furcht vor der Vergänglichkeit. Die damalige, gefährliche Zeit des Krieges
impliziert zur Melancholie. Der Tod, der Zerfall des menschlichen Körpers, das Ende der Existenz bringen ein Gefühl der Sinnlosigkeit des Lebens mit sich. Der Mensch verfällt einem melancholischen Zustand. Der
Unbeständigkeit wird hauptsächlich, wie auch der Melancholie, eine negative Deutung zugeschrieben. Ariés schreibt, dass der
Vergänglichkeitsgedanke eine Lücke24, eine innere Leere kreieren kann, die der Tod ins Leben bringt. Die Erinnerung an den Tod ist besonders gut im Vanitas-Motiv sichtbar dargestellt. Der Vanitas-Gedanke hilft den
Menschen sich mit der Idee des Todes, der Vergänglichkeit zu beschäftigen, und sich dabei auch an seine eigene Sterblichkeit zu erinnern. Es soll den Menschen dabei helfen, sich mit der Unbeständigkeit des Lebens zu konfrontieren und sich mit der Tatsache des Todes anzufreunden.
Diese Konfrontation mit dem Tod, der Unbeständigkeit des menschlichen Seins führt zu einem bewussteren Leben und dient als ein ständiger Verweis auf die sterbliche Natur des Menschen. Der damals bekannte Ausdruck ‚vanitas mundi‘ steht für ‚alles ist vergänglich‘. Man könnte das auch mit ‚alles ist melancholisch‘ ersetzen, da Alles in der Welt Sehnsucht nach Etwas ist, dass sich im Streben äußert, welches unweigerlich in einem Zerfall endet.
„Denn alles Streben entspringt aus dem Mangel, aus der
Unzufriedenheit mit seinem Zustande, ist also Leiden, solange es nicht befriedigt ist; keine Befriedigung aber ist dauernd, vielmehr ist sie stets nur der Anfangspunkt eines neuen Strebens. Das Streben sehen wir überall vielfach gehemmt, überall kämpfend, so lange also immer
24 Franz Schupp: Geschichte der Philosophie im Überblick. Band II. Hamburg: Meiner.
als Leiden: Kein letztes Ziel des Strebens, also kein Maß und Ziel des Leidens“25.
Das Sehnen nach materiellen Objekten, der Wunsch des Besitzens ist ein endloser Prozess. Und die menschliche Natur sehnt sich ständig nach
Objekten, in Angst vor dem Tod, vor der Vergänglichkeit. Jedes Ankommen beim gewünschten Ziel ist gleichzeitig ein Ende des Wollens, dass
wiederum zu einer Lücke führt. Der Melancholiker sieht, dass diese Lücke an das Wissen über die eigene Unbeständigkeit gebunden ist. Lettgen (2010) verweist auf die Melancholie als auf eine Art und Weise der
Auseinandersetzung mit dem Problem der menschlichen Existenz an sich26. Die Sehnsucht nach Objekten und die Kenntnis über die Sehnsucht selbst, führen zur Erkennung der eigenen Sterblichkeit. Arthur Schopenhauer erklärt die Sehnsucht mit dem Begriff des Willens:
„Der Wille ist eine grundlose, ziellose und blinde Kraft. Jede Art einer Teleologie ist ausgeschlossen. Dieser Wille bringt die einzelnen Gestalten der Erscheinung der Natur hervor, es ist eine endlose und ziellose Kette des Wünschens und Begehrens. Der Wille als Wille ist somit Grund dessen, was hervorgebracht wird, und damit der Grund der Welt. Als unersättlicher Wille ist er gleichzeitig der Grund des letztlichen Scheiterns von allem einzelnen Streben. Der Wille scheint immer auf ein Ziel gerichtet zu sein, aber in Wirklichkeit hat er eben keines“27.
Der Wille manifestiert alle Sehnsüchte und Vorstellungen qua Objekte, er ist die Triebkraft der Existenz. Die Vergänglichkeit und die Melancholie stehen sehr nahe nebeneinander. Die Melancholie setzt sich auch mit der Existenz und dem Sinn des Lebens auseinander. Sie beschäftigt sich mit der Sehnsucht des Menschen nach etwas, was ihm fehlt. Es handelt sich um eine Lücke, die gefüllt werden möchte. Die Tatsache, dass Alles vergänglich ist,
25 Vgl. Franz Schupp: Geschichte der Philosophie im Überblick. S. 478.
26 Vgl. Daniel Lettgen: „…und hat zu retten keine Kraft.“ Die Melancholie der Musik. S.14;
S.40.
ist der Grund der Entstehung dieser emotionalen Lücke im Menschen. Das Weltliche ist zeitlich begrenzt und letzten Endes zum Scheitern verurteilt. Um den Schelmenroman Simplicissimus Teutsch besser verstehen und deuten zu können, muss man sich bewusst machen, dass dieses Werk in einer Epoche entsteht, in der andere Morallehren und ästhetische
Vorstellungen herrschen. Die Abenteuer, die Simplicissimus erlebt sind an die damalige historische Situation gebunden. Der historische Diskurs (des Dreißigjährigen Krieges) beeinflusst die literarisch-geistigen Erfahrungen. Der Krieg führt zur politischen und wirtschaftlichen Katastrophe, zur Verwüstung des Landes und Millionen Schlachtopfer. Das 17te Jahrhundert ist von Gegensätzen geprägt. Es finden Glaubenskriege und
Gegenreformationen statt. In der Wissenschaft werden neue bedeutende Entdeckungen gemacht, soziale Gegensätze verschärfen sich. Es ist eine Zeit, in der der Vergänglichkeitsgedanke allgegenwärtig ist. Die bewusste Wahrnehmung der Vergänglichkeit des Irdischen führt zu einer
zwiespältigen Grundstimmung, einerseits weckt sie den Lebenshunger ‚Carpe diem’ – ‚Ergreife den Tag’, andererseits wird die Todesangst verstärkt ‚Memento mori’ – ‚Denke an den Tod’. ‚Memento mori’ fordert den Menschen auf, sich von der sündhaften Welt mit ihren für die
menschliche Seele gefährlichen Verführungen, in Acht zu nehmen und sich der tiefen Frömmigkeit und Tugend zuzuwenden. Die Hinwendung zu Gott verspricht eine Erlösung aus dem Elend des Diesseits. Der Glaube soll die Leiden der Menschen im Diesseits erträglicher machen, und ihrem Leben einen höheren Sinn geben.
„Wirklichkeit ist im Barock nicht die dem Einzelnen erfahrbare Umwelt, die subjektive Erfahrung, sondern die Ordnung Gottes. Nicht das Phänomen, die Welt der Erscheinungen, bestimmt den
Wirklichkeitsbegriff, sondern das der Welt zugrundeliegende Gesetz“28.
28 Hans Gerd: Rötzer Picaro – Landtstörtzer – Simplicius. Studien zum niederen Roman in
Die Hinwendung zum Jenseits und die göttliche Offenbarung stehen über der menschlichen Vernunft. Ein tugendhaftes Leben verspricht die sehnsüchtige Erlösung aus dem Leiden des Diesseits.
Die außerordentlichen, märchenhaften Abenteuer, die die Hauptfigur Simplicissimus erlebt, spiegeln eine Welt wieder, die vom Vanitas Denken beherrscht ist. Die Vanitas Idee basiert auf der Unbeständigkeit der
menschlichen Natur. Sie reflektiert das Volksverständnis der Barock
Epoche. Die Dramaturgie des Barock befasst sich viel mit Fragen nach dem eigentlichen Sinn der Qualen und der Tragik des menschlichen Seins, die an die damalige historische Situation gebunden sind. Der historische Diskurs des Dreißigjährigen Krieges ist voller Schmerzen und Kummer. Der Zerfall alles Irdischen und das Elend des Diesseits führen zu einer melancholischen Stimmung. Der Tod löst in Menschen Depressionen aus.
2.3 Vanitas-Motiv
Um es anschaulich zu machen, dass die Barock Epoche vom Vanitas
Denken beherrscht ist, wende ich mich dem damals entstandenen, bekannten Sonnet VANITAS; VANITATUM, ET OMNIA VANITAS (Es ist alles gantz
eytel) von Andreas Gryphius zu. Als Beispiel der Vergänglichkeit und
Nichtigkeit nehme ich die letzte Strophe:
"Ach! Was ist alles diß / was wir vor köstlich achten! Alß schlechte Nichtigkeit? als hew / staub / asch vnnd wind? Als eine Wiesenblum / die man nicht widerfind. Noch will / was ewig ist / kein einig Mensch betrachten!"29
VANITAS; VANITATUM, ET OMNIA VANITAS gehört zu den christlich
angehauchten Lissauer Sonneten. Der Titel ist ein biblisches Zitat des Predigers Salomo, aus dem Alten Testament. Andreas Gryphius schreibt über die Vergänglichkeit des Irdischen und die Nichtigkeit der Welt. Außerdem beschreibt er die Zerstörung von Städten und Natur, die in Verbindung mit seinen persönlichen Erfahrungen des Dreißigjährigen Krieges steht. Das Sonnet VANITAS; VANITATUM, ET OMNIA VANITAS basiert auf dem Unbeständigkeitsgedanken, der Hand in Hand mit der Eitelkeit des menschlichen Daseins geht. Die rhetorische Beschreibung der schnellen Vergänglichkeit des Lebens im diesen Sonnet zeigt eine
pessimistische Sicht zum Leben, in der die Liebe zum Leben einen
Trauerschleier trägt. Es handelt von der Trauer des endgültigen Abschieds, den Zerfall.
Walter Benjamin30 erklärt diese melancholisch-pessimistische Einstellung zum Leben, mit Hilfe des menschlichen Körpers. Der menschliche Körper unterliegt dem biologischen Zerfall und steht symbolisch für die
Unbeständigkeit der Welt. Der Leichnam dient als ein anschauliches
Lernobjekt für die Menschheit, der zur Bildung und Wissen beitragen kann.
29 Andreas Gryphius: VANITAS; VANITATUM, ET OMNIA VANITAS, Es ist alles gantz
eytel, in: Das Zeitalter des Barock. Hg. v. A. Schöne. München 1988. S. 268.
30 Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. Suhrkamp. Frankfurt am Main
Walter Benjamin vergleicht die Rhetorik mit dem menschlichen Körper. Er behauptet, dass erst durch die Teilung des Körpers und das Zusammenfügen aller Fragmente man dem vollständigen Sinn näherkommen kann. Daraus folgend hilft der Tod, der körperliche Zerfall der eigentlichen Bedeutung des Lebens näherzukommen. In diesem Sinne des Vanitas Denkens zählt der Todesgedanke zu einem der essentiell wichtigsten Punkte.
Der Vergänglichkeitsgedanke zieht sich als ein Leitfaden durch den Schelmenroman Simplicissimus Teutsch. Besonders gut ist dieser
Vergänglichkeitsgedanke an der Hauptfigur Simplicissimus sichtbar. Der abenteuerliche Simplicissimus reflektiert die Unbeständigkeit des
menschlichen Seins, „dass nichts beständigeres in der Welt ist / als die Unbeständigkeit selbst“31.
Die schnelle Vergänglichkeit des Lebens bringt eine Trauer mit sich, die zu einer melancholischen Stimmung führt. Die grausamen Erfahrungen des Dreißigjährigen Krieges und seine sichtbaren Folgen der Zerstörung nehmen die Hoffnung auf ein friedvolles, sicheres Leben. Das Elend des Krieges unterstreicht die Vergeblichkeit aller Anstrengungen. Damit werden die Eitelkeit und Nichtigkeit des menschlichen Daseins noch anschaulicher gemacht. Erst der Tod reißt den Menschen aus dem Elend des Diesseits. Auf diese Weise wird mehr Nachdruck auf das Leben im Jenseits gelegt, in Hinsicht auf die ständige Gefahr der Seele auf das ewige Heil.
Grimmelshausen kreiert die Figur Simplicissimus um „das göttliche
Postulat mit dem irdischen Sein zu konfrontieren“32. Es handelt sich hierbei
um eine thematisch geformte Figur, die das Volksverständnis der Barock Epoche widerspiegelt. Die herrschenden Qualen und die Tragik der damaligen historischen Situation sollen die Leser zum tiefsinnigen Nachdenken bringen, zur Frage nach dem eigentlichen Sinn des Lebens. Grimmelshausen gelingt es die Vanitas-Vorstellung im Roman
Simplicissimus mit Hilfe eines schnellen Szenenwechsels zu integrieren. Der Autor baut eine literarische Theaterbühne im Roman auf. In der Zeit des Barock fasst man die Welt als Theater auf. Die Theaterbühne repräsentiert
31 Vgl. H.G. Rötzer: Picaro-Landtstörtzer-Simplicius. S. 138. 32 Vgl. Ebd. S. 136.
das Abbild des wirklichen Lebens. Umgekehrt bezeichnet man die theatralische Vorstellungen auf der Bühne als „Bilder aus der Geschichte und dem Leben der Zeit als Theatrum“33. In der Literatur entsteht der Theatrum mundi Begriff. Das Leben wird im metaphorischen Sinn als ein
Spiel betrachtet. Die verschiedenen Szenen auf der Bühne dienen als eine Inszenierung der Komödie des menschlichen Lebens. Die ganze Welt wird als das große Welttheater dargestellt.
Besonders oft wird die Theatrum-Metapher für die Darstellung des Vanitas-Motivs der barocken Zeit verwendet, die die Eitelkeit und Unbeständigkeit der Welt gut verdeutlichen kann. So werden die Inszenierungen unter dem Vorwand der Warnung, ganz im Vanitas-Denken der Zeit, vorgeführt:
„Die Vorstellung aktueller Ereignisse wechselte im Programm mit exotischen und lehrreich-unterhaltsamen Bildern. […] rasche Verwandlungen mit Klappkulissen belebten die Darstellung von Schlachten, Jahrmärkten, biblischen und historischen Szenen, geographischen Bildern im Wandel der Jahreszeiten mit bewegter See, Gewittern, Mondschein und Vulkanausbrüchen”34.
Im Roman Simplicissimus Teutsch kommt es auch, wie bei einem barocken Theaterstück, zum schnellen Szenenwechsel. Die literarische Bühne
wechselt kurzerhand ihre Bühnendekorationen. Der schnelle Wechsel der Szenen soll die Nichtigkeit der Welt unterstreichen und einen
Vergänglichkeitseffekt erzielen. Die Mechanik in der damaligen Zeit, die der Inszenierung eines Theaterstückes dient, gilt als ein Sinnbild für die Unbeständigkeit. Die barocke Vorstellung von der Welt als Theater setzt sich durch. So verarbeitet Calderón in seinem Werk El gran teatro del
mundo (Das große Welttheater, 1655)
33 Max Osborn: Die Teufelliteratur des XVI. Jahrhunderts, Acta Germanica. Organ für
deutsche Philologie. Rudolf Henning und Julius Hoffory (Hrsg.), Bd. III, Heft 3. Mayer &
Müller Verlag. Berlin 1893. S. 90-331, VI + 236. Reprint: Georg Olms, Hildesheim 1965. S. 38.
34 Wolfgang Till: Puppentheater. Bilder, Figuren, Dokumente. Dr. C. Wolf und Sohn
„neueste wissenschaftliche Auseinandersetzungen und Erkenntnisse. Er nutzt die Theatrum-Metapher zur Repräsentation der weltlichen und geistlichen Macht sowie zur Legitimation des
Gottesgnadentums“35.
Calderón setzt sich mit unterschiedlichen wissenschaftlichen Themen auseinander, ordnet und deutet verschiedene Geschichten und Aspekte aus den Bereichen der Mythologie, Geschichte und Religion. So kann man den Schelmenroman Simplicissimus Teutsch als eine Theatervorstellung, eine gut durchdachte Inszenierung sehen. Es gibt verschiedene
Vorstellungsutensilien, die verwendet werden. Die Dekoration, die
Verkleidung der literarischen Figuren und die Bühne sind dazu da, um die Welt symbolisch als das große Welttheater darzustellen. Es soll ein Spiel des Lebens offenbart werden, das auf eine satirische Weise präsentiert wird. Die gezeigte Bilderwelt ist das Antlitz der Volksphilosophie des Lebens. Der Autor versucht die Realität des Barock mit Hilfe der literarischen Darstellung festzuhalten und zu erklären. Es ist notwendig das damals herrschende Weltbild zu kennen, um dem eigentlichen Sinn der Melancholie im Roman Simplicissimus Teutsch näher zu kommen. Für den Autor dient der Roman selbst zur Verschlüsselung der wiedergegebenen Wirklichkeit.
Simplicissimus Teutsch spiegelt eine versteckte Wirklichkeit wider, die oft
erst auf den zweiten Blick erkennbar ist. Es ist ein polyphoner36 Text, der
aus vielen Intertexten besteht, die aus den Bereichen der Mythologie, der Alchemie, der Astrologie, biblischer Texte, der Allegorie stammen. Der Schelmenroman Simplicissimus Teutsch ist vollgepackt mit lehrreich-unterhaltsamen Darstellungen, und weist wie ein Bühnenstück viele theatralische Züge auf. Grimmelshausens Roman ist eine Moralsatire über die Welt in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648).
35 Christian Weber: Theatrum Mundi. Zur Konjunktur der Theatrum-Metapher im 16. und
17. Jahrhundert als Ort der Wissenskompilation und zu ihrer literarischen Umsetzung im Großen Welttheater. Berlin 2008. S. 333. In: das Online-Journal zur Metaphorik in
Sprache, Literatur und Medien. http://www.metaphorik.de/14/ abgerufen am 05.05.2017.
36 Michail Bachtin: Das Wort im Roman. In: Die Ästhetik des Wortes. Suhrkamp. Frankfurt
Die Hauptfigur Simplicissimus erlebt verschiedene Abenteuer in einer Welt, die in einer Auflösung ist. Nichts ist dauerhaft, Nichts steht fest.
Simplicissimus repräsentiert das damals bestehende Weltbild, er befindet sich in einer ständigen Wandlung. Wissend um alle Eitelkeit und
Vergänglichkeit der Welt, treibt sich die Hauptfigur mal zynisch, mal zerknirscht und an vielerlei Verbrechen beteiligt, mal als Opportunist oder sogar als Opfer, wenn er nicht gerade Täter ist durch verschiedene Stationen im Leben.
Die Melancholie ist mit einigen Sinnbildern verknüpft, die einen tieferen Sinn beinhalten. In den folgenden Kapiteln gehe ich näher auf verschiedene Sinnbilder der Melancholie ein, die auf ihre Präsenz weisen. Dieser tiefere Sinn knüpft sich an die Geschehnisse und das Denken der damaligen Epoche. Er ist unzertrennlich mit dem soziokulturellen Raum des Barock. Darum ist es von größter Bedeutung sich mit den ethischen
Gesellschaftslehren, Traditionen, Tugenden und Normen der damals herrschenden Epoche auszukennen.
Es ist wichtig zu verstehen, dass Grimmelshausen vielfältig auf eine Wirklichkeitswahrnehmung hinweist, die sich unter einem poetologischen Modell und einer bildhafter Sprache der Allegorie versteckt. Er versucht den Leser immer wieder zum Nachdenken über den Sinn seines Lebens zu bringen. Aus diesem Grund weist der Autor schon in der Vorrede zum zweiten Teil des Romans daraufhin, dass es eine Wahrheit unter der Oberfläche gibt. Die verständigen Leser sollten sich dieser Wahrheit bewusst sein und sich diesen Kern zu Nutzen machen. Darum warnt Grimmelshausen die unbehutsamen Menschen
„[…] unter dem Schein kurzweiliger Geschichte vor demjenigen […], was sie, wie gemeldet, gar leicht vom höchsten Gut absondern, hingegen in deß leidigen Teufels Gewalt und, wann der liebe Gott aus sonderbarer Barmherzigkeit nicht hilft, ohne Zweifel in die ewige Verdammnis bringen mag […]“37
37 Siegfried Streller: Grimmelshausens Simplicianische Schriften, Allegorie, Zahl und
Die ´kurzweilige Geschichte´, dient hier als die Verkleidung oder mit Siegfried Strellers Worten ausgedrückt „die Hülse“38. Grimmelshausen
warnt von der Gefahr, sich vom höchsten Gut, seinem Seelenheil
abzusondern. Der Autor verschlüsselt seine eigenen Intentionen mit Hilfe der bildhaften Sprache. Es soll eine bestimmte Wirkung auf den Leser erzielt werden. Der ursprüngliche Sinn seiner Intentionen kann jedoch schnell verloren gehen, ohne das Wissen vom soziokulturellen Zustand der damaligen Epoche. Das Emblem spiegelt eine versteckte Wirklichkeit wider, die oft erst auf den zweiten Blick zu sehen ist. Darum muss man sich mit den Traditionen, Normen, ethischen Gesellschaftslehren und Tugenden der damals herrschenden Epoche auskennen. Die Künstler des Barock verschlüsseln auf ihre spezielle Weise die wiedergegebene Wirklichkeit in ihren Werken. Darum ist es für den heutigen Zuschauer oft unmöglich, diese Wahrheit im Angesicht der allegorischen Bildersymbolik zu entziffern. Ohne das Verständnis des damals herrschenden Weltbilds, geht die so genial-konzipierte, versteckte Wirklichkeit von Grimmelshausens Werk verloren.
Ganz im Vanitas-Motiv der damaligen Epoche, ist für die gläubigen
Menschen Gott immer und überall allgegenwärtig. Die menschliche Welt ist vergänglich und unbeständig. Der Nachdruck liegt immer auf das Leben im Jenseits. Das eigene Seelenheil ist das Wichtigste, worauf man im Leben achten muss. Aus diesem Grund gibt es bestimmte moralische Lehren, die für die Erhaltung des Seelenheils sorgen. Diese Lehren vorkommen solche Seelenkrankheiten wie Melancholie. Diese Lehren dienen zur Belehrung der Menschen. Sie helfen den Menschen die göttliche Gegenwart immer vor Augen zu haben.
Die Begriffe der Vergänglichkeit und der Melancholie sind miteinander verknüpft. Erst durch die Konfrontation mit der Vergänglichkeit kann der Leser den Begriff der Melancholie besser verstehen und sich damit auseinandersetzen.
38 Vgl. Siegfried Streller: Grimmelshausens Simplicianische Schriften, Allegorie, Zahl und
3. Das Weltbild des Barock: Antithetik und
Melancholie
Um der Ursache der Melancholie Entstehung näher zu kommen, widme ich mich dem damals herrschendem Weltbild zu. Dabei wähle ich gezielt den Begriff der Antithetik, der durch verschiedene Gegensätze, wie Spannungen zwischen der Lebenslust und der Todesangst entsteht. Hierbei definiere ich die Melancholie als eine seelische Krankheit, die das Gefühl einer inneren Leere im Menschen entstehen lässt.
Der Roman Simplicissimus Teutsch tendiert als der Träger der vermummten Wirklichkeit. Grimmelshausen versucht in seinem Schelmenroman die Wirklichkeit, das Weltbild der damaligen Zeit zu maskieren. Um wiederum auf die Entmaskierung dieser Wirklichkeit eingehen zu können, muss ich erst feststellen, dass es einen versteckten Wahrheitskern gibt. Um diesen Wahrheitskern finden zu können, muss man die von Grimmelshausen verschlüsselte Wirklichkeitsdarstellung richtig entziffern können. Der Autor selbst weist in seinem Werk immer wieder darauf hin. Einer der
anschaulichen Beispiele dafür findet man in der Pflaumen - Episode in
Continuatio. Hier wird allegorisch auf die Beziehung zwischen dem
Pflaumenkern und dem Pflaumenfleisch eingegangen. Auch unterstreicht dieses Beispiel die moralisch-didaktische Intention des Autors und weist auf die Mentalität des Barocken Weltbildes hin. Dieses Motiv der Belehrung, der christlichen Moralisierung, die sich an die nutzbringende Belehrung anknüpft, analysiere ich später in dieser Arbeit. In diesem Kapitel werde ich den von Grimmelshausen konzipierten belehrenden Kern, mit Hilfe der Antithetik erläutern.
Für den heutigen Leser ist es schwierig, den Wahrheitskern, den Johann Jacob Christoph von Grimmelshausen mit Hilfe der allegorischen
Bildersprache versteckt hat, wieder zu entdecken. Nur mit dem Wissen vom soziokulturellen Zustand der damaligen Epoche und des Autors eigenen moralischen Intentionen, kann man näher auf die Maskierung der
versteckte Wirklichkeit von Grimmelshausens Werk aus den Augen zu verlieren.
Grimmelshausen benutzt eine negative Dialektik, um ein verkehrtes Abbild der Wirklichkeit zu kreieren. Mit Hilfe von Satire und Antithetik schafft der Autor seine didaktisch-moralische Intentionen graziös zu vermummen. Unter dem Begriff der Antithetik versteht man das Denken in Gegensätzen. Die Spannungen, die durch die grauenhaften Verhältnisse und die Gewalt des Dreißigjährigen Krieges verursacht werden, führen zu inneren
Gegensätzen, die sich in Lebenslust und Todesangst äußern. Diese gegensätzlichen Spannungen der Antithetik spiegeln das damals
herrschende Weltbild wider und sind im Schelmenroman Simplicissimus
Teutsch lesbar. So entstehen solche Hauptmotive wie, das Motiv des Carpe
Diem (Aufforderung das Leben zu genießen), das Motiv des Memento Mori (Gedenken des Todes) und das Vanitas-Motiv. Die Hauptfigur Simplicius selbst dient als ein Thesenträger, der dazu da ist, die „Welt am Ideal zu messen und ihre verkehrte Struktur anzuprangern“39 und „die personifizierte Antithetik von Gut und Böse“40 anschaulich zu machen.
Es besteht sogar der Begriff der antithetischen Melancholie. Die antithetische Melancholie ist eine Melancholie, die auf Gegensätzen aufgebaut ist.
Nietzsche setzt sich sprachphilosophisch mit dem Phänomen der Melancholie im Zusammenhang der Antithetik auseinander. Kruse unternimmt den „bisher ausführlichsten Versuch einer Interpretation von Nietzsches fragmentarischen Bemerkungen zur Melancholie“41 und verfasst
einen Kapitel über die Entwicklung der antithetischen Melancholie zur metaphorischen Anschauung. Er schreibt, dass die antithetische Melancholie noch aus der Renaissance-Rezeption des pseudaristotelischen Problems herauswächst, und sich in der Struktur der antithetisch-melancholischen Grundfigur des Dionysischen und Apollinischen verfestigt. Dieses führt
39 Vgl. H.G. Rötzer: Picaro-Landtstörtzer-Simplicius. S. 137. 40 Vgl. Ebd. S. 137.
41 B.A. Kruse: Apollinisch-Dionysisch. Moderne Melancholie und Unio Mystica.
dazu, dass alle Gegenstände zu „Sinnbildern des Lebens“ werden, das heißt symbolisch für Etwas stehen. Die antithetische Melancholie stößt ständig auf eine Befremdung, es trägt ein metaphorisches Doppelbild, ein Gegensatz in sich. Nietzsche meint, dass die Melancholie im Zusammenhang mit der Antithetik den Zugang zur ‚Geburt der Tragödie‘ und ihren Abschied von ihr möglich macht.
Ich stelle also fest, dass Antithetik mit Melancholie, und meistens auch direkt mit dem Vanitas-Motiv verbunden ist. Sie ist ein unzertrennlicher Teil des soziokulturellen Zustands, der Mentalität der damaligen Epoche. Ich möchte an dieser Stelle gern ein weiteres Beispiel von Andreas
Gryphius nehmen, dass das damals herrschende Weltbild veranschaulicht und uns die melancholische Stimmung der damaligen Zeit wiedergibt. Andreas Gryphius ist als ein großer Melancholiker unter Deutschlands Dichtern bekannt. In seinem Gedicht Menschliches Elende, verinnerlicht er das Leben eines Menschen als durch und durch Negativ.
„Was sind wir Menschen doch! Ein Wohnhaus grimmer Schmerzen, Ein Ball des falschen Glücks, ein Irrlicht dieser Zeit,
Ein Schauplatz herber Angst, besetzt mit scharfem Leid, Ein bald verschmelzter Schnee und abgebrannte Kerzen“42.
Die schnelle Vergänglichkeit des Lebens bringt eine tiefe Trauer und ein großes Leid mit sich. Es scheint ein hoffnungsloser Versuch zu sein, das vollkommene irdische Glück zu erreichen, wenn die Tragik des
menschlichen Daseins auf der Welt dominierend bleibt. In seinen lyrischen Werken bringt Andreas Gryphius seine melancholisches Weltbild zum Vorschein. Das Leben im Diesseits ist immer von Verzweiflung geprägt und kann es schaffen, bei Lesern tiefste Depressionen auszurufen. Schon allein die Hoffnung auf ein glückliches Leben im Diesseits hat einen tiefen
seelischen Schmerz als Folge. Auch hier gilt der selbe moralische Gedanke: Allein der Glaube an Gott gibt Hoffnung auf ein wahres Glück. Nur das Jenseits kann die Erfüllung tiefster religiöser Sehnsüchte bieten und einen Menschen vollkommen glücklich machen.
Ich stelle fest, dass Grimmelshausen sich an die gleichen melancholischen Leitlinien des Glücks fest wie Andreas Gryphius hält. Es scheint, dass beide Autoren eine ähnliche Sicht auf das damals herrschende Weltbild haben. So liest man im Schelmenroman Simplicissimus Teutsch über ein
vergängliches, falsches Glück im Diesseits und das wahre vollkommene Glück im Jenseits. Die Suche nach dem irdischen, materiellem Glück bringt eine gewisse Gefahr für das eigene Seelenheil mit sich. Die Hauptfigur Simplicius dient ein anschauliches Beispiel dafür, wie sich eine
Seelenkrankheit, wie die Melancholie entwickeln kann.
Melancholie spielt in Andreas Gryphius Dramen sowie auch im Schelmenroman Simplicissimus Teutsch eine wichtige Rolle, sie wird
„geradezu zum Kennzeichen des tragischen Helden; Walter Benjamin etwa hat in Rückbindung an die lutherische Lehre demonstriert, dass Melancholie ein Grundzug in der Zeichnung barocker
Herrscherfiguren ist“43.
Auch Raserei und „Maßlosigkeit ist Merkmal des Melancholikers“44. Die
Schwermut häuft sich, und der Melancholiker wird vom schlechten Gewissen gequält.
„Durch die weltanschauliche Spannung von Diesseitsfreude und Jenseitshoffnung bedingt, zeigt sich eine Antithetik der Gefühle und Gedanken in der ganzen Epoche als stilbildendes Gesetz in der Herausarbeitung und Zuspitzung gehaltlicher wie formaler Gegensätze. […] Als wirkende Kraft ist diese Spannung von Weltfreude und Weltverachtung in der einzelnen Persönlichkeit lebendig“45.
43 Vgl. Christopher Meid: Die griechische Tragödie im Drama der Aufklärung: "bei den
Alten in die Schule gehen“. S. 85.
44 Vgl. Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. S. 119.
45 Richard Müller: Dichtung und bildende Kunst im Zeitalter des deutschen Barock.
In 1922 behauptet Arthur Hübscher, dass Antithetik das Stichwort der damaligen Barockforschung ist, er spricht vom „Barock als Gestaltung antithetischen Lebensgefühls“46.
Das Weltbild des Barock ist von der Antithetik geprägt, die auch im Vanitas-Motiv auftritt. Die chaotischen Zustände in der Kriegszeit bringen zerrissene Lebensgefühle und Todesangst mit sich. Die Antithetik ist voll von inhaltlichen Gegensätzen wie Diesseits und Jenseits, Ewigkeit und Zeit, Spiel und Ernst, Sein und Schein etc. Welt und Heil sind dabei absolute Gegensätze. Jede Aktion bewirkt eine Reaktion und die Gegensätzlichkeit spielt sich in allen Lebensbereichen ab. Die starken Gegensätze kollidieren zusammen und der schnell verändernde Duktus der poetischen Sprache macht das Vergänglichkeitsbewusstsein sichtbar. Das Zusammenfließens der Kontraste führt zum Kampf der Gegensätzen, auf diese Art wechselt die optimistische Stimmung eine pessimistische Stimmung ab und vice versa. Diese gegensätzlichen Eigenschaften können Stress verursachen, der sich auf eine lange Dauer in Depression äußern kann. Hartmut Lehman schreibt, dass
„Dass die großen Kriege des 17. Jahrhunderts zu allgemeiner Not, zu Unsicherheit und Angst führten, ist leicht einzusehen und auch leicht zu belegen. Auch die Reaktionen, die die schweren Seuchen und die Ernährungssorgen hervorriefen, dürften kaum anders gewesen sein, kaum anders die Haltung, die die großen wirtschaftlichen
Schwankungen und die anhaltende Depression bewirkten. Der im 16. Jahrhundert dominierende Glaube an den Fortschritt war im 17. Jahrhundert offensichtlich gebrochen, die Selbstsicherheit der Europäer dahin; jetzt, im neuen Säkulum, dominierte nicht mehr
46 Arthur Hübscher: Barock als Gestaltung antithetischen Lebensgefühls. In: Euphorion 24,
1922, 517-562, 759-805. (Hrsg.) Arthur Schopenhauer: Gesammelte Briefe. Bonn 1978. (Hrsg.) Arthur Schopenhauer: Gespräche. Stuttgart-Bad Cannstatt 1981.
Zuversicht und Hoffnung, sondern Sorge und Angst, jetzt dominierte nicht mehr das Leben, sondern der Tod“47.
Jede Hässlichkeit, wie Gewalt und Unfug, tritt mit den gehobenen geistigen Ideen und den religiösen Vorstellungen zusammen auf. Das Weltbild im Schelmenroman Simplicissimus Teutsch zeigt sich voller Verführungen und böser Begierden, gefangen im ewigen Kreislauf der weltlichen,
vergänglichen Dinge. Die Hauptfigur Simplicius befindet sich zwischen dem Heil seiner Seele und der Versuchung des Fleisches, in einer sich wiederholenden Verführung. Er kommt immer wieder in Situationen zurecht, wo er ständig einen Dualismus von Gut und Böse erlebt. Die Handlung im Roman ist voller gegensätzlicher Auftritte ist. Ein Handeln ruft ein Gegenhandeln hervor. Die ästhetischen Ideale stoßen auf die harte weltliche Realität und Simplicius muss sich immer wieder neu entscheiden, wie er mit den sich neuergebenden, oft gegensätzlichen Situationen umgeht. Die vielen Abenteuer von Simplicius im Schelmenroman Simplicissimus
Teutsch kann man auch als eine Art Verkörperung des Barocken Weltbildes
lesen. Die Hauptfigur Simplicius befindet sich in einem fiktiven Kreis des Abenteuers und repräsentiert die Unbeständigkeit der menschlichen Dinge in seiner Person. Der Roman zeigt die barocke Mentalität, es entsteht ein Sinnbild für die damalige Wahrnehmung, dass in Antithesen gedacht und gefühlt wird. Die Hauptfigur Simplicissimus lässt alle Hoffnungen fahren, um sie im nächsten Moment wiederum in Gottes Namen zu beschwören. Es geschieht ein schneller Perspektivenwechsel. Erst fühlt Simplicissimus sich sündig über einige seiner Taten und macht sich Vorwürfe. Aus Gottesfurcht kehrt er wieder zur Frömmigkeit, zieht sich zurück und wendet sich dem christlichen Glauben. Kurze Zeit später wird er wieder frivol, obszön und grotesk. Er stürzt sich in erotische Abenteuer, tötet, beteiligt sich an einen Diebstahl. Simplicissimus hört nur auf seine Instinkte und lebt gottlos, was ihm selbst bewusst ist: „ich lebte gottlos wie ein Epicurer / und befohl das meinige niemal in Gottes Schutz“48. Ein Epicurer ist jemand, der den
47 Hartmut Lehmann: Zeitalter des Absolutismus. Gottesgnadentum und Kriegsnot
(Christentum und Gesellschaft 9). (Hrsg.) Henneke. Stuttgart 1980. S. 111.
Lebensgenuss für das wichtigste im Leben hält. Epikureismus ist eine philosophische Denkrichtung, die auf die Lehren des antiken griechischen Philosophen Epikur zurückgeht. Diese Lehre handelt von der Befriedigung der menschlichen Instinkte, dabei ist es wichtig zu erwähnen, dass die menschliche Seele mit dem Tod zur Auflösung kommt. Das bedeutet, dass der theologische Schwerpunkt auf das Leben im Jenseits und das ewige Seelenheil weniger beziehungsweise überhaupt nicht relevant sind. Es geht um die vollendete Seelenruhe im Diesseits, und nicht um die Unsterblichkeit der Seele, wie in den christlichen Schriften beschrieben wird. Der Epikureer soll zu seinen Lebzeiten zur vollendeten Seelenruhe (Ataraxie) gelangen. Der Epikureer versucht „alle konkreten Regeln zur Lebensführung aus dem Streben nach Lust abzuleiten“49.
Simplicius behauptet von sich selbst, dass er sehr lang als ein Atheist (451, 27) lebte und ihn darum seit einer bestimmten Zeit Gewissensbisse plagen, die ihn noch melancholischer machen. Atheist steht für den Epicurus. Die neulateinische Bildung zu Griechischem lautet: a-theos – und wird als gottlos übersetzt50. Für die innere Glückseligkeit des Epikureers ist es unnötig:
„die Welt zu verändern; er kann sich überall einrichten. Daher will Epikur am Bestehenden nicht rütteln, sondern es nur hedonistisch interpretieren, ähnlich wie es später die an ihn anknüpfenden Utilitaristen vorhatten. Epikur unterscheidet sich allerdings von den Utilitaristen durch seinen besonderen Lustbegriff […] und durch den strikten Egoismus des Luststrebens. Der Mensch will an sich nur seine eigene Lust, alle Rücksicht auf andere ist ursprünglich nur Mittel zu diesem Zweck“51.
49Malte Hossenfelder: Geschichte der Philosophie Bd. 3: Die Philosophie der Antike 3:
Stoa, Epikureismus und Skepsis. C.H.Beck. München 1995. S. 123.
50 Vgl. Hans Jacob Christoffel Grimmelshausen: Simplicissimus Teutsch. S. 942.
51 Vgl. Malte Hossenfelder: Geschichte der Philosophie Bd. 3: Die Philosophie der Antike
Die europäische Krise der damaligen Epoche erschafft eine Form der Frömmigkeit. Sie steht gegenüber des Epikureismus, ganz im Antithetik-Motiv.
„Die neue Frömmigkeit ist durch ein neues, individuelles
Frömmigkeitsverständnis gekennzeichnet. Ihre Funktion sieht Erdei im Verlust der Heilssicherheit begründet (die lutherische
Rechtfertigung hätte sich wohl zur ‚billigen Gnade‘ abgenutzt)“52.
Für Lehmann ist es dagegen vor allem die Trostfunktion, die den von Krisen geschüttelten nachreformatorischen Christen aufzuhelfen suchte:
„Die eigentliche Attraktivität der neuen Frömmigkeitsliteratur lag darin, daß sie in der Krise des 17. Jahrhunderts notleidenden Christen Trost spendete und um ihr Seelenheil besorgten Christen erbauliche Ratschläge gab“ 53.
In dieser Arbeit haben wir soweit festgestellt, dass Antithetik zur Melancholie führt und dass der Gedanke an den Tod im Zeitalter des Barock, in Menschen Depressionen auslöst:
„Es steht zu vermuten, daß die Melancholie-Thematik im 17.
Jahrhundert ihre Aktualität auch aus Komplexitätsphänomenen und aus Ohnmachtsempfindungen in ihrer Folge bezieht“54.
52 Hartmut Lehmann: Zeitalter des Absolutismus. Gottesgnadentum und Kriegsnot
(Christentum und Gesellschaft 9). S. 114.
53 Vgl. Ebd. S. 114.
54 Martin Disselkamp: Genealogie als Ordnungsmodell. Zur politischen Symbolik in
Literatur und Histographie der Barockzeit. In: Anselm Maler: Theater und Publikum im europäischen Barock. Angel San Miguel und Richard Schwaderer (Hrsg.). Frankfurt a.M.
3.1 Die moralisch-didaktische Bedeutung der
Pflaumen-Episode in Continuatio
In diesem Kapitel möchte ich näher auf die verborgene Belehrungslehre des Autors im Schelmenroman Simplicissimus Teutsch eingehen. Für diesen Zweck wende ich mich der Pflaumen-Episode zu. Es ist wichtig ein Verständis zu entwickeln, dass Grimmelshausen den u.a. melancholischen Gemütszustand allegorisch mit dem Verzehr des spezifischen
Pflaumenfleisches verbindet. Auch zeigt er einen Genesungsweg zur Besserung dieser Seelenkrankheit, der sich in ihrem Kern befindet. Im sechsten Buch des Continuatio von Simplicissimus Teutsch, findet eine Pflaumen-Episode statt, die auf die moralisch-didaktischen Intentionen des Autors weist. Ich möchte gern an dieser Stelle noch einmal betonen, dass die Kenntnis des soziokulturellen Raums der damaligen Zeit essenziell für das Verständnis des Schelmenroman Simplicissimus Teutsch ist. Das barocke Weltbild unterscheidet sich sehr vom heutigen Weltbild. Ohne eine ausreichende Kenntnis des damals herrschenden Weltbilds, bleiben der tiefe Sinn des Schelmenromans und die moralisch-didaktischen Intentionen des Autors unbemerkt und unverstanden. Um diese Intentionen anschaulich zu machen, wende ich mich erst der Beschreibung der Szene zu.
Eine Gruppe von Seeleuten verfällt nach dem Verzehr einer gewissen Pflaumensorte dem Wahnsinn. Die seltsamen Wahnvorstellungen, die sie erfahren, fallen unterschiedlich aus. Jemand zieht seine Waffen aus und kämpft mit einem Baum, weil er einen großen Riesen vor sich sieht. Ein anderer kriecht auf allen Vieren wie eine Sau und sagt ständig:
„Maltz / Maltz; der Meinung weil er sich einbildete / er waere zu einer Sau worden / wir sollten ihm Maltz zufressen gebe; derohalben gabe ich ihm auß Rath deß hochteutschen ein paar Kern von denen Pflaumen / darin sie alle ihre Witz verfressen / mit versprechen / wann er solche gessen haben wuerde / daß solche zusich genommen / also
das sie kaum warm bey ihm worden / richtet er sich wider auff und fieng an vernuenfftig zureden“55.
Ein anderer Teil der Seeleute versucht in eine Höhle einzudringen, wo die Hauptfigur Simplicius sich befindet. Viele verirren sich dort. Einige, die gesund geblieben sind und zu Simplicius gelangen, werden von ihn über die wahren Gründe des Wahnsinns aufgeklärt. Außerdem legt er die
Heilmöglichkeit dieses Wahnsinns aus und hilft den verirrten Seeleuten die Höhle zu verlassen. Er erzählt den Gesunden, wie sie den Wahnsinnigen zur Hilfe kommen können. Das Heilmittel gegen die seltsamen
Wahnvorstellungen liegt im Kern der Pflaume selbst. Diesen Kern müssen sie mit dem Fruchtfleisch zusammen essen.
Das Höhlen-Abenteuer und die Pflaumen-Episode sind miteinander verknüpft. Die Verirrung in der dunklen Höhle und die Rettung von
Simplicius sind der verwirrenden Pflaume und ihren rettenden Kern analog zu deuten.
„Beide Episoden erscheinen sowohl in zeitlicher und kausaler Hinsicht als auch durch eine regelmäßige Alternanz in der Erzählanordnung miteinander verschränkt“56.
„Da die Simplicianische Höhle als Deutbild für den ´Simplicissimus´-Roman und seinen sensus mysticus ersichtliche wurde und die
eingedrungenen und verirrten Seeleute sich als Repräsentanten eines negativen Lesertypus herausstellten, wird man folgern dürfen, daß die Leuchtkäfer, deren es zur Erkundung der Höhle bedarf, eine
notwendige Voraussetzung zur rechten Lektüre des Romans, zu seiner allegorischen Auslegung, versinnbildlichen, während die
55 Vgl. Hans Jacob Christoffel Grimmelshausen: Simplicissimus Teutsch. S. S. 693. 56 Hubert Gersch: Geheimpoetik: Die "Continuatio des abentheurlichen Simplicissimi,
interpretiert als Grimmelshausens verschlüsselter Kommentar zu seinem Roman. Tübingen