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Über Migration. Vergleichende Analyse von Bertolt Brechts Flüchtlingsgespräche und Die Schutzbefohlenen von Elfriede Jelinek

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Über Migration

Vergleichende Analyse von Bertolt Brechts Flüchtlingsgespräche und

Die Schutzbefohlenen von Elfriede Jelinek

Sinead Wendt

Studentnummer: 5884810 Datum: 22.12.2015 20.456 Wörter

Masterarbeit Letterkunde: Duits Universität von Amsterdam

Begleiterin: prof. dr. Nicole Colin Zweitleserin: dr. Anna Seidl

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Inhaltsverzeichnis

Einführung ... 1

1: Exil, Auswanderung und Migration ... 6

1. Begriffserklärung: Exilant und Flüchtling ... 6

2. Migration in der deutschen Geschichte ... 12

2.1 Zweiten Weltkrieg ... 12

2.2 Heute ... 14

3. Migriertes Leben: Inklusion und Abjektion ... 17

4. Fazit ... 20

2: Bertolt Brecht: Flüchtlingsgespräche ... 21

1. Bertolt Brecht: Leben und Werk ... 21

2. Flüchtlinggespräche ... 23

Szene 1: Pass ... 25

Szene 2: Leben ... 28

Szene 3: Denken ... 31

3. Fazit ... 34

3: Elfriede Jelinek: Die Schutzbefohlenen ... 35

1. Elfriede Jelinek: Leben und Werk ... 35

2. Die Schutzbefohlenen ... 37 Szene 1: Papiere ... 40 Szene 2: Stellenlos ... 42 Szene 3: Abgeworfen ... 44 3. Fazit ... 47 4: Vergleich ... 49 1. Erste Betrachtung ... 49 1.1 Zeit ... 50 1.2 Ort ... 51 1.3 Figuren ... 52 2. Nähere Betrachtungen ... 53

2.1 Formale Seite der Migration: Reisepass und Papiere ... 54

2.2 Alltägliches Sein: Leben mit/ohne Stelle ... 56

2.3 Wert der Migration: Möglichkeit und Abgewerfung ... 59

Schlussfolgerung ... 61

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Einführung

Wir leben. Wir leben. Hauptsache, wir leben. Und viel mehr ist es auch nicht als leben, nach verlassen der heiligen Heimat. Keiner schaut gnädig herab auf unseren Zug. Aber auf uns herab schauen tun sie schon.

- Elfriede Jelinek: Die Schutzbefohlenen

Überfüllte Booten auf dem Mittelmeer. Ein ertrunkenes Kind am türkischen Strand. Ein Mann kriecht unter Stacheldraht durch. Zäune. Menschen im Regen und Schlamm. Eine Familie läuft auf dem Gleis. Überfüllte Züge. Ein Bahnhof, drei Mädchen mit einem Zettel „Refugees Welcome“. Brandanschläge. Kundgebungen. Eine Schlange von Menschen in einem Feld. Mehr Zäune. Mehr Regen. Mehr Menschen. Immer mehr Menschen.

Diese Bilder kennt inzwischen wahrscheinlich jeder. Sie beherrschen die Nachrichten, zirkulieren im Internet, auf dem Fernsehen, in Zeitungen. Sie illustrieren das, was heute als „die Flüchtlingskrise“ angedeutet wird: Menschen, die in Europa sicheren Grund suchen. Dass Menschen versuchen Europa zu erreichen, ist nicht neu. Dass von einer Krise gesprochen wird, schon. Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten versuchen mit Antworten zu kommen, wobei über das Schließen der Grenzen, das Deportieren und das Verteilen von Menschen gesprochen wird. Vergleichen mit dem Zweiten Weltkrieg sind inzwischen gängig, nicht nur wenn über das große Anzahl von Flüchtlinge gesprochen wird („Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg gibt es auf der Welt so viele Flüchtlinge“ ist fast ein Floskel geworden), sondern auch wenn es um die Reaktionen von Staaten geht.

Das Bauen von Mauern, das Schließen von Grenzen, das Verweigern der Aufnahme von Menschen in einem sicheren Land, es erinnert an die Art und Weise wie Menschen auf der Flucht in den dreißiger Jahren (nicht) empfangen wurden. Menschen wurden an der Grenzen geweigert, oder in speziellen Lagern interniert. Vielen hatten keinen Pass oder Staatsangehörigkeit (mehr), und niemanden nahm die Schutz dieser Menschen auf sich. Ein sprechendes Beispiel ist das Schiff St. Louis, dass 1939 mit mehr als 900 jüdischen Menschen in Kuba und Amerika geweigert wurde, nach Europa zurückkehrte, fast alle Passagiere sind in Konzentrationslagern ermordet worden.1

1 Vgl. Refuge Denied von Sarah A. Ogilvie und Scott Miller für eine ausführliche Auseinandersetzung.

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Eine Situation mit dem Zweiten Weltkrieg vergleichen ist prekär; eine große Empfindlichkeit und Vorsicht werden gefordert, da das Grauen dieses Krieges und das Leid niemals vergessen werden dürfen. Leider erinnern Akten wie Menschen in Zügen stellen und irgendwo anders hinbringen als sie denken,2 Nummern auf die Ärmel von Menschen schreiben,3 oder Menschen ein Kennzeichen geben, damit sie erkennbar sind,4 sind leider Praktiken, die auf diesem Krieg verweisen, und ein Vergleich mit dem Zweiten Weltkrieg in dem Diskurs bringen. Ob mit so einem Vergleich die (historische) Realität Recht getan wird, ist eine andere Frage.

Migration wird in vielen Bereichen besprochen und thematisiert. Nicht nur nationalen und internationalen Medien berichten darüber, in der Politik wird darüber debattiert, und auch in der Kunst ist das Thema zurück zu finden. Aktuelle Beispiele sind die Kollektiven „Zentrum für politische Schönheit“ in Deutschland und „Die Schweigende Mehrheit sagt JA“ in Österreich, Künstlerkollektiven, die anhand von Projekten die aktuelle Migrationspolitik kritisieren.5 Ein Projekt von „Die Schweigende Mehrheit“ ist die Aufführung von Die Schutzbefohlenen von Elfriede Jelinek, worin Menschen aus dem Flüchtlingslager Traiskirchen in Österreich spielen: Menschen, die eine Asylanfrage beantragt haben und auf Bescheid warten.

Die Schutzbefohlenen wurde 2013 von Jelinek geschrieben und handelt von

Migration in Europa. Der Text hat eine besondere Position, da Stimmen werden hörbar gemacht, die in den heutigen Diskurs oft nicht reden können: ertrunkenen Bootsflüchtlinge und Migranten ohne Aufenthaltsgenehmigungen.

Diese Arbeit fing mit einer Interesse in Die Schutzbefohlenen an, da den Text etwas wichtiges über unsere heutigen Welt zu sagen scheint. Menschen werden in Kategorien verteilt, was bedeutet es aber, wenn du als Migrant betrachtet wird? Welche Position können sie in dem Sozialen haben? Diese Fragen werden in Die

Schutzbefohlenen dauernd aufgeworfen, und so diente es sich als Objekt für eine

Masterarbeit an. Dabei ist die Illusion nicht, dass mit dieser Arbeit eine Antwort auf die Frage gegeben werden kann, wie Menschen heute in der Welt als Migrant charakterisiert und typologisiert werden. Eine Analyse von Literatur könnte aber

2 Anfang September 2015 wurden in Ungarn Züge eingesetzt für Flüchtlinge auf dem Weg nach Deutschland. Diese Menschen wurde versprochen nach Deutschland zu fahren, in Wirklichkeit sollten sie aber in einem Aufnahmelager aussteigen.(Vgl. Die Lager-trick) Die Menschen verweigerten es sich in Ungarn zu registrieren, haben protestiert (Vgl. 500 Flüchtlinge verweigern) 3 In Tschechien wurden Menschen Anfang September nummeriert, diese Praxis wurde aber

aufgehoben wenn es bekannt wurde und Menschen sich öffentlich empörte (Vgl. Empörung). 4 In Hamburg wurden in Erstaufnahmeeinrichtungen für fliehenden Menschen Anfang September

mit Armbändel gearbeitet (Vgl. Kennzeichnungspflicht).

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möglich ein Bruchstück zu einem Antwort formen.

Die Schutzbefohlenen kann als politisches Theater verstanden werden, eine

Theaterform, wofür Bertolt Brecht in der deutschen Literatur(-theorie) sehr wichtig ist. Die Wahl für ein zweiter Text für diese Arbeit war plötzlich einfach, da Brecht

Flüchtlingsgespräche (1940-942) geschrieben hat, ein Text, worin er ebenfalls eine

Auseinandersetzung mit der Thematik der Migration verspricht, und dann auch noch in einem Zeitalter, das sich schon durch den heutigen Diskussionen für ein Vergleich angeboten hat. Die zentrale Frage, die in dieser Arbeit gestellt wird: Wie werden Menschen als Migrant charakterisiert? Welche Position können Migranten in dem Sozialen einnehmen? (Wie) Ändert sich das von Brecht zu Jelinek?

Diese Arbeit dient natürlich zum Abschluss einer Master in der deutschen Literatur. Eine Auseinandersetzung mit Texten von sowohl Brecht als Jelinek, fördert aber eine Beschäftigung mit der historischen Realität. Die Schutzbefohlenen kritisiert die heutige Realität scharf und interveniert, indem es aufgeführt, publiziert, gelesen oder gehört wird, in einer Welt außerhalb der Literatur. Flüchtlingsgespräche kritisiert die damalige historische, politische Realität und verhält sich damit auch der Welt gegenüber, die Aktualität kommt aber weniger direkt hervor, vor allem, wenn wir bedenken, dass das Stück erst 1961 publiziert wurde. Beiden Texten fordern also eine Kontextualisierung in der historischen Realität, damit diese Dimension verständlich sein kann.

Das erste Kapitel ist die Theorie und den Kontext der zwei Texten gewidmet. Konzepten wie „Migration“, „Flüchtling“ oder „Exil“ scheinen deutlich, was bedeuten sie aber genau? Es wird auf die Geschichte der Konzepten eingegangen, ebenso wie auf ihre Probleme und Konnotationen. Danach wird Migration in einem historischen Kontext behandelt, wobei zwei Zeiten herausgehoben werden: Die Migration rundum den Zweiten Weltkrieg, um Brechts Flüchtlingsgespräche zu kontextualisieren, und Migration heute, als Kontextualisierung von Die

Schutzbefohlenen. Nach dieser Betrachtung folgt das letzte Teil des Kapitels, worin

die Konzepten Inklusion und Ausschließung betrachtet werden, da die Frage nicht nur ist, wie Migration definiert worden kann, und welche Geschichte auffindbar ist, sondern auch, wie jemand, der migriert, empfangen wird – oder vielleicht eher wie nicht. Das Konzept der Abwerfung von Judith Butler wird herausgearbeitet, da es in einem Versuch zu verstehen, wie Menschen die nicht geholfen werden und in der Illegalität geraten, hilfreich vorkommt.

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Im zweiten Kapitel wenden wir uns die Literatur zu. Hier steht

Flüchtlingsgespräche von Bertolt Brecht zentral, aber bevor wir uns dem Text

zuwenden, wird es kurz kontextualisiert in dem Leben und Arbeit von Brecht. Dabei wird die Idee des epischen Theaters heraus gearbeitet, ebenso wie auf das Konzept der Verfremdung eingegangen. Dann folgt eine Analyse von Flüchtlingsgespräche, wobei die Frage der Repräsentation der Migration auf drei Ebene behandelt wird: Erstens wird eine formale oder gesetzliche Ebene behandelt, wobei auf die Wert eines Reisepasses für die Wert eines Menschen eingegangen wird. Dann folgt eine Betrachtung der Repräsentation des alltäglichen Lebens, wobei vor allem die Lebensbedingungen betrachtet werden. Schließlich wird die Frage aufgeworfen, wie Migration moralisch verstanden werden kann: Hat es einen bestimmten Wert oder Möglichkeit für eines Menschen?

Im dritten Kapitel steht Die Schutzbefohlenen von Elfriede Jelinek im Mittelpunkt. Die gleiche Struktur wie im zweiten Kapitel wird gefolgt, was bedeutet, dass der Text erst mit Hinblick auf das Leben und Oeuvre von Jelinek kontextualisiert wird. Dann folgt eine Analyse von Die Schutzbefohlenen, wobei erstens mal die Bürokratie und formale Wirklichkeit betrachtet wird, indem auf die Wert von Papiere eingegangen wird. Dann folgt eine Betrachtung der Lebensbedingungen der Figuren, die stark von der Anwesenheit eines Identitätsdokuments und einer Aufenthaltsgenehmigung abhängig scheint. Drittens wird die Wert dieser Migration analysiert, wobei die Theorie der Subjektformation von Butler als sehr wichtig hervorkommt.

Nach diesen drei Kapiteln können die Theorien, Konzepten und Texten verglichen werden. Dabei wird erst eine allgemeine Betrachtung der Texten vorgeführt, wobei auf die Zeit, das Ort und die Figuren der Texten eingegangen wird. Dann folgt eine Analyse der drei Bereichen, die schon im zweiten und dritten Kapitel ausführlich betrachtet worden sind. Erst wird die formale Seite der Migration in beiden Texten, die mit dem Wert von Reisepass und Papiere zusammenhängt, verglichen. Wie wichtig ist die legale Position von Migranten? Gibt es ein Unterschied in den Texten in der Wert, der diese Position beigemessen wird? Und was würde ein Unterschied oder Übereinstimmung bedeuten? Zweitens wird auf die praktische Seite der Migration eingegangen: Das alltägliche Leben, das Sein mit anderen Menschen. Wie verhalten sich die Figuren einander und Anderen gegenüber? Was würde Unterschiede oder Übereinstimmungen deutlich machen können?

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Letztens wird dann die schwierige Frage der Wert der Migration erneut gestellt. Im ersten Kapitel wurde Migration als spezielle Möglichkeit des Seins betrachtet, wie wird sie aber von den Figuren in Flüchtlingsgespräche und Die Schutzbefohlenen gewertet?

Am Ende bleibt dann nur noch die Frage, was wir als Leser jetzt anfangen können, wollen oder sollen, sowohl mit diesen Texten, als die Welt die dargestellt wird. Diese Frage kommt in einer literaturwissenschaftlichen Arbeit nicht als üblich hervor, wenn wir uns mit Brecht und Jelinek beschäftigen, können wir die Aktualität und Realität die besprochen wird, aber nicht ignorieren. Am Ende der Arbeit wird dann auch kurz diese Frage zugewendet, ob ein Antwort zu formulieren ist, bleibt aber eine Frage.

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1: Exil, Auswanderung und Migration

Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei. Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten.

- Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte

Menschen wandern. Sie ziehen von einem zum anderen Land, lassen sich nieder und ziehen wieder weiter. Sei es auf der Suche nach fruchtbare Erde, nach Arbeit oder auf der Flucht vor einem Krieg, Menschen migrieren. Was aber ist Migration? Und wie stehen die Begriffe „Exil“ und „Flüchtling“ einander gegenüber? Die Auseinandersetzung mit den literarischen Werken von Bertolt Brecht und Elfriede Jelinek, die sich beiden mit dem Thema Migration im weitesten Sinne befassen, fordert erst einmal eine eher theoretische Analyse der Konzepten. In diesem Kapitel werden deshalb die Begriffe Exil, Flüchtling und Migration definiert und einander gegenüber gestellt. Danach wird kurz ein historischer Überblick der Migration in der deutschen Geschichte skizziert. Im Hinblick auf den Stücken von Brecht und Jelinek, die in den nächsten Kapiteln zentral stehen, werden zwei spezifischen historischen Momenten herausgehoben: Migration vor und während dem Zweiten Weltkrieg, und Migration heute. Drittens wird kurz auf die Frage eingegangen, welche Konsequenzen Migration potentiell für Migranten hat, insbesondere in Beziehung zu dem empfangenden Land. Wie verhalten sich Inklusion und Integration einerseits, Exklusion und Abjektion andererseits?

1. Begriffserklärung: Exilant und Flüchtling

Begriffserklärungen fordern eine Auseinandersetzung mit Sprache, Konnotationen und Bedeutungen. Synonymen sind ähnlich aber bedeuten nicht das gleiche, Bedeutungen ändern und mit jedem Wort wird ein Diskurs aktiviert, dessen man sich meistens gar nicht bewusst ist. Wenn von dem Thema Migration gesprochen wird, ist eine vorsichtige Wortwahl erforderlich, erstens weil die Kategorien unterschiedlichen (juristischen) Forderungen stellen an Staat und (Mit-)Bürger. Zweitens ist Vorsicht geboten, da es um Menschen geht. Eine andere Kategorisierung kann eine ganz andere Behandlung bedeuten.

Bertolt Brecht benennt die Schwierigkeit der Wortwahl angesichts dieses Thema 1937 in seinem Gedicht „Über die Bezeichnung Emigranten“:

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Immer fand ich den Namen falsch, den man uns gab: Emigranten Das heißt doch Auswanderer. Aber wir

Wanderten doch nicht aus, nach freiem Entschluß

Wählend ein anderes Land. Wanderten wir doch auch nicht Ein in ein Land, dort zu bleiben, womöglich für immer. Sondern wir flohen. Vertriebene sind wir, Verbannte.

Und kein Heim, ein Exil soll das Land sein, das uns da aufnahm.

Emigranten, Auswanderer, Vertriebene, Verbannte, auf dem ersten Blick ähneln die Wörter sich, sie bedeuten aber deutlich nicht das gleiche. Emigranten und Auswanderer, mit diesen Wörtern werden in dem Gedicht die Konzepten freies Entschluss und eine Wahl des neuen Landes verbunden; sie wählen es in einem bestimmten Land zu wandern, wo sie ein Heim suchen, das heißt, sie wollen länger in dem Land bleiben, vielleicht für immer. Vertriebene und Verbannte werden dem gegenüber gestellt: Menschen, die nicht in ein Land wandern, weil sie es wählen, sondern weil sie flohen, vertrieben, verbannen wurden. Dazu suchen sie kein Heim, sondern ein Exil: Sie wollen nur so lange bleiben, wie es notwendig ist, „wartend des Tags der Rückkehr“ wie Brecht es später in dem Gedicht schreibt.

Diese Gegenüberstellung von freiwilliger Auswanderung und gezwungene Flucht ist öfter in dem Denken über Migration und dem Kategorisierungen von Migranten zu finden. Edward Said (1984) und Darko Suvin (2001) verwenden zwei Kriterien, um Migranten von einander zu unterscheiden:

(1) Migriert man als Individuum oder in einer Masse?; (2) Ist Rückkehr möglich oder nicht?6

Laut dieser Typologie gibt es Exilanten, d. h. Menschen, die verbannt worden sind, sie sind alleine und können nicht zurückkehren; Flüchtlingen: Rückkehr ist ebenfalls unmöglich, Flüchtlingen migrieren aber in einer Masse; Drittens Expatriierte, d. h. Individuen, die sich in einem anderen Land niederlassen und jeder Moment zurückkehren können; und letztens Emigranten: Menschen, die zurückkehren können und als Masse migrieren.7 Schwerpunkt dieser Arbeit liegt auf den Konzepten Exilant und Flüchtling, also Menschen, die entweder alleine oder in einer Masse migrieren und nicht direkt zurückkehren könnten.8 Diese Fokus folgt aus dem Wahl

6 Diese Möglichkeit der Rückkehr ist höchst dubiös, wo zieht man die Grenze und wann ist Rückkehr wirklich unmöglich? (Vgl. Suvin, S. 112). Wichtig ist aber, dass unterscheiden wird, ob Menschen eine Wahl hatten als sie migrierten, und ob sie eine Wahl haben, zurückzukehren (Vgl. Said, S. 181).

7 Vgl. Said, S. 181 und Suvin, S. 111.

8 Eine weitere Auseinandersetzung mit dieser Möglichkeit der Rückkehr, wie sie zu definieren ist, und welche Bedeutung Migration hat, wenn einer wieder zurück kann, wo man dann zurückkehrt und ob man irgendwie wirklich zurück ist, wäre sicher interessant, führe für diese Arbeit aber zu weit und lasse ich deshalb weiterhin außer Betracht.

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der literarischen Quellen. Bertolt Brecht ist als einer der bekanntesten Exilautoren bekannt, was eine Auseinandersetzung mit dem Konzept „Exil“ fördert. Sein Stück trägt aber den Titel Flüchtlingsgespräche, und da Jelinek sich mit der sogenannten aktuellen „Flüchtlingsproblematik“ in Europa beschäftigt, soll das Konzept „Flüchtling“ näher betrachtet werden.

Der Exilant und der Flüchtling verlassen beiden die Heimat. In der Dichtung Brechts sind sie nicht anders: Vertriebenen und Verbannten sind geflohen und suchen Exil. Doch die Konzepten sind keine Synonyme, wie die Definitionen im Duden zeigen. Der Exilant wird als „jmd., der in Exil lebt“ definiert, das Exil als: „langfristiger Aufenthalt außerhalb des Heimatsland, das aufgrund von Verbannung, Ausbürgerung, Verfolgung durch den Staat oder unerträglichen politischen Verhältnissen verlassen wurde“.9 Der Flüchtling wird definiert als „jmd., der aus politischen, religiösen od. ethnischen Gründen ihre Heimat eilig verlassen hat od. verlassen musste und dabei seinen Besitz zurückgelassen hat“.10 Beiden Figuren leben also außerhalb der Heimat, die Gründen dafür seien aber unterschiedlich: Ein Exilant hätte politischen Gründen die Heimat zu verlassen: er wird verbannt, ausgebürgert (ist also kein Bürger mehr), explizit verfolgt von dem Staat oder es gibt anderen politischen Verhältnissen. Die Flüchtling kann auch aus politischen Gründen die Heimat verlassen, dazu können aber auch religiöse oder ethnische Gründen das Verlassen der Heimat erzwingen. Exil ist damit eng definiert und auf politischen Gründen der Migration beschränkt, während die Kategorie des Flüchtling breit ist und auch anderen Gründen für die Flucht enthält.

Der Flüchtling verlässt die Heimat laut Duden „eilig“ und ohne Besitz, diese Eile und Besitzlosigkeit fehlen in der Definition des Exilanten. Die Eile scheint auf ein nicht-überlegen hinzuweisen, denn die Frage ist nicht, ob und wohin man flieht: man will nur weg. In diesem Kontext ist die Besitzlosigkeit verständlich, denn in der Eile gibt es keine Zeit Sachen zu packen. Die Fokus auf Besitz macht der Flüchtling aber jemanden, der nur ein Mensch auf der Flucht ist; er hat nichts mehr,11 während ins Exil so eine Reduzierung auf dem eigenen Sein nicht gedacht wird. Diese Definition von Exil, schließlich, spiegelt die Möglichkeit der Rückkehr, da der

9 Vgl. „Exilant“. 10 Vgl. „Flüchtling“.

11 In dieser Hinsicht könnte von “nacktes Leben” so wie Giorgio Agamben es definiert gesprochen werden: Leben reduziert zu leben, ohne juristische Status oder Schutz. Der Flüchtling soll aber als Grenzkonzept aufgefasst werden, mit welchem eine Änderung der herrschenden Machtstrukturen und -mechanismen möglich sei (Agamben: Homo Sacer, S. 134).

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Aufenthalt explizit „langfristig“ ist – auffällig, da diese Möglichkeit für Said und Suvin explizit nicht anwesend ist. Rückkehr ist aber abhängig von ändernden politischen Umständen; so lange die Situation gleich bleibt, kann von Rückkehr nicht die Rede sein. Eine eventuelle Rückkehr des Flüchtlings wird in dieser Definition überhaupt nicht eingebaut: fliehen tut man anscheinend für immer.

Das Konzept Exil hat eine Geschichte, die bis in der Antike zurückzuführen ist. Das Wort kommt von dem lateinischen „exilium“, das „in der Fremde weilend, verbannt“ bedeutet.12 Es war eine Möglichkeit Verfolgung entkommen, später aber auch eine Bestrafung.13 Die deutschsprachige Literatur die 1933 – 1945 verfasst wurde, ist heutzutage als Exilliteratur bekannt. In dem Konzept ist die Isolation des Menschen wichtig: im Exil ist man alleine (obwohl die Familie mitkommen kann, wie bei Brecht, es geht um die eine, spezielle Person) und diese Person hat (besseren) Chancen als der anonymen Flüchtling, einfach weil er oder sie als Individuum anerkannt wird.14 Hannah Arendt erklärt das folgenderweise: „it is true that the chances of the famous refugee are improved just as a dog with a name has a better chance to survive than a stray dog who is just another dog in general.“15 Merke auf, dass sie das Wort „refugee“, „Flüchtling“ verwendet, und nicht von Exil spricht, was auf eine enge Beziehung der beiden Konzepten deutet, genauso wie Brecht in seiner Dichtung die Geflüchteten als ein Exil suchend andeutet. Mittlerweile scheint das Konzept „Exil“ aber veraltet und nicht mehr im Brauche: Menschen, die staatliche Verfolgung oder politische Umstände entfliehen, können als Flüchtling kategorisiert werden. Von Exil wird, außerhalb der Literaturgeschichte in Beziehung zur bestimmten Literatur, fast nicht mehr gesprochen.

Das Konzept der Flüchtling ist ziemlich neu, erst im 20. Jahrhundert formuliert, zuerst als nach dem Ersten Weltkrieg Millionen Menschen die Heimat verließen und darauf reagiert werden sollte,16 dann als Millionen Menschen für

12 Vgl. „Exil“.

13 Eine Bestrafung wurde Exil erst im 1. Jahrhundert. Bis dann war es bei den Römer gerade eine Möglichkeit Bestrafung zu entkommen, da jemand, bevor er verurteilt wurde, ins Exil gehen könnte (Vgl. Kelly, S. 17ff.)

14

Oder, wie Josef Brodsky sagt: “Nobody ever counted these people and nobody, including the UN relief organizations, ever will.” (Brodsky, S. 3). Das Letztere ist aber nicht mehr genau den Fall. In dem Projekt “The Human Costs of Border Control”, eine Untersuchung der Vrije Universiteit Amsterdam, wird versucht im Mittelmeer ertrunkenen Bootflüchtlingen zu zählen (Vgl. Spijkerboer)

15 Hannah Arendt: The Decline of the Nation-State, S. 287.

16 Rechtliche Schutz von Menschen auf Grund einer Status als Flüchtling gab es noch nicht, schon 1921 wurde aber ein spezieller Pass kreiert, mit dem vor allen Russen und Armenier ohne Pass reisen könnten: der Nansen-pass. Diese Pass wurde bis 1933 anerkennt (Vgl. Walter, S. 30; Groppo, S. 82).

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Hitler, die Nationalsozialisten und den Zweiten Weltkrieg fliehen.17 Arendt signaliert, dass über Flüchtlinge gesprochen wurde, aber wie „all discussions about the refugee problems revolved around this one question: How can the refugee be made deportable again?“.18 Flüchtlinge sollten vor allem schnell los geworden werden, was in Tragödien wie das in der Einführung erinnerte Schiff St. Louis resultierte. Nach dem Zweiten Krieg wurde „Flüchtling“ 1951 gesetzlich definiert, als die Genfer Konvention aufgestellt wurde, inzwischen von 147 Länder weltweit unterschrieben worden, als Antwort auf dem Zweiten Weltkrieg und der Holocaust verstanden worden.19 Das Recht auf Asyl wird fest gelegt und bis heute wird diese Definition von Flüchtling verwendet:

Jede Person, die […] aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will20

Diese Definition, die deutlich in der Duden-Definition wiederzusehen ist, soll die Sicherheit von Menschen bewahren: Wird jemand als Flüchtling anerkannt, dann soll diese Person geschützt werden. Mit dieser Konvention wird ein interessantes Unterschied zwischen den Konzepten „Exilant“ und „Flüchtling“ deutlich: Wo „Exilant“ ein offenes Konzept ist, das auf Individuen zugepasst werden kann, ist „Flüchtling“ eine formale Kategorie, die eine Verpflichtung von Staaten diesen Menschen gegenüber bedeutet. Genau auf diesem Punkt wird das Konzept kritisiert, nicht nur weil viele Menschen nicht innerhalb der Definition fallen (z. B. Menschen die in dem eigenen Land Verfolgung fürchten), sondern auch, weil die Furcht vor Verfolgung begründet werden soll. Diese Begründung wird in einer Asylanfrage geprüft und ist eine Praxis, wobei Menschen zu einer Versammlung von Papiere und Zertifikaten reduziert werden, die oft als nicht-ausreichend für eine Anerkennung als Flüchtling gelten.21

Das Konzept „Flüchtling“ hat eine kürzere Geschichte als „Exilant“. Es wird heutzutage aber viel verwendet, in dem heutigen Diskurs ein anderes Konzept gegenübergestellt: „(ökonomischer) Migrant“ oder Wirtschaftsflüchtling. Es wird ein

17 Vgl. Arendt: The Decline of the Nation-State, S.266f.; Agamben: We Refugees, S. 2. 18 Arendt: The Decline of the Nation-State, S. 284.

19 Vgl. Carens, S. 192-194, 199; Bader, S. 334; Kukathas, S. 3-4.

20 UNHCR: Abkommen, Artikel 1 A2. Die Konvention beschränkte sich ursprünglich auf Gründe, die vor 1951 stattfanden. Diese zeitliche Beschränkung wurde 1967 aufgehoben.

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Unterschied gemacht zwischen Menschen, die nicht in der Heimat zurückkehren können, da sie dort Verfolgung fürchten, und Menschen, die zurückkehren können, „nur“ auf der Suche nach einem besseren Leben seien. Dieses Unterschied ist nicht nur in populären Medien gängig, sondern wird auch von offiziellen Hilfsinstanzen wie UNHCR und UNO-Flüchtlingshilfe gemacht.22 Flüchtlinge sollen in diesem Diskurs geholfen werden, da sie keinen Schutz von dem eigenen Land mehr haben, während Menschen, die nicht direkt Tot oder Folter, sondern Hunger und Armut befürchten, nicht unbedingt Schutz von einem Staat brauchen. Die Idee ist, dass Menschen in einem Land geboren werden, und dass den Staat dieses Landes seine Einwohner schützen wird. Die Frage ist natürlich, wofür oder wogegen man beschützt werden soll, wer beschützt wird (Wer wird als Bürger verstanden? Wer hat welche Rechten?), wer bestimmt, ob Schutz anwesend ist, und ob Staaten Menschen schützen, oder bloß die Verantwortlichkeit haben

Obwohl Flüchtlinge in der Praxis längst nicht überall willkommen scheinen, wie die aktuellen Entwicklungen in Europa mit dem Bauen von Mauern und dem Schließen der Grenzen zeigen, sind Staaten gesetzlich gefördert anerkannte Flüchtlinge zu helfen. Nicht-anerkante Flüchtlinge, wie die früheren Exilanten, können auf so eine Verpflichtung nicht zurückfallen, sind die Willkür des Staats, dessen Gesetzes und dessen Praxis ausgeliefert, wenn es auf die Möglichkeiten der Hilfe ankommt. Jedoch wird ein Unterschied zwischen Menschen, wobei „echte Flüchtlinge“ von „Wirtschaftsflüchtlinge“ getrennt werden, in der Praxis erst nach einer Asylantrag möglich, wobei die Frage erneut gestellt worden soll, inwiefern Menschen adäquat als Flüchtling erkennt werden

Abgesehen von dieser Wirklichkeit, die hier nur angedeutet werden kann, leider nicht gelöst, bleibt die Frage, welche Wörter wir verwenden, wenn wir über Menschen reden. Ein neutrales Wort kann es wahrscheinlich nicht geben, jede Wortwahl affirmiert implizite (Neben-)Bedeutungen, die man nicht unbedingt affirmieren möchte. Diese Debatte ist seit dem Sommer 2015 erneut aktuell, indem in internationalen Medien von einer Flüchtlings- oder Migrantenkrise gesprochen wird, wobei die Frage gestellt wird, ob die Menschen die nach Europa fliehen, Migranten oder Flüchtlinge sind. Es wird einerseits auf die negative Konnotation des Wortes “Migrant” hingewiesen,23 andererseits wird für die Neutralität des Wortes plädiert, argumentiert, dass eine Wahl für “Flüchtling” über “Migrant” die Dichotomie

22 Vgl. UNHCR: Flüchtlinge; Vgl. UNO-Flüchtlingshilfe: Migrant oder Flüchtling? 23 Vgl. Malone; Ruz.

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zwischen den beiden Konzepten und die negative Konnotation von “Migrant” nur erneut bestätigt.24

Angesichts der beschriebenen Probleme scheint es schwierig, ja vielleicht unmöglich eine „richtige“ Wortwahl zu treffen. In dieser Arbeit wird aber, soweit möglich, nicht automatisch von „Exil“ oder „Flüchtling“ gesprochen, da die implizite und explizite Bedeutungen, die mit diesen Konzepten verbunden sind, nicht unbedingt wiederholt werden müssen. Das bedeutet, das durchaus von dem quasi-neutralen „Migration“ und „Migrant“ gesprochen wird. Eine Ignoranz gegenüber das Leiden oder die schlimmen Lebensbedingungen der betroffenen Menschen ist aber keineswegs impliziert.

2. Migration in der deutschen Geschichte

Wenn von Migration gesprochen wird, spricht man oft von sogenannte „Wellen“, meistens folgend auf eine Veränderung der politischen Situation. Die Migrationsgeschichte im deutschen Sprachraum wird in unterschiedlichen Wellen eingeteilt, wobei die Migrationswelle während des Zweiten Weltkriegs am größten geschätzt wird.25 Das Wort „Welle“ hat in diesem historischen Kontext aber eine andere Bedeutung, als die Konnotation heute. Verweisen die historischen Migrationswellen auf einem Flucht weg aus Deutschland, die Migrationswellen, von denen heutzutage gesprochen wird, stellen Migration zu den Europäischen Union (und darin Deutschland) vor. Beide Situationen werden jetzt näher betrachtet.

2.1 Zweiten Weltkrieg

Als 1933 die Nationalsozialisten die Macht ergriffen, begann eine Migrationsbewegung, die bis zum Ende des Krieges nicht mehr aufhört. In der Beschreibung dieser Bewegung ist es zu einem Gemeinplatz geworden, zwischen Exilierten und Emigranten zu unterscheiden; Menschen, die aus politischen Gründen migrierten, wie z. B. Kommunisten und Sozialisten, oder aus künstlerischen Gründen, wie z. B. Realisten und Avant-gardisten, seien, so will die Forschung, nicht

24 Vgl. Vonberg. In den deutschsprachigen Medien scheint „Flüchtlingskrise“ gängig und eine Diskussion der Wörter scheint abwesend, es wird vor allem auf die Definitionen hingewiesen. 25

Die anderen Migrationswellen: 1. Welle als 1793 die Gründung der Mainzer Republik scheiterte; 2. Welle nach den Karlsbader Beschlüsse; 3. Welle nach Revolutionsversuche in 1830; 4. Welle nach dem gescheiterten Revolution 1848; 5. Welle nach dem Einführen des Sozialistengesetzes 1878; 6. Welle während dem Ersten Weltkrieg und 7. Welle ab 1933 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs (Vgl. Stephan, S. 451 - 452). Nach dem Zweiten Weltkrieg wird nicht mehr von Wellen weg aus Deutschland gesprochen, obwohl auch von DDR zum BRD migriert wurde (Vgl. Loewy, S. 2; Vgl. Müller: Flucht und Asyl in europäischen Migrationsregimen, S. 52).

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mit den Juden zu verwirren.26 Nicht nur die Gründen der Migration seien anders, auch die Zeit: politisch motivierte Migranten zogen schon ab 1933 aus Deutschland weg, während Juden großteils erst nach dem Kristallnacht 1938 versuchen Deutschland zu verlassen.27 Drittens wird die politische Migration als kurzfristig wahrgenommen, weil diese Menschen nach dem Krieg wieder nach Deutschland zurückkehren können und wollen, genauso wie Exil in Duden definiert wird: es ist ein langfristiges Aufenthalt im Ausland. Die jüdische Migration, im Gegenteil, solle als ein Versuch, eine neue Existenz aufzubauen, verstanden werden.28

Die Trennung zwischen politischer Exil und (jüdischer) Flucht vor Verfolgung wiederholt die Trennung zwischen Exilant und Flüchtling, die Said und Suvin machen: Exilanten fliehen alleine, Flüchtlingen in Massen. Sie ist nicht ohne Problem, denn einzelnen Individuen werden herausgehoben, sie seien ins Exil, während anderen als Masse verstanden werden, die Individuen nicht länger wahrgenommen. Dabei geht es nicht darum, dass es auch berühmten jüdischen Flüchtlingen gab, denn es gibt viele Beispiele von Menschen die jüdisch sind, flohen, und als Individuum verstanden wurden. Das Problem ist, dass diese Trennung zwischen politischen Exil und fliehenden Juden Menschen zu einem Sein zu reduzieren droht, dass sie unbedeutend macht, genauso wie die Nationalsozialisten Menschen zur Unbedeutsamkeit reduzierten, eine Praxis die immer mit großer Vorsicht angenähert werden soll.29

Die Migration in dieser Zeit wird von einem unbestimmten rechtlichen Status der Migranten gekennzeichnet. Vielen hatten keinen Reisepass, die Pässen anderer verliefen und folglich hatten vielen Menschen keine gültige Papiere. Eng daran verbunden ist das am 14.07.1933 im deutschen Reich angenommene Gesetz, mit dem Einbürgerungen widerrufen und Staatsangehörigkeit aberkennt werden könnten, wodurch viele Familien staatenlos wurden.30 Staatenlose Menschen fehlt jede rechtliche Schutz von irgendwelchem Regime, da sie von keinem Staat als Bürger anerkennt werden und niemand infolgedessen die Verantwortlich für ihre Sicherheit auf sich nimmt.31 Schon während, aber auch nach dem Krieg war die Frage, wie

26 Vgl. Loewy, S. 15; Stephan, S. 452; Benz, S. 63. 27

Vgl. Stephan, 452. Vgl. Benz, S. 43 - 83 für eine Analyse von und Erklärung für die relativ späte Migrationsversuchen von Juden.

28 Vgl. Benz, S. 63.

29 Die “namenlosen” Flüchtlinge werden in künstlichen Produktionen ein Gesicht und eine Geschichte gegeben, wie Margus Gerttsens Dokumentarfilm Every Face has a Name (2015). 30 Vgl. Walter, S. 9f.

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diese Menschen behandelt werden sollten; Gastländer reagierten unterschiedlich: Aufnahme von (vor allem prominenten) Personen, Duldung, Internierung, oder eben Abschiebung in Deutschland.32

Als kennzeichnend für die Migration der Zweiten Weltkrieg werden letztens die Bemühungen von Migranten Nazi-Deutschland und Hitler zu kritisieren aufgeführt.33 Vor allem in den Jahren vor dem offiziellen Kriegsbeginn erschienen unterschiedlichen Zeitschriften, von denen das von unter anderem Bertolt Brecht herausgegebene Das Wort größer Wert zugeschrieben wird.34 Die Literatur, die von ausgewanderten Schriftsteller verfasst wurde, wird als Exilliteratur bezeichnet und ist unterschiedlichen Studien und Sammelbänden gewidmet.35 Bertolt Brecht gilt dabei als bevorstehender Autor.

2.2 Heute

Wenn heute von Migration gesprochen wird, geht es hauptsächlich um Flüchtlingen und Asylanten. Das Recht auf Asyl wurde 1949 in dem deutschen Grundgesetz aufgenommen, 1951 in der Genfer Konvention, worin „Flüchtling“ gesetzlich definiert wurde, international unterschrieben.36 Jeder Mensch hatte jetzt das Recht Asyl zu beantragen. Wird Asyl verliehen, dann ist man offiziell als Flüchtling anerkennt, darf in Deutschland bleiben und wird geschützt. Relevant wurde dieses Recht erneut, als die BRD 1961 anfing, Gastarbeiter aus Griechenland, die Türkei, Marokko und Tunesien zu holen,37 1965 wurde das Ausländergesetz angenommen, worin das Asylverfahren bestimmt wird: nicht jeder, der Asyl fragt, bekommt es auch. Dieses Gesetz wurde 1977 geändert, wodurch die soziale Situation der Asylbewerber sich verschlechterte, was neue Asylanten abschrecken sollte.38

1985 wurde das erste Schengen Vertrag geschlossen, wodurch Bürger der EU sich in angeschlossenen europäischen Mitgliedstaaten frei bewegen könnten. Dieses Öffnen der Grenzen folgte in der BRD ein Diskurs in dem eine stärkere Kontrolle gefordert wurde, da man Angst hatte, dass vielen Migranten kommen würden. Eine Änderung des Grundgesetzes, eine Einschränkung des Rechts auf Asyl folgte 1993.39

32 Vgl. Benz, S. 64; Walter S. 22f. 33

Vgl. Benz, S. 89. 34 Vgl. Loewy, S. 19.

35 Vgl. z. B. den 3-bändige Sammlung von Loewy, oder die 7-bändige Publikation von Walter. 36 Vgl. Müller: Flucht und Asyl, S. 150.

37 Vgl. Müller: Flucht und Asyl, S. 141 -142. 38 Vgl. Müller: Flucht und Asyl, S. 158.

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Ab dann gibt es die sichere Herkunfts- und Drittstaatsregelung, die bestimmt, dass Menschen, die aus als sicher geltende Herkunftsländer kommen, nicht als Flüchtling anerkannt werden können, und Menschen, die via sicheren Drittstaaten eingereist sind, müssen in diesen Staaten, nicht in Deutschland Asyl beantragen – ein Verfahren, dass mit dem Dublin-Abkommen 2003 Europa-breit Praxis wurde.40 Konkret bedeutet das, dass man, indem man Asyl anfragen möchte, Deutschland offiziell nur mit dem Flugzeug erreichen kann, da alle Länder rundum Deutschland als sicher gelten.41 Hier konstituiert sich dann das Phänomen der illegalen Einreise und „Illegalisierung“ von Menschen: Obwohl Menschen nicht kommen dürfen, sie kommen trotzdem und sind da. „Illegalisierung“ ist ein Konzept, das in der Migrationsforschung geprägt ist, um die Prozessen, durch welchen Menschen als illegal konstituiert werden, anzudeuten.42

Heutzutage fliehen Menschen aus unterschiedlichen Länder Richtung Europa.43 Die Bilder dieser letzten Migranten sind inzwischen fast täglich in der Nachrichten: Bötchen auf dem Mittelmeer, geretteten Menschen, ertrunkenen Menschen. Wartenden Menschen, auf Inseln, auf Plätzen, in öffentlichen Garten. Migranten werden als Strom verstanden, als nicht zu halten Fluss, als Welle, die, wie ein Tsunami, alles überspült. Solche Wasser-Metaphern deuten auf eine Abwesenheit von Kontrolle hin, weil die Flüssigkeit immer sein Weg findet - und damit ist hartes Eingreifen auch einfacher zu rechtfertigen.44 Diese Menschen werden in unterschiedlichen Kategorien differenziert, wie gesagt wird versucht zwischen „Flüchtlinge“ und „Wirtschaftsflüchtlinge“ zu differenzieren. Der größte Unterschied wird aber zwischen „legale“ und „illegale“ Migration konstituiert.45 Es ist dabei möglich Illegalisierung bevor jemand Asyl beantragt (illegale Einwanderung), und Illegalisierung nachdem eine Asylanfrage abgelehnt ist und jemand nicht mehr in

40 Vgl. Müller: Flucht und Asyl, S. 104. Dublin III ist eine Verordnung, die fordert, dass das Mitgliedstaat der EU für den Asylantrag eines Person zuständig ist, das als erster die Fingerabdrücke dieser Person abgenommen hat. Theoretisch bedeutet es, dass vor allem die Mitgliedstaaten an der Außengrenze Europas für Asylbewerber zuständig sein sollten, da Menschen meist über Land oder See ankommen. Praktisch migrieren vielen Menschen aber weiter ohne Fingerabdrücken abgegeben zu haben, ein Praxis die als illegal charakterisiert wird (Vgl. dazu Hönig).

41 Vgl. Müller: Flucht und Asyl, S. 167. Sichere Herkunftsländer sind alle Länder der Europäischen Union, ebenso wie Bosnien, Ghana, Mazedonien, Senegal und Serbien, 2015 sind Albanien, Kosovo und die Türkei hinzugefügt (Asylverfahrensgesetz, Anlage II).

42 Vgl. Squire, S. 4.

43 Vgl. Aktuelle Zahlen zu Asyl. November 2015 sind die Hauptherkunfstländer Syrien, Albanien, Irak, Afghanistan und Eritrea.

44 Vgl. Schrover und Schinkel, S. 1132. 45 Vgl. Müller: Flucht und Asyl, S. 39.

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Deutschland bleiben darf, von einander zu differenzieren. Mit Illegalisierung wird das Prozess der Konstruktion der Migration als illegal angedeutet: niemand ist illegal, Menschen werden illegal gemacht.

In der aktuellen Debatte steht hauptsächlich die illegale Einreise zentral. Länder wie Griechenland und Ungarn können die Menschen, die ankommen, schon lange nicht mehr anständig behandeln, seit dem Sommer 2015 ist groß in der Nachrichten, wie Menschen in sehr schlechte Umstände leben, während sie auf ihre Registrierung als Asylant warten, wie Menschen versuchen Grenzen zu übergehen in Ungarn, auf dem Balkan, eine Reise die laut Dublin-Abkommen nicht erlaubt ist, aber unter großen medialen Aufmerksamkeit registriert wurde. Die Anwesenheit dieser Menschen hat die Europäischen Union in einer Krise gestürzt, so wollen es die meisten Nachrichten, es wird gesprochen über eine Verteilung von Flüchtlinge46 oder eine andere Behandlung von Menschen, die Europa illegal erreichen.47 Deutschland hat sein Asylgesetz September 2015 geändert, z. B. zum dem Errichten von speziellen Zentren für Menschen beschlossen wurde, und Abschiebungen effektiver realisiert werden sollen.48

Dies ist aber nur eine Seite der Geschichte. Denn nachdem Menschen Asyl gefragt haben, können sie entweder akzeptiert werden, oder ihre Anfrage wird abgelehnt. Diese zweite Möglichkeit resultiert (möglicherweise erneut) in Illegalisierung, denn diese Menschen werden gefördert das Land zu verlassen. Manche Menschen machen das, freiwillig oder vom Staat gezwungen. In einem anderen Land wandern ist aber längst nicht immer möglich, zum Beispiel weil jemand keine Reisedokumente hat, weil das Land, dass jemand verlassen hat, diese Person nicht wieder aufnehmen will, oder weil das Land, dass jemand verlassen hat, nicht als sicher gilt und Abschiebung nicht erlaubt ist.49 Diese Seite der Migrationspolitik wird weniger beleuchtet, Jelineks Die Schutzbefohlenen handelt aber explizit davon.

46 Vgl. EU-Innenminister einigen sich. 47 Vgl. Junker lädt zu EU-Krisentreffen ein.

48 Vgl. Flüchtlingskrise: Kabinet beschließt neues Asylgesetz. 49 Vgl. Flüchtlingsrat Niedersachsen.

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3. Migriertes Leben: Inklusion und Abjektion

Die Migrationsbewegung, das Bild davon und den Diskurs, mit welchem über Migration gesprochen wird, hat sich im Laufe der Jahre geändert. Es können durchziehende Bewegungen von dem Zweiten Weltkrieg bis heute gesehen werden, so war der rechtliche Status vieler Migranten 1933 unklar, da sie keine Papiere hatten. Menschen ohne Papieren gibt es noch immer, inzwischen wird differenziert zwischen legalen und illegalisierten Migranten. Ob damit der rechtliche Status verdeutlicht ist, ist zweifelhaft, denn was bedeutet es illegalisiert zu werden? Was bedeutet es überhaupt zu migrieren? Wie ist migriertes Leben zu verstehen? Diese Fragen werden jetzt behandelt. Dabei wird auch auf der eher aufgeworfenen Frage, mittels welchen Praktiken Menschen kategorisiert und damit zu einem bestimmten Position und Leben bestimmt werden, zurückgegriffen.

Wenn einer Haus und Heimat verlässt, sei es gezwungen oder freiwillig, sei es alleine oder mit anderen Menschen, dann muss man mit sich und seinem Leben irgendwo anders auskommen. Irgendwo unbekannt, wo die Menschen wahrscheinlich eine andere Sprache sprechen, wo andere Regeln gelten und andere Bräuche gängig sind. Man ist entstellt, und diese Entstellung fordert eine Reaktion. Zygmunt Bauman charakterisiert es folgenderweise:

What makes the exile an unreal place is the daily effort to make it real – that is, to cleanse it of all things that are out of place. In exile, one is pressed to stop being in exile; either by moving elsewhere, or by dissolving into the place, not being anymore out of it. The latter is the pressure of assimilation. To be like anyone else. Not to be odd anymore.50

In Exil, was hier weiter gezogen und als „wenn einer migriert“ verstanden wird, hat man grob gedacht zwei Möglichkeiten: Entweder man zieht weiter, oder man versucht einzublenden. Said sieht eine dritte Möglichkeit, nämlich eine Einsamkeit außerhalb irgendwelcher Gruppe,51 eine Möglichkeit die Suvin ergänzt mit der Möglichkeit sich mit anderen Migranten aus dem gleichen Land zu verbinden.52 Als Migrant hat man, in Theorie, also erstens die Wahl ob man in dem Gastland bleiben möchte. Danach ist die Frage, wie du dich dann verhalten möchtest: Einblenden oder nicht, entweder alleine oder mit einer Gruppe von Landsmänner und -frauen?

50 Vgl. Bauman, S. 569 - 570. 51 Vgl. Said, S. 177.

52 Vgl. Suvin, S. 116 - 117. In seiner Bemühungen Exil als erhobene, einsame, achtenswerte Position, ins besondere in Vergleich zu die Migration von Flüchtlingen, zu beschreiben, sieht Suvin diese Möglichkeit der Gruppenbildung als a-typisch für Exilanten, denn sie sind durchaus “more arrogant and better able to fend for themselves” (S. 117).

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In der Praxis kommt es aber anders, als man theoretisiert. Die Wahl, irgendwo zu bleiben, weiter oder zurück zu ziehen, ist nicht so einfach. Erstens müssen Grenzen überquert werden; sowohl die Grenze des Herkunftslandes als die Grenze des Gastlandes – Grenzen der Länder dazwischen außer Betracht gelassen. Man braucht dafür offiziell ein Pass, ein Reisedokument, aber diese Dokumente sind oft nicht vorhanden, sowohl in der dreißiger Jahren als heute.53 Passlosen Menschen waren in den dreißiger Jahren ein politisches Novum54 und wurde als Ausnahme wahrgenommen, laut Arendt damit das System, dass Menschen in einer Position von Pass- und eben Staatenlosigkeit zwingt, intakt bleiben kann.55 Ein politisches Novum ist Pass- und Staatenlosigkeit längst nicht mehr, eine Lösung ist aber nicht gefunden, und es gibt noch immer Menschen, die sich offiziell nirgendwo aufhalten dürfen.56 Die Frage ist also erstens nicht, ob man in einem Land bleiben will, sondern, ob man da sein darf – da gelassen, ob kurz- oder langfristig. Die An- oder Abwesenheit eines Papiers kommt als sehr wichtig heraus, wenn es darum geht, ob ein Mensch irgendwo legal verweilen darf, oder, ob man direkt als illegal kategorisiert wird.

Die zweite Frage war, wie man sich als Migrant verhalten möchte: Assimilieren oder nicht? In einer Beantwortung dieser Frage ist es erneut von Bedeutung, ob man als legal oder illegal betrachtet wird, wobei zwischen die Kategorien vielen Grauzonen zu finden sind.57 Darf man irgendwo sein, sei es kurz- oder langfristig, dann ist man auf jeden Fall juristisch inkludiert. Eine politische, kulturelle oder ökonomische Inklusion bedeutet das nicht direkt, es ist aber wenigstens eine Öffnung. Diese Inklusion kann Assimilation genannt werden, womit auf ein sich-Anpassen, ein nicht-Auffallen gedeutet wird.58 Inklusion sei aber auch in anderen Formen vorstellbar, wobei Heterogenität innerhalb der Gruppe/Gesellschaft möglich wäre.

Wird man illegalisiert, dann öffnet diese Möglichkeit der Inklusion sich offiziell überhaupt nicht. Wortwörtlich hat man keine Stelle, indem man nicht sein darf, wo man ist. Sprichwörtlich, indem eine Stelle, von der aus sprechen und handeln möglich und bedeutungsvoll ist, untersagt wird.59 In andere Wörter, die Subjektposition wird einem untersagt. Eine nähere Betrachtung dieser Idee kann in

53

Vgl. Walter, S. 8 und Vgl. Müller: Flucht und Asyl, S. 166. 54 Vgl. Walter, S. 10.

55 Vgl. Arendt,: The Decline of the Nation State and the End of the Rights of Man, S. 276. 56 Vgl. Arendt: The Decline, S. 286; Vgl. Walter, S. 22; Vgl. Müller, S. 48; Vgl. Squire, S. 4. 57 Vgl. Nyers und Rygiel: Citizenship, Migrant Activism and the Politics of Movement. 58 Vgl. Bauman, S. 570 und Suvin, S. 117.

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dem Konzept der Abjektion (Abwerfung) von Judith Butler gelesen werden.60 Butler meint, dass Menschen nicht ohnehin als Subjekten gelten, denn „Subjects are constituted through norms which, in their reiteration, produce and shift the terms through which subjects are recognized.“61 Subjekten werden also durch Normen konstituiert, in dieser Konstitution werden Normen reproduziert, und jede Wiederholung trägt eine Möglichkeit der Veränderung in sich. Anders gesagt, jede Wiederholung ist performativ.62 Normen stehen zentral, und das Subjekt wird konstituiert indem es sich diesen Normen gegenüber verhält. Dabei muss differenziert werden: Es gibt viele Möglichkeiten, nur eine soll, indem ein Subjekt konstituiert wird, bejaht werden. Das bedeutet, dass Sachen, die nicht mit den Normen in Übereinstimmung sind, abgeworfen werden sollen.63 Sie werden damit aus dem Blickfeld geworfen, verschwinden aber nicht, und bedrohen die entstandenen Subjekten immer, da sie sich immer wiederholen müssen und das Abgeworfene auf dieser Weise immer wiederkehren kann.64

Abwerfung findet nie auf individueller Ebene statt, denn der Mensch ist für Butler, genauso wie für Arendt, prinzipiell sozial, in Beziehung zur Anderen. Normen sind sozial, prägen wie Menschen einander wahrnehmen, ob sie einander überhaupt wahrnehmen. Hier ist ein Problem für Butler, denn nicht jedes Mensch, nicht jedes Leben, wird erkennt.65 Das bedeutet nicht, dass sie explizit von der Sphäre der Subjekten oder des Menschlichen ausgeschlossen werden, sondern, dass sie in dem Diskurs überhaupt nie humanisiert werden können.66 Für diese Leben prägt Butler den Konzept „ungrievable lives“, denn obwohl jeder stirbt, wird nicht jedes Leben als beklagenswert gesehen.67 Manche Leben werden als verletzbar und schützenswert konstituiert, manchen aber auch nicht. Diese letzteren werden laut Butler abgeworfen, befinden sich in einer Sphäre der Abjektion. Laut Butler ist das nicht, weil das Gesetz sich zurückzieht oder abwesend ist: gerade das Gesetz

60 Butler entnimmt diesen Konzept von Kristeva. Kristeva definiert das Abjekte als das, was radikal ausgeschlossen ist, die Stelle, wo Bedeutung in sich zusammen bricht und wo nicht mehr zwischen Subjekt und Objekt differenziert werden kann, aber auch die (psychoanalytische) Möglichkeit des Entstehen des Subjekts (Vgl. Kristeva). Butler ist für ihr Gebrauch des Konzeptes kritisiert worden, da sie Abjekte als Objekt behandelt und damit die fundamentelle Unkennbarkeit des Abjekten zerstört (Vgl. Beardsworth).

61

Vgl. Butler: Precarious Life, Grievable Life, S. 3 – 4.

62 Zentrale These der Arbeit Butlers, vgl. dazu u. A. Butler: Bodies That Matter. 63 Vgl. Butler: Non-Thinking in the Name of the Normative, S. 141.

64 Vgl. Butler: Violence, Mourning, Politics, S. 27; Butler: Bodies That Matter, S. 172. 65 Vgl. Butler: Precarious Life, Grievable Life, S. 4.

66 Vgl. Butler: Violence, Mourning, Politics, S. 33 – 36. 67 Vgl. Butler: Introduction, S. xix.

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bestimmt, wer geschützt werden soll, und wer nicht.68 Illegalisierung von Menschen könnte als diese verlorene Sphäre produzierend, Menschen in dieser Sphäre werfend, verstanden werden.

Es wäre aber möglich ein Fehler, den rechtlichen Status als bestimmend für das Sein einer Person zu betrachten, sagt Butler.69 Obwohl ein Mensch illegalisiert werden kann, dadurch juristisch gesehen irgendwo nicht sein darf, er ist trotzdem da. Für sowohl Flüchtlingsgespräche als Die Schutzbefohlenen ist diese Theorie relevant, denn die Figuren sind in einer Position des Migranten. Was bedeutet das für sie? Welche Subjekt-Position können sie einnehmen? Die Frage wie man in der Illegalität lebt und welche Position man als illegalisierten Migrant einnehmen kann, wenn eine legale Position und Möglichkeit als Subjekt untersagt worden sind, wird in

Die Schutzbefohlenen explizit behandelt, in Flüchtlingsgespräche scheint sie weniger

relevant, aber genau da ist ein interessantes Vergleich, die vielleicht auch etwas über die heutigen Praxis klar machen könnte.

4. Fazit

In diesem Kapitel wurden die Konzepten in dem Feld von Migration, insbesondere „Exil“ und „Flüchtling“, näher betrachtet. Die Schwierigkeiten der Konzepten wurden behandelt, ebenso wie die Diskussion der richtigen Wortwahl. In Vorbereitung auf den nächsten Kapiteln wurde die Migration im deutschen Kontext thematisiert, wobei die Situation in den dreißiger und vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts und die Situation heute herausgehoben sind. Schließlich wurde die Frage behandelt, wie leben als Migrant verstanden werden kann. Ideen über dem Bleiben in einem Land als Migrant, ebenso wie das erwünschte Verhalten des Migranten in diesem Land, wurden mit Hilfe der (historischen) Realität nuanciert und anhand der Ideen von Judith Butler wurde vor allem die Bedeutung von Illegalisierung von migrierenden Menschen herausgehoben.

68 Vgl. Butler: Precarious Life, Grievable Life, S. 29. 69 Vgl. Butler: Violence, Mourning, Politics, S. 25.

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2: Bertolt Brecht: Flüchtlingsgespräche

Ich glaube jeder von ihnen möchte gerne in seiner Heimat bleiben wer geht freiwillig von Zuhause, so was will man doch meiden aber leider können sie dort kein richtiges Leben führen weil sie dort Verfolgung Unterdrückung oder Folter fühlen

− Matondo, „Kein Mensch ist illegal“

Bertolt Brecht ist ein bedeutender Autor des letzten Jahrhunderts. Er verfasste Lyrik und Prosa, vor allem seine Theaterstücken und -theorie werden aber große Bedeutung für die deutsche Literatur beigemessen. In diesem Kapitel wird ein weniger bekannter Text behandelt: Flüchtlingsgespräche. Brecht schrieb es wahrscheinlich zwischen 1940 und 1942, als er sich in Finnland und Amerika aufhielt, auf der Flucht vor den Nationalsozialisten und dem zweiten Weltkrieg Krieg. In diesem Kapitel werden Brecht und seine literarische Arbeit eingeführt. Dann wird anhand von drei Szenen das Thema Migration in Flüchtlingsgespräche analysiert: Wie wird Migration verstanden und wie wird das Leben als Migrant charakterisiert?

1. Bertolt Brecht: Leben und Werk

Brecht wurde 1898 in Augsburg geboren und ist 1956 in Berlin gestorben. 1914 debütierte er mit Lyrik, danach hat er viele unterschiedliche Texten geschaffen, sowohl literarisch als politisch, obwohl die Trennung zwischen Literatur und Politik bei Brecht nie klar ist. Er ist politisch engagiert, sympathisiert mit der marxistischen Ideologie und als Kommunist bekannt, obwohl er die Partei nie beitritt.70 Direkt nach dem Reichtstagbrand 1933 entflieht er mit seiner zweiten Frau, Helene Wiegel, und ihre Kinder Deutschland. Seine Bücher wurden am 10.05.1933 verbrannt.71 Via Prag, Wien, Zürich und Paris kommt er nach Dänemark, wo sie bis 1939 lebten.

1935 stand seine Name auf Liste 4 der Nazis, was bedeutet, dass sein Vermögen beschlagnahmt und ihm seine Staatsangehörigkeit aberkennt wurde; Ab dann waren Bertolt Brecht und seine Familie ausgebürgert und staatenlos.72 1939 verließ Brecht mit seiner Familie Dänemark für Schweden und später Finnland. 1941 bekamen sie ein amerikanisches Visum, mit dem er via Moskau und Wladiwostok

70 Vgl. Ewen, S. 181 - 182; Arendt: Bertolt Brecht:S. 72; Berg und Jeske, S. 201 - 203. 71 Vgl. Ewen, S. 253.

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nach Los Angeles ausreisen konnten.73 Nach dem Kriegsende kehrte er 1947 mit seiner Familie nach Europa zurück: erst nach Zürich, 1948 Salzburg, 1949 Ost-Berlin. Am 12.04.1950 erhielt er die österreichische Staatsangehörigkeit, war also nicht länger staatenlos.74 Ab 1949 bis zu seinem Tod hat er mit Helene Wiegel in Ost-Berlin das Berliner Ensemble geleitet.

Brecht war ein engagierter Autor. Auch nachdem er Deutschland entflohen war, war er sehr produktiv: er veröffentlichte (faschismus-kritischen) Manuskripten in Verlagen in Prag, Amsterdam und London, verfasste Artikel für unterschiedlichen Zeitschriften, beteiligte sich an unterschiedlichen Schriftstellertreffen, und er trat als Herausgeber des Moskauer Zeitschrift Das Wort auf.75 Sein Theater hat ihn berühmt gemacht. In der 30er Jahre entwickelte Brecht die Theorie des epischen Theaters.76 Er war der Meinung, dass das Theater als Rauschmittel für das Publikum fungierte; die Menschen würden mittels dem Theater einschlafen und beschäftigten sich nicht mit der Welt. Im würde Theater eine Illusion der realen Welt vorgeführt, anstatt die Welt, so wie sie ist, darzustellen.77 Brecht dahingegen meinte, dass das Theater Zuschauer (und Schauspieler) wachrütteln sollte: im Theater soll man zum Nachdenken veranlasst werden, prompter Stellungnahme sei erfordert und man solle erkennen, dass jeder Möglichkeiten des Eingreifens in der Gesellschaft und Welt hat.78 Statt Katharsis und Einfühlung, Begriffe des dramatischen (aristotelischen) Theaters für Brecht:wird Verfremdung gefordert.79

Verfremdung, auch das V-Effekt genannt, nimmt eine zentrale Stelle in der brechtsche Theatertheorie ein. Es ist ein Effekt, mit welchem das scheinbar Selbstverständliche der Welt unverständlich gemacht wird, damit die Welt danach, in einem dialektischen Bewegung erneut verstanden werden kann: „Verfremdung als ein Verstehen (verstehen – nicht verstehen – verstehen), Negation der Negation“.80 Etwas bekanntes wird vorgeführt, kommt als unbekannt hervor und erst nachdem es

73 Vgl. Kesting, S. 104.

74 Seine Frau, Helene Wiegel, hatte die österreichische Staatsangehörigkeit gehabt, diese nach dem Krieg erneut für sich und ihre Familie bekommen (Vgl. Berg und Jeske, S. 52 – 53), ein Skandal in Österreich (Vgl. Palm).

75

Vgl. Ewen, S. 269 und vgl. Loewy, S. 19. Arendt beklagt, dass Brecht die Situation in Deutschland kritisierte, aber nie etwas über die Situation der Juden gesagt hat: Vgl. Arendt: Bertolt Brecht, S. 100.

76

Anfangs hat er dieses Theater „episch“ genannt, später änderte es in „dialektisch“ – aber als „episches Theater“ sind sowohl seine Theorie als viele Stücken heutzutage bekannt. Vgl. Ewen, S. 172.

77 Vgl. Brecht: Neue Technik der Schauspielkunst, S. 154 - 155. 78 Vgl. Benjamin, S. 22; vgl. Stephan, 473.

79 Vgl. Ewen, S. 185; vgl. Benjamin, S. 25.

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als fremd wahrgenommen worden ist, kann es wieder verstanden werden. Verfremdung ist für Brecht kein rein formales Merkmal der Kunst, es hat ein didaktisches Ziel: Zuschauer (und Schauspieler) sollen sich bewusst werden, dass sie die Welt ändern können.81

In dem Kontext der Migration verdient Verfremdung spezielle Aufmerksamkeit, nicht weil Brecht seine Theorie erst als er Deutschland entflohen war ausgearbeitet hat,82 sondern weil die Erfahrung der Migration laut Said potentiell eine Erfahrung der Verfremdung ermöglicht. Als Migrant ist man in einem für dich neuen Land, worin nichts für sich spricht, und alles, was als bekannt vorkam, verfremdet.83 Oder, wie die Figur Ziffel es in Flüchtlingsgespräche sagt:

Die beste Schul für Dialektik ist die Emigration. Die schärfsten Dialektiker sind die Flüchtlinge. Sie sind Flüchtlinge infolge von Veränderungen und sie studieren nichts als Veränderungen.84

Verfremdung sei also nicht nur typisch für das brechtsche Theater, im Kontext der Migration scheint sie eine eigene Stelle einzunehmen, indem das migrierte Leben potentiell verfremdet.

2. Flüchtlingsgespräche

Flüchtlingsgespräche wurde wahrscheinlich 1940 geschrieben, 1942 erweitert, aber

erst 1961, als Brecht also schon gestorben war, publiziert, 1962 uraufgeführt.85 Das bedeutet, das es in dem Kontext des Zweiten Weltkrieges entstanden ist, gelesen und gesehen wurde der Text erst zwanzig Jahren später. Es gibt mehrere Fassungen des Textes, für diese Arbeit wird die erweiterte Suhrkamp-Ausgabe verwendet.86 Der Text ist ein Dialog, damals eine neue Form für Brecht,87 gedeutet worden als den „ideale Form, um dem Phänomen Exil mit seinen fließenden Wirklichkeiten zurecht

81 Vgl. Tihanov, S. 688 - 689.

82 Ewen denkt, dass Brechts Besuch an Moskau 1935 sein Denken über Verfremdung weitgehend geprägt hat (Vgl. S. 194). Diese Gedanke kann illustriert werden dadurch, dass 1917 Schklovsky das Konzept ostranenie („De-automatisierung“ oder „Verfremdung“) vorschlagt: das Bekannte solle in der Kunst verfremdet werden, damit es wieder erfahren werden kann (Vgl. Schklovsky, S. 11-12). Diese Idee inspiriert das russische Formalismus, eine literarische und literaturwissenschaftliche Strömung die in der 20er und 30er Jahre noch immer sehr wichtig war. 83 Said, S. 186.

84 Brecht: Flüchtlingsgespräche, S. 82.

85 Vgl. Neureuter, S. 337 und Müller: Flüchtlingsgespräche, S. 286. 86 Vgl. Jeske, “Editorische Notiz”, in: Brecht: Flüchtlingsgespräche, S. 150. 87 Vgl. Neureuter, S. 334.

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zu werden“.88 Es erhält fast keine Regieanweisungen und gehört heute noch zum Repertoire des Berliner Ensembles. Es besteht aus insgesamt 19 Szenen89 und spielt im Sommer und Herbst 1940 in Helsinki, Schweden. Alle Szenen finden im Bahnhofsrestaurant statt, ausgenommen Szene 4, worin die Figuren über den Bahnhofsplatz gehen, und Szene 6, als sie sich bei dem Außenministerium treffen.90

Zwei deutschen Männer sind die Protagonisten des Textes: Kalle und Ziffel. Sie sind beiden aus Deutschland geflüchtet. Ihr Gespräch, das Flüchtlingsgespräch, geht aber selten über (ihre) Migration, sie sprechen über Politik, die Länder die sie besuchten, Tugenden und die Vergangenheit. Genauso wie Migration wenig direktes Thema des Gesprächs ist, so wird über das Leben von Kalle und Ziffel wenig klar. Ziffel wird als „der Große“ eingeführt; er ist dick, hat weiße Händen, ist Physiker, trinkt Bier, und schreibt an seinen Memoiren. Er arbeitete in Deutschland in einem Labor, bewarb sich als Hitler 1933 Kanzler wurde um einer Stelle in Prag.91 Er bekam ein österreichischer Pass nachdem er ein Beamte bestochen hat, ein Faktum, dass Kalle sehr empört, ist via Dänemark nach Schweden gekommen.

Über Kalle erfährt der Leser noch weniger, was auch dadurch kommt, dass Ziffel ihn nie nach seiner Vergangenheit fragt. Er wird als „der Untersetzte“ eingeführt, hat die Hände eines Metallarbeiters, war bei der pazifistischen Jugend, Arbeiter in einer Fabrik, während der Krise aber arbeitslos geworden.92 Er hat im Konzentrationslager Dachau Zwangsarbeit verrichtet, sollte zum „Herrenrasse“ erzogen werden.93 Wie er aus dem Lager kam, ist unklar, er versuchte aber in der Schweiz ein Visum für Amerika zu bekommen (und wird abgelehnt), und kam dann ebenfalls via Dänemark nach Schweden.

Beide Figuren haben Deutschland also wegen des Faschismus und teilweise wahrscheinlich die eigene politische Tätigkeit verlassen,94 und befinden sich jetzt, anscheinend ohne Familie oder Angehörigen, im Ausland. Anhand von drei Szenen wird das Stück näher betrachten, wobei drei Ebenen herausgehoben werden. Die erste Szene handelt von der formale Seite des Migrieren, insbesondere die Bedeutung eines Reisepasses. Die zweite Szene ist eher praktisch orientiert und untersucht das

88

Koopmann, S. 252.

89

Aber Szene 12, 13 und 14 gibt es zweimal, und eine Szene hat überhaupt keine Nummer. 90

Vgl. Bartl für eine Analyse des Bahnhofs als Ort der Transit. 91 Vgl. Brecht: Flüchtlingsgespräche, S. 43.

92 Vgl. Brecht: Flüchtlingsgespräche, S. 52 - 53.

93 Vgl. Brecht: Flüchtlingsgespräche, S. 10 und 109 - 110.

94 Neureuter setzt diese politische Emigration starker an indem er sowohl Kalle als Ziffel “Regimegegner, Antifaschisten” (S. 338) nennt. Ob und wie sie das Regime bekämpfen, wird in dem Text nie explizit deutlich.

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tägliche Leben als Migrant: Wie (über)lebt man? Drittens wird eine moralische Ebene angesprochen, indem auf das Denken konzentriert wird.

Szene 1: Pass

Flüchtlingsgespräche öffnet mit dem folgenden Gespräch:

DER GROSSE

Das Bier ist kein Bier, was dadurch ausgeglichen wird, daß die Zigarren keine Zigarren sind, aber der Paß muß ein Paß sein, damit sie einen in das Land hereinlassen.

DER UNTERSETZTE

Der Paß ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustand wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustandkommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne Gescheiten Grund, aber ein Paß niemals. Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkennt wird.

DER GROSSE

Man kann sagen, der Mensch ist nur der mechanische Halter eines Passes. Der Paß wird ihm in die Brusttasche gesteckt wie die Aktienpakete in das Safe gesteckt werden, das an und für sich keinen Wert hat, aber Wertgegenstände enthält.

DER UNTERSETZTE

Und doch könnt man behaupten, daß der Mensch in gewisser Hinsicht für den Paß notwendig ist. Der Paß ist die Hauptsach, Hut ab vor ihm, aber ohne dazugehörigen Menschen wär er nicht möglich oder mindestens nicht ganz voll.95

Diese Öffnungsszene tut ziemlich absurd an, denn die Weise, in der über Pässe gesprochen wird, scheint nur ironisch verständlich zu sein. Es kann als ein V-Effekt interpretiert werden, denn ein bekanntes Objekt, der Reisepass, wird näher herangerückt und kommt als fremd vor. So selbstverständlich wie der Reisepass scheint (jeder hat doch eine und klar brauchen wir dieses Stückchen Papier?), so fremdartig ist er bei näherer Betrachtung von Ziffel (Der Dicke) und Kalle (Der Untersetzte): Gehört der Pass zum Menschen oder der Mensch zum Pass? Im Kontext des Zweiten Weltkrieges, worin, wie im vorigen Kapitel erklärt, viele Menschen tatsächlich keine (gültigen) Papieren hatten, ist es interessant wie viel Wert der Pass beigemessen wird: Das Stück Papier, das viele Menschen überhaupt nicht haben, wird als „edelste Teil des Menschen“ klassifiziert. Der Pass ist also nicht nur ein Dokument mit dem man ins Ausland verreisen kann, es definiert, ob man überhaupt irgendjemand ist.

Obwohl Kalle und Ziffel sich ziemlich einig scheinen wo es die Bedeutung

95 Brecht: Flüchtlingsgespräche, S. 7 - 8. Alle Zitate sind, inklusiv Rechtschreibung, direkt übernommen.

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der Pässe angelangt, ist auch ein Unterschied in Haltung zu finden. Ziffel interessiert sich erst mal für Genußmittel wie Bier und Zigarren, bevor er auf die Formalität des Passes zu sprechen kommt. Kalle aber erklärt der Pass sofort zum edelsten Teil des Menschen, wodurch er die legale Position im Vordergrund rückt. Die Frage ist, wie die Bemerkung aufgefasst werden soll: Ist es Kalle Ernst, oder ist er ironisch? Und wenn die Bemerkung ironisch gemeint ist, ist sie damit nicht länger ernst zu nehmen? Ironie ist komplex, denn sagt man, was man sagt? Sagt man das Gegenübergestellte? Oder sagt man noch etwas anders, indem man ironisch ist?

Claire Colebrook analysiert Ironie ausführlich in Irony, wobei sie auf die Bedeutung von Sprache eingeht, denn spricht (oder schreibt) man, dann hat das immer eine Bedeutung. Sie geht aber einen Schritt weiter und behauptet „All speech is haunted by irony. Not only can we question whether what is said is really meant; any act of speech can be repeated and quoted in another context, generating unintended forces.“96 Alle Sprache ist also potentiell ironisch, es ist nie sicher, ob das, was gesagt wird, auch gemeint ist. Diese Undeutlichkeit ist auch in dem Rede von Kalle und Ziffel anwesend. Kalle sagt, dass ein Mensch an sich nicht gesehen wird, sein Körper sei bedeutungslos, erst ein Pass führe zur Anerkennung. Ziffel folgt Kalle in dieser Gedanke, bringt aber eine Geldmetapher rein, als er Menschen mit Safes vergleicht. Kalle führt das Gespräch aber weg vom Geld, zurück zum Menschen. Denn obwohl der Pass am wichtigsten ist, ohne Mensch sei er doch mindestens weniger wert.

Wir können uns fragen, ob es Kalle und Ziffel ernst ist, oder ob mit diesem Öffnungsgespräch eine Kritik formuliert wird. Die Frage ist dabei, ob die Welt tatsächlich so wirkt, dass ein Mensch ohne Pass keine Bedeutung hat. Wie im letzten Kapitel erklärt, hatten vielen Menschen keine Reisepass, und vor allem wenn sie nicht (länger) als Bürger eines Staates anerkennt wurde, könnte das seriöse Problemen bedeuten: Verweigerung der Zugang an der Grenze, Internierung und Abschiebung, was in dem Tod vieler Menschen resultierte. Ob Brecht an diesem Kontext gedacht hat, indem er schrieb, dass den Pass den edelsten Teil des Menschen ist, wissen wir natürlich nie mit Sicherheit. Diese Kontext kann aber mühelos mit dieser Aussage verbunden werden, und obwohl wir das Gespräch vielleicht ironisch auffassen möchten, der Pass kam in der historischen Realität der dreißiger Jahren tatsächlich als sehr wichtig heraus.

96 Colebrook, S. 165.

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Der Pass stehe also an der ersten Stelle, aber das war nicht immer so. Kalle: „Ich wunder mich nur, daß sie grad jetzt so aufs Zählen und Einregistrieren der Leut aus sind, als ob ihnen einer verlorengehen könnt, sonst sind sie jetzt doch nicht so. Aber sie müssen ganz genau wissen, daß man der und kein anderer ist, als obs nicht völlig gleich wär, wens verhungern lassen.“97 Der Pass und dessen Bedeutung werden mit dieser Bemerkung Kalles nah an den Faschismus geknüpft. Ziffel hackt ein und erklärt: „Aber die Pässe gibt es hauptsächlich wegen der Ordnung. Sie ist in solchen Zeiten absolut notwendig. Nehmen wir an, Sie und ich liefen herum ohne Bescheinigung, wer wir sind, so daß man uns nicht finden kann, wenn wir abgeschoben werden sollen, das wär keine Ordnung.“98 Der Pass ist also hauptsächlich da, weil Ordnung sein muss. Diese Ordnung wird deutlich ironisch kritisiert, sie ist nicht da, weil man wissen soll, wer jetzt verhungern wird, sondern damit unerwünschte Menschen auffindbar sind und abgeschoben werden können.

Es bleibt in diesem Kontext unklar, ob Ziffel und Kalle selber über einen Pass verfügen und inwiefern sie als erwünscht oder unerwünscht gelten. Das Papier, das theoretisch als unverzichtbar betrachtet wird (ohne Pass ist kein Mensch), kommt in der Praxis nicht so heraus. In der 6. Szene begegnen sie sich vor dem Außenministerium um die Aufenthaltsbewilligung zu erneuern, was auf die Existenz eines Papier hindeutet. Aber später spricht Ziffel darüber, dass sie beiden kein Visum haben – was auf eine Abwesenheit legalen Aufenthalts weist.99 Kalle und Ziffel fallen ohne Visum oder Aufenthaltsgenehmigung offiziell außerhalb der Ordnung, denn sie sind nicht (länger) auffindbar, haben keine offizielle Stelle in der Welt, werden geduldet.100 Diese Ordnung, die im ersten Gespräch als sehr wichtig vorgeführt wird, scheint die Männer aber wenig zu beschäftigen; außer dieses Gespräch kommen die Pässe nicht weiter zur Sprache, als ob die formale Position gar nicht interessant ist. Damit wird die Wert eines Passes erneut ironisiert, denn die große Wert, die dem Pass am Anfang beigemessen wird, kommt in dem Text gar nicht hervor.

Kalle betont die Wichtigkeit eines Menschen im Bezug zu seinem Pass: ohne Mensch wäre den Pass nicht möglich oder „mindestens nicht ganz voll“. Die Bedeutung eines Menschen hat aber nicht (nur) mit einem Passes zu tun, wie

97 Brecht: Flüchtlingsgespräche, S. 8 und 9. 98 Brecht: Flüchtlingsgespräche, S. 9.

99 Vgl. Brecht: Flüchtlingsgespräche, S. 47 und 62. 100 Vgl. Müller: Flüchtlingsgespräche, S. 294.

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