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Im Paradoxen erscheint die Wirklichkeit!

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Academic year: 2021

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Masterarbeit Haarlem, 22. Juni 2016 Fakultät der Geisteswissenschaften

Universität von Amsterdam Erstbegleiterin: Dr. A. S. Seidl Zweitbegleiterin: Dr. E. Huwiler

Im Paradoxen erscheint die Wirklichkeit!

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Inhaltsverzeichnis Seite:

A: Einleitung: Von Tragödie zur Komödie. 2

B: Hauptteil 4

1. Die klassische Tragödie und ihre Rezeption 4

1.1. Die aristotelischen Voraussetzungen der Tragödie 4 1.2. Begriffe Tragödie & Komödie bei Dürrenmatt 6

1.3. Zwischenfazit 8

2. Theatertheorie von Dürrenmatt 10

2.1. Bedeutung der Aussage „Uns kommt nur noch die Tragödie bei“ 10

2.2. Funktion der „schlimmstmöglichen Wendung“ 12

2.3. Distanz zwischen Dürrenmatt und Brecht? 14

2.3.1. Dürrenmatt: Distanz mittels Humor und Einfall 14

2.3.2. Special Effects 17

2.4. Zwischenfazit 19

3. Analyse: Dramentheorie in der Praxis 21

3.1. Themenbereich in den Werken Dürrenmatts 21

3.2. Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht 21

3.2.1. Der Richter und sein Henker 23

3.2.1.1. Der Richter und sein Henker und Verbindung Dramentheorie 24

3.2.2. Das Versprechen 25

3.2.2.1. Das Versprechen und Verbindung Dramentheorie 27 3.2.3. Gerechte Ungerechtigkeit und ungerechte Gerechtigkeit 28

3.3. Die Physiker 29

3.3.1. Kurze Beschreibung des Inhalts und historisches Rahmen 29 3.3.2. Frage der Verantwortlichkeit und Freiheit der Wissenschaft 31 3.3.3. Zufall und schlimmstmögliche Wendung in den Physikern 33 3.3.3.1. Schlussmonologen Newton, Einstein und Möbius 36 3.3.3.2. Intention des Werks Die Physiker 38

3.4. Zwischenfazit 39

C: Zusammenfassung und Schlussfolgerung 41

D: Bibliographie 44

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A: Einleitung: Von Tragödie zur Komödie.

Die Tragödie und die Komödie, zwei Formen des Theaters, die seit undenklichen Zeiten existiert haben und die sich genauso lange von allen möglichen Theorien haben

bestimmen lassen. Schon ungefähr 335 v. Chr. widmete Aristoteles sechzehn Kapitel in seiner Poetik an die Tragödie, worin er genau beschrieb wie nach ihm eine Tragödie aussehen sollte und was eine gute Tragödie ausmacht. In der Zeit Aristoteles wurden die Tragödie und Komödie oft einander gegenübergestellt, aber heutzutage gibt es immer mehr Formen und Unterformen des Theaters. Vor allem, wenn man es Friedrich Dürrenmatt (1921-1990) fragen würde. Er gab seine Theaterstücke ständig Untertitel wie z. B. „eine ungeschichtliche

historische Komödie“ für Romulus der Große (1949) oder „eine tragische Komödie“ für sein bekanntes Werk Der Besuch der alten Dame (1956). Es fällt auf, dass Dürrenmatt – neben Hörspiele und Prosawerke – nur komische Theaterstücke schreibt. Er war der Meinung, dass „uns nur noch die Komödie [beikommt]“. Er verarbeitete seine Auffassungen in Essays, sowie z. B. in Theaterprobleme (1955). Die heutige Gesellschaft brauche – in Gegensatz zu der antiken Gesellschaft oder die Gesellschaft Schillers – die Komödie um die heutige (politische) Situation zu verdeutlichen: die Welt sei nach Dürrenmatt ein unübersichtliches Chaos, das nur von der Komödie reflektiert werden kann. „Die Welt, die durch das Theater wiedergegeben werden kann, ist die Gesellschaft, kann nur die Gesellschaft sein.“1

Wieso braucht die Gesellschaft heute die Komödie? Was bedeutet die Komödie eigentlich bei Dürrenmatt? Inwiefern unterscheidet Dürrenmatts Komödie sich von der antiken Komödie, oder von Komödien seiner Zeitgenossen (sowie Brecht)? „Uns kommt nur noch die Komödie bei“, aber wenn man seine Theaterstücke liest, bemerkt man mehrmals, dass diese Stücke nicht ohne Tragik sind. Seine Komödie Die Physiker, endet sogar tragisch – dás Merkmal der Tragödie! Auch spielte Dürrenmatt selbst an auf einen Einfluss von

Friedrich Schiller auf seinen Werken – obwohl Schiller Tragödien schrieb und keine Komödien:

So will ich denn zu Ihnen nicht von der Wirkung reden, die Schiller mit einigen seiner Werke immer noch gerechterweise auf dem Theater besitzt, sondern mehr vom Dialog, den ich mit Schiller führe, vom Bilde, das ich mir von ihm mache, … zum

persönlichen Arbeitsgebrauch, zur Kontrolle des eigenen Arbeitens.2

Die Werke der beiden Schriftsteller gehören also zu zwei verschiedenen Gattungen (Komödie und Tragödie), aber inwiefern unterscheiden sie sich wirklich?

1 Keller. S. 64. 2 Weiser. S. 332.

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Zuerst wird in dieser Arbeit untersucht, inwiefern und auf welche Weise die aristotelischen Kennzeichen des Theaterstücks von Dürrenmatt rezipiert wurden. Die Rezeption von Aristoteles‘ Poetik, sieht man hiervor auch schon zurück in der Renaissance, und zum Beispiel bei Friedrich Schiller. Sowie Dürrenmatt oben schon auf die Notwendigkeit eines Dialogs mit Schiller andeutete, wird in dieser Arbeit unter anderem mithilfe von Schiller versucht ein klares Bild von den Auffassungen von Dürrenmatt über das moderne Theater zu erstellen. Dürrenmatt wird also zuerst verglichen mit seinen Vorgängern, und später auch mit seinem Zeitgenoss Bertolt Brecht: in dem zweiten Kapitel dieser Arbeit werden nämlich bestimmte Aspekte der Dramentheorie Dürrenmatts angesprochen: neben der Suche nach der Bedeutung der Aussage „Uns kommt nur noch die Komödie bei“ von Dürrenmatt und seine Theorie über die schlimmstmögliche Wendung, die es nach ihm in einer komischen Handlung geben sollte, gibt es etwas, das sowohl Dürrenmatt als Brecht für seine Theaterstücke

benutzte: nämlich die Verfremdungseffekte. Beiden waren der Meinung, dass es eine Distanz geben sollte zwischen den Zuschauern und der Bühne, aber kreieren sie die Distanz auf eine gleiche Weise, oder auf eine andere Weise? Dient bei beiden Schriftstellern die Distanz um das gleiche zu erreichen bei dem Publikum? Die Wirkung des Theaters von Dürrenmatt wird also auch in diesem zweiten Kapitel angesprochen. Geht es ihm nur darum, kritisch zu sein? Oder wollte er eine Änderung oder Verbesserung der Gesellschaft erreichen?

Das dritte Kapitel formt den Analyseteil dieser Arbeit. Hier wird untersucht wie Dürrenmatts Dramentheorie reflektiert wird in einigen Werken von ihm, wie zum Beispiel in Die Physiker, eine Komödie mit einem tragischen Ende. Wie setzt Dürrenmatt seine

Dramentheorie in die Praxis um? Wie wird in dieser Komödie mit der tragischen Wendung umgegangen? Was sagt das Stück über die Gesellschaft? Was für Kritik wird gegeben und was intendiert das Werk? Außerdem wird in diesem letzten Kapitel auf Dürrenmatts

Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht eingegangen. Dürrenmatt nennte dieses Werk „eine kleine Dramaturgie der Politik“. Was sagt dieser Vortrag über die Politik? Was könnte hier die Kritik sein?

Es gibt also in dieser Arbeit zwei Fragen, die im Mittelpunkt stehen. Erstens gibt es die Frage, was die Dramentheorie von Dürrenmatt eigentlich beinhaltet. Die zweite Frage ist, wie er mit seiner Dramentheorie umgeht bzw. wie er die in die Praxis umsetzt. Mithilfe der Entgegensetzung Dürrenmatts Dramentheorie von einigen Theorien seiner Vorgänger (wie Aristoteles und Schiller) und seinem Zeitgenoss (Brecht) wird hoffentlich die erste Frage beantwortet; die Antwort auf der zweiten Frage gibt es dann hoffentlich in dem dritten Kapitel dieser Arbeit.

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B: Hauptteil.

Kapitel 1: Die klassische Tragödie und ihre Rezeption. 1.1. Die aristotelischen Voraussetzungen der Tragödie.

Aristoteles3 widmete in seinem bekannten Werk Die Poetik im ganzen 16 Kapitel an die Tragödie. Er beschrieb hierin genau wie die Tragödie entstanden ist und was die

Voraussetzungen für eine Tragödie sind und welche Merkmale ausmachen welche Tragödie die beste sei. In einem zweiten Buch der Poetik beschrieb er die Voraussetzungen und Merkmale der Komödie, aber dieses Buch ist leider verloren gegangen. Trotzdem wird einiges über dieses Genre deutlich, einiges aber auch nicht (oder eher nie). Die Herkunft der Komödie wird man zum Beispiel nie wissen, denn:

Die Veränderungen der Tragödie, und durch wen sie bewirkt wurden, sind

wohlbekannt. Die Komödie hingegen wurde nicht ernst genommen; daher blieben ihre Anfänge im Dunkeln. Erst als die Komödie einigermaßen bestimmte Formen

angenommen hatte, wurde die Erinnerung an ihre bedeutenderen Dichter bewahrt. Wer die Masken oder die Prologe oder die Zahl der Schauspieler, und was dergleichen mehr ist, aufgebracht hat, ist unbekannt.4

Von der Tragödie ist aber bekannt, dass sie ungefähr um das 5. Jahrhundert v. Chr. entstanden ist. Es gab aber schon viel früher Grundsätze der Tragödie. Abbildungen auf Vasen und verschiedene Masken, die entdeckt wurden bei Ausgrabungen, erzählen uns, dass die erste Formen des Theaterspiels vor allem über uralte Mythen und kultische oder religiöse Ritualen gingen. ‚Hybris‘ war das populärste Thema der antiken Tragödie. In der Lyrik, die in der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts v. Chr. entstand, formte das Chorgesang den größten Teil der Aufführung. Langsam lösten sich immer mehr Solosänger von dem Chor ab, und der Chor verlier dadurch immer mehr an Bedeutung und bekam es eine kleinere Rolle. Zu gleicher Zeit entwickelte sich das attische Drama aus den Dionysosfesten. Dieser Dionysoskult wurde von dem Tyrannen Peisistratos5 unterstutzt: er nützte den Kult und dessen Festen um an die Macht zu gelangen. Der Dionysoskult war vor allem wichtig für den lokalen Bevölkerungen und indem Peisistratos diese Kulte unterstutzte, machte er sich selbst populär bei dem Volk und ließ er seine adligen Konkurrenten hinter sich.

Diese Dionysosfesten formen die Grundsätze für die klassische Tragödien, sowie wir

3 Aristoteles: *384-†322 v. Chr. 4 Aristoteles: Die Poetik. S. 17.

5 Peisistratos (±600-528/527 v. Chr.) herrschte ab etwa 546-545 v. Chr. über Athen. Seine Tyrannei dauerte bis seinem Tod (also ungefähr 18 Jahre später).

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sie heutzutage kennen von den ‚Großen Drei‘: Aischylos6, Sophokles7 und Euripides8. Es ist also sehr wichtig zu bemerken, dass es diese politische Wurzeln in den Theaterspielen schon früher gab, als diesen ‚Großen Drei‘ und also auch früher als Aristoteles mit seiner Poetik.

Aristoteles war dann der erste der die Voraussetzungen, Regeln und Merkmalen der klassischen Tragödie beschrieb:

Die Tragödie ist N a c h a h m u n g [Hervorhebung MvW]9 einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache, wobei diese formenden Mittel in den einzelnen Abschnitten je verschieden angewandt werden – Nachahmung von Handelnden und nicht durch Bericht, die Jammer und Schaudern hervorruft und hierdurch eine R e i n i g u n g10 von derartigen

Erregungszuständen bewirkt.11

Der wichtigste Teil der Tragödie ist also der Mythos, der bei Aristoteles synonym ist für Handlung. Die Handlung ist am wichtigsten, „[d]enn die Tragödie ist nicht Nachahmung von Menschen, sondern von Handlung und von Lebenswirklichkeit.“12 Diese Nachahmung wird spezifiziert von der Wahrscheinlichkeit und der Notwendigkeit. Die Dichtung zeigt den Leser nicht was wirklich geschehen hat, sondern was geschehen könnte.13 Hierbei ist es also ganz wichtig, dass das Mögliche (also das was geschehen könnte) glaubwürdig ist.14 Die beste Tragödie kennzeichnet sich, durch ihren Umschlag „vom Glück ins Unglück […], nicht wegen der Gemeinheit, sondern wegen eines großen Fehlers15 […].“16 In der zweitbesten Tragödie finden „die Guten und die Schlechten ein entgegengesetztes Ende“17.

Die Voraussetzungen, Regeln und Merkmalen der Komödie verfasste Aristoteles in einem zweiten Teil der Poetik, der aber leider verloren gegangen ist. Trotzdem wird uns einiges deutlich aus diesem vorhandenen ersten Teil, denn Aristoteles sagt:

Denn ihre Dichter [der Komödie] fügen die Fabel nach den Regeln der

Wahrscheinlichkeit zusammen und geben den Personen erst dann irgendwelche Namen, d. h. sie gehen nicht so vor wie die Jambendichter, deren Dichtung um Individuen kreist.18

6 Aischylos: 525-456 v. Chr. 7 Sophokles: 496-406 v. Chr. 8 Euripides: 484-406 v. Chr.

9 Alle Hervorhebungen in dieser Arbeit die in Zitaten gegeben werden, sind von der Verfasserin dieser Arbeit: MvW.

10 Griechisch: κάθαρσις (kátharsis). 11 Aristoteles: Die Poetik. S. 19. 12 Ebd. S. 21.

13 Vgl. Ebd. S. 29. 14 Vgl. Ebd. S. 31.

15 Griechisch: ἁμαρτία (hamartia, Irrtum). 16 Ebd. S. 41.

17 Ebd. S. 43. 18 Ebd. S. 31.

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Hieraus könnte man also einige Unterschieden zwischen der Tragödie und der Komödie schließen: die Tragödie geht über Individuen, die Komödie über bestimmte Typen. Die Namen der Personen sind in der Komödie also fingiert, in der Tragödie nicht. Die Handlungen sind aber schon wahrscheinlich: was beschrieben wird, könnte in der

Wirklichkeit geschehen. Es wird also nicht das Besondere mitgeteilt, sondern das Allgemeine. (Hierin kommen die Tragödie und die Komödie also überein.) Ein paar letzte Unterschiede aber zwischen den beiden Genres ist zum Beispiel deren Wirkungen: die Komödie soll vergnügend wirken, die Tragödie reinigend,19 und die Charakteristik der Personen: in den Komödien werden vor allem die Fehler und Schwächen der Typen gezeigt, in den Tragödien (oft erhabene oder mächtige) Helden20.

Die Voraussetzungen der klassischen Tragödie sind jetzt deutlich. In dem nächsten Subkapitel wird untersucht, welche aristotelischen Kennzeichen von Dürrenmatt rezipiert wurden.

1.2. Begriffe Tragödie & Komödie bei Dürrenmatt

Das ‚echte‘ klassische Drama21, sowohl die Tragödie als die Komödie, ist also in dem 5. Jahrhundert entstanden. Auf das Drama wurde die weitere Entwicklung basiert, wie zum Beispiel die Entwicklung in der Renaissance. Ein wichtiges Beispiel für einen Schriftsteller, der sich viel mit den Voraussetzungen des klassischen Dramas und des Philosophen

Aristoteles bemüht hat, ist Friedrich Schiller.22 Da in der Einleitung dieser Arbeit schon erwähnt wurde, dass Dürrenmatt selbst angespielt hat auf einen Einfluss von Schiller auf seinen Werken, werden jetzt kurz die Voraussetzungen von Schiller über das Drama und dessen Themenbereich in seinen Werken behandelt: Dürrenmatt selbst versuchte seine Arbeit besser zu verstehen indem er zurückblickt nach Schiller23; das wird hier also auch gemacht.

Dürrenmatt behauptet in seiner Rede, dass er und Schiller eine ähnliche Einstellung zu der politischen und sozialen Realität ihrer Zeitalter haben. Er ist der Meinung, dass seine Zeitgenossen ein ähnliches Gefühl des Freiheitentzugs haben als die Zeitgenossen Schillers. „Dürrenmatt thus sees a necessity for a renewal of Schiller’s thinking about the individual’s loss of freedom and lack of effectiveness.”24 Sowohl Schiller als Dürrenmatt schreiben in

19 Vgl. S. 41.

20 Je höher die Position der Figur, desto tragischer ist sein Ende. Ein gutes Beispiel ist König Ödipus, wegen dessen Position ist sein Ende nóch tragischer!

21 Mit dem ‚echten‘ klassischen Drama werden hier die aristotelischen Voraussetzungen des Dramas gemeint. 22 Friedrich Schiller (1759-1805).

23 Vgl. Weiser. S. 332. 24 Ebd. S. 332.

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ihren Werken oft über das Thema der Freiheit. In dem Werk Maria Stuart von Schiller und in den Physikern von Dürrenmatt liest man zum Beispiel ein Ringen zwischen physischer und mentaler Freiheit.25 Außerhalb dieser Parabel des Themas der ‚Freiheit‘, ist die Verbindung zwischen Freiheit und Autonomie auch deutlich. Schiller und Dürrenmatt stimmen überein, wenn es um diesen beiden Begriffen in Bezug zur (Dicht-)Kunst geht. Die Person Möbius in den Physikern26 von Dürrenmatt zeigt eine ähnliche Form von Autonomie und Freiheit, sowie Schiller generell dachte über die Autonomie der Kunst. „In order for him [Möbius] to be able to work for the good of humanity, he must be completely autonomous, and yet at the same time be able to dictate the purpose to which his work should be put.”27 Das Gleiche wird also von Schiller gezeigt: „Net als Moritz en Goethe omarmde Schiller de autonomie van de kunst, maar in zijn denken hierover wist hij aan de kunst, juist op grond van haar autonomie, ook een vitaal maatschappelijk belang te verbinden.”28 Dürrenmatt erzählte in seiner Rede, dass Schiller die Freiheit der Menschen zu sichern versuchte. Schiller versuchte (nach Dürrenmatt) aber nicht die Welt zu ändern, sondern eher die Mentalität der Menschen, in der Hoffnung, dass sie Freiheit als Grundbedürfnis akzeptieren würden. Dürrenmatt endet seine Rede indem er seine Begeisterung betont für Schillers allegorische Verwendung der Handlung29:

Was aber Schiller entdeckte, nachdem er seine Beschäftigung mit der Philosophie aufgegeben hatte, bleibt uns für immer als eine Erkenntnis, unabhängig davon, ob uns Schiller als Dramatiker beeindruckte oder nicht, ob er unser Vorbild sei oder nicht: Der springende Punkt in der Dramatik liege darin, eine poetische Fabel zu finden. Damit wird die Dramatik ein Versuch, mit immer neuen M o d e l l e n eine Welt zu gestalten, die immer neue Modelle herausfordert.30

Hier liest man also auch, dass sowohl Schiller als Dürrenmatt eine bestimmte Form der ‚aristotelische Nachahmung‘ benutzten für ihre Werken. „[T]he stage becomes a model for the world“31, also was auf der Bühne passiert, ist etwas Mögliches.

Ein anderes Gleichnis zwischen Aristoteles, Schiller und Dürrenmatt ist die von Aristoteles vorausgesetzte Wendung von Glück ins Unglück. Diese Wendung, die nach Aristoteles die wichtigste Voraussetzung ist für eine gute Tragödie, ist seit undenklichen Zeiten auch das wichtigste Merkmal der Tragödie. Schiller benutzte diese tragischen

25 In den Physikern hat die Person Möbius schon die Freiheit um zu denken und zu entdecken was er will, aber dies passiert zwischen vier Mauer; Maria in Maria Stuart wurde zu einer lebenslangen Strafe verurteilt, aber sie genießt schon (im Gegensatz zu ihrer Umgebung) moralische Freiheit.

26 Auf diesem Werk von Dürrenmatt wird später in dieser Arbeit noch ausführlich eingegangen. 27 Morley. S. 234.

28 Heumakers. S. 177. 29 Vgl. Weiser. S. 333. 30 Weiser. S. 333. 31 Ebd. S. 333.

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Wendungen also auch für seine Dramen. So auch Dürrenmatt, aber das komische hier ist, ist das Dürrenmatt keine Tragödien schreibt, sondern Komödien! Wieso nennt er seine Werke Komödien, wenn sie ständig tragisch enden? „Ob ein Stück Tragödie oder Komödie wird, […] ist eine Sache des B e w u ß t s e i n s.“32 Der Stoff selber macht nach Dürrenmatt also nicht aus, ob ein Stück Tragödie oder Komödie ist, sondern das Bewusstsein. Er erklärt, dass man heutzutage ein anderes Bewusstsein hat, als früher. Das sieht man zum Beispiel bei der Tragödie König Ödipus des Tragikers Sophokles, dass geschrieben wurde in dem 5.

Jahrhundert v. Chr.: dánn war das tragisch, denn das Publikum glaubte an diesen Mythen. Heute weiß man aber, dass die Mythen fingiert wurden, und deswegen ist es heute komisch. „Ich [Dürrenmatt] meine, früher waren diese Mythen da, das Theater war kultisch, unser heutiges Theater ist nicht mehr kultisch, und darum ist es Komödie, ist es ein anderes Bewußtsein.“33

Wenn es Sache des Bewusstseins ist, ob ein Theaterstück entweder Tragödie oder Komödie sei, fragt man sich schon, wieso Dürrenmatt so überzeugt davon war, dass das Publikum heute nur noch die Komödie beikommt34 und nicht die Tragödie. Wieso war Dürrenmatt dieser Meinung? Wieso passte die Tragödie schon gut in der Zeit der klassischen Tragiker und in der Zeit von Schiller, aber nicht in der Zeit von Dürrenmatt bzw. im 20. Jahrhundert?

1.3. Zwischenfazit.

In diesem ersten Kapitel wurde untersucht was die Herkunft des Theaters ist, welche Unterschiede es gibt zwischen der Tragödie und der Komödie und welche Voraussetzungen die Tragödie und Komödie entsprechen sollten. Aristoteles hatte dies alles in seiner Poetik aufgeschrieben, aber das zweite Teil des Werkes, was über die Komödie geht, fehlt uns heute leider. Wir wissen aber, dass sowohl die Tragödie als die Komödie bestimmt werden von der Nachahmung des Möglichen. Sie unterscheiden sich vor allem in ihren Wirkungen: die erste Form des Dramas wirkt reinigend, die zweite vergnügend. Die beste Tragödie soll eine Wendung vom Glück ins Unglück haben. Diese Wendung blieb in der weiteren Entwicklung des Dramas imstande: in der Renaissance wurde sie noch immer von zum Beispiel Schiller benutzt und im 20. Jahrhundert von Dürrenmatt. Die klassischen Tragiker erzählten vor allem über Mythen und religiöse Themen; Schiller und Dürrenmatt schrieben oft über das Thema

32 Der Klassiker auf der Bühne. S. 242. 33 Ebd. S. 243.

34 In der Einleitung dieser Arbeit wurde Dürrenmatts berühmte Aussage „Uns kommt nur noch die Komödie bei“ auch schon erwähnt.

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‚Freiheit‘. Alle benützten aber die tragische Wendung: komisch ist hierbei, dass Dürrenmatt seine Theaterstücke Komödien nennt. Komödie sei eine Sache des Bewusstseins. Am Ende des Kapitels wurde die Frage aufgeworfen, wieso er das meinte. Auf diese Frage wird in dem nächsten Kapitel ausführlich eingegangen. Außerdem wird die Dramentheorie von

Dürrenmatt im Ganzen besprochen, wobei seine Meinung über die Aufgabe der Kunst der Leitfaden formt.

Kapitel 2: Theatertheorie von Dürrenmatt

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Wenn man Dürrenmatts Schrift Theaterprobleme (1955) darauf nachschlägt, findet man in seiner Argumentation drei unterschiedliche Gründe, mit welchen er seine Aussage „Uns kommt nur noch die Komödie bei“35 verdeutlicht. „Doch ist ein Theaterstück ja nun nicht nur an einen Ort gebunden, es gibt auch eine Zeit wieder.“36 Dürrenmatt meint mit Zeit hier nicht nur die Zeit, welche die Handlung dauert, sondern auch – oder vor allem – die Zeit, in der sie sich abspielt.37 Nach Dürrenmatt sei die Kunst nie wiederholbar. Das bedeutet, dass die Kunst von den klassischen Tragiker und von Schiller nicht passen würde in dem 20. Jahrhundert. Die mythische Tragödie, das kultische Drama der klassischen Tragiker ist deswegen heute unmöglich. Der erste Grund, den Dürrenmatt anspricht, ist die für die Tragödie unabkömmliche Figur des Helden, die es in der Zeit Dürrenmatts nicht mehr gibt und geben kann. In der Komödie gibt es auch einen ‚Held‘, obwohl eher in der Figur eines Anti-Helden, von wem die Fehler und Schwäche betont werden.

So zeigt sich denn in der Entwicklung des tragischen Helden eine Hinwendung zur Komödie. Das gleiche lässt sich beim Narren nachweisen, der immer mehr zur tragischen Figur wird. Dieser Tatbestand ist jedoch nicht bedeutungslos. […]Wir müssen uns […] die Frage stellen wie unsere bedenkliche Welt dargestellt werden muss, mit welchen Helden, wie die Spiegel, diese Welt aufzufangen, beschaffen und wie geschliffen sein müssen.38

Dürrenmatt betont hierbei, dass es schon seit jeher der Fall ist, dass bei den Tragödien die Helden oft adlig und erhaben sind, aber bei den Komödien sind sie öfter Hofschranzen, Handwerken und Arbeiter.39 Es sollte also die Frage sein, da das Theaterstück einen Spiegel der Gesellschaft bzw. der Wirklichkeit formt, welche Helden diese Wirklichkeit besser repräsentieren. „Schiller schrieb so, wie er schrieb, weil die Welt, in der er lebte, sich noch in der Welt, die er schrieb, die er sich als Historiker erschuf, spiegeln konnte.“40 So auch

konnten die klassischen Tragiker mit der Tragödie die Welt richtig nachahmen, aber Dürrenmatt also nicht:

Die heutige Welt, wie sie uns erscheint, lässt sich dagegen schwerlich in der Form des geschichtlichen Dramas Schillers bewältigen, allein aus dem Grunde, weil wir keine tragischen Helden, sondern nur Tragödien vorfinden, die von Weltmetzgern inszeniert und von Hackmaschinen ausgeführt werden. Aus Hitler und Stalin lassen sich keine Wallensteine mehr machen.41

35 Dürrenmatt: Theaterprobleme. S. 48. 36 Ebd. S. 29. 37 Vgl. Ebd. S. 29. 38 Ebd. S. 42f. 39 Vgl. Ebd. S. 42. 40 Ebd. S. 43. 41 Ebd. S. 43.

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Die Macht von Hitler und Stalin sei zu groß und zu anonym: sie ist zu weitverzweigt und zu verworren, wodurch man sie nicht mehr klar andeuten kann. „Die Macht Wallensteins ist eine noch s i c h t b a r e Macht“.42

Hiermit ist der zweite Grund für die Unmöglichkeit der heutigen Tragödie stark verbunden. In der Zeit von Schiller (und auch in der Zeit von den alten Griechen), waren die Helden und vor allem deren Macht sichtbar: die Staat hatte klare Strukturen.

Der heutige Staat ist jedoch u n ü b e r s c h a u b a r, anonym, bürokratisch geworden, und dies nicht etwa nur in Moskau oder Washington, sondern auch schon in Bern, und die heutigen Staatsaktionen sind nachträgliche Satyrspiele, die den im

Verschwiegenen vollzogenen Tragödien folgen. Die echten Repräsentanten fehlen und die tragischen Helden sind ohne Namen.43

Die Bühne sollte nach Dürrenmatt eine Spiegel der Wirklichkeit formen: die Welt wird aber heute nicht auf eine gute Weise repräsentiert von dem Bundeskanzler, aber schon von jemandem, der einen kleinen Beruf ausführt. Hiermit steht der dritte Grund in

Zusammenhang.

Neben diesen zwei Gründen, das Fehlen des Helden und die Welt als Chaos, führt Dürrenmatt noch ein drittes Argument an, wieso heute nur noch die Komödie möglich sei: die Tragödie setzt auch eine Einschränkung von Schuld und Verantwortung voraus. Heute gibt es keine deutliche Schuldigen oder Verantwortlichen mehr: „Alle können nichts dafür und haben es nicht gewollt. […]Wir sind zu kollektiv schuldig, zu kollektiv gebettet in die Sünden unserer Väter und Vorväter.“44 Das 20. Jahrhundert kann die Anforderungen der Tragödie („Schuld, Not, Mass, Übersicht, Verantwortung“45) nicht mehr entsprechen und deswegen kommt uns nur noch die Komödie bei. Ein letzter, verdeutlichender Unterschied zwischen der Zeit worin den Tragödien passten und dem 20. Jahrhundert ist noch, dass die Menschen jetzt keinen freien Willen mehr haben und deswegen kann der Mensch keine Verantwortlichkeit mehr auf sich nehmen, wenn es um sein eigenes Schicksal geht. Der adlige Held in der Zeit von zum Beispiel Schiller konnte – unter anderem wegen seiner gesellschaftlichen Position – selber wählen was er machte. Jetzt kann man sich nur innerhalb des gesellschaftlichen Systems bewegen: das Schicksal der Menschen wird also von dem System bestimmt. Wenn man also etwas Schreckliches erfährt, dann hat man also nur Pech, aber keine Schuld.

Der Zusammenhang zwischen dem zweiten und dritten Grund ist jetzt noch nicht deutlich genug. Wieso „[lassen sich] aus Hitler und Stalin keine Wallensteine mehr machen“? 42 Ebd. S. 44.

43 Ebd. S. 44. 44 Ebd. S. 47. 45 Ebd. S. 47.

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Meint Dürrenmatt hiermit, dass man Hitler oder Stalin keine Schuld oder Verantwortung zuweisen könnte? Wenn man sich fragt, ob Hitler und Stalin deren Gesellschaften gut repräsentieren könnten für ein Theaterstück, ist es nicht ganz so komisch diese Frage mit „nein“ zu beantworten… Aber keine Schuld? Keine Verantwortung? Einerseits beantwortet Dürrenmatt diese Frage nicht, andererseits mit „nein, sie haben keine Schuld, keine

Verantwortung, weil sie nicht diejenigen waren, die handelten“:

Hitler, Stalin, heute Khomeini sind Emanationen der irrationalen Seite der

Gesellschaft, aus der sie kommen. Hitler, Stalin sind nur Markenzeichen, sie sind nicht verantwortlich oder unverantwortlich Handelnde, es gibt streng genommen nur

verantwortliche Mitmacher und Opfer. Für die Mitmacher sind Hitler und Stalin nur Ausreden, mitgemacht zu haben; hätten sie nicht mitgemacht, gäbe es keinen Stalin, keinen Hitler. Nur die Mitmacher sind darstellbar.46

Die Schuld und Verantwortung sind also zu weitverzweigt: es gibt eher eine nationale Schuld. Dér tragische Held lässt sich nicht zeigen. Deswegen passt die Komödie also auch besser, denn sie zeigt komische Typen; die Tragödie zeigt tragische Individuen. Diese komischen Typen… Die könnten natürlich jeder gewesen sein.

Jetzt ist also deutlich, wieso die Tragödie nicht mehr bei der heutigen Zeit passt, aber noch immer nicht, wieso Dürrenmatt schon das wichtigste Merkmal der Tragödie – die Wendung vom Glück ins Unglück – benutzt in seinen Werken. Dies scheint jetzt ein Paradox zu sein. Im nächsten Subkapitel wird deswegen untersucht, wieso Dürrenmatt ständig diese Wendungen benutzt.

2.2. Funktion der „schlimmstmöglichen Wendung“ .

Früher in dieser Arbeit wurde schon erwähnt, dass die Komödie bei Dürrenmatt nach Definition komisch ist, weil er sich die Handlung ausdenkt wie er will. Was auf der Bühne passiert ist schon eine Spiegel der Welt, sie ist aber nicht Wirklichkeit, und deswegen ist sie also komisch. Die schlimmstmögliche Wendung, so wie Dürrenmatt sie nennt, ist also auch nicht tragisch, sondern komisch. Man soll also nicht denken, dass Dürrenmatt ein Pessimist sei:

Man hat mich oft mißverstanden, wenn ich von der schlimmstmöglichen Wendung spreche; das ist kein pessimistischer Schluß, sondern der Mensch wird in der schlimmstmöglichen Wendung darstellbar.47

Dieser Schluss der Handlung passiert auf der Bühne, und zeigt damit dem Publikum nur etwas Mögliches. Hier sieht man also auch wieder den Rückgriff auf die Poetik von Aristoteles: die 46 Im Bann der Stoffe. S. 215.

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(Dicht-)Kunst zeigt uns eine Möglichkeit. In der Wirklichkeit passiert es nicht: es kánn aber schon geschehen, und mit der Komödie kann Dürrenmatt das Publikum warnen, sodass es im echten Leben nicht passiert.

Auf der Bühne wird der Welt die schlimmstmögliche Wendung vorgeführt, damit sie vermieden werden kann. FD: Ja. Auf der Bühne können wir etwas durchspielen, was wir in der Wirklichkeit nicht durchspielen können. Das heißt, die Bühne hat die Freiheit […] den Menschen zu schaffen. […] Auf der Bühne habe ich die Gegenwelt, in der ich das durchspielen kann, was uns droht. Und wenn ich das durchspielen kann, kann ich auch davor w a r n e n. Das heißt, es ist nicht das Moralische, sondern es ist das Beispielhafte, Gleichnishafte, das hier vor sich geht. Daher auch die Form der Komödie, die Anwendung des bewußten Humors.48

Die schlimmstmögliche Wendung soll also in der Handlung inne sein, ohne sie, hat die Komödie eigentlich keinen Sinn: „Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat.“49

Man soll jetzt aber nicht davon ausgehen, dass weil man heute nur noch die Komödie brauche, dass die früheren Tragödien uns nicht mehr beeindrucken können, denn das ist nicht der Fall. Man liest heute noch Schillers‘ Räuber, Interessierten der Klassiker übersetzten heute noch Sophokles‘ Antigone! Meint Dürrenmatt jetzt mit seiner Aussage, dass „uns heute nur noch die Komödie [beikommt]“, dass man die alten Tragödien nicht mehr lesen sollte? Ist es nach Dürrenmatt so, dass die Wendungen vom Glück ins Unglück aus den klassischen und schillerschen Tragödien uns heute nicht mehr beeindrucken? Nein! Es ist aber nur so, dass die tragische Wendungen uns heute nicht mehr traurig machen bzw. dass sie eine reinigende Wirkung auf uns haben. Ihre Wirkung haben sie nicht verloren, sie ist jetzt nur anders bzw. vergnügend. Das kommt dadurch, da man heute nicht mehr an die tragische Handlungen glaubt. Ein gutes Beispiel ist die Tragödie Medea, über wen Euripides geschrieben hatte. Dass sie ihre Kinder ermordet hatte, war damals tragisch und wirkte reinigend; da jetzt aber jeder ‚weiß‘, dass dies nur eine mythische Geschichte ist, wirkt sie nicht mehr tragisch, man kann sich heute beim Lesen oder Übersetzen amüsieren. Heute wirkt Medea eher wie ein

komischer Thriller.

Die Funktion der „schlimmstmöglichen Wendung“ liegt also in ihrer Warnung. Die Komödie ist nicht nur dazu da, sodass das Publikum weiß was passieren kann, man soll es auch ahnen. Dürrenmatt will dieses Vorgefühl bei seinem Publikum kreieren. Seiner Meinung

48 Ebd. S. 165.

49 Dürrenmatt: Die Physiker. S. 69. (Dritter Punkt zu den Physikern; die insgesamt 21 Punkte zu den Physikern gibt es auch in dem Anhang dieser Arbeit.)

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nach wird das in dem 20. Jahrhundert viel zu wenig gemacht. Ohne diese schlimmstmögliche Wendungen, ahnt in kurzer Zeit gleich keiner mehr, was passieren kann:

Es fällt auf, daß es in der Welt der Experten nie zur Katastrophe kommen kann; die Katastrophe, das heißt die schlimmstmögliche Wendung, wird ausgeschlossen. Und es ist für mich etwas sehr Charakteristisches für unsere Zeit, daß die

Katastrophenanfälligkeit immer mehr zunimmt.50

Außer dieser Funktion der schlimmstmöglichen Wendung, gibt es vielleicht noch (eine) andere Funktion(en) verschiedener Kennzeichen der Komödie bei Dürrenmatt. Wozu gibt es zum Beispiel Humor in der Komödie? Wie ist es mit dem Aspekt der

Distanz/Verfremdung bei Dürrenmatt? Wie unterscheidet er sich von Zeitgenossen wie zum Beispiel Bertolt Brecht? Intendieren seine Werken noch mehr? Ist es die Rede von einer Weltverbesserung oder einer Weltveränderung? Geben die Werke von Dürrenmatt eine Kritik auf die heutige Gesellschaft? In verschiedenen Gesprächen mit Dürrenmatt und in

verschiedenen Essays von ihm wurde dieses Thema auch zur Sprache gebracht. In dem nächsten Subkapitel wird hierauf ausführlich eingegangen.

2.3. Distanz zwischen Dürrenmatt und Brecht? 2.3.1. Distanz mittels Humor und Einfall.

Wenn man in einem Theater eine Tragödie besucht, könnte es so sein, dass man sich kurz in dem Moment des Zuschauens verliert. Man versöhnt sich mit der Hauptfigur,

identifiziert sich mit der und während des Zuschauens, denkt man an nichts aus dem eigenen Leben; nur das was auf der Bühne passiert, fasst den ganzen Gedanken des Zuschauers. Man denkt die Gedanken der Hauptperson, man fühlt die Gefühle der Hauptperson…

Wie anders ist das bei der Komödie! Man sieht sich das Theater an, und man weiß: es können nur zwei Sachen passieren. Entweder lacht man um die Hauptfigur oder mit der Hauptfigur. Im ersten Fall distanziert man sich von der Hauptperson: „so blöd/lächerlich bin ich doch nicht? Ich würde ganz andere Wähle treffen!“ Im zweiten Fall aber, distanziert man sich vor allem von den Menschen um die Hauptperson herum: „Ha, sind sie blöd!“ Aber was machen diese Gedanken? Wozu dienen sie bzw. wieso könnten sie eine wichtige Funktion haben? Erstens sorgen diese Gedanken dafür, dass man sich nicht mit den Figuren

identifiziert, sowie das schon passieren könnte bei der Tragödie. Dieses Lachen, das erregt wird bei dem Publikum, löst vielleicht in dem ersten Fall wo man um die Hauptfigur lacht diese Distanzierung aus, aber nicht in dem zweiten Fall: hier identifiziert man sich vielleicht

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schon ein bisschen mit der Hauptfigur. Nach Dürrenmatt soll hier die Handlung der Komödie die Distanzierung auslösen. Die Handlung soll hier einen ‚Einfall‘ haben:

Das Mittel nun, mit der die Komödie Distanz schafft, ist der E i n f a l l. Die Tragödie ist ohne Einfall. Darum gibt es auch wenige Tragödien, deren Stoff erfunden ist. Ich will damit nicht sagen, die Tragödienschreiber der Antike hätten keine Einfälle gehabt, wie dies heute etwa vorkommt, doch ihre unerhörte Kunst bestand darin, keine nötig zu haben. Das ist ein Unterschied. […] Sie [die Einfälle] fallen in die Welt wie

Geschosse, die, indem sie einen Trichter aufwerfen, die Gegenwart ins Komische, aber dadurch auch ins S i c h t b a r e verwandeln.51

Diese Einfälle – es könnten also mehrere Einfälle sein – sorgen dafür, dass die Komödie grotesk wird: es geht dann zum Beispiel um zufällige Entgegnungen zwischen den

Hauptfiguren, aber hiermit könnten auch die schlimmstmögliche Wendung gemeint werden, denn auch sie tritt durch Zufall ein (denn es ist ein Einfall der Schriftsteller). Die gezeigte ‚Wirklichkeit‘ der Komödie wird auf diese Weise immer grotesker, aber sie wird nicht absurd! Was passiert, ist noch immer glaubwürdig: der Schriftsteller zeigt seine Komödien bewusst in einer gewohnten Welt.52 Die dargestellte Wirklichkeit sorgt aber schon für eine Distanz zwischen dem Publikum und der Komödie. „Dürrenmatts Komödien sind Spiegel einer in Unordnung geratenen Welt. In ihr ist der Mensch orientierungslos geworden und damit den Mächten um ihn verfallen.“53 Er zeigt ein Modell der Realität, aber das Publikum bemerkt in kurzer Zeit, dass ihm verzerrte Verhältnisse dieser Wirklichkeit gezeigt werden. Er zeigt uns was es hinter den leeren Versprechungen gibt und betont diesen: auf diese Weise entsteht ein Bild einer ‚Gegenwelt‘. Es ist also nicht der Fall, dass Dürrenmatt ein Abbild der Realität zeigt und ihre Schwäche anprangert, sondern er kreiert eine ‚neue‘ Welt:

Der Schriftsteller gebe es auf, die Welt retten zu wollen. Er wage es wieder, die Welt zu formen, aus ihrer Bildlosigkeit ein Bild zu machen … Was der Schriftsteller treibt, ist nicht ein Abbilden der Welt, sondern ein Neuschöpfen, ein Aufstellen von

Eigenwelten, die dadurch, daß die Materialien zu ihrem Bau in der Gegenwart liegen, ein Bild der Welt geben. Die Realität wird also zur Illusion gesteigert, und diese gewinnt reale Dimensionen; sie erscheint als die genauere eigentliche Wirklichkeit. Im Paradoxen erscheint die Wirklichkeit! (Pkt. 19).54

Aber wieso ist diese Distanz nun wichtig? Die Distanz wird also nur geschafft von der Komödie, nicht von der Tragödie. Wenn der Schriftsteller die Welt nicht retten kann, was möchte oder kann er denn schon erreichen? Ein Grund, den Dürrenmatt für seine Aussage „Uns kommt nur noch die Komödie bei“ gegeben hatte, war, dass die Welt bzw. die 51 Theaterprobleme. S. 46f.

52 Vgl. Keller. S. 56. 53 Ebd. S. 87. 54 Ebd. S. 57.

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Gesellschaft in dem 20. Jahrhundert keine klare Strukturen mehr hatte; sie ist unüberschaubar. Ein Teil des Gesprächs zwischen Dürrenmatt (Abkürzung FD) und Hans Fröhlich verdeutlicht Dürrenmatts Vision:

FD: […]Je unheimlicher die Welt ist, um so wichtiger ist es, daß ich D i s t a n z davor gewinne. Und Distanzgewinn ist nur durch die Verfremdung der Welt möglich. FRÖHLICH: Durch Distanz wird aber doch das Unheimliche nicht verzehrbar. FD: Es wird darstellbar. Über das Unheimliche, das nicht darstellbar ist, können Sie auch nicht nachdenken. Wenn die Atombombe explodiert, haben Sie keine Zeit mehr zu überlegen, wie die Atombombe zustande gekommen ist. Sie können die Menschen nur darauf aufmerksam machen, daß es die Atombombe gibt. Sie brauch also zu jedem Ding, über das Sie nachdenken wollen, Distanz. Nur so können Sie eine Sache sichtbar machen. Das ist vielleicht heute wichtiger denn je. Weil die Wissenschaft in ein Stadium gekommen ist, wo weitgehend auf Vorstellungen verzichtet wird. Die Kunst ist darum menschlich, weil sie Vorstellungen liefert. Diese Vorstellungen sind selbstverständlich nur Bilder, Umschreibungen, sie sind nicht die Sache selbst. Aber anhand dieser Abkürzungen zur Wirklichkeit kommen Sie zum Denken. Jedes Denken beginnt mit dem Erstaunen, mit dem Verwundern, und so ist es auch bei der Kunst. Kunst liefert einen Anlaß, sich über die Welt zu wundern.55

Die Distanz sorgt also dafür, dass das Publikum anfängt sich über die Welt zu wundern. Mit diesem Wundern meint Dürrenmatt vor allem, dass man kritisch wird. Nach Dürrenmatt ist das Publikum zu naiv. Aber was möchte Dürrenmatt nun mit seinen Theaterstücken und die kritischen Gedanken, die er erregt bei seinem Publikum erreichen? Er ist der Meinung, dass die Welt eine Änderung braucht, aber er ist sehr verzweifelt ob dies ihm überhaupt gelingen wird, angesichts des beschränkten Verantwortungsgefühls der Menschen. Er geht davon aus, dass die heutige Gesellschaft nicht geändert werden kann, aber dass sie ertragen werden sollte. Deswegen geht es ihm vor allem um das Erregen einer kritischen Einstellung bei seinem Publikum. Dies schafft Dürrenmatt mit der Tragikomödie, für welche Art Theater er eine große Vorliebe hatte56: sowohl das tragische als das komische haben eine Funktion. Das tragische sorgt für eine Warnung bei dem Publikum, das komisch/groteske soll

kritische/objektive Gedanken über die Gesellschaft in der das Publikum lebt erregen. In der heutigen Gesellschaft entscheiden nur die Machthaber, und nicht das Individuum aufgrund seiner Ideale. Der Mensch wird heutzutage zu einfach verführt durch Macht und Geld, und deswegen sind diese die wichtigste Themen seiner Theaterstücke: „der einzelne Mensch in seiner Gefährdung durch jene Mächte, die sich die Menschen selbst geschaffen haben und die sie nicht zu beherrschen vermögen. Reichtum, Macht, Atomdrohung.“57 Dürrenmatts Ziel ist also deutlich: er möchte sein Publikum erschrecken, indem er es die größte Drohungen dieser 55 Der Klassiker auf der Bühne. S. 349f.

56 Vgl. Ebd. S. 117. 57 Kästler. S. 16f.

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Zeit zeigt. Er zielt also nicht auf eine Verbesserung oder Veränderung der Welt hin, denn das würde auch niemandem im Alleingang gelingen. Was er schon erreichen möchte, ist am besten die Beunruhigung des Publikums und in seltensten Fälle das Beeinflussen des Publikums (er kann die Welt nie verändern!).58 Eine Lösung für Probleme kann und wird Dürrenmatt in seinen Werken auch nicht zeigen, und das soll er auch nicht: „Eine Lösung des Konflikts verlangt die Komödie im Gegensatz zur Tragödie nicht; sie begnügt sich mit der dramatischen Enthüllung.“59 Das Theaterstück endet also tragisch, aber nicht pessimistisch! Das Kreieren einer bestimmten Moral ist also auch nicht wichtig, es geht nur um das Zeigen eines möglichen Ereignisses. Das heißt also auch, dass Dürrenmatts Werke keine didaktischen Werke sind, und als solche hat er sie auch nicht gemeint. Die Komödie ist bei ihm also nicht da zur Unterhaltung60 und für den Schriftsteller ist das literarische Schreiben auch nicht das wichtigste61: er möchte eine Angst bei seinem Publikum erregen und die verschleierte Augen des Publikums öffnen bzw. die Naivität des Publikums aufheben.

2.3.2. Special Effects .

Am Ende des Subkapitels 2.2. wurde gefragt, inwiefern Dürrenmatt sich mit seiner Dramentheorie unterscheidet von seinen Zeitgenossen. Er wurde vor allem oft verglichen mit Bertolt Brecht, der auch die Verfremdung des Theaters wichtig fand. In diesem Abschnitt wird untersucht, inwiefern Dürrenmatts Dramentheorie wirklich übereinstimmte mit den Theorien von Brecht.

Auf dem ersten Blick scheint es der Fall zu sein, dass Dürrenmatt und Brecht auf verschiedenen Ebenen mit einander übereinstimmen. Die Distanz zwischen dem Publikum und dem Theater ist bei beiden zum Beispiel von größter Bedeutung, aber die Weise auf welche sie diese Distanz kreieren, ist ganz anders. Beiden wollten nicht, dass das Publikum sich mit den Figuren auf der Bühne identifizierte bzw. dass es eine Annäherung gab zwischen Publikum und Bühne. Bei Dürrenmatt reichte es eigentlich schon, dass was auf der Bühne passierte, Komödie sei. Denn die Komödie sorgt mittels ihrer Humor und ihres Einfalls für die Distanz. Das Lachen kreierte schon einen Abstand und die Handlung sei durch ihre

58 Vgl. Der Klassiker auf der Bühne. S. 127. 59 Keller. S. 67.

60 „Komödie bedeutet für mich nicht Lustspiel. Es gibt in diesem Stück sehr viel Tragik, aber eine Tragödie ist es trotzdem nicht. Im Grunde sind diese Begriffe veraltet, und Tragödie ist für mich etwas Antikes. Eine Komödie birgt auch das Tragische in sich.“ In: Der Klassiker auf der Bühne. S. 196.

61 „Es ist einfach die Pflicht des Schriftstellers, sich um solche Dinge zu kümmern. Ein Schriftsteller, der sich nur noch um Literatur kümmert, kommt gar nicht an die Bereiche heran, um die er sich kümmern müßte. Ein Schriftsteller ist ja nicht da, um einen schönen Stil zu schreiben, sondern um sich um Dinge zu kümmern, die ihn als Menschen angehen, und das ist heute auch die Wissenschaft […].“ In: Im Bann der Stoffe. S. 67.

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Einfälle so grotesk, dass der Abstand gesichert wurde. Bertolt Brecht benutzt ganz andere dramatische Aspekte, um für die Distanz zu sorgen:

Brechts Kampf gegen alles, was zur Illusion führt, was Einfühlung in Handlung und Personen erleichtert, was Identifizierung ermöglicht, führt zum Z e r s p r e n g e n der Darstellungseinheit. Erzähler und Erzählhaltung (Demonstration), Wendung zum Publikum, Autorenkommentar und Songs machen zugleich verschiedene

Bedeutungsebenen deutlich.62

Hier wird deutlich, dass Brecht also um diese Distanz zu kreieren, bestimmte special effects benutzt. Diese V-Effekte bzw. Verfremdungseffekte nutzt (und braucht) Dürrenmatt also nicht um Distanz zu kreieren.

Ein zweiter Unterschied zwischen den beiden Schriftstellern ist die pädagogische Absicht von Brecht, der bei Dürrenmatt fehlt. Brecht und Dürrenmatt sind beiden schon der Meinung, dass die Welt eine Veränderung braucht, aber wo Dürrenmatt davon ausgeht, dass ihm das im Alleingang nie gelingen wird und es deswegen nicht sein Ziel ist die Welt zu ändern, geht Brecht aber davon aus, dass ihm dies vielleicht schon ein bisschen gelingen könnte. Hiermit wird nicht eine große Veränderung der Gesellschaft gemeint. Dürrenmatt will ein neues Bewusstsein bei seinem Publikum erregen. Er will, dass das Publikum kritisch nachdenkt. Brecht aber, will nicht nur, dass das Publikum kritisch nachdenkt, er möchte auch, dass das Publikum weiß, dass es andere Möglichkeiten als die gegebenen gibt! Man könnte diesen Unterschied ganz einfach erklären. Gesetzt den Fall, dass sowohl Brecht als

Dürrenmatt ein Theaterstück schreiben würden über die Bundeskanzlerin Deutschlands, Angela Merkel. Außer den unterschiedlichen Weisen für das Kreieren der Distanz, haben Brecht und Dürrenmatt also auch eine andere Wirkung auf das Publikum vor Augen. Dürrenmatt könnte hier beabsichtigen, dass das Publikum am Ende des Zuschauens den Theatersaal verlasst, mit dem Gedanken: „Wieso trifft Merkel die Entscheidungen, die sie trifft? Wie denke ich darüber? Sind sie gut oder nicht?“ Brecht könnte aber beabsichtigen, dass bei dem Publikum schon während des Zuschauens bestimmte Gedanken aufkommen. Man könnte dann während und nach dem Ende des Theaterstücks denken: „Wieso ist Merkel eigentlich die Bundeskanzlerin? Wieso nicht jemand anders?“ Man sieht hier also deutlich den Unterschied zwischen dem erzielten kritischen Gedanken (Dürrenmatt) und das Einsehen, dass es auch andere Möglichkeiten gibt: „Den Zuschauer zum Sehen anderer Möglichkeiten zu aktivieren, ist Brechts pädagogische Absicht. Nichts muß so sein, wie es ist.“63 Jetzt ist also

62 Geissler. S. 15. 63 Ebd. S. 15.

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deutlich geworden, dass die Kunst bei Brecht ein Lehrstück formt, und dass das bei Dürrenmatt nicht der Fall ist.

2.4. Zwischenfazit.

In diesem zweiten Kapitel wurden erstens die Kennzeichen der Dramentheorie von Dürrenmatt untersucht, zweitens wurde untersucht inwiefern Dürrenmatts und Brechts Dramentheorien übereinstimmen, wobei vor allem auf das Begriff der Distanz eingegangen wurde.

In dem ersten Abschnitt dieses Kapitels gab es die Suche nach der Bedeutung der Aussage: „Uns kommt nur noch die Komödie bei.“ Hierfür hatte Dürrenmatt drei deutliche Gründe. Erstens konnte man in dem 20. Jahrhundert keinen tragischen ‚Held‘ mehr benutzten, um wen das Theaterstück drehen konnte. Seine Macht hatte nämlich keine klaren Strukturen, sowie die es schon gab in der Zeit von Schiller oder von den klassischen Autoren. Dieses Fehlen des Helden, hat viel zu tun mit dem zweiten Grund, der von Dürrenmatt angeführt wurde: die Macht der Staat ist auch unüberschaubar. Diese unüberschaubare Welt ist deswegen besser zu repräsentieren von jemandem mit einem einfachen Beruf. Von dieser Person sind die beruflichen Strukturen schon deutlich, und nicht so weitverzweigt als von dem Bundeskanzler zum Beispiel. Der dritte Grund formte die Voraussetzung der Schuld und Verantwortung von der Tragödie: in dem 20. Jahrhundert lässt die Schuldfrage sich nicht mehr beantworten, die Schuld sei zu kollektiv. Deswegen kommt uns also nur die Komödie bei.

In dem zweiten Subkapitel ging es um die Funktion der schlimmstmöglichen

Wendung. Hier wurde deutlich, dass diese tragische Wendung dazu da ist um das Publikum zu warnen für etwas das passieren könnte. Die Warnung soll dafür sorgen, dass sie in der Wirklichkeit nicht passieren wird. Die Komödie ist vor allem dazu da, sodass das Publikum nicht nur weiß was passieren kann, sondern auch sodass man auch ahnt was geschehen könnte.

In dem dritten Subkapitel wurde die Frage aufgeworfen, wieso die Distanzierung zwischen dem Publikum und der Bühne nötig sei und wie sie kreiert wird. Bei Dürrenmatt wird die Distanz kreiert durch Humor (das Lachen nur sorgt schon für eine Distanz) und durch den Einfall: je grotesker (aber nicht absurd!) die Handlung, desto mehr distanziert sich das Publikum von dem Theaterstück. Die Distanz soll auf das Publikum diese Wirkung haben: sie soll ansetzen zum kritischen Nachdenken bzw. ein neues Bewusstsein schaffen. Brecht hingegen schafft Distanz durch seine Verfremdungseffekte: durch bestimmte

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Regieanweisungen, Schauspieler, die sich zum Publikum wenden und Unterbrechungen der Handlung von Songs wird die Distanz kreiert. Bei Brecht fungiert die Distanz um das Publikum andere Möglichkeiten eines Ereignisses zu zeigen und um auf diese Weise das Publikum etwas beizubringen.

Was die Dramentheorie von Dürrenmatt beinhaltet, ist in diesem Kapitel deutlich geworden. In dem nächsten Kapitel wird untersucht, wie Dürrenmatt seine Theorie in die Praxis umsetzt.

Kapitel 3: Analyse: Dramentheorie in der Praxis 3.1. Themenbereich in den Werken Dürrenmatts.

In dem vorigen Kapitel wurden die Kennzeichen der Dramentheorie Dürrenmatts besprochen. In diesem Kapitel wird untersucht, wie er seine Dramentheorie in die Praxis umsetzt. Es wurde vorher schon deutlich, dass Dürrenmatt sich stört an die in Unordnung geratene Welt. Seine Theaterstücke sollten das Publikum bewusst machen von der Unklarheit der Staatsstrukturen und, indem er eine Distanz kreiert zwischen der Bühne und dem

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Publikum, sie über die unklare Strukturen nachdenken lassen. Ein wichtiges Thema, das nach Dürrenmatt alles zu tun hat mit dieser in Unordnung geratenen Welt, ist das Thema der Gerechtigkeit: „Die Welt ist in Unordnung, und weil sie sich in Unordnung befindet, ist sie ungerecht.“64 In diesem Kapitel wird der Themenbereich in den Werken Dürrenmatts besprochen, in der Hoffnung herauszufinden, wie er seine Dramentheorie in die Praxis umsetzt. Zuerst wird dazu – mithilfe (unter anderem) des Werks Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht – das Thema Gerechtigkeit untersucht und danach die Funktion der Einfall in vor allem das Werk Die Physiker, denn es wird ans Licht kommen, dass diese beiden Aspekten (Gerechtigkeit und Einfall) sehr viel mit einander zu tun haben.

3.2. Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht .

In Dürrenmatts Werken wird oft die Frage der Gerechtigkeit zum Thema seiner Werke. Er weckte deswegen mehrmals das Interesse von Juristen und juridisch Interessierten. Er ließ sich verleiten um einen Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht zu geben, worin er über die Frage nach einer gerechten Ordnung im Hinblick auf zwei verschiedene

Gesellschaftssysteme nachdachte: der Sozialismus und der Kapitalismus. Er behauptete dabei aber schon am Anfang, dass er über ein Thema sprach „mit dem ich nichts zu tun habe.“65

Gerechtigkeit und Freiheit haben viel mit einander zu tun. Nach Dürrenmatt hat der Mensch „zwei Ideen von der Gerechtigkeit.“66 Es gibt das Recht des Einzelnen, nämlich die Freiheit. Das zweite Recht, das es gibt, ist das Recht der Gesellschaft, sie besteht „darin, die Freiheit eines jeden einzelnen zu garantieren, was sie nur vermag, wenn sie die Freiheit eines jeden einzelnen beschränkt. Dieses Recht nennen wir Gerechtigkeit.“67 Die Freiheit des Einzelnen hört auf, wo die Freiheit eines anderen beginnt. Die Gerechtigkeit ist aber sehr problematisch, da der Mensch zwei Ideen über sie hat, und nicht nur über die Gerechtigkeit, sondern auch über sich selbst hat der Mensch zwei Ideen: er sieht sich in einem besonderen Begriff (das heißt der Mensch als Individuum bzw. der besondere Begriff ‚Mensch‘ heißt Individuum) und in einem allgemeinen Begriff (das heißt der Mensch als Teil einer

Gesellschaft bzw. der allgemeine Begriff ‚Mensch‘ heißt Gesellschaft).68 Da der Mensch diese zwei Ideen über sich hat und es deswegen zwei Ideen über die Gerechtigkeit gibt, hat die Politik einen unglaublich schwierigen Auftrag um

64 Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht. S. 37. 65 Ebd. S. 7.

66 Ebd. S. 41. 67 Ebd. S. 41. 68 Vgl. Ebd. S. 37-41.

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die emotionale Idee der Freiheit mit der konzipierten Idee der Gerechtigkeit zu versöhnen: Das ist nur auf der Ebene des Moralischen möglich und nicht auf der Ebene des Logischen. Anders gesagt: Die Politik vermag nie eine reine Wissenschaft zu sein.69

Die Gesellschaft braucht Gerechtigkeit um die Freiheit des Einzelnen und der Gesellschaft zu bewahren und zu begrenzen. Die Gerechtigkeit wird von der Politik garantiert, denn sie entscheidet wen – welchen Richter – Entscheidungen treffen dürfen. Es ist hier also nicht der Fall, dass der Richter die größte Macht besitzt. Denn gesellschaftliche Institutionen wie die Justiz „[kämen] eigentlich nur verwaltungstechnische und schiedsrichterliche Funktionen zu“70. Da die Menschen in der Politik (bzw. die Mächtigen) die Endverantwortlichkeit haben über diese gesellschaftliche Institutionen, garantieren sie selbst auch ihre eigene Macht, egal in welchem gesellschaftlichen System sie Macht haben: in dem Kapitalismus oder in dem Sozialismus. Dürrenmatt erläutert diese Systeme mit Hilfe zweier Spiele: das Große Wolfsspiel (Kapitalismus) und das Gute-Hirte-Spiel (Kommunismus). 71 In diesen Spielen haben die spielsteinreichen Spieler des Wolfsspiels und die Endspieler des Gute-Hirte-Spiels die Macht, und die haben sie nur wegen eines Grundes: sie haben viele Spielsteine bzw. sie haben viel Geld. Geld! Geld und Wissen (die Naturwissenschaften) sind nach Dürrenmatt das was man braucht um an die Macht zu kommen und sie zu behalten. Wegen der Abhängigkeit von der Justiz an den Mächtigen gibt es viel ‚gerechte Ungerechtigkeit‘72 in der Gesellschaft, und hierauf äußert er öfters seine Kritik:

Daß […] die juristische Rabulistik als Werkzeug im Dienst der Mächtigen vorgeführt wird, macht Dürrenmatts Skepsis gegenüber den Institutionen der Justiz und

gegenüber der Argumentation der Juristen deutlich – eine Haltung, die sich an vielen Stellen seines literarischen Werks manifestiert.73

In dem nächsten Abschnitt werden einige Beispiele aus Dürrenmatts Werken vorgeführt, worin sich seine Kritik zeigt. Dabei wird zuerst das Thema der Gerechtigkeit in Der Richter und sein Henker untersucht, und dann wird das Werk verbunden mit Dürrenmatts

Dramentheorie. Später in dieser Arbeit wird das gleiche untersucht bei dem Versprechen, ein anderes Werk von Dürrenmatt, das das Thema der Gerechtigkeit behandelt.

3.2.1. Der Richter und sein Henker.

69 Ebd. S. 42. 70 Ebd. S. 56. 71 Vgl. Ebd. S. 43f.

72 Nach den zwei Beispielen aus Dürrenmatts Werken (Der Richter und Sein Henker und Das Versprechen) wird in dem Abschnitt 3.2.3. dieser Parodox ‚gerechte Ungerechtigkeit‘ weiter erklärt.

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Der Richter und sein Henker (1950-1951) ist eine Kriminalgeschichte. Die Hauptfigur in diesem Roman ist Hans Bärlach, ein Kriminalkommissar. Er möchte schon seit Jahrzehnten Gerechtigkeit für einen Mord, den Gastmann, ein erfolgreicher Verbrecher und alter Freund von Bärlach, mal begangen hat auf einen Kaufmann. Dieser Mord wurde nie entdeckt, weil Gastmann den Mord als Selbstmord erscheinen ließ und deswegen war Mord nicht prüfbar. Nun wurde aber Schmied, Mitarbeiter von Bärlach, ermordet von Tschanz, der Assistent von Bärlach. Tschanz bringt Gastmann in Verdacht, aber Bärlach ergreift keine Maßnahmen gegen Gastmann. Bärlach lässt aber eine Situation zwischen Tschanz und Gastmann

entstehen, wobei Tschanz sowohl Gastmann als zwei seiner Handlanger erschießt. Auf diese Weise hat Bärlach („der Richter“) für Gerechtigkeit gesorgt für den Mord auf den Kaufmann. „Das entspricht offensichtlich nicht den Dienstvorschriften der Polizei und bezeugt eine eigenwillige Vorstellung von der Herstellung von Gerechtigkeit.“74 Tschanz („sein Henker“) wird an dem nächsten Tag getroffen von einem Zug und stirbt (wahrscheinlich Selbstmord). Mit diesem letzten Ereignis wird Gerechtigkeit gefunden von dem Mord auf Schmied.

Zwar bedeutet die Exekution Gastmanns durchaus eine Verwirklichung materieller Gerechtigkeit, aber die Regeln der offiziellen straflichen Justiz werden von einem ihrer Funktionäre, dem Kriminalkommissar Bärlach, mißachtet und eigenmächtig übersprungen. Diese Eigenmächtigkeit manifestiert sich zum Schluß auch noch darin, daß er den Mörder Tschanz, der sich als charakterlich dubios und skrupellos erwiesen hat, nicht der Justiz übergibt, sondern es ihm überläßt, Selbstmord zu begehen.75 Wieso sieht Bärlach sich nun aber gezwungen sich als Richter zu verhalten? Sowie oben schon angesprochen wurde, waren Bärlach und Gastmann alte Freunde. Sie hatten einen Einfall: sie haben zusammen darauf gewettet, dass es entweder möglich (Gastmann) oder nicht möglich (Bärlach) sei, einen Verbrechen zu begehen, der nicht zu prüfen ist. Da der Mord von Gastmann auf den Kaufmann nie ans Licht gekommen ist, ist Bärlach der Meinung, dass er selber Richter sein darf. Dies gelingt ihm, weil Gastmann später durch Zufall mit einem anderen Mord (auf Schmied) assoziiert wird.

Man soll hier auf den Motiven von Bärlach achten. Denn da der Mord auf den Kaufmann vor seinen Augen passierte, ist Bärlach deswegen ein Mitschuldiger des Mordes. Es ist also unwahrscheinlich, dass Bärlach Gerechtigkeit suchte, nur weil er fand, dass Gastmann eine Strafe verdiente, sondern eher, weil er die Wette gewinnen wollte. Die Gerechtigkeit von Bärlach liegt darin, dass er sehr krank ist und letztendlich auch operiert werden soll.

74 Ebd. S. 295. 75 Ebd. S. 296.

(25)

Da in diesem Kriminalroman deutlich wurde, dass „[d]ie Sache der Gerechtigkeit nicht von den staatlichen Institutionen zu verwirklichen [ist]“76, könnte man diesen Roman von Dürrenmatt lesen als eine Kritik auf das juridische System. Denn

sie [die Gerechtigkeit] hängt nicht von der Beachtung gesetzlich festgelegter Formalien ab, sondern sie ist Sache von Einzelnen, die von einem starken

Gerechtigkeitsgefühl angetrieben auf eigene Faust handeln und sich dabei allerdings selbst auch in Schuld verstricken können.77

3.2.1.1. Verbindung Der Richter und sein Henker und Dürrenmatts Dramentheorie.

Obwohl die Idee zu der Geschichte schon einen Einfall des Schriftstellers ist, gibt es in der Geschichte selbst natürlich auch Einfälle. In Der Richter und sein Henker ist der erste Einfall die Wette, die Bärlach und sein alter Freund Gastmann mit einander schließen. Weitere Einfälle könnte man einfach die Ideen der Figuren in der Geschichte nennen. Der Zufall formt auch in dieser Geschichte für die Distanz zwischen dem Leser und dem Werk. Es ist zum Beispiel zufällig, dass Gastmann mit einem anderen Mord assoziiert wird. Man könnte die Krankheit Bärlachs auch als einen Zufall lesen. In Kapitel 2 dieser Arbeit wurde auch gesagt, dass Distanz kreiert wird durch Humor in einer Geschichte. Für diesen

Kriminalroman könnte man das vor allem als ironischer Humor verstehen, da Dürrenmatt mehr oder wenig kritisch mit dem klassischen Kriminalroman umgeht.78 Die

schlimmstmögliche Wendung könnte man hier auf verschiedenen Arten auffassen. Erstens geschieht sie bei Gastmann: er ging planmäßig an dem Mord auf den Kaufmann vor, denn er hatte das alles auf so eine Weise geplant, dass er nicht verurteilt wird. Sein Plan scheitert aber, denn durch die zufällige Verbindung zwischen ihm und dem Mord auf Schmied wird er trotzdem noch verurteilt, und die Verurteilung ist in schlimmster Art: er wird ermordet mit seinen zwei Handlänger. Die schlimmstmögliche Wendung tritt auch bei Bärlach ein: wegen seiner Mitschuld an dem Mord auf den Kaufmann wird er zu einer schlimmen Krankheit ‚verurteilt‘ und soll operiert werden. Letztendlich tritt die schlimmstmögliche Wendung bei dem Kriminalbeamte Tschanz ein. Nach den Morden auf Schmied und später auf Gastmann und dessen Handlänger wird er von einem Zug gegriffen.

Hier oben wird gesprochen über mehrere schlimmstmöglichen Wendungen.

Dürrenmatt sprach in seiner Dramentheorie nur über eine schlimmstmögliche Wendung, aber hierbei ist es natürlich einfach die Frage, wie man die Wendung(en) hier auffasst. Denn

76 Ebd. S. 296. 77 Ebd. S. 296.

78 Auf welche Weise Dürrenmatt ‚kritisch‘ umgeht mit dem klassischen Kriminalroman, wird in dem nächsten Abschnitt auch noch erläutert.

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letztendlich geht es um die Wendung in der Geschichte, die nach dem (einen) Zufall eingetreten ist. Die Handlung der Geschichte hat sich gewendet, und das lässt sich auf verschiedenen Weisen zeigen. Diese verschiedenen Weisen sind also hier oben als mehrere Wendungen besprochen.

In dem nächsten Abschnitt wird zuerst untersucht, wie das Thema der Gerechtigkeit behandelt wird in dem Versprechen. Dann wird, genauso wie oben, untersucht wie Das Versprechen in Verbindung steht zu Dürrenmatts Dramentheorie.

3.2.2. Das Versprechen.

Ein anderes Beispiel formt das Werk Das Versprechen. Requiem auf den

Kriminalroman (1958). Auch dieses Werk ist ein Kriminalroman mit der Gerechtigkeit als eine der wichtigsten Themen in der Geschichte. Der Roman fängt an und schließt ab mit einer Rahmenerzählung, worin Dr. H., Chef der Kantonpolizei in Zürich, eine Geschichte erzählt an der Ich-Person über Kommissar Matthäi. Diese Geschichte formt die Binnenerzählung. Kommissar Matthäi soll einen Mord eines jungen Mädchens, namens Gritli Moser, untersuchen. Ihre traurige Mutter, Frau Moser, fleht ihn an den Mörder zu finden, und Kommissar Matthäi verspricht es ihr (Einfall). Das ermordete Mädchen wurde von dem Hausierer, Von Gunten, gefunden. Er ist fast sofort Verdacht, und nicht nur von dem Mord auf Gritli Moser, sondern auch von den Morden auf zwei andere Mädchen, die nicht lange davor auf der gleichen Weise ermordet wurden. In einem Verhör, der 20 Stunden gedauert hat, gesteht Von Gunten die drei Morden. Er erhängt sich an dem nächsten Tag in seiner Zelle.

Kommissar Matthäi glaubt aber nicht an seine Schuld, und damit wird er auch Recht haben. Er denkt aber an das Versprechen, das er die Mutter gemacht hat. Obwohl sie sich schon bei ihm bedankt hatte, kann er nicht mit der Idee umgehen, dass er sein Versprechen nicht einhalten kann. Mittels Zeichnungen von dem Mörder, die Gritli Moser gezeichnet hatte von ihm vor ihren Tod, kommt er den Mörder auf dem Spur. Er benutzt Annemarie, ein anderes Mädchen als Köder um den Mörder in die Falle gehen zu lassen. Später in der Geschichte kommt es ans Licht, dass die Falle ihre beabsichtigte Wirkung hatte, aber dass durch Zufall der Mörder auf dem Weg zu der Falle einen Autounfall hatte und dort gestorben ist. Kommissar Matthäi wartet mit dem Mädchen und ihrer Mutter Jahrelang auf den Mörder, aber leider umsonst.

Eines Tages wird Dr. H. zu dem Sterbebett gerufen von einer Frau. Sie erzählt ihm, dass ihr Mann, Albertchen, die drei Morden begangen hat, und auf dem Weg zum vierten

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Mord, den er auf Annemarie geplant hatte, starb in einem Autounfall. Dr. H. macht sich auf dem Weg, diese Geschichte dem Kommissar Matthäi zu erzählen, aber er ist inzwischen wahnsinnig geworden… Das schlimmste, das einen Kommissar geschehen könnte.

Man liest in diesem Werk Dürrenmatts, dass der Plan von dem Kommissar Matthäi seine schlimmstmögliche Wendung genommen hatte. Deutlich ist, dass der Zufall als Richter fungierte indem es für einen Autounfall sorgte, worin Albertchen starb. Eine schlimme Strafe ist ihm zugekommen. Aber dieser Zufall/Autounfall ist auch dasjenige, das letztendlich Kommissar Matthäi wahnsinnig macht. Wieso fungiert bei ihm der Zufall als Richter? Hierfür gibt es zwei Gründe. Erstens ist er mitschuldig an dem Tod Von Guntens. Wenn er früher etwas mit seinem Vorgefühl, dass Von Gunten unschuldig sei, gemacht hatte, dann hätte Von Gunten wahrscheinlich nie Selbstmord begangen. Daran vorangehend hatte er natürlich nie der Mutter von Gritli Moser versprechen sollen, dass er den Mörder finden wurde: das konnte er gar nicht wissen, ob er den finden würde! Dazu ist die Frage, ob es ethisch verantwortet sei, ein junges Mädchen als Köder zu benutzen (oder hierfür zu missbrauchen), sehr diskutabel.

Wenn in der klassischen Detektivgeschichte das Verbrechen durch rationale Analyse, durch eine schlüssige Verknüpfung der Fakten und Indizien aufgeklärt wird, so macht Dürrenmatt hier geltend, daß die Wirklichkeit letztlich undurchdringlich bleibt und daß ein banaler Zufall auch die schärfste Berechnung durchkreuzen kann. Die Erfahrung der Wirklichkeit in der Moderne sei die der Kontingenz, der Zufälligkeit, der Irrationalität der Ereignisse, weshalb das alte Schema der Gattung Detektivroman als überholt, als unzeitgemäß und falsch gelten müsse.79

Jacobs liest hier den Detektivroman von Dürrenmatt fast als eine Kritik an den klassischen Detektivromanen, worin alle Pläne genauso liefen, wie sie laufen sollten. Das wichtigste aber ist, und was dieses Werk auch intendiert, ist, dass man – vor allem wenn man so plangemäß an etwas vorgeht – ahnen soll, dass es immer etwas geschehen könnte, wodurch ein Plan scheitern könnte. Man soll sich hier auch die Verbindung zwischen Matthäis Plan und dem 8. Punkt aus dem Anhang der Physiker merken: „Je planmäßiger die Menschen vorgehen, desto wirksamer vermag sie der Zufall zu treffen.“80 Deswegen musste der Plan von dem

Kommissar Matthäi auch scheitern: er ging so plangemäß vor, dass der Zufall ihn eigentlich treffen musste. Sein Scheitern liegt also indem er wahnsinnig wurde und zu tun hatte mit schlimmer Realitätsverlust: das schlimmste, das einen Kriminalist passieren konnte. Im Hinblick auf das Thema der Gerechtigkeit, intendiert dieses Werk darauf, dass die Justiz keine reine Wissenschaft sei, genauso wie Dürrenmatt schon behauptete, dass die Politik keine reine Wissenschaft sei. Und dies drückt auch Jacobs richtig aus:

79 Ebd. S. 298.

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Das Buch ist nicht nur ein „Requiem auf den Kriminalroman“, dessen Prämissen es in Frage stellt, sondern es macht auch deutlich, daß der Aufklärung von Verbrechen Grenzen gesetzt sind und die Herstellung von Gerechtigkeit unter den Bedingungen einer inkalkulablen Wirklichkeit eine p r e k ä r e Angelegenheit bleibt.81

3.2.2.1. Verbindung Das Versprechen und Dürrenmatts Dramentheorie.

Erstens soll man auch bei dieser Geschichte sich wieder merken, dass die Geschichte als ganzen einen Einfall des Autors ist. Die anderen Einfälle finden wieder in der Geschichte selber statt. Diesmal befindet sich der wichtigste Einfall in der Binnenerzählung, nämlich als Kommissar Matthäi die Mutter von dem ermordeten Mädchen Gritli Moser verspricht, dass er den Mörder finden wird. Der Zufall in dieser Geschichte ist der Autounfall, den Albertchen bekommt als er auf dem Weg ist um das Mädchen Annemarie, das Matthäi benutzt als Köder für seinen Plan, zu ermorden. Durch diesen Zufall tritt in der Handlung die

schlimmstmögliche Wendung ein. Die Wendung bedeutet für Matthäi, dass er wahnsinnig wird und zu tun hat mit großer Realitätsverlust. Es ist logisch, dass ihm den Zufall so schlimm trifft, denn er arbeitete sehr planmäßig. Wenn man die Geschichte aus der Perspektive von Albertchen liest, sieht man, dass der Zufall sich schon eher zeigte. Er wollte noch ein Mädchen ermorden, und auf einmal war da das Mädchen Annemarie! Er dachte sich dann einen Plan aus, aber da er so planmäßig arbeitetet, trifft auch ihm der Zufall sehr schlimm: er bekommt einen Autounfall und stirbt.

Man sieht hier, genauso wie in Der Richter und sein Henker, dass die Geschichten durch ihre Zufälligkeiten grotesk sind. Durch diesen Zufälligkeiten entsteht eine Distanz zwischen den Lesern und den Werken. Die ‚Humor‘, wodurch auch Distanz kreiert wird, liegt in der ironischen Vorgehensweise von Dürrenmatt, mit welcher er mit dem klassischen Kriminalromanen umgeht. Man soll sich merken, dass obwohl die Zufälligkeiten grotesk sind, sie nicht absurd sind. Dass in Der Richter und sein Henker Tschanz genau Gastmann in Verbindung brachte mit dem Mord ist zwar grotesk, aber nicht absurd! Denn Tschanz wusste nicht, dass Gastmann einen anderen Mord vorher schon begangen hatte – aber er hätte dies vielleicht schon ahnen können, da Gastmann ein erfolgreicher Verbrecher ist. In Das

Versprechen ist ein Autounfall auch zufällig, dass es genau Albertchen passieren musste, ist vielleicht grotesk, aber auch nicht absurd, denn – so einfach wie es sein kann – Autounfälle passieren nun eben. Dürrenmatt setzt in beiden oben behandelten Geschichten seine

Dramentheorie deutlich um in die Praxis.

3.2.3. Gerechte Ungerechtigkeit und ungerechte Gerechtigkeit. 81 Jacobs. S. 298.

(29)

Nach der genauen Betrachtung der beiden Werken, die hier oben besprochen wurde, wurde es deutlich, dass die Sache der Gerechtigkeit prekär ist. In Der Richter und sein Henker stellte sich heraus, dass die Justiz nicht immer für Gerechtigkeit sorgen kann, und dass es deswegen eine Fehlkonstruktion ist. Bärlachs ‚Rache‘ auf Gastmann war in diesem Roman einigermaßen schon gerecht, aber die Weise, worauf er für Gerechtigkeit sorgte, war ungerecht. Man könnte also sagen, dass es in dieser Handlung um eine gerechte

Ungerechtigkeit ging. In dem Versprechen las man, dass die Bauern aus dem Dorf unbedingt Gerechtigkeit wollten: „Eine dumpfe Wut, die keinen Plan hatte, rottete die Bauern

zusammen. Sie wollten Rache, Gerechtigkeit.“82 Die Gerechtigkeit kam dann auch, sie war aber ungerecht, da sie nicht auf den richtigen Mann ihre Auswirkung hatte. Hier ging es also um eine ungerechte Gerechtigkeit. Hier gelang es Kommissar Matthäi aber schon, die „erregte Menge von einer Lynchjustiz abzuhalten.“83 Denn obwohl sie nicht den Mörder gefunden haben, haben die Bauer wegen des juridischen Verfahrens nicht die Möglichkeit eigenmächtig zu handeln. Obwohl Dürrenmatt in seinem Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht und in seinen Romanen viel Kritik äußert gegen die staatliche Justiz und ihre Vertreter, ist er schon der Meinung, dass sie „eine unentbehrliche Funktion“84 hat:

Auf unsere Frage nach einer gerechten Gesellschaftsordnung bezogen:

Gesellschaftsordnungen sind nicht nur hinsichtlich der Gerechtigkeit, sondern auch hinsichtlich der Freiheit auf Grund ihrer Emotionen an sich Fehlkonstruktionen, oder, anders formuliert, Gesellschaftsordnungen sind ungerechte und unfreie Ordnungen, die wir errichten m ü s s e n , um überhaupt Ordnungen zu haben, weil wir zu einer rein vernünftigen Politik durch die W i d e r s p r ü c h l i c h k e i t der menschlichen Natur nicht fähig sind.85

Mit der Widersprüchlichkeit der menschlichen Natur deutet Dürrenmatt also hin auf die zwei Begriffe der Mensch, der allgemeine und der besondere Begriff des Menschen. Da wir alle aber eine widersprüchliche Natur in uns haben, brauchen wir also Gesellschaftsordnungen. Diese Gesellschaftsordnungen, wie sie auch ist – kapitalistisch oder kommunistisch – sind dann wieder wegen der Widersprüchlichkeit unserer Natur ungerecht. Man wird aber nie aus diesem Kreis loskommen:

Es gibt keine gerechte Gesellschaftsordnung, weil der Mensch, sucht er Gerechtigkeit, mit Recht jede Gesellschaftsordnung als ungerecht, und sucht er Freiheit, mit Recht jede Gesellschaftsordnung als unfrei empfinden muß.86

82 Das Versprechen. S. 80. 83 Jacobs. S 316.

84 Ebd. S. 316.

85 Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht. S. 87f. 86 Ebd. S. 88.

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