Pluralität der Meinungen und Gottesidee.
Religiöse Motivierung der Äusserungsfreiheit in
Spinozas Theologisch-politischem Traktat
Sneller, H.W.
Citation
Sneller, H. W. (2005). Pluralität der Meinungen und
Gottesidee. Religiöse Motivierung der Äusserungsfreiheit in
Spinozas Theologisch-politischem Traktat. In In Pluralism in
Europe? / Pluralismus in Europa? (pp. 68-79). Ljubljana,
Slovenien, Erlangen,Nürnberg: Societas Ethica. Retrieved
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SOCIETAS ETHICA
European society for research in ethics
Europäische Forschungsgesellschaft für Ethik
Société européenne de recherche en éthique
PLURALISM IN EUROPE?
PLURALISMUS IN EUROPA?
JAHRESBERICHT/ANNUAL REPORT
4l. JAHRESTAGUNG IN LJUBLJANA, SLOWENIEN
25.-29. AUGUST 2004
Herausgebcr/Publisher: Societas Ethica Europäische Forschungsgesellschaft für Ethik European Society for Research in Ethics Société européenne en éthique
ISSN: 1814-8204
Präsidium 2003-2007Praeses: Prof. Dr. Hans G. Ulrich Vicarius: Prof. Dr. Jean Hugues Poltier Scriba: Dr. Stefan Heuser
Quaestor: Günther Barth
Universität Erlangen-Nürnberg
Institut für Systematische Theologie/Ethik Kochstr. 6 D-91054 Erlangen Tel. 09131/8522187 Fax. 09131/8526020 E-mail: societas@theologie.uni-erlangen.de Website: www.societasethica.info Bank
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BIG: BYLADEM1ERH; IBAN DE54 7635 0000 0000 0190 08
Copyright: Societas Ethica
Inhalt
Inhalt
Inhalt 3
Programm der Jahrestagung 2004 in Ljubljana 7
Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Jahrestagung 2004 13
1. Vierzig Jahre Societas Ethica 16
Hans G. Ulrich: Introduction 16 Martin Honecker: Societas Ethica - political 17 Robert Heeger: Societas Ethica — interdisciplinary 23 Alberto Bondolfi: Societas Ethica — european 28 Svend Andersen: Societas Ethica - international 32 Hans G. Ulrich: Societas Ethica - ethical 36
2. Pluralism in Europe? 38
Edvard Kovac: Ethics and Moral Plurality 38
2.1 Pluralism in Europe: One Law? 44
Bojko Bucar: Issues on the Rule of Law within and outside the European Union 44
Norbert Campagna: Der ethische Pluralismus als Herausforderung für die Erziehung der europäischen Jugend 55
Nigel Biggar: Can Europe recognise Nails? 63 H.W. Sneller: Pluralität der Meinungen und Gottesidee. Religiöse Motivierung der Ausserungsfreiheit in Spinozas
Theologisch-politischem Traktat 68 Wahé H. Balekjian: The Promotion and Protection of Pluralism in the Enlarged European Union 80
Lovro Sturm: Sociocultural and Ethical Prerequisites of a Free Democratic Society 82
Peter Rijpkema: Can >One European Law< Be Based on Shared Legal Convictions? 86
Anton Vedder: The legitimacy of non state actors'interference in international politics and the practical moral need for moral
universalism 97 Hans Joachim Turk: Universalismus und Partikularismus. Politische, kulturelle und ethische Di- und Konvergenzen 108
Jan Jans: Beneath the Headscarf. Human Rights versus Religious Pluralism? 117
Inhall
Pieu Ocoleanu: Europa als Patria. Zur näheren Bestimmung eines kritischen Konzeptes des Politischen 137
Markus Babo: Das vereinigte Europa und die Flüchtlinge 156 Stefan Heuser: Vom Verwalten zum Handeln. Ethische Impulse zur Wiedergewinnung des Politischen 173
Anne Mette Fruelund Andersen: Pluralism and the Prospects for a Common Morality 182
2.2 Pluralism in Europe: One Market? 197
Paul Dembinski: Background considerations for the theme »The level playing field principle and pluralism in economic life«. Can very big enterprises help bridging the gap? Facts and challenges 197
Gerhard Kruip: Erfordert die ökonomische Integration Europas eine Übereinstimmung von Gerechtigkeitsvorstellungen? Das Beispiel sozialer Gerechtigkeit 206
Gotlind Ulshöfer: Corporate Social Responsibility (CSR) in the context of the European Union - Is an Ethics of Responsibility adequate? 224
Volken Beekman and Frans W.A. Brom: Corporate social responsibility in a pluralist market. The European food market as an example 236
Alexander Brink und Johannes Eurich: Pluralismus als
Herausforderung der Ökonomie. Überlegungen zum Ausgleich pluraler Stakeholderansprüche durch normatives Stakeholdermanagement... 243
2.3 Pluralism in Europe: One Culture? 262
Bojan Zalec: Cultural Dimensions of European Unity 262 Christof Mandry: Wertegemeinschaft Europa? Überlegungen zu Möglichkeiten und Grenzen eines christlichen Beitrags 282
Eric Ettema: The need for new languages. Changing F-uropean culture and the development of intervention strategies on suffering from loneliness in relation to end of life situations 284
Angela Roothaan: Personal Identity and the Question of
Culture 297 Donald Ix>ose: Intercultural Universalism. A Reconsideration of Edmund Husserl's Idea of Europe 309
Susan Frank Parsons: >The Need in the Question of Pluralisms 324 Peter Dabrock: Zwischen kultureller Praxis und transpartikularer Geltung. Der Beitrag religiöser Ethiken bei der Gestaltung eines vernünftigen und doch bindungsfähigen Pluralismus 333
Tim Heysse: Ethics, objectivity and history. A study of Bernard Williams's relativism 335
Inhalt
Margot Lunnon: Stories Saints and Ethics 362 Ulla Schmidt: Church and common values 372
3. Projektvorstellungen 390
Mette Ebbesen: Narrowing the Gap between Principles and Practice in Bioethics 390
Mihai-D. Grigore: Die Ehre und die Gesellschaft. Der mentale Umbruch in den Gottesfriedenbewegungen des 9.-l l.
Jahrhunderts 412 Stefan Streiff: Kirchenfinanzen in der pluralistischen Gesellschaft. Die finanziellen Grundlagen der reformierten Kirchen in der Schweiz und ihre Problematik 415
68 2.1 Pluralism in Europe: One Law?
H. W. Sneller:
Pluralität der Meinungen und Gottesidee.
Religiöse Motivierung der Ausserungsfreiheit in Spinozas
Theologisch-politischem Traktat
Gestehen wir es offen: eine richtige Pluralität der Meinungen, Ansichten und Blickwinkel hinzunehmen wäre doch eigentlich etwas recht Unerträgliches. Man nähme sich selbst, seine eigene Überzeugungen, nicht einmal mehr ernst. Und dennoch haben wir keine Wahl, so kommt es mir wenigstens vor. Unsere heutigen europäischen Demokratien scheinen eine nicht hintergehbare, letztendliche Pluralität sogar vorauszusetzen. Und dies nicht nur innerhalb, sondern heutzutage auch ausserhalb des Staates, in den >vereinigten Staaten< der europäischen Union. Dass die Pluralität sich hier wie dort als nicht hintergehbar erweist, zeigt sich, im Falle Europas, daran, dass jeder Hinweis auf eine zusammenbindende Gottesidee in der neueren europäischen Gesamtverfassung gänzlich hinterlassen wird.
Aber was macht Pluralität für uns denn so unerträglich, gesetzt natürlich, wir seien bereit, dies zuzugeben? Wäre vielleicht diese Unerträglichkeit des Pluralismus selbst der Beweis der tatsächliche Hintergehbarkeit, der Nicht-letztendlichkeit der Pluralität? Stellte der Anspruch auf Wahrheit jeglichen Meinens, jeglicher Meinung, nicht in sich selbst schon die Unglaubwürdigkeit einer nicht weiter ableitbaren, letztlichen Pluralität dar? Wie könnte die Pluralität sich selbst akzeptieren, wenn sie nicht von einem einheitlichen Gedanken geleitet würde? Wäre die Verteidigung des Vielen nicht widersprüchlich, wenn sie sich nicht auf eine Idee oder auf eine Wert beriefe? Ich meine, die Wert der Würde der Freiheit, oder die Wert der Individualität oder der Eigenheit. Diese Werte werden verletzt von denjenigen, die ihnen einen Strick daraus drehen, z.B. von denjenigen, die, unter Berufung auf Gewissens- oder Religionsfreiheit, die Freiheit anderer beeinträchtigen wollen. Wir pflegen diesen Strick >Intoleranz< zu nennen. Wir begegnen diesem Strick nicht nur in Moscheen und Kirchen, sondern auch in der Presse, unter Journalisten und Meinungsführern. Das wissen wir alle.
H.W. Sneller: 69 Pluralität der Meinungen und Gortcsidcc.
Gewissensfreiheit für alle Bürger eines demokratischen Staates. Ich bin der Meinung, dass Spinoza uns helfen kann, den Zugang zu den Quellen und zu den grundlegenden Ideen unserer modernen demokratischen Staatsverfassungen zurückzufinden, jetzt, da sie in die Krise geraten sind. Ich meine die Krise, zum einen, eines abnehmenden politischen Bewusstseins, eines moralischen Emotivismus, und einer uninteressierten Spiessbürgerlichkeit vieler europäischer Insassen unserer Nachkriegszeit; und, zum anderen, die Krise der fortwährenden Ausforderungen des islamischen Internationalterrorismus, der es sich verweigert, die Errungenschaften und die tragenden Ideen der abendländischen Kultur und Zivilisation, anzuerkennen. Ich möchte erstens kurz eingehen auf den paradoxen Charakter unserer heutigen Würdigung der Pluralität. Sodann werde ich mich etwas ausführlicher beschäftigen mit Spinoza. Erstens mit dem Massstab, den Spinoza für die von ihm hochgehaltene Äusserungsfreiheit anlegt; denn diese Freiheit ist nach Spinoza niemals eine unbedingte. Danach werde ich seine positive Begründung der Äusserungsfreiheit besprechen. Diese ist eine dreifache. Schliesslich werde ich versuchen, die Beziehung der Meinungsfreiheit zur Gottesidee Spinozas auszuarbeiten. Wenn diese, wie ich zu zeigen beanspruche, eine enge wäre, so hätte der europäische Konvent zur Vorbereitung einer Gesamtverfassung unrecht, wenn er den Verweis auf Gott unterlassen hat.
Es wird ihr, nebenbei gesagt, wohl aufgefallen sein, dass ich den Pluralismus der Gewissens- und Äusserungsfreiheit gleichgesetzt habe. Dies leuchtet bei näherer Betrachtung ein. Denn, wenn im Titel dieser Konferenz von >Pluralismus in Europa< die Rede ist, so handelt es sich, meiner Meinung nach, um das Recht auf Existenz des Vielen, der Ausnahme und der Abweichung. In der Pluralismusfrage handelt es sich um das Problem der Toleranz, also um Gewissensfreiheit: Gewissensfreiheit von einzelnen, von Gruppen, Religionen, Minderheiten usw. Daher meine Zentralstellung von Spinozas Theologisch-politischem Traktat.
Paradox der Pluralität
70 2.1 Pluralism in Europe: One Law?
auszuschliessen scheint, soll abgelehnt werden<. Die extrem aufgefasste Toleranzforderung bringt mit sich, dass es einem fast untersagt wird, selbst etwas zu denken oder selbst über besondere Wertauffassungen oder Gedanken zu verfugen.' Omnis determinatio est negatio: meine Überzeugung schliesst, genau genommen, jegliche gegensätzliche Überzeugung aus. Die extreme Toleranzforderung scheint von mir zu verlangen, dass ich niemals auf meine Ansichten beharre. Aber, da selbst die am vorsichtigsten geäusserten Meinungen, welche am meisten diejenige anderer zu schonen bereit sind, diese noch immer, sei es nur im geringsten Masse, abweisen, kann man wohl sagen, das die extreme Toleranz letztendlich nur noch sich selbst verträgt. Das Aufleuchten dieser Paradoxie hat im Westen vor allem die sogenannte progressive«, traditionellerweise sehr »tolerante«, Politik in eine Identitätkrise versetzt. Denn, indem Links gestern noch bereit war, jedweder kulturellen oder religiösen Eigenart ihre moralische Wertungen und Betrachtungen zu gestatten, so ist es neuerdings hart aus diesem schönen Traum wachgerüttelt: al-Qaeda und Frauenbeschneidung können doch ganz schwierig als interessante kulturelle >Interpretationsformen<, oder als inhaltsreiche >Kontingenzbewältigungspraxis< betrachtet werden. Der Toleranzdiskurs sieht sich demnach gezwungen, sich auf seine Wurzeln zu besinnen, auf Spinoza also.
Maßstäbe der Äusserungsfreiheit
Denn Spinoza hatte, in einer Zeit in der nicht die Toleranz sondern die Intoleranz vorwiegend war, sein Toleranzideal immer an strenge Bedingungen geknüpft. Er war darum bemüht, die Freiheit des Philosophierens der Einmischung allzu zänkischer Pfarrer zu entreissen. Die kalvinistischen Pfarrer aus den Niederlanden waren manchmal ganz erfolgreich in ihrem Bestreben, die Behörden für sich und für ihre strenge Bekenntnisse einzunehmen. Der Tod des verträglichen Ratspensionärs Johan de Wit, 1672, vergrösserte ihren Einfluss auf die Obrigkeiten. Spinozas Traktat war vor zwei Jahren, 1670, veröffentlicht, und der unvorstellbar feindliche Empfang der schon dieser Abhandlung zuteil wurde, versprach nichts Gutes für Spinozas viel radikalere Ethik.
H.W. Sneller: 71 Pluralität der Meinungen und Gottcsidcc.
Aber dieser historische Hintergrund von Spinozas Befürwortung der Äusserungsfreiheit, also des guten Rechtes auf Pluralität, macht bei weitem nicht seine Begründung aus. Man kann nicht einmal sagen, dass dieser Hintergrund die von Spinoza angelegten Maßstäbe und Bedingungen der Toleranz ausreichend erklärt. Natürlich war Spinoza darum bestrebt, sich nicht dem Verdacht auszusetzen, er plädiere für Anarchie und bürgerliche Ungehorsam. Aber er möchte ebensosehr dem öffentlichen Treiben und der Anmache der religiösen Schwarmgeister ein Ende setzen. Denn er fürchtete, religiöser Einfluss auf die summae potestates, auf die staatlichen Gewalten, ergebe immer Unruhe und Instabilität. Darum sollte den staatlichen Gewalten am Ende die Entscheidungsberechtigung zukommen. Der Titel des vorletzten Kapitels des Traktates lautet demnach: »Es wird gezeigt, dass das Recht in geistlichen Dingen völlig den höchsten Gewalten zusteht und dass der äussere religiöse Kult der Erhaltung des Friedens im Staat entsprechen muss, wenn man Gott in rechter Weise gehorchen will.« Dies ist noch nicht alles. Spinoza fasst die Regierungsgewalt als Statthalter Gottes auf. »[D]ie Religion (erlangt) Rechtskraft nur durch den Beschluss derer, denen das Recht zu befehlen zusteht, und dass Gott kein besonderes Reich unter den Menschen hat, es sei denn durch die Inhaber der Regierungsgewalt, und ferner, dass der religiöse Kult und die Ausübung der Frömmigkeit sich nach dem Frieden und dem Nutzen des Staates richten und demgemäss auch nur von den höchsten Gewalten bestimmt werden müssen, die deshalb auch ihre Ausleger sein müssen.«
Das Recht Gottes (ius divinum), das auf der Offenbarung Gottes an den Propheten beruht, ist erst be rechtigt, wenn es von den Gewalten als berechtigt gesetzt wird, wenn es, wie man wohl sagt, Gesetzeskraft« bekommt. Das Gottesrecht soll erst für rechtskräftig erklärt werden. Ohne die rechtsetzende Gewalt der Obrigkeiten kommt dem geoffenbarten Recht Gottes keine entscheidende Bedeutung zu. Die Bestimmungen der Obrigkeiten stehen
Sl'INOZA. Opera - Werke, lateinisch und Deutsch. Hsg. Günther GAWLICK und F. NirWOHNER. Erster Band. Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgeselischaft, 1976. Lateinisch: »Ostenditur jus circa sacra penes summas potestates omnino esse, et religionis culrum externum reipublicae paci accommodari debere, si recte Deo obtemperare velimus.«
72 2.1 Pluralism in Europe: One Law?
demnach, wenigstens in der bürgerlichen Gesellschaft, zwischen Gott und den Menschen hinein. Religionstreiber haben den Obrigkeiten unbedingt zu gehorchen, eben in der Ausstattung ihrer öffentlichen Gottesdienste und Zeremonien. Was soll also, Spinoza zufolge, als Grundbedingung der Äusserungsfreiheit gelten? Sie soll niemals zu bürgerlicher Ungehorsam, zu
Unruhe oder Aufruhr anstiften.
»Aber ebenso leicht vermögen wir daraus zu bestimmen, welche Meinungen im Staat aufrührerisch sind. Es sind diejenigen, mit deren Aufstellung der Vertrag hinfällig wird, nach dem sich jeder seines Rechts, nach eignem Gutdünken zu handeln, begeben hat.« Aufruhr umfasst jegliches Verhalten, das, obwohl es vielleicht an sich schon berechtigt sein möge, vertragsbrüchig wird. Versprechen muss man halten, und das wichtigste Versprechen, das des gesellschaftlichen Vertrages, verpflichtet am meisten. Man sollte also nach Spinoza das Recht haben, sich frei zu äussern und zu sagen, was man will, ohne dass die Äusserungen sich verfestigen in ruhezerstörenden Handlungen. Die Freiheit trifft zu auf dasjenige was an sich immer schon frei ist, nämlich den menschlichen Geist. Agitation und Aufhetzung können schwierig als direkte Äusserungen des Geistes betrachtet werden; vielmehr sind es Äusserungen des Körpers und ihrer Affekte, so scheint es wenigstens.
Begründung der Äusserungsfreiheit
Die Meinungsäusserungsfreiheit wird also begrenzt von Forderungen auf gesellschaftliche Ruhe und auf das gemeine Wohl. Aber Spinoza ist davon überzeugt, dass eine Pluralität der Meinungen an sich, wenn sie nicht zu Ungehorsam anstiftet, nicht immer gesellschaftsschädlich zu sein braucht. Im Gegenteil, sie sei der Gesellschaft sehr förderlich. Welche Gründe hat Spinoza,
»At ex iis non minus facile déterminait possumus, quaenam opiniones in republica seditiosae sint; eae nimirum, quae simulac ponuntur, pactum. quo unusquisque jure agendi ex proptio suo arbitrio cessit, tollitur.« Op. cit., S. 608/609.
H.W. Sneller: 73 Pluralität der Meinungen und Gottcsidcc.
die Freiheit der Meinungsäusserung so leidenschaftlich zu verteidigen, wie er dies vor allem im letzten Kapitel seines Traktats tut? Ich denke, man könnte drei wichtige Gründe unterscheiden. Und nebenbei gesagt, diese Gründe haben meiner Meinung nach an Aktualität nichts eingebüsst.
Der erste Grund für Spinozas Verteidigung der Äusserungsfreiheit scheint schon einigermassen auf eine Art >kantische< Gesinnungsethik anzuspielen. Im 7. Kapitel gründet Spinoza die Religion auf Freiheit und Innerlichkeit. Die Religion sei nicht sosehr ausgerichtet auf äusserliche Handlungen, sondern auf »Einfalt und Wahrhaftigkeit der Gesinnung (animi simplicitate et veracitate). Sie schliesst jeden Zwang aus. Jede Handlung religiöser Gehorsam, vorausgesetzt, sie verderbe nicht die ihr vorangehende bürgerliche' Gehorsam, fusst auf einer festen Gesinnung (constantia animi). Das Innere des Herzens ist den öffentlichen Gewalten unerreichbar und unnahbar, denn es ist wesentlich frei. Zwangshandlungen dagegen, die aus Furcht vor Strafe entspringen, kann man »gute oder >gehorsam< nennen, rechtfertig sind sie nicht. Wirklich gute oder gerechte Handlungen sind diejenige, welche aus einem festen Gemüt hervorgehen. Mein Wille, jedem das seinige zuzuerteilen, sollte ein beständiger sein, und nicht von blossen Äusserlichkeiten veranlasst.'2 Dieser erste von Spinoza dargelegte Grund der Äusserungsfreiheit kommt also darauf hinaus, dass das Gemüt oder das Innere eines jeden rein »moralisch« motiviert sein sollte. Dieses rein Moralische zu erwerben kann man selbstverständlich niemals als Aufgabe an den Bürgern vorschreiben, man kann dazu nur einladen und es staatlich ermöglichen. »Der Zweck des Staates ist wahrlich die Freiheit«.
Der zweite Grund der Meinungsäusserungsfreiheit ist die Rückseite des ersten. Die Behörden sollten nicht nur das rein moralische der Handlungen
»Nam quandoquidem ipsa (religie-I non tam in actionibus externis, quam in animi simplicitate et veracitate consistit. nullius Juris neque authuritatis publicae est. Animi enim simplicitas et veracitas non imperio legum neque authoritate publica hominibus infundirur, et absolute nemo vi auf legibus potest cogi, ut fiat beatus. [...] Cum igitur summum jus libère sentiendi. etiam de religione, penes unumquemque sir, nee possit concipi aliquem hoc jure decedcre posse, erit ergo eriam penes unumquemque summum jus summaque authoritas de religione libère judicandi, et consequenter eandem sibi explicandi er inrerprerandi.« SPINOZA, op. cir., S. 274.
»At is qui unicuique suum tribuir, ex eo quod verarn legum rationem er earum necessitarem novit, is animo constant! agit et ex proprio, non vero alieno decreto, adeoque Justus merito vocatur. [...] justitia enim, ut communirer definitur, est consrans et perpétua voluntas jus suum cuique tribuendi«. Op. cit., S. 136.
74 2.1 Pluralism in Europe: One Law?
fördern, sie sollten Heuchelei und Unwahrhaftigkeit möglichst viel zu verhüten versuchen. Denn wenn die Leuten sich daran gewöhnen, immer etwas anderes zu sagen als was sie tatsächlich denken, gestaltet man sie auf die Dauer um zu Heuchlern und Hypokriten. Man kann sich fragen, ob die anonymen Opinionsführer von heute, die darum bestrebt sind, dem öffentlichen Gespräch strenge Grenzen zu setzen, etwas anderes tun als die religiösen Gewalten aus Spinozas Zeit. Denn wenn wir davon ausgehen dürfen, dass richtige Denk- und Äusserungsfreiheit etwas individuelles ist, das jedesmal erworben, und dem >Man< — im Sinne Heideggers — entzogen werden muss, dann wäre der rein moralische Gehalt unserer heutigen Gemüte etwas ganz schwankendes und unsicheres. Man kann sich eben fragen, ob wir, falls wir anders reden als denken, eigentlich wohl wissen, was wir denken würden ohne den Einfluss des öffentlichen Geredens. Erst der dritte Grund der Äusserungsfreiheit bei Spinoza ist ein positiver: Äusserungsfreiheit kommt dem Gemeinwohl zum Guten. Vorausgesetzt, dass die Gesprächsvorstösse der denkenden Gemeinschaft auf dieses Gemeinwohl abzielen, so können sie doch wohl kaum vom Staat als schädlich empfunden werden. Den staatlichen Gewalten sollte, Spinoza zufolge, das Letzturteil zukommen; aber sie würden ihrer eigenen Landesverwaltung sehr beeinträchtigen, falls sie jeden wohl gemeinten Rat und jede kritische Empfehlung im Keim ersticken würden.
Zusammenfassend: die Meinungsäusserungsfreiheit, insoweit sie wenigstens keinen Aufruhr stiftet, soll zugelassen werden, da 1) nur das Handeln aus freien Stücken als moralisch betrachtet werden kann, 2) Unfreiheit Hypokrisie und Heuchelei erweckt, und 3) dem Gemeinwohl mit den kritischen Beurteilungen und wohlgemeinten Ratschläge sehr gedient sein könnte.
»Atque adeo necessano sequcretur ut hommes quotidie aliud sentirent, aliud loquerentur. et consequenter ut fides, in republica apprime necessaria, corrumperetur et abominanda adulatio et perfidia foverentur, unde doli et omnium bonarum artiuni corruptio.« Op. cit., S. 610.
H.W. Sneller: 75 Pluralität der Meinungen und Gottesidce.
Gotresidee
Ich komme jetzt zum letzten Teil meines Vortrags. Was hat die Äusserungsfreiheit mit Religion zu tun, sei es auch >Religion< im spinozistischen Sinne? Religion, nach Spinoza, ist aufzufassen als >Einfalt und Wahthaftigkeit der Gesinnungi (animi simplicitate et veracitate). Das ist schon eine ziemlich eigensinnige, vielleicht jedem nicht ohne weiteres verständliche, Kennzeichnung der Religion. Religiöse Ansichten und Betrachtungen, so Spinoza, seien der staatlichen Machtausübung wesentlich entzogen, da sie sich auf die innere Blickrichtung beziehen. Weil sie ursprünglich und in sich selbst betrachtet frei sind, sollten sie auch behördlicherseits in Ruhe gelassen werden. Aber dennoch, so frage ich, was hat die ursprüngliche Freiheit des Gemüts eigentlich mit Religion zu tun, ganz zu schweigen von Gott? Sollten die spontanen Denkeinfälle vielleicht als göttliche Offenbarungen, oder sogar als religiöse Dogmen betrachtet werden? Ich möchte darauf hinweisen, dass wir bis jetzt noch gar nicht vom wichtigsten Teil des Tractatus theologico-politicus geredet haben. Nicht einmal von seinem Anfang. Die ersten zwei Kapitel des Traktats beziehen sich ausdrücklich auf die Prophétie und auf die Propheten. Und alle folgende Kapitel, bis zum 15., stellen eine ausführliche Erörterung prophetischer Texte und ihrer jeweiligen Wahrheitswert und Zuverlässigkeit dar. Die prophetische Erkenntnisweise, behauptet Spinoza, ist nicht unmittelbar zu verwerfen. Selbstverständlich kann sie keine Vernünftigkeit beanspruchen. Prophetische Offenbarung ist keine Vernunfterkenntnis. Aber sie ist die bildliche Darstellung des Vorstellungsvermögcns (imaginatie). Gott offenbart sich zwar an den Mensch, jedoch nicht an seine Vernunft (wie es Maimonides und Hermann Cohen meinten ), sondern an sein Vorstellungsvermögen. Das Vorstellungsvermögen, nicht die Vernünftigkeit, geschweige denn die unmittelbare Wahrheit, ist, sozusagen, der erkenntnistheoretische >Biotop< des Propheten, beziehungsweise des Gläubigen.
MAIMONIDES, Führer der Unschlüssigen. Hamburg, Felix Meiner Verlag. 1995; H. CoHEN: "Offenbarung ist die Schöpfung der Vernunft«, in Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums. Wiesbaden, Fourier Verlag. 1978 (1919), S. 84.
76 2.1 Pluralism in Europe: One Law?
Die bibelwissenschaftlichen Kapitel eröttetn umständlich die gesellschaftliche Funktion der altisraelitischen Prophetic-, wie auch die Gefahr ihrer Entartung. Ihre Funktion war darin gelegen, dass sie dem Volke göttliche Offenbarungen übermittelte, d.h. die bildliche Darstellung derselben im Bereich ihres prophetischen Vorstellungsvermögens. Ihre Risiken betrafen die von schlechten und verdorbenen Königen veranlasste prophetische Heuchelei und Schmeichelei. »Auch finden wir nicht, dass das Volk je von falschen Propheten getäuscht worden wäre, als bis es die Herrschaft an die Könige abtrat, denen die meisten zu Willen sein wollten.« In der ältesten, vormonarchalen Verwaltung Israels war das Propheten- und Priestertum der staatlichen Gewalt, derjenigen Moses, streng unterordnet. Genau so wie Spinoza es auch für seine eigene Zeit haben möchte: die religiöse Gewalt sollte der staatlichen unterlegen sein. Den Spekulationen des prophetischen Vorstellungsvermögens sollte kein unbedingtes Vertrauen entgegengebracht werden. " Die Obrigkeit entscheidet über die Übernahme oder die Abweisung aller geoffenbarten Inhalten. Wenn wir aber die grossen Gefahren der prophetischen Offenbarungsvermittlung, welche sich auch tatsächlich in der Geschichte ereignet haben, beiseitelegen, und achten auf die Möglichkeit ihrer positiven Bedeutung, so sollten wir nicht die wichtigen Kriterien, die jedem bewährten Propheten gesetzt sind, ausser Acht lassen. Die von Spinoza erschlossenen Kriterien lassen sich kurz zusammenfassen: wahre, >bewährte< Propheten sind den meisten Menschen in Tugend und Rechtschaftenheit weit überlegen. Sie »üben die Frömmigkeit mit ausserordentlicher Seelenstarke (pietatem eximia animi constantia colebant)«. Die sogennanten pseudo-Propheten Israels dagegen, Anzeichen der unverträglichen, zänkischen Pfarrer
»Prophetia sive revelatio est rei alicujus certa cognitio a Deo hominibus revelata. Propheta autem is est, qui Dei revelata us interpreutur, qui rerum a Deo revelatarum certam cognitionem habere nequeunt, quique adeo mera fide res rcvelatas amplecti tantum possum.« Op. cit., S. 30.
»Nee videmus, quod populus ullis falsis prophetis deceptus fuit, nisi postquam impetium regibus cessit, quibus plcrique assentari student.« Op. cit., S.
562/563-»Quam pcrniciosum et religioni et teipublicae sit sacrorum ministtis jus aliquud decretandi vel impefii negotia tractandi concedere. [...] Quam peticulosum sit ad jus divinum referre tes mere speculativas legesque de opinionibus condere, de quihus homines disputare solent vel possunt". Op. cit., S. 562, 564.
H.W. Sneller:
l ' l u i . d u . u der Meinungen und Gottesidec.
des 17. Jahrhunderts, werden von Spinoza getadelt wegen der Unverfrorenheit ihrer unaufhörlichen moralistischen Einmischungen.
Wir wissen heute, dass die Prophetologie schon ein wichtiges Thema bei Maimonides, so wie bei seinen islamischen Zeitgenossen, war. Maimonides, und vor ihm schon Alfarabi und Avicenna, waren darum bemüht, eine Abstufung der prophetischen Offenbarungsempfänglichkeit darzulegen. Propheten sind diejenige, die sich nicht von körperlichen Vergnügen vereinnahmen lassen und die sich einer völligen sittlichen Vervollkommnung gewidmet haben. Diese sittliche Vorbereitung reicht übrigens, weder bei Maimonides noch bei Spinoza, aus, um sich der göttlichen Offenbarung versichern zu können. Sie ist conditio sine qua non. Wichtiger Unterschied zwischen Maimonides und Spinoza ist, dass sich Offenbarung für Spinoza immer an dem Vorstellungsvermögen ereignet, niemals an der Vernunft (wie es Maimonides meinte). Offenbarung Gottes ist für Spinoza imaginatio, menschliche Erfahrung göttlicher, sittlichkeitsfördernder, Vorstellungen. Sie geht auf die kontingente, man könnte sagen, politisch-gesellschaftliche, Wirklichkeit, von der es keine Vernunfterkenntnis gibt noch geben kann.
Meine Hypothese ist, dass Spinozas Verteidigung der Meinungsäusserungsfreiheit mit seiner Offenbarungsauffassung und Prophetologie zu tun hat, und letzten Endes mit seiner Gottesgedanken. Denn Gott ist der unendliche Ursprung alles möglichen, der menschlichen Vernunft entsagten, Offenbarungsvorgehens. Wie die altisraelitischen Propheten in der Urzeit, falls sie besten Willens und reiner moralischer Gesinnung waren, Gehorsam und Sittlichkeit predigten, so könnten heute Einzelne dem Gemeinwohl ebensosehr zuträglich sein, wenn es ihnen erlaubt wäre, ihre Meinung frei zu äussern. »Darum kann zwar niemand unbeschadet des Rechts der höchsten Gewalten deren Beschluss entgegenhandeln, wohl aber unbeschränkt denken und urteilen und damit auch sprechen, vorausgesetzt, dass er einfach spricht oder lehrt und bloß mit Hilfe der Vernunft, aber nicht durch Täuschung, Zorn und Hass seine Meinung vertritt noch auch mit der Absicht, etwas im Staat auf seinen Beschluss hin einzuführen. Wenn z.B.
»Notatu dignum est, quod prophetae, viri scilicet privati, libettate sua monendi, increpandi et exprobandi, homines magis irritaverunt quam correxerunt«. Op. cit., S. 558.
78 2.1 Pluralism in Europe: One I>aw?
jemand nachweist, dass ein Gesetz der gesunden Vernunft widerstreitet, und deshalb für seine Abschaffung eintritt, so erwirbt er sich ganz gewiss ein Verdienst um den Staat als einer seiner besten Bürger, sofern er nur seine Meinung dem Urteil der höchsten Gewalt unterwirft (...], und sofern er inzwischen nicht gegen die Vorschrift dieses Gesetzes handelt.« Ich gebe zu: meine Verbindung von prophetischem Vorstellungsvermögen und moderner Gewissenäusserung bei Spinoza wird dadurch erschwächt, dass die meisten Propheten von denen im Traktat die Rede ist, betrügerische oder freche Männer sind, pseudo-Propheten, die es tatsächlich natürlich auch gegeben hat. ' Hermann Cohen hat Spinoza vorgeworfen, dass er keine einzige Ahnung hatte von der tiefen kritisch-politischen Funktion und sogar von der Vernünftigkeit der grossen Propheten, wie Hesekiel und Jesaja. Meiner Meinung nach hat Spinoza auf diese letzte nur indirekt verwiesen, mittels einer relativierender Einschätzung ihrer Erkenntnisweise. Seine größte Sorge betraf jedoch die gesellschaftsstörenden Risiken einer allzu hoch eingeschätzten prophetischen Erkenntnismodus.
Zum Schluss: kann man nicht sagen, dass eine Verteidigung moderner europäischer Pluralität, erstens: strenge Anforderungen an die Motivationsstruktur der Betroffenen stellen, und sich immer auf das Gemeinwohl berufen soll; und zweitens: mit der Unerschöpflichkeit und der Fülle immer neuer, einheitsförderner Ansichten rechnen muss. Denn auch Pluralismus kann Einheit stiften, vielleicht besser als dass eine vorausgesetzte Einheit sich selbst aufrecht erhalten kann. Diese Einheit wäre eine Einheit in der Pluralität, oder eine Pluralität in der Einheit. Und wenn Spinoza eine solche plurale Einheit indirekt mit einer Gottesidee verbindet, so könnte das besagen, dass Pluralität und Einheit einander niemals auslösen werden: denn eine unendliche Pluralität ist keine Pluralität mehr zu nennen, und eine reine Einheit wäre überhaupt, wie es schon Plotin wusste, unnennbar. Richtige
Op. cit., S. 606; lateinisch, siehe Anm. 15. Vgl. auch »haec libertés apprime necessaria est ad scientias et artes promovendum; natn hae ab üs tantum rbelici cum successu coluntur, qui judicium liberum et minime praeoccupatum habent.« Op. cit., S. 610.
»hodiernae summae potcstates, quae nee prophetas habent nee recipere jure tenentur«. Op. cit., S. 596f.
H.W. Sneller: 79 Plurahtät der Meinungen und Gottcsidcc.