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Das Heldenkonzept in Heinrich Bölls Romanen

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Academic year: 2021

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DAS HELDENKONZEPT IN HEINRICH BoLLS ROMANEN

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Johanna Dorothea van der Walt

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Verhandeling goedgekeur vir die graad Magister Artium

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in die Fakulteit Lettere en Wysbegeerte aan die

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Potchefstroomse Universiteit vir Christelike Ho~r

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Onderwys

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Potchefstroom, Januarie 1986

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Studieleier: Prof. B.H.J. van der Berg

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(3)

2

1

Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen. Woher kommt mir Hilfe?

2

Meine Hilfe kommt vom HERRN der Himmel und Erde gemacht hat.

PS. 145: 1 3

1

2

3

Ich will dich erheben, mein Gott, du Konig, und deinen Namen loben immer und ewiglich.

Ich will dich taglich loben

und deinen Namen rUhmen immer und ewiglich.

Der HERR ist gross und sehr zu loben, und seine Grosse ist unausforschlich.

(4)

Die Bollsche Dichtung umfasst eine breite Skala literarischer Gattungen. Fur die Untersuchung des Bollschen Heldenkonzepts werden aber nur zwei Erzahlungen und sieben Bollsche Romane als stoffliche Basis benutz~ da sie der Intention der vorliegenden Arbeit, der Analyse des Heldenkonzepts, in jeder Hinsicht genugen.

Im Laufe meiner Forschung verstarb Heinrich Boll im Alter von 67 Jahren am 16. Juli 1985. Durch diese Arbeit zolle ich dem verstorbenen Dichter meine Anerkennung.

Meinem Studienleiter, Herrn. Prof. B.H.J. van der Berg, danke ich von Herzen fur seine besondere Fuhrung, immer bereitwillige Hilfe und sehr gewurdigte Inspiration.

Mein Dank gilt ebenfalls der Behorde fur geisteswissenschaftliche Forschung in Sudafrika fur die Bewilligung eines Stipendiums, das mein Studium an der Johannes Gutenberger Universitat, Mainz, ermoglicht hat.

(5)

INHALTSVERZEICHNIS 1. 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 2. 2.1 2.1.1 2.2 2 . .2 .1 2.2.2 2.3 2.4 2.5 3. 3.1 3.1.1 3.1.2 EINLEITUNG . . . . . . . . . . . . 1

Problemstellung und Zielsetzung... 1

Rechtfertigung der Arbeit und ihre Abgrenzung im Stofflichen. . . . . . . . . . . . . 2

Stand der Forschung. . . . . . 3

Aufbaugrundsatze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

M e t h o d i k . . . 8

BoLLS THEORETISCHE. ANSICHTEN IN BEZUG AUF LITERATUR IM ALLGEMEINEN UND IN BEZUG AUF DEN HELDEN IM BESONDEREN.. 9

Bolls politische Ansichten... 9

Der Staat und die alternative Gesellschaft bei Boll . . . . 11

Bolls religi6se Ansichten . . . 14

Boll und die Kirche . . . ... . . ·· . . . . . . . 14

Kunst und Religion bei Boll. . . . 17

Bolls Ansichten Uber die Familie als Institution . . . 18

Bolls Ansichten Uber das Heldenprinzip . . . 20

Bolls Ansichten Uber den Roman als literarische Gattung 24 KRIEG UND KRIEGSFOLGEN ALS AUSGANGSPUNKT BoLLS DICHTUNG 26 Definition des Begriffs 'Krieg' . . . 26

Allgemeine Definition . . . 26

Bolls Definition des Phanomens 'Krieg' und wie er Krieg c h a r a k t e r i s i e r t . . . 26

3.2 Die Rolle des Krieges im Leben des Menschen Boll . . . 27

3.3 Der Einfluss des Zweiten Weltkrieges auf Boll als 3.3.1 3.3.2 3.3.2.1 3.3.2.2 3.3.2.3 D i c h t e r . . . 29 Vorbemerkung. . . . . . . . . 29

Die Zergliederung Bolls Dichtung und wie er in seiner Dichtung vom Krieg berichtet . . . .... . . 30

Kriegsli teratur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

Unmittelbare Nachkriegsliteratur . . . 33

(6)

4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4 4.1.5 4.1.5.1 4.1.5.2 4.1.5.3 4.1.6 4.1.6.1 4.1.6.2 4.2 5. 5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.1.4 5.1.5

Eine Kategorisierung der Bollschen Helden . . . 40

Der passive Held. . . . . . . . 40

Die HUterlosen.. . . . . . . . . . 59

Die Wirklichkeitsfremden . . . 72

Die Lammer und BUffel. . . . 84

Die Aussenseiter... 90

Begriffsprazision... 90

Hans Schnier (Ansichten eines Clowns) als Aussenseiter. 91 Leni Pfeiffer (Gruppenbild mit Dame) als Aussenseiterin 96 Der unfrei gewordene moderne Mensch . . . 102

Die verlorene Ehre der Katharina Blum . . . 103

Flirsorgliche Belagerung . . . 110

'Zusammenfassung. . . . . . . . 117

EIN VERSUCH ZUR TYPOLOGISIERUNG DER BoLLSCHEN HELDEN ... 119

Vorbemerkung . . . ... . . 119

Modalitat der assoziativen Identifikation . . . 120

Modali hit der admirativen Identifikation . . . 120

Modalitat der sympathetischen Identifikation . . . 121

Modali tat der kathartischen Identifikation . . . 122

Modalitat der ironischen Identifikation . . . 122

5.2

Ein Versuch zur Typologisierung der Bollschen Helden anhand des Jauss-schen Modells ... .. . . 123

5.2.1 Die Bollschen Helden und die Modalitat der sympatheti-schen Identifikation . . . 124

5.2.2 Die Bollschen Helden und die Modalitat der kathartischen Identifikation. . . . . . . . . . . 126

5.2.3 Die Bollschen Helden und die Modalitat der ironischen Identifikation. . . . . . . . . . . . . . . . 130 ERGEBNISSE . . . . . . . . . . . . . . . 133 ANHANG . . . 138 I. Sigeln. . . . . . . . . . . . . 138 II. Li teraturverzeichnis. . . . 138 III. Opsomming. . . 144 IV. Summary. . . . . . . . 146

(7)

1.1 PROBLEMSTELLUNG UND ZIELSETZUNG

Bolls Epik steht im grossen und ganzen im Zeichen des Zweiten Welt-krieges und ist stark beeinflusst worden durch die Tatsache, dass der Autor als junger Mann in die Deutsche Armee gezwungen wurde. Somit hat er die Gewalt sowie die Vernichtungen des Krieges personlich miterlebt. In seinem Werk versucht er, ein Gegengewicht fUr die Greueltaten, wegen deren das deutsche Volk angeklagt wird, zu finden. Sein Werk ist in erster Linie eine Reaktion auf die kriegerische Gewalt und Vernichtung. Obschon Bolls Themenwahl offenbar ziemlich eindeutig fixiert ist, wird die Gegenreaktion seiner Helden auf verschiedenartige Weise exemplifiziert. Einige agitieren ausdrUcklich gegen den Krieg und das damalige Propagandasystem - ihre Absicht ist es, das deutsche Volk immer wieder an das Elend eines Krieges zu erinnern und einem

Vergessen vorzubeugen; andere sind unfahig, sich mit ihrer gegenwartigen Lage abzufinden - diese rUgen in erster Linie die Wohlstandsgesellschaft, die Konsumgesellschaft und die moralische Dekadenz ihrer Welt.

Die Bollschen Helden sind einerseits Figuren, die einander in manchen Hinsichten ahnlich sind, d.h. Uber dieselben Eigenschaften verfUgen. Da sie fast alle dem KleinbUrgertum entstammen, werden sie als "kleine Leute" bezeichnet. Siegfried Lenz weist darauf hin:

[ ... ] Sie sind in der Hinsicht klein, als sie ihre Verluste nicht elegant ausgleichen konnen. Sie sind es, die immer wieder von der Geschichte zur Kasse gebeten werden, die den ganzen Mist ausbaden mUssen, die Hilfe nur von sich selbst erwarten konnen. Da mag sich gross fUhlen, wer will. [ ... ] Sie sind

'klein', weil sie die Verletzungen nicht leugnen, weil sie, anstatt im allgemeinen Karriere - Ballett mitzumachen, sich damit aufhalten, die Lehre aus ihren Verletzungen zu begreifen oder ihre Trauer zu legitimieren.l

Die Bollschen Helden verfUgen Uber eine Verletzlichkeit, eine lakonische 2

Reizbarkett und eine erklarte Untauglichkeit zur Anpassung. Von der Konsumgesellschaft werden sie fast nie akzeptiert. Sie vergegenwartigen insgesamt keine konventionellen Heldentypen - sie sind eher Anti-Helden.

1

2

S. Lenz, "Sein Personal", In Sachen Boll. (Koln 1980),

s.

30

Vgl. ebd., S. 25

(8)

Obwohl sie sich in diesen Hinsichten ahnlich sind, sind sie andrerseits doch unterschiedlich. Jeder Held verfUgt Uber Eigenschaften, die ihn einzig in seiner Art darstellen. Zwei Helden mogen beide leidende Soldaten sein, aber wie und warum sie leiden, ist unterschiedlich. Verschiedene Figuren mogen Aussenseiter sein, aber der Grund ihres Aussenseitertums ist unterschiedlich.

Wie andere Romanciers, experimentiert auch Boll gern mit der Struktur. Bald ist es das Phanomen der Zeitlosigkei~ das die Handlung seiner Helden mitbedingt, bald sind es die Wertsetzungen der Gesellschaft, die seine dichterische Gewalt in eine prekare Situation drangen. Hauptsache ist, dass der Bollsche Held sich nicht in seiner Umwelt

zurechtfinden kann. Mit feinfUhliger Tiefenpsychologie analysiert Boll die Reaktionen seiner Helden auf die gegebenen Sachverhaltnisse. Da die Reaktionen unterschiedlich sind, sind die Helden trotz ahnlicher Eigenschaften verschiedenartig.

Hauptaufgabe der vorliegenden Arbeit wird es also sein, Bolls Personal in bestimmte Kategorien einzuordnen und zu typologisieren. Das

Verhaltnis von Struktur und Held wird ebenfalls wissenschaftlich analysiert werden.

1.2 RECHTFERTIGUNG DER ARBEIT UND IHRE ABGRENZUNG 1M STOFFLICHEN

Heinrich Boll ist einer der vielseitigsten Dichter der modernen deutschen Literatur. Er wird als ein erfolgreicher Dichter betrachtet und

geniesst eine derartig grosse Anerkennung, dass sogar von der "Boll-Generation"3 gesprochen wird. Boll ist nicht nur ein Meister der Erzahlkunst, sondern auch ein hervorragender Romancier, Essayist und Kritiker. Sein dichterisches Werk umfasst Erzahlungen, Satiren, Horspiele, , Essays und Romane.

Bolls kleinere undgrossere Prosawerke haben "fast ausschliesslich die 4

Bewaltigung der Kriegs- und Nachkriegszeit zum Thema." Urn den Hunger

3

4

Vgl. T. Ziolkowski, "Heinrich Bol l und seine Dichtung", Universitas 16, 5 (1961), S. 507

(9)

und Ekel, die Not, Armut und Sinnlosigkeit sowie das Leid der Kriegs-und Nachkriegszeit zu veranschaulichen, benutzt der Dichter in seinen Werken bestimmte Gestalten bzw. Helden, urn dem Leser das alles mitzuteilen. Auf abwechslungsreiche Art und mittels der verschiedenen Helden,

kommt das Thema der Kriegs- und Nachkriegszeit in seiner Dichtung zum Ausdruck.

Schon oft wurde und wird noch stets gesagt, dass von dem ganzen Bollschen Repertoire die Kurzgeschichten seine besten Werke seien. Diese

Be-hauptung hat ihren Ursprung in Bolls eigenen Worten, dass namlich die Kurzgeschichte noch immer seine Lieblingsform sei. Seine Erzahlungen sind zwar gute Literatur; wenn aber das Heldenkonzept, urn welches es sich in dieser Arbeit handelt, analysiert wird, so ergibt sich, dass dieses Konzept in seiner ausgepragtesten Form in allen Bollschen Romanen,aber nur in einigen Erzahlungen verarbeitet ist.

Ein breites Spektrum des Heldenwesens wird in seinen Romanen veran-schaulicht. Verschiedene Kategorien und Typen, die ftir alle anderen Helden in seiner Dichtung reprasentativ sind, konnen identifiziert werden. Da es die Zielsetzung dieser Arbeit ist, das Bollsche Heldenkonzept zu erforschen und die Helden sowohl zu kategorisieren als auch zu typologisieren, werden Bolls Romane und zwei seiner Erzahlungen als Basis der stofflichen Abgrenzung der vorliegenden Arbeit benutzt. Als Erlauterung zum Bollschen Heldenkonzept wird der Einfluss des Zweiten Weltkrieges auf Boll als Mensch und Dichter unter die Lupe genommen. Bolls personliche An- und Einsichten Uber bestimmte Begriffe wie z.B. Held, Kunst und Staat sind auch wichtig fUr die Erlauterung seines Heldenkonzepts. Daher bilden sie auch einen wichtigen Teil des Stofflichen der vorliegenden Arbeit.

1.3 STAND DER FORSCHUNG

Da Heinrich Bolls Dichtung nicht nur zeitkritisch und thematisch umfassend ist, sondern auch einfach interessant und in manchen Hinsichten reizend, bietet Bolls Dichtung hinreichenden Stoff zur Forschung. Uber Boll selbst wurde schon viel geschrieben und etliche Themen seiner Dichtung kamen bereits unter die Lupe. Wenn

(10)

die publizierte Literatur Uber und von Boll betrachtet wird, ist es eindeutig, dass er seinen Lesern zweifellos viel Stoff zum Lesen und Nachdenken bietet.

Der religiose Aspekt in Heinrich Bolls Dichtung ist eins der vielen Themen, Uber die schon oft nachgeforscht und geschrieben worden ist. Wolfgang Grothe macht z.B. ein Studium Uber die biblischen BezUge in dem Werk Heinrich Bolls. Aufgrund seiner Forschung wird klar, dass viele "biblische Wendungen und Bilder in den Werktiteln, Episoden, symbolischen Gesten des Erzahlers niederschlagen."5

In dem Roman Wo warst du, Adam? (1951), zeigt schon der Tite1 eine bewusste Anlehnung an das Alte Testament. Im ersten Buch Mose heisst es in dem Bericht vom SUndenfall: "Und Gott der Herr rief Adam und sprach zu ihm: 'Wo bist du? "' ( 1. Buch Mose 3:9). Boll hat seinen Romantitel jedoch nicht unmittelbar auf diese Stelle bezogen, sondern mittelbar, indem er sich in einem seiner beiden Mottos, die den Roman eroffnen, auf Theodor Haecker, und zwar auf eine Stelle aus dessen Tag- und Nachtl:iichern vom 31. Marz 1940 beruft: "Eine Wel tkatastrophe kann zu manchem dienen. Auch dazu, ein Alibi zu finden vor Gott. Wo warst du, Adam? Ich war im Weltkrieg."6

Im Roman Und sagte kein einziges Wort (1953), "wo allerdings Klerus und klerikale Mentalitat das Betatigungsfeld von Bolls bitterem und spottischem Vergleichen" 7 ist, ist der Tite1 auch nach einem biblischen Satz variiert. Er kommt aus der Verurteilungsgeschichte Jesu Christi. In dem Matthaus-Evangelium steht geschrieben: "Da sprach Pilatus zu ihm: 'Horst du nicht, wie hart sie dich verklagen?' Under antwortete ibm nicht auf ein Wort". (Matth. 27 : 13f)

Das biblische Leitthema der KurzgeschichteSo ward Abend und Morgen (1954), entstammt dem Mythos von der Erschaffung der Welt. Es

5

6 7

IJJ. Grothe, "Biblische BezUge im Werk Heinrich Bolls", Neophilologica 2 (1973), S. 306

Ebd., s. 307 Ebd., S. 309

(11)

erscheint sogar ein wortlich der Bibel entnommener Satz in dieser Geschichte: "Und Gott sah, dass es gut war." (1. Buch Mose 1:12)

Weitere biblische BezUge kommen auch in der Erzahlung Das Brot der frUhenJahre (1955) zum Ausdruck, wo das Brat als Symbol der christlichen Botschaft fungiert; im Roman Ansichten eines Clowns

( 1963) erkennt man, "dass der Clown - Roman in bezug auf das gesamte Christentum in seiner kirchlichen Institutionalisierung revolutionare ZUge enthalt: Agnostiker, Neuchristen, Christen des Advents sind eigentlich diejenigen Glaubenstypen, auf deren Suche sich Boll immer wieder, meist unausgesprochen, begibt."8 In Billard urn halbzehn (1959) ist vom Sakrament des Lammes und des BUffe~die Rede. Diese zwei Begriffe stammen aus der Offenbarung Johannes'.

Noch stets auf der religiosenEbene, forschte Wilhelm H. Grothmann Uber di.e Rolle der Religion im Menschenbild Heinrich Bolls nach. Er stellte u.a. folgendes fest:

Der kollektiven Machten, Schule, Militar, Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, ausgelieferte Mensch Bolls ist trotz seiner Abhangigkeit von diesen Kraften nicht zur Verzweiflung

verurteilt. [ ... ] Die Kirche verfUhre den Menschen zum Wehrdienst, indem sie die allgemeine Wehrplicht theologisch zu rechtfertigen versuche, und versage auf dem Gebiet der Sittlichkeit, indem sie den Bestand 9on Konflikten zwischen Gewissen und Befehl ignoriere [ ... ].

Aus seiner Forschung geht auch hervor, dass Boll die Kirche als

unpersonliche Institution ablehnt, da sie eng mit dem weltlichen Staat zusammenarbeitet. Diese Gegebenheiten werden in verschiedenen

Werken markiert, wie z.B. Billard urn halbzehn, Ende einer Dienstfahrt, Und sagte kein einziges Wort, Wo warst du, Adam?, Die schwarzen Schafe und Wanderer, kommst du nach Spa ...

8

9

Ebd., S. 316

W.H. Grothman, "Die Rolle der Religion im Menschenbild Heinrich Bolls", The German Quarterly 44 (1971), S. 191

(12)

Andere erforschte Them~n der Bollschen Dichtung sind u.a. die folgen-den: die Zeitproblematik in den Bollschen Werken, Bolls Personal, die Namen der Bollschen Helden, Sprache und Stil in den Werken Heinrich Bolls uti die sozialpolitische Problematik bei H. Boll.10

Obwohl schon viel Uber die Bollschen Helden im besonderen geschrieben und auf die Charakteristik hingewiesen wurde, gibt es noch keine

veroffentlichte Arbeit, in der eine klare und deutliche Kategorisierung oder Typologisierung der Bollschen Helden dargestellt ist. Die

vorliegende Arbeit ist daher ein Versuch, alle schon bekannten Fakten Uber die Bollschen Helden zu kompilieren und zu analysieren.

Schliesslich erzielt die Arbeit eine Typologisierung der Bo1lschen Helden an Hand des Jauss-schen Identifikationsmodells.

10

Einige Diplomarbeiten, Dissertationen und Habilitations-schriften, die schon liber Boll veroffentlicht worden sind, sind die folgenden:

a. Ingrid Hellige, Handeln und Handlungen im Werk Heinrich Bolls, Humbolt-Univ. Berlin 1961

b. Margit Schlegel, Der positive Gegenspieler im Werk Heinrich Bolls, Humbolt-Univ. Berlin 1961

c. Margot Watzold, Die historische und moralische Charakteristik der widermenschlichen Gegenfront im Werk Heinrich Bolls, Humbolt-Univ. Berlin 1961

d. Hans J. Bernhard, Die Romane Heinrich Bolls. Gesellschafts-kritik und Gemeinschaftsutopie, Universitat Restock 1966 e. Robert A. Gotz, Heinrich Boll as a critic of contemporary

German Society, Univ. of Iowa 1967

f. Ernst Goette, Heinrich Boll. Das Verhaltnis zum Katholizismus im erzahlerischen Werk des Dichters, Universitat Hamburg 1971 g. Heinrich Moling, Heinrich Boll - eine 'christliche Position'?,

(13)

1.4 AUFBAUGRUNDSaTZE

Die Zielsetzung der Arbeit, namlich das Heldenkonzept in Heinrich Bolls Romanen, bestimmt die Aufbaugrundsatze der vorliegendffiArbeit. Um das Bollsche Heldenkonzept besser verstehen zu konnen, ist es

wichtig, dass der Leser mit den Bollschen An- und Einsichten in bezug auf Literatur im allgemeinen und auf die Helden im besonderen,

bekannt ist.

Im zweiten Abschnitt werden zunachstBolls An- und Einsichten bestimmter Begriffe wie Literatur, Kunst, Politik, Staat, Familie und Kirche erlautert. Im darauffolgenden, Abschnitt wird der Einfluss des Zweiten Weltkrieges auf Boll als Menschen und Dichter bewertet. Das Phanomen Krieg ist bewusst und unbewusst ein Teil der Bollschen Menschseins geworden, da es fUr ihn als Dichter unvermeidlich war, den Krieg als bestimmenden Faktor seiner Dichtung zu begreifen.

Im vierten Abschnitt werden die Bollschen Romane ausfUhrlich von einer objektiven Perspektive aus untersucht. Aufgrund ihrer Reaktionen wahrend und nach dem Zweiten Weltkrieg, ihrer personlichen Art und ihres Verhaltens, werden die Helden in bestimmte Kategorien

eingeordnet: passive Helden, HUterlose, Wirklichkeitsfremde, Lammer, BUffel, Aussenseiter und unfrei gewordene Menschen.

Der ftinfte Abschnitt unterscheidet sich von dem vorigen, indem cbrt ein bestimmtes Modell, und zwar das Jauss-sche Identifikations-modell, gebraucht wird, um die Helden zu typologisiere.n.

Die Rezeptionsasthetik dient als Grundlage seines Modells. Im grossen und ganzen bedeutet die asthetische Erfahrung hier, dass ein Leser sich wahrend der LektUre entweder mit einem Helden identi-fizieren oder diese Identifikation verweigern kann.

Das Interaktionsmuster von Jauss unterscheidet fUnf Ebenen der Rezeption: Modalitat der assoziativen, admirativen, sympathetischen, kathartischen und ironischen Identifikation. Die Bollschen Helden lassen sich in die draletztgenannten Modalitaten einordnen.

(14)

1.5 METHODIK

Da es sich in der vorliegenden Arbeit urn das Werk eines kontemporMren Dichters handelt, d.h. in diesem Fall eines Dichters, der erst nach dem Zweiten Weltkrieg seine Werke veroffentlichte und bekannt wurde, ist die Forschung auf eine synchronische Betrachtungsweise angewiesen. Eine diachronische Untersuchung eignet sich nicht als Methode fUr diese Arbeit. ZunMchst wird analytisch gearbeitet, d.h. Aspekte, Faktoren und informative Gegebenheiten in bezug auf das Thema werden untersucht. Schlussfolgerungen werden dann gemacht und systematisiert. Die analytisch-synchronische Untersuchungsmethode gilt als die

(15)

2.

ALLGEMEINEN UND IN BEZUG AUF DEN HELDEN IM BESONDEREN

Jeder Mensch lebt sein Leben und erlebt die Welt in einzigartiger Weise, weil die Ansichten und Einsichten jedes Menschen .unterschiedlich sind. Die Art und Weise wie sich der Mensch in dieser Welt verhalt, werden, bewusst oder unbewusst, von seinen Ansichten und Einsichten gepragt. Ob er ein Arbeiter bei seiner alltaglichen Arbeit, ein Schriftsteller bei der literarischen Produktion, ein Politiker bei seinem politischen Vortrag oder ein Pfarrer bei seiner Predigt ist, bei jedem spielen die

lebensweltlichen Ansichten eine wichtige Rolle.

Im Falle des Dichters Heinrich Boll ist seine Dichtung von seinen Ansichten Uber die Politik, bzw. den Staat und die Gesellschaft, die Religion und die Kirche (vor allem die katholische Kirche), die Rolle der Familie und die Kunst beeinflusst worden. Obwohl der Dichter nicht explizit in seinen Werken und vor allem in seinen Kurzgeschichten und Romanen sagt, was er von der Politik, dem Staat, der Gesellschaft und der Kunst halt, gibt es doch ein Wertsystem, das mit seinen Ansichten zusammenhangt, das auch von seinem fiktionalen Personal verteidigt wird. Das ware eben das Wertsystem Heinrich Bolls. Dieses Wertsystem wird auch ausserh.alb seiner Romane und Kurzgeschichten in seinen Essays, seinen Rezensionen, sowohl als in seinen Kommentaren und Reden vertreten.1

2.1 BoLLS POLITISCHE ANSICHTEN

Ansichten werden u.a. durch Selbsterfahrungen und -erlebnisse eines Menschen geformt und gepragt. Die schon von Kindheit auf erfahrenen Erlebnisse und Erfahrungen in bezug auf das Phanomen Krieg, hatten einen gewissen Einfluss auf Bolls spatere politische Ansichten. Schon als Kind harte er von seinem Vater, dass Krieg verflucht und der Kaiser ein Narr

. 2

sel. Er war flinfzehn Jahre alt, als Hitler an die Macht kam, aber ihn berlihrten die nationalsozialistischen Aufmarsche und Kundgebungen nie. Wo immer er konnte, entzog er sich dem Dienst in der Hitlerjugend. 1938 wurde er aber zum Arbeitsdienst und anschliessend zum Militar

eingezogen.

1 2

Vgl. C. Linder, Boll (Hamburg 1978), S. 28

Vgl. H. Boll, "Uber mich selbst", Hierzulande. Aufsatze zur Zeit (MUnchen 1982), S. 8

(16)

In diesen Kriegsjahren erlebte er schlimme Zeiten, die einen unvergesslichen Eindruck auf ihn gemacht haben. Boll wurde viermal wahrend des Zweiten Weltkrieges verwundet, war u.a. in SUdrussland und Rumanien, und geriet am 9. April 1945 in amerikanische Gefangenschaft.

Boll, der schon vor dem Krieg versucht hatte zu schreiben, fand nach dem Krieg doch den Weg zur Literatur und wie manche andere deutsche Schrift-stelle~ engagierte er sich politisch. Die Schriftsteller nach 1945 wollten eine Art Gewissen der deutschen Bevolkerung sein, indem sie die deutschen Leser standig an die gerade abgelaufene Vergangenheit mit ihren

Grausankei ten und Greue 1 ta ten erinnerten. So z.B. brachten den Lesern Bolls Erzahlung Der Zug war plinktlich (1949) und sein Roman Wo warst du, Adam? (1951) die schreckliche Vergangenheit mit ihrem Elend wieder neu vor Augen und sie konnten nicht anders, als sich wieder an den Krieg zu erinnern. Die Schriftsteller der fUnfziger Jahre waren auf dem Gebiet der Politik keine grosse Gefahr fUr die damalige Regierung, aber sie waren, wie James Reid sie nennt, Terrier, die nach den Fersen ihrer

3

Meister schnappten. Boll selbst sagt Uber die Sch~iftsteller in einem Interview mit Marcel Reich-Ranicki im Jahre 1967:

Es ist offensichtlich, dass die Schriftsteller seit 1945 einen Einfluss auf die deutsche Politik ausgeUbt haben. [ ... ] Im Ubrigen glaube ich nicht nur, sondern weiss ich, dass sie etwa innerhalb des deutschen Katholizismus [ ... ] eine grosse Wirkung gehabt haben.4

Obwohl der Dichter im gleichen Interview. behauptet, dass er sich in den 5 letzten Jahren vom aktuellen politischen Kampf eher fern gehalten habe, und obwohl Joachim Fest darauf hinweist, dass Heinrich Boll es mit dem Vorwurf, dass er von Politik namlich nichts verstehe, 6 Ernst mache,

ist es den Bollschen Lesern doch in gewissem Masse aus seiner Epik klar, welche die Ansichten des Dichters Uber die Politik und vor allem Uber den Staat und die Gesellschaft sind.

3

4

5

6

Vgl. J.H. Reid, Heinrich Boll - Withdrawal and re-emergence (London 1973),

s.

11

H. Boll, "Interview von Marcel Reich-Ranicki", Aufsatze, Kritiken, Reden II (Koln 1977),

s.

218f.

Vgl. J. Fest,"Wer will da Gegner sein", Der Spiegel, 4 (22. Januar 1968)'

s.

97

(17)

Bolls politische Ansichten sind aufgrund von Erfahrung und nicht durch Theorie oder pravalente politische Meinungen gepragt worden. James Reid behauptet, Bolls 'Sozialismus', wenn man so sagen konnte, sei eher emotional, als politisch.7 Wahrend des Krieges kam Boll zum ersten Mal durch ehemalige Kommunisten aus Berlin und einen Freund mit dem Marxizmus in BerUhrung. Von ihnen erlernte der Dichter die Anfangs-grUnde des dialektischen Materialismus. Obwohl Boll kein Marxist ist, akzeptiert er Marx' Formulierung der kapitalistischen Gesellschaft: man ist nicht, was man ist, sondern was man besitzt. Der Dichter ist zwar antimaterialistisch, aber er ist weder Marxist, noch Kommunist.8

Kommunismus, meint er, sei auch noch eine Hoffnung fUr die Menschheit, "sich diese Erde 'untertan zu machen' , ihr Ordnung zu geben - wobei wir Ubrigens meinetwegen auch das Wort 'Sozialismus' gebrauchen konnen."9

2.1.1 Der Staat und die alternative Gesellschaft bei Boll

Wenn hier von dem Phanomen Staat die Rede ist, dann bezieht es sich haupt-sachlich auf den bUrokratischen, kapitalistischen Staat des Westens und zwar besonders auf den Staat Westdeutschland,~ denn in diesem Staat befin-den sich die Personen der Bollschen Romane und Erzahlungen.

gegenUber handeln fast alle Protagonisten negativ.

Diesem Staat

Es bestehen fUr den Dichter in einem bUrokratischen Staat zwei Gruppen von Personen: diejenigen, die verwalten und diejenigen, die verwaltet

10

werden. Durch die Verwaltung der BUrokratie geht etwas von der

Individualitat eines Menschen verloren, und gerade diese Tatsache, meint Bo .. ll, h"" ange ml "t d em F asc lsmus zusammen. h" 11 Der Staat wird dann, im Grunde genommen, als eine bUrokratische Maschine betrachtet. In Der Zug war plinktlich findet sich ein direkter Vergleich von Verwaltung und Faschismus: die sonoren Stimmen, die die Ankunft und Abfahrt der ZUge durch die Lautsprecher ankUndigen, sind genau dieselben Stimmen, die die Menschen an die Front oder in das Konzentrationslager schicken.

7

Vgl. J.H. Reid (1973), S. 12 8

Vgl. ebd., S. 13 9

H. Boll, "Interview von . . . " (1977), S.220 10

Vgl. J.H. Reid (1973), S. 17 11

(18)

Auch die Armee scheint eine bUrokratische Maschine zu sein, wie sie namlich in Ende einer Dienstfahrt gestaltet ist. BUrokratie kann auch in der Schulverwaltung vorkommen (Haus ohne Htiter), und sogar die Kirche betrachtet Boll als bUrokratische Institution. Dass der Dichter dieses System der BUrokratie nicht im Ganzen billigen kann, geht deutlich aus seinen Werken hervor.

Wenn Heinrich Boll dann nicht mit einem bUrokratischen Staat einverstanden ist, und weder Marxist noch Kommunist sein will, ist jetzt die Frage: Was erwartet er denn von einem Staat? Wie definiert er das Phanomen Staat? Kann er eine Alternative bieten? Ahnliche Fragen werden von Dolf Stern-berger in seinem Aufsatz Der Ktinstler und der Staat unserem Dichter gestellt:

Undeutlich ist mir geblieben, was fUr eine Art Staat Ihnen

insgeheim vor Augen steht, wenn Sie - in Ihrer Wuppertaler Theater-Rede - von unseren gegenwartigen Zustanden urteilen, wir hatten keinen Staat und Sie erblickten im Augenblick keinen Staat.[ . . . ] Wenn Sie in diesem ~ so entschieden sind, wenn Sie mit solcher Bitterkeit dem vorhandenen Staat, worin wir leben, die Staatsqualitat absprechen, so ist dem Harer und Leser zwar deutlich, dass Sie eine positive Vor-stellung von Staat und Staatlichkeit, vom eigentlichen, wahren und ~ichen Staat wohl hegen mUssen, aber es bleibt ihm, es bleibt mir ganz undeutlich, was fUr eine Vorstellung das sei oder worin das wahre Wesen des Staates U£~ das Wesen eines wahren Staates nach dieser Vorstellung bestehe.

Boll selbst meint Uber den Staat, dass er "etwas anderes und etwas mehr ist 13

als die blosse Gesellschaft." Staat bedeutet aber auch mehr als

blosse Macht, in der Ordnung herrscht. Vielleicht gibt es fUr Boll keinen alternativen Staat, denn er sagt in seiner Rede, die Gesellschaft sei an

14 die Stelle des Staates getreten.

Wie sieht der Dichter dann diese Gesellschaft, spezifisch die deutsche Gesellschaft, die den Staat ersetzt hat? Sternberger antwortet darauf, Bolls Gesellschaft sei "eine Metapher des Ekels, im Grunde vielleicht nur eine spezifizierte Form des Ekels am Menschen, des poetischen und moglicher-weise des religiosen Ekels."15

12

D. Sternberger, "Der KUnstler und der Staat", Ansichten und Einsichten (Koln 1980), S. 103

In Sachen Boll. 13 Ebd.,

s.

104 14 Vgl. ebd.,

s.

104 15 Ebd.,

s.

105

(19)

Peter Spycher weist darauf hin, dass die Gesellschaft fUr Boll bodenlos 16

sei, "stillos, nicht einmal manieriert, nur snobistisch." In dieser unsympathischen Gesellschaft wird das KleinbUrgertum, das der Dichter so st~ndig in seiner Epik verteidigt, zum Abfall der Wohlstands-gesellschaft gerechnet. Aber der Dichter sagt in seinen Frankfurter Vorlesungen: "Die Humanit~t eines Landes l~sst sich daran erkennen, was in seinem Abfall landet, was an Allt~glichem, noch Brauchbarem, was an Poesie weggeworfen, der Vernichtung fUr wert erachtet wird [ ... ]. Die Literatur kann offenbar nur zum Gegenstand w~hlen, was von der Gesell-schaft zum Abfall, als

abf~llig erkl~rt

wird." 17 In dieser Ausserung kommt das vJort Humani t~t vor. Das scheint das Hauptingredienz einer Bollschen alternativen Gesellschaft zu sein, da er eine "Asthetik des Humanen" predigt. Auf die Frage, ob es die Moglichkeit einer alter-nativen Gesellschaft gebe, antwortet Boll in einem Interview (1971), dass eine alternative Gesellschaft moglich, und sogar unbedingt notig sei.18 "Die Deutschen sind heimatlos., weil sie dem

grausigen Gespenst des Nationalsozialismus davonlaufen, statt sich ihm 19

mutig zu stellen." Wo es keine Heimat gibt, ist das Humane, das Soziale, das Gebundene nicht moglich. Deswegen fordert Boll: " [ . . . ] im Menschen und in der Gesellschaft Deutschlands soll das Humane neu

entdeckt oder neu geschaffen werden, und den zeitgenossischen deutschen Schriftstellern soll die Darstellung dieses Humanen ans Herz gelegt

20

werden." Warum denn besonders an die Schriftsteller diese Auf-forderung? Denn, sagt Boll in seinen Frankfurter Vorlesungen,"ohne die Literatur ist ein Staat gar nicht vorhanden und eine Gesellschaft tot. "21 16 17 18 19 20 21

P. Spycher, "Ein Portr~t Heinrich Bolls im Spiegel seiner Essays", Reformatio, 16 (1967), S. 112

H. Boll, Frankfurter Vorlesungen ( Koln /Berlin 1966), S. 73f. Vgl. J.H. Reid (1973), S. 22

P. Spycher (1967), S. 113

H. Boll, zitiert nach ebd., S. 112 H. Boll (1966), S. 110

(20)

2.2 BoLLS RELIGioSE ANSICHTEN 2.2.1 Boll und die Kirche

FUr den Dichter bedeutet die Kirche die katholische Kirche, denn obwohl er 1976 aus der katholischen Kirche wegen Kirchensteuerbezahlung austrat, definiert er sich immer noch als katholisch.22 Die Angelegenheit mit der Kirchensteuer, die in der katholischen wie evangelischen Kirche obligatorisch ist, ist nur ein Teil der Kritik, die Boll an der katho-lischen Kirche verUbt. Seine Weigerung, weitere Steuer zu bezahlen, ist ein Protest gegen die Identifikation der Kirche mit dem Staat. Die Kirche ist schon Teil der BUrokratie geworden, und diese Tatsache, so Boll, sei ein Grund der Verdorbenheit der heutigen Kirche.23 "Kirche und weltlicher Staat wirken zusammen."24 In seinen epischen Werken ist diese Anklage schon deutlich zu identifizieren. In Billard urn halbzehn verfallen selbst die Monche der Ideologie des Machtstaates, und in Entfernung von der Truppe zeigt der Pastor sich in Ubereinstimmung mit dem Machtstaat, indem er die Militaruniform als eine Art ehrenhaftes Kleid bezeichnet, und den Erzahler rUgt, weil dieser in Zivilkleidung an der Beerdigung der Mutter teilnimmt.25

Der Kri tiker Arthur Hany behauptet: "Der Katholizismus ist Heinrkh 26

Boll zum Problem geworden." Die Kirche wird vom ihm als unpersonliche Institution betrachtet, die Geistlichkeit von ihm verachtet, "sofern sie nur den Mechanismus katholischer Einrichtungen in Gang halt und die

Macht-position der Kirche im Staat vertritt."27 eigenen Schwachen:

Die heutige Kirche hat ihre

22 23 24 25 26 27 28

sie verbUndet sich mit der CDU, statt jenseits der Parteien zu stehen; sie lasst sich verpolitisieren, statt sich auf Fragen des Glaubens und der LebensfUhrung zu konzentrieren. Sie befUrwortet die Wiederbewaffnung Deutschlands und kUmmert sich dabei urn Kleinig -keiten wie die Herstellung eines Gebetbuches fUr den deutschen Soldaten [ ... ]. Boll hal~

8

solche Sorgen fUr den Ausdruck einer blasphemischen Geschmacklerei.

Vgl. C.G. Hoffmann, Heinrich Boll (Hamburg 1977), S. 160

Vgl. J .H. Reid (1973), S. 19

W.H. Grothmann,"Die Rolle der Religion im Menschenbild Heinrich Bolls", The German Quarterly, 44,2 (1971), S. 192

Vgl. ebd.,

s.

192

A. Hany, "Heinrich Boll", Schweizer Monatshefte, 44,1 (1964/65),

s.

272 W.H. Grothmann(1971), S. 192

(21)

In seinem Brief an einen jungen Katholiken sagt der Dichter auch: "[ ... ] sie alle sind einsichtig und intelligent genug, urn zu wissen, dass die Fast - Kongruenz von CDU und Kirche verhangnisvoll ist, weil

29

sie den Tad der Theologie zur Folge haben kann". Boll wettert auch in diesem Brief gegen die kirchliche Interpretation des Begriffs Moral. Seiner Meinung nach, sei Moral immer noch von der Kirche mit "sexueller Moral identifiziert"30 worden. Peter Spycher weist darauf hin, dass Heinrich Boll selbstverstandlich nicht die Wichtigkeit der Moral in erotischen Dingen verneint,31 aber doch eine personliche Auffassung verficht, die am extremen Beispiel des Bordellbesuchs erortert wird:

Ich habe die Klienten dieser Hauser nie verachtet konnen, weil es mir unmoglich ist, das, was man irrigerweise die korperliche Liebe nennt, zu verachten; [ ... ] die Spaltung der Liebe in die sogenannte korperliche und die andere ist angreifbar, vielleicht unzulassig; es gibt nie rein die korperliche, nie rein die andere; beide enthalten immer eine Beimischung der anderen, sei es auch nur eine winzige. Wir sind weder reine Geister noch reine Kerper, und das standig wechselnde Mischungsverhaltnis von beidem - vielleicht beneiden uns die Engel darum. 32

Dacsdie katholische Kirche viel Wert auf Liturgie und Ausserlichkeiten,

wie das Verbrennen von Weihrauch,die Segengebarden der Priester, Prozessionen, Beichte, usw. legt, ist Tatsache, aber auch gegen diese Auss~rlichkeiten wendet sich BolJs Kritik. FUr ihn ist das alles ohne Sinn, denn es kommt fUr ihn nicht auf die Ausserlichkeiten an, sondern auf den Glauben, auf die Nachstenliebe und wie sie im alltaglichen Leben bewahrheitet wird. Dieser Meinung entspricht auch jene der meisten Bollschen

Protagonisten in den Romanen. Vor allem Kate, die Frau Fred Bogners in Und sagte kein einziges Wort, ist gegen die ausserlichen Brauche der katholischen Kirche. Sie geht nicht, wie ihre Vermieterin, Frau Franke, jeden Morgen in die Messe, aber sie glaubt an Gott und betet oft.

29 H. Boll, "Brief an einen jungen Katholiken", Hierzulande, S. 37

30 Ebd., S. 23

31

Vgl. P. Spycher (1967), S. 107

32

(22)

Sie fordert auch ihren Mann auf zu beten, denn Beten gebe Kraft, das Leben zu ertragen. Gott ist fUr sie allesbedeutend: "GOTT

schien der einzige zu sein, der bei mir blieb in dieser Ubelkeit, [ ... ] es blieb nichts bei mir als das Wort: GOTT." (II, S. 169) 33 Frau Francke ist der Gegenpol zu Kate. David Bronson beschreibt sie als eine strenge, fromme Nachfolgerin der Gesetze, deren Marke der Frommigkeit von dem 'Caritas' des Christentums weit entfernt ist. 34 Obwohl sie jeden Morgen das Heilige Abendmahl empfangt und den Ring des Bischofes kUsst, weigert sich Frau Francke, der Familie Bogner, die im Keller ihrer Wohnung wohnt, ein neues Zimmer zu vermieten. Nachstenliebe fehlt ihr, und gegen solche 'prakti-zierenden Katholiken' richtet sich Bolls Kritik.

Klaus Harpprecht sagt. in einem Artikel Uber Boll: "Boll eignet

sich zum Lutheraner nicht besser als[GUntherJGrass zum Calvinisten."35 Wenn Boll einerseits den Katholizismus kritisiert und anderseits sich in der evangelischen Kirche nicht wohl fUhlt, hat er vielleicht eine alternative Kirche vor Augen, d.h. eine Kirche, die seiner Vorstellung von Glauben und Nachstenliebe entspricht? Die Antwort muss anscheinend

'Ja' sein, denn Harpprecht meint, Boll habe eine alternative Kirche beschrieben: " [ ... ] die tagliche Kirche. Sie ist sein Milieu. "36

Im Begriff der alltaglichen Kirche kommt auch etwas von der Freiheit der

Kirche zum Vorschein, d.h. einer Kirche, die nicht mehr als Institution existiert, worin das Stichwort: Macht herrscht, und von dem Boll sich selb9t und die Kirche trennen mochte, sondern eine Kirche, in der es auf die Nachstenliebe ankommt. Boll liebt die Kirche, dort "wo sie wirklich das Haus unddie Zuflucht der Beter ist, die Statte der Versenkung und der Versohnung [ ... ]. Wo sie aber verbUrgerlicht ist, [ ... ] wo sie die KRnonen segnet, da verabscheut er sie."37

33

34

35

36

37

Zitiert wird nach Heinrich Boll, Werke, Romane und Erzahlungen, 5 Bde., (1947- 1977), hg. Bernd Balzer (Koln 1977)

Vgl. D. Bronson, "Boll's women : Patterns in Male-Female Rela-tionships", Monatshefte, 6 (Nov. 1965), S. 296

K. Harpprecht, "Der Meister des Milieus. Die Katholische Landschaft Heinrich Bolls", Der Monat, 20, 1 (1968), S. 51

Ebd., S. 52

(23)

2.2.2 Kunst und Religion bei Boll

Wenn Boll selber katholisch ist und so auch die meisten Protagonisten seiner Dichtung, kann man dann unbedingt behaupten, Boll sei ein katholischer Romancier? Auf diese Frage antwortet der Dichter in

einem Interview mit H. Bienek folgenderweise: "Ich glaube einfach nicht, dass es katholische Romanciers gibt. Es tut mir leid. Ich bin, glaube ich, ein Romancier, der katholisch ist. Die Formulierung stammt nicht von mir, aber ich habe bisher noch keine bessere .daflir gefunden." 38 Wie der Kritiker Peter Spycher kann man fragen: Was soll das heissen? Der Dichter schrieb einen Aufsatz Kunst und Religion, der zur

Erlauterung dienenkonnte. Hier behauptet Boll:

Solange die freien KUnste noch die Artes liberales waren und nur im geschlossenen Kreis der Kirche gedeihen konnten, waren alle KUnstler notgedrungen christliche KUnstler. [ ... ] Seitdem ist einiges geschehen, das in unzahligen Abhandlungen gewUrdigt worden ist: die Artes liberales sind wirklich die freien KUnste geworden, zu denen auch die Christen zugelassen sind. 39

Heutzutage konnten die Kirchen ebenfalls feststellen, wer Christ sei, nicht aber wer KUnstler sei; sie konnten ein Kunstwerk auf seinen Glaubens- und Sittlichkeitsgehalt hin prUfen, nicht aber auf seine Kunstform hin.

Der Dichter wird oft als "christlicher Au tor" etikettiert. Gegen diese Etikettierung verwehrt sich Boll. Christliche Literatur, behauptet er, sei noch eine Bezeichnung, die rUhrend und unzulassig sei. Er mochte nichtlediglich als Verfasser christlicher Literatur, sondern auch als

40

KUnstler ernst genommen werden. Boll geht es primar eher urn das Gewissen: "Solange das Geheimnis der Kunst nicht entziffert ist, bleibt dem Christen nur ein Instrument: sein Gewissen; aber er hat ein Gewissen als Christ und eins als KUnstler, und diese beiden Gewissen sind nicht

.. 41

immer in Ubereinstimmung." Das ist ein Dilemma, das nicht nur einen KUnstler und einen Christen bedrUckt, sondern jeden KUnstler, der eine Verbindlichkeit ausserhalb seiner Kunst anerkennt. Dieses Dilemma ist

von dauerhafter Art: es bleibt immerhin ein Problem, "Christ zu sein und zugleich KUnstler und doch nicht christlicher KUnstler."42

38

H. Bienek, Werkstattgesprache mit Schriftstellern (MUnchen 1976), S. 183 39 H. Boll, "Kunst und Religion", Hierzulande, S. 47

40 Vgl. ebd.,

s.

49 41 Ebd.,

s.

51 42 Ebd.,

s.

52

(24)

Es bleibt jedem frei, Boll zu etikettieren, wie er mochte. Tatsache ist, dass seine Werke von religiosem Bewusstsein gepragt sind; ob

bewusst oder unbewusst, das verandert den basalen Tatbestand noch nicht.

2.3 BoLLS ANSICHTEN tiBER DIE FAMILIE ALS INSTITUTION

Ulrich Lange definiert die Familie als "die kleinste soziale Einheit",43 und aussert sich zu ihr folgendermassen: "Nur wenn es [einldas Kind] von Anfang an das liebendeUmeinander - Besorgtsein, die gegenseitige

Achtung mdRi.icksichtnahme und das Fi.ireinander - Einstehen von Eltern und Geschwisternerlebt und in sich aufgenommen hat, kann es sich spater

ohne Schwierigkeiten in unsere, auf dem Familienprinzip basierende

. 1 0 d . f.. " 44 D P h 1 H t Eb h d

sozla e r nung eln ugen. er syc o age ors - er ar

Richter bestatigt diese These, und weist darauf hin, dass drei Faktoren die Entwicklung des Menschen bestimmen, namlich Kindheit, Familie und

45

Gesellschaft. Die Wirkung und der Einfluss genannter drei Faktoren

waren schon bedeutend und wichtig fur das spatere Leben des Dichters Heinrich Boll. Die Erfahrungen aus seiner Kindheit und seinem

Familien-leben haben seine Dichtung bestimmt beeinflusst. Christian Linder weist darauf hin, dass die kleine, konkrete Welt der Familie in seiner Kindheit

in Bolls Werken gegen die heutige moderne Welt gesetzt wird: "Positive

Identifizierung mit der Kindheit; und das Leiden der Romanfiguren, weil sie diese Kindheit vertreten, aber in einer anders gewordenen Welt, deren

Tendenz gegen seine Kindheit gerichtet ist: das ist der Schli.issel zu

. . B .. h "46

selnen uc ern.

Boll wuchs als ji.ingstes Kind von acht Geschwistern in einer Kolner

Familie auf. Seine Jugend und den grossten Teil seines spateren Lebens verbrachte er in Kolh. Er ist heute noch stets ein Kolner.

Von der psychologischen Einstellung her konnte schon behauptet werden, der Dichter hatte seine Kindheit positiv empfunden, da er zu einer

Familie gehorte, in der Sicherheit und Geborgenheit waltete. Als Kind schon bekam er einen positiven Eindruck vom Begriff Familienleben.

43

44

45

46

U. Lange, Das alleinstehende Kind und seine Versorgung (Basel 1965),

s.

17

Ebd., S. 18

Vgl. H. Richter, Die Gruppe (Hamburg 1972), S. 17

(25)

-19-Seine Eltern waren gllicklich verheiratet und er hatte mehrere Geschwister, mit denen er viel erlebt hatte. Einer seiner BrUder sagt z.B. von der

47

Mutter, dass sie immer die Zentralgestalt der Familie gewesen sei. Die Familie Boll erlebte schlimme Zeiten, vor allem wahrend der Wirt-schaftskrise der dreissiger Jahre, aber die verschiedenen Mitglieder

der Familie unterstlitzten einander gegenseitig. So wurde Geborgenheit und Einheit beibehalten. Der positive Eindruck eines gllicklichen Familien-lebens wurde in seinem erwachsenen Leben kontinuiert, denn der Dichter ist heute gllicklich verheiratet und hat drei Sohne. So markiert dieser Eindruck heute noch die "Bollsche" Familie, einen, wie man ihn nennen kann, vollstan-digen Familienkreis.

Wenn schon gesagt wurde, dass Bolls Kindheit seine Dichtung beeinflusst habe, mag es zunachst liberraschend anmuten. Tatsache ist aber, dass eine positive Identifizierung mit der Kindheit (im allgemeinen und spezifisch im Falle Boll) einen bestinmten Einfluss auf die Entfal tung des spateren Lebens hat. Heinrich Bolls Dichtung ist dadurch beeinflusst worden, da er immer wieder auf die eigenen Kindheitserfahrungen zurlickgreift. Linder behauptet: "Die Kindheit ist sein Protestpotential. [ ... ] Seine positive Identi-fizierung mit der Kindheit gibt ihm den Blickpunkt flir seine Kritik an der gegenwartigen modernen, industrialisierten, blirokratischen Welt." 48

Das vom Menschen angestrebte Idealbild ein.er gllicklichen Familie, so wie der Dichter es ungefahr erlebte und noch erlebt, erscheint aber nicht in seinen Romanen. Entweder leben die Eltern getrennt (Und sagte kein einziges Wort;

(Haus ohne Hliter;

Billard urn halbzehn) oder ein Ehepartner fehlt

Billard urn halbzehn; Gruppenbild mit Darnel· Unter der Unvollstandigkeit des Familienlebens leiden vor allem die Kinder, und bleiben im Prinzip dem Idealbild einer vollstandigen, gllicklichen Familie fern.

I.n Haus ohne Hliter kommt die Verwirrung der Kinder deutlich zum Ausdruck, da der Vater in sowohl der Familie Brielach als der Familie Bach fehlt. Die zwei Jungen, Heinrich und Martin,sind meistens tagsliber alleine zu Hause. Martin Bach muss alleine frlihstlicken, und wenn er von der Schule

47

Vgl. Alfred Boll, Bild einer deutschen Familie.

s.

224

Die Bolls (Koln 1981), 48

(26)

zurUckkommt, ist das Haus fast immer leer. Sein Freund Heinrich muss fUr die tagliche HaushaltsfUhrung sorgen. Seine Mutter lebt mit "Onkeln" zusammen, arbeitet den ganzen Tag und verdient nicht viel dabei. Diese verstorten Verhaltnisse veranlassen, dass die Elternrolle vonMutter und Vater fUr die heiden Jungen einer perspek-tivischen Verzerrung ausgesetzt ist.

Anlass fUr die zerstorten Familien in den Romanen und Erzahlungen ist immer wieder der Krieg gewesen. Wegen des Krieges ist ein Familien-leben fUr die Bogners (Und sagte kein einziges Wort) nicht vorhanden. Der Krieg hat das Famili.enleben der Familien Bach und Brielach (Haus

ohne Hliter) zerstort. Hans Schnier (Ansichten eines Clowns) verliert all seinen Respekt vor seinen Eltern, wenn seine Schwester, Henriette, als Flakhelferin an die Front geschickt wird. Sie kehrt nicht wieder zurUck. Obwohl die Familie Fahmel (Billard urn halbzehn} den Druck der politischen und wirtschaftlichen Verhaltnisse nach dem Krieg Uber-standen hat, bleiben die Beziehungen in der Familie noch formell und weit vom Ideal entfernt.

Die Welt, worin Boll heranwuchs, war eine Welt, in der Werte wie Intimitat, Nahe und Vertrautheit herrscb.en. Da er sich in jener Welt wohl fUhlte

und sich positiv mit ihr identifizierte,konnte er am Anfang seiner Dichtung, wie heute noch, nicht mit der Sachlichkeit der heutigen Familie in einer modernen, bUrokratischen und industrialisierten Welt zurechtkommen. Gegen die Sachlichkeit, BUrokratie und Industrie, die dem Familieleben Intimitat und Nahe rauben, richtet der Dichter seine Kritik.

2.4 BoLLS ANSICHTEN tiBER DAS HELDENPRINZIP

Uber die Frage, ob es Uberhaupt Helden in den Romanen Heinrich Bolls gabe, ob man einige Figuren seines Personals als 'Helden' bezeichnen konnte, kann viel diskutiert werden. James Reid meint, Boll glaube nicht an Helden. Seine Individuen seien eher Teil einer Gruppe oder eines Kollektivs. 49

49

(27)

-21-Tatsache ist, der Dichter hat bestimmte Ansichten Uber seine Roman-figuren und ordnet ihnen dementsprechend bestimmte Eigenschaften zu. Die Hauptfiguren in den Bollschen Romanen sind unheroische Gestalten, vom versagenden Heldentyp. Sie sind 'Helden', aber nicht im tradi-tionellem Sinn, d.h. sie treten nicht als aktive, handelnde, siegende Figuren auf, sondern sind meistens passiv, schwach und im grossen und ganzen nicht nachahmenswert. Beim Rezipienten hat diese Beschaffenheit seiner Figuren eine Verweigerung der Identifizierung zur Folge.

Eine genauere Beobachtung des allgemeinen Bollschen Personals ist wichtig, denn die verschiedenen Romangestalten (auch diejenigen in seinen Erzahlungen) lassen sich in verschiedene Kategorien einordnen. Man kann auch sagen, sie sind verschiedene Typen.

Als ein Kritiker den Dichter einmal lobte, da er in seiner Dichtung "das Armeleutemilieu" 50 verlassen habe, und seine Werke jetzt von ''Waschklichengeruch'' 51 frei seim, schrieb Boll 1959 einen Aufsatz:

Zur Verteidigung der Waschklichen. Dieser Aufsatz dient als Verteidigung fUr seine Personen mit dem Waschklichengeruch. Er selbst erklart das Wort Wasc.hkiiche als "Kleinblirger", 52 und typisiert so in der Tat seine Personen im allgemeinen. Siegfried Lenz weist darauf hin:"[ ... ] er sucht sich das Personal, mit dem er sich, gewissermassen, versteht."53 Boll versteht seine Personen, denn er flihlt sich wohl in der Welt des Kleinblirgers. Dieses Kleinblirgerliche hat er noch immer verteidigt, "und zwar urn so entschiedener, je mehr dieses Kleinblirgerliche in der

westdeutschen Wohlstandsgesellschaft der Nachkriegszeit als etwas Minderes, Niedriges angesehen wurde, Kleinblirgertum als der Abfall der

Wohlstandsge-54 sellschaft."

Die Figuren in Bolls Romanen sind vielleicht Menschen, die von der Wohlstandsgesellschaft und von der herrschenden Moral nicht als fein

angesehen oder hoch geschatzt werden. Deswegen wird ihnen die Bezeichnung "Kleinblirger" zugewiesen. Der Dichter baut seine Personen aber bewusst so auf, dass sie von der Gesellschaft in Frage gestellt werden.

50

H. Boll, "Zur Verteidigung der Waschklichen", Hierzulande, S. 123 51

Ebd., S. 123 52

Ebd. , S. 123f. 53

S. Lenz, "Sein Personal", In Sachen Boll, S. 30 54

(28)

Je mehr sie in Frage gestellt werden, desto starker wird ihre Position . ht 55

in den Augen des Dlc ers.

Lenz meint in seinem Artikel: "Die Kennkarte des Bollschen Personals ist seine manchmal lachelnde, manchmal kohlhaassche, immer aber herausfordernde Leidenswilligkeit."56 Seine Personen leiden. Einerseits ziehen sie sich zurUck aus der Welt, und bleiben so ihrem Leiden treu; anderseits aber sind sie auf die Welt angewiesen. "Die Konflikte seiner Figuren sind nicht unverbindlicher Art, sondern durch die Erfahrungsregel bestimmt, dass die Wirklichkeit den Menschen erprobt und zeichnet: man wird zum Leser seiner eigenen Not. Wo immer diesen Personen etwas zustosst [ ... ]-ihre Not macht

d d h t .. d" ,57 sie durch un urc ver rauenswur lg.

FUr den Dichter ist das Alltagliche wichtig, denn in dem Alltaglichen

liegen das eigentliche Soziale und das Humane, zwei Werte, die er besonders ..

schatzt. In seinen Frankfurter Vorlesungen verkUndigt Boll eine Asthetik des Humanen; damit rebelliert er gegen die heutige, moderne bUrokratische Wohlstandsgesellschaft, in der das Humane in manchen Hinsichten schon verlorengegangen ist.

Wie sieht also der Bollsche Held aus? Welche Eigenschaften werden ihm vom Dichter zugewiesen, so dass er als Held klassifiziert werden kann? FUr Richard Plant sind die Bollschen Helden unheroische Menschen. Sie

58

wUrden du~chs Leben gefUhrt, als ob mit einem Zug. FUr Marcel Reich-Ranicki sind sie "beklagenswerte Opfer der historischen Verhaltnisse, hilflose Durchschnittsmenschen, herumirrende Individuen, die nicht einmal die Moglichkeit erwagen, fUr etwas oder gegen etwas zu kampfen."59

Wenn man an die konventionelle Bedeutung der Vokabel Held denkt, dann liegt etwas vom Begriff Aktion darin, oder man erwartete mindestens von dem konventionellen Helden eine aktive Handlung. "Helden handeln, opfern sich auf eigenen Entschluss fUr eine Idee, eine Sache, sie werden hinge-richtet oder ermordet".60 In Hinsicht auf diese Pramisse, unterscheiden sich die Bollschen Helden von den konventionellen Helden.

55 56 57 58 59 60 Vgl. ebd., S . . 155 S. Lenz, S. 26 Ebd., S. 31

Vgl_, R. Plant, "The World of Heinrich Boll", The German Quarterly, 33,2 (1960),

s.

127

M. Reich-Ranicki, "Heinrich Boll'', Deutsche Dichter der Gegenwart, hg. Benno von Wiese (Berlin 1973), S. 328

(29)

Ausgeliefert sind sie ihrem Schicksal und versuchen auch nicht gegen es anzukampfen, sondern tragen es passivisch. Sie sind nicht Handelnde, sondernLeidende, die verzweifelt und hilflos sind.

Ihrer sozialen Stellung nach, sind die Helden oft dem "kleinen Mann" ahnlich. Sie"erstreben aber auch keine andere soziale Stellung. FUr sie existiert ein anderes Wertsystem; und die Karriere bedeutet in diesem System wenig."61 Alter, Beruf, soziale Position, Bildung und Konfession haben kaum einen Ein-fluss auf sie. "Ob Angestellter oder Architekt, ob Clown oder Grosskaufmann -es sind immer wieder unglUckliche Sonderlinge und bedauernswerte Aussen-seiter, hilflos passiveund doch protestierende, naive und unentwegt raso-nierende Menschen." 62 Jeder Held, jede Heldin bleibt stets ein Indivi-duum besonderer Art, und ist fast durchschnittlich. Sie existieren als Aussenseiter oder Randfiguren, da sie sich aus der Welt zurUckgezogen haben. Die Bollschen Helden sind fahig, zu weinen. Dadurch zeigen sie tiefe Emotion und Sentimentalitat, die der vom Dichter verkUndeten Asthetik des Humanen entspricht.

Wie Albert Camus, ladt Boll seine Leser nicht ein, seine Helden zu bewun-63

dern. Nach Boll ist ein Held ein Mensch, welchersich gegen die bUrgerliche Gesellschaft wehrt, einer, der sich in einer Wel t von bestimmten Institu-tionen, wie Staat und Kirche, nicht zurechtfinden kann. Sie gleichen, was Boll nennt, einem reinen Menschen. Ein reiner Mensch, sagt der Dichter, sei jemand, der Uber Einfalt und Unschuld des Herzens verfUge; jemand,

der fast immer in Konflikt mit den Gesetzen der Religion und der Gesell-64

schaftsordnung gerate. Fred Bogner (Und sagte kein einziges Wort) und Hans Schnier (Ansichten eines Clowns)sind Bollsche Helden, die dem Bild eines reinen Menschen entsprechen. Diejenigen, die ausserhalb der Kon-ventionen der Konsumgesellschaft auftreten, anders als die "Normalen" reagieren, asserhalb der akzeptierten Verhaltensweisen der Gesellschaft handeln, sind Bolls Ansicht nach Heldenfiguren.

In der psychologischen Beschaffenheit seiner Helden aussert sich Bolls Kritik, sei es an Kirche,Staat, Gesellschaft oder Politik, weil er sich positiv mit seinen Helden identifiziert und sein Wertsystem dem seiner Helden entspricht.

61

62

63 64

G. Pomeranz, "Die sowjetische Kritik Uber Boll", Sowjetliteratur, 4, (1963)'

s.

199

M. Reich-Ranicki ( 1973), S. 331

Vgl. W.J. Schwarz, Der Erzahler Boll (MUnchen/Bern 1973), S. 101

(30)

2.5 BoLLS ANSICHTEN tiBER DEN ROMAN ALS LITERARISCHE GATTUNG

Horst Bienek stellte dem Dichter die folgende Frage in einem Interview: "Welche literarische Gattung [ ... ] ist Ihnen am liebsten?"65, worauf Boll entgegnete: "[ ... ] diese Form, die Kurzgeschichte, ist mir die liebste."66 Das konnte die Vermutung entstehen lassen, dass der Roman als literarische Form fUr den Dichter nicht von grossem Wert ware. Das stimmt nicht, da fUr Boll nicht die Form wichtig ist, sondern das was einAutor veroffentlictthat, was er geschrieben hat. Zwischen den verschiedenen Formen gibt es, seiner Meinung nach, keinen Rang-, sondern einen Gradunterschied. In seinem Interview mit A. Rummel sagt der

Dichter: "[ ... ] eine Kurzgeschichte ist etwas anderes als ein Haarschnitt, ein Roman etwas anderes als eine Hose."67 FUr den Leser ist es auch nicht einfacher, eine prazise Definition fUr die Form der Bollschen Romane

zu finden, vor allem weil der Dichter einmal behauptete, er selbst wisse nicht genau, was ein Roman sei. Trotz dieser Behauptung bekommt man doch nahere Auskunft betreffend Bolls Ansichten Uber den Roman. In den Aussagen in einem Aufsatz, Uber den Roman (1960), kommen seine Ansichten zum Ausdruck. Vom modernen Roman oder Roman der Gegenwart ist hier die Rede, obwohl es dem Dichter selbst nicht ganz klar ist, was mit modern und Gegenwart gemeint ist. Boll ist der Meinung, "dass Verzweiflung ein verbindliches Ingredienz des modernen Romans"68 sein kann. Bei der Verzweiflung, so wiesie .in der Literatur manifestiert

ist, gibt es aber Qualitatsunterschiede. Erst wenn sie mit Verantwortung verbunden ist, enthalt sie Wert. Verantwortung, meint der Dichte~ sei ein grosses Wort fUr den Romancier. Humor ist auch ein wichtiges Element fUr den Roman, aber es scheint, als ob der moderne Roman auch den Humor

69 verloren habe.

Als Modell schlagt der Dichter den sogenannten" 'automatischen' Roman"70 vor. 65 66 67 68 69 70

"Dieser Roman, der automatische, ware die Konsequenz fUr alle

H. Bienek (1976), S. 169

Ebd., S.170

H. Boll, "Interview von Dr. A. Rummel", Aufsatze, Kritiken, Reden II,

s.

214

H. Boll, "Uber den Roman", Hierzulande, S. 120

Vgl. ebd., S. 120

(31)

Romanciers, die nur eine einzige Verantwortung kennen: die ihrer Kunst gegenuber." 71 In diesem Roman konnte der Humor gedeihen, denn einer, der Romane schreibt, lebt mit seiner Kunst zusammen und beim "Schreiben eines Romans werden Liebe und Dauer auf eine Weise vereint, die jeden Ehetheoretiker neidisch machen musste." 72

71

Ebd., S. 121. 72

(32)

3.1 DEFINITION DES BEGRIFFS 'KRIEG' 3.1.1 Allgemeine Definition

In Knaurs Lexikon wird Krieg folgendermassen definiert: "[ ... ]mit

Waffen durchgefUhrte Auseinandersetzung zwischen Staaten."1 The Concise Oxford Dictionary definiert Krieg als einen Streit zwischen Volkern, welcher von einer Streitmacht gefUhrt wird. Krieg bedeutet auch einen

Zustand offentlicher Feindseligkeit oder Aufschub allgemeinen internationalen Gesetzes; auch militarische Angriffe oder eine Reihe militarischer Angriffe. 2

3.1.2 Bolls Definition des Phanomens 'Krieg' und wie er Krieg charakterisiert Es ware fast unmoglich, solch eine wie vom Lexikon beschriebene kurze und

exakte Definition des Krieges anzufUhren, wenn man versucht, eine Bollsche Definition fUr das Phanomen Krieg zu formulieren. FUr den Dichter beinhaltet der Begriff Krieg viel mehr als nur einen Kampf oder Streit oder eine

Auseinandersetzung zwischen Staaten und Volkern. Er definiert Krieg als "das Hinschlachten der Unschuldigen Uberall auf der Welt und die Perversion, die Unordnung auf lange Sicht".3 Er ist "ein undurchschaubares und

grausames Phanomen",4 gleichsam eine Krankheit: wie der Typhus.5 Woes Krieg gegeben hat, sind die Symptome schmerzhaft, die Ursachen unbegreiflich. Wie Saint-Exup~r~ betrachtet Boll den Krieg nicht als richtiges Abenteuer, sondern nur als einen Abenteuerersatz.6

1 2 3 4 5 6

Droemer Knaur, Knaurs Lexikon a - z (Vollig neubearb. Aufl., MUnchen

1978), unter 'Krieg'

Vgl. H.W. und F.G. Fowler, The Conc~Oxford Dictionary of current English ( 5. Aufl., Oxford 1973/4), unter 'war'

H. Plard, "Mut und Bescheidenheit", Der Schriftsteller Heinrich Boll, hg. Werner Lengning (Koln 1977) , S.64

M. Reich-Ranicki (1973), S. 329

Diese Bezeichnung entlehnte Boll dem Autor Saint-Exup~ry und stellte sie seinem ersten Roman, Wo warst du, Adam? als Motto voran

Vgl. H. Schwab-Felisch, "Der Boll der frUhen Jahre", In Sachen Boll. Ansichten und Einsichten, S.167

(33)

H.M. Waidson kommt der Bollschen Auffassung des Kriegs nahe, wenn er schreibt: "FUr Boll bedeutete der Krieg die Erfahrungen des Schreckens und der Verschwendung in ungeheuerlichem Ausmasse. "7 Krieg ist sinnlos, denn er ist "ein komplexes Ganzes von Bewegungen, die nirgendwohin fUhren".8 Krieg wird in erster Linie als eine politische Auseinander-setzung zwischen Volkern oder Staaten gesehen; fUr den Dichter Boll aber gilt der Krieg als eine "Kapitulation des Menschen, als Krankheit zum Tode, als furchtbare Gestalt unserer SUnde."9

In seiner Charakterisierung des Phanomens Krieg verwendet Boll Begriffe wie Sinnlosigkeit, Zwecklosigkeit, Bosheit, Angst, Krankheit, Schrecken und Verschwendung. Dem Krieg ~hnet er sie alle zu. Gerade weil Krieg fUr den Dichter so furchtbar und entsetzlich ist, hasst er den Krieg und ringt mit ihm. Dieser Hass und dieses Ringen kommen nicht nur in seinem personlichen Leben zum Ausdruck, wenn er liich zum Beispiel fUr Demonstra-tionen gegen WaffenrUstung engagiert, sondern auch vor allem in seiner Dichtung, in der er seit dem Zweiten Weltkrieg sein Unbehagen und seinen Abscheu ausdrUckt.

3.2 DIE ROLLE DES KRIEGES IM LEBEN DES MENSCHEN BoLL

Dem Dichter ist das Phanomen Krieg schon sehr frUh im Leben begegnet, denn Boll wurde wahrend des Ersten Weltkrieges geboren. Spater

wurde er als Soldat eingezogen und macht~ er den Zweiten Weltkrieg ab 1939 aktiv mit. Heutzutage engagiert er sich politisch, halt Reden und nimmt an Demonstrationen gegen WaffenrUstung teil. Seit seiner Geburtsstunde hat Krieg eine bedeutende Rolle in seinem Leben gespielt, sei es nur durch seine Gegenwart, in der Boll geboren ist, sei es durch Bolls aktive

Teilnahme als Soldat an dem Zweiten Weltkrieg oder als engagierter Schrift-steller, der sich politisch in bezug auf Krieg bzw. WaffenrUstung aussert.

7

8

9

H.M. Waidson, "Die Romane und Erzahlungen Heinrich Bolls", Der Schriftsteller Heinrich Boll, S. 41

H. Plard (1977), S. 58

G. Kalow, "Das Portrait (1955),

s.

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