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Wie es sich leiben und leven läst

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Academic year: 2021

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“Wie es

sich leiben

und leben

lässt”

Rudolf Laban als Prophet einer neuen Körperlichkeit vor dem Hintergrund der Reformbewegungen seiner Zeit

Masterarbeit Duitslandstudies Ida Saladin

10479236

Universiteit van Amsterdam Erstleser: Moritz Föllmer Zweitleser: Hanco Jürgens August 2019

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Inhalt

Einleitung ... 3 Hauptfrage ... 5 Aufbau ... 5 Zur Forschungsliteratur ... 6 1. Biographischer Überblick ... 10

2. Historischer Rahmen: Moderne und Reformbewegungen ... 13

2.1. Probleme der Moderne ... 13

2.2. Die Antwort: ‘Lebensreform’... 15

2.3. Lebensreform und Bewegungskultur in der Praxis ... 18

2.3.1. Körper- und Bewegungskultur - Ausdruckstanz ... 18

2.3.2. ‘Monte Verità’ als Zentrum neuen Lebens ... 22

2.3.3. Wege zu Kraft und Schönheit, der Film ... 27

3. Begriffe von Reformbewegungen und Bewegungskultur ... 29

3.1. Natürlichkeit – Eine ‚Rückkehr‘ zur ‚Natur‘ ... 31

3.2. Gesundheit – „kerngesund“ oder „kernfaul” ... 32

3.3. Ganzheitlichkeit - eine Wiederverzauberung ... 34

4. Labans Schriften und Begriffe ... 36

4.1. Labans Schriften ... 36

4.1.1. Die Welt des Tänzers. Fünf Gedankenreigen. (1920) ... 36

4.1.2. Gymnastik und Tanz (1926) ... 42

4.1.3. Ein Leben für den Tanz. Erinnerungen (1935) ... 46

4.2. Labans Begriffe und die reformerischen Zentralbegriffe nach Fritzen ... 48

4.2.1. Natürlichkeit ... 49

4.2.2. Gesundheit ... 51

4.2.3. Ganzheitlichkeit ... 52

4.3. Labans Stil im Vergleich ... 54

4.4. Lehrer - Prophet - Reformer? ... 57

Schlussbetrachtung ... 61 Quellenverzeichnis ... 65 Labantexte ... 65 Bibliographie ... 65 Film ... 67 Internetquellen ... 67 Abbildungen ... 68

Liste mit Abkürzungen... 68

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Einleitung

„Es ging Laban nicht nur um eine Bewegungsschule, sondern um etwas das alles umfasste. Er wollte, dass jeder Mensch seine Ausdruckmöglichkeiten entwickeln lernte und sie auch ausleben könne. Das war wichtig, nicht nur für einen Tänzer oder Künstler, das war wichtig für jeden Menschen.“

Suzanne Perrottet, Die Befreiung des Körpers1 Rudolf Laban - der Tänzer, Choreograph, Pionier einer neuen Bewegungskultur, der Bewegungsanalyse, Tanznotation und des Ausdruckstanzes - ist bis heute ein großer Name auf dem Gebiet von Tanz und Bewegung. Seine Impulse, teils von seinen Schülern weiter ausgearbeitet, bieten praktische Anwendungen auf ganz unterschiedlichen Feldern. So gehört Labans Konzept von Space Harmony zum Programm an Tanz- und Theaterschulen, wird seine Tanznotation bis heute im Ballett und Theater verwendet, hat er in

therapeutischer Hinsicht großen Wert und wird die Laban Movement Analysis (LMA) zur Bewegungsanalyse von Sportlern, aber auch beispielsweise in der Forensik verwendet.2

Ich habe Laban über meine langjährige Praxis von Körperarbeit kennengelernt. So habe ich in Berlin verschiedene Intensivkurse zu Bewegungsstudien nach Laban und seiner Schülerin Irmgard Bartenieff absolviert.3 Andere Kursteilnehmer waren selten Berufstänzer: vielmehr waren es Architekten, Sänger, Performer, Therapeuten, die aus unterschiedlichsten Gründen beruflich an Bewegung interessiert waren. So auch ich: Schon seit meiner Kindheit beschäftige ich mich intensiv mit Tanz, Bewegung und Yoga und seit einigen Jahren unterrichte ich auch Kundalini Yoga. Labans Gedankengut hat sich dabei für mich als ein faszinierender Zugang zur Körperarbeit erwiesen. Der historische und deutschsprachige Laban wurde in den Kursen kaum behandelt, eher bewundernd erwähnt. Schwerpunkt waren dafür seine spätere Theorien zu Effort, Space, Time, Shape, so wie sie in seiner englischen Zeit formuliert und konkretisiert wurden: Dies sind bewegungspraktische Vorlagen, um durch Tanz mehr über die Beziehung zum eigenen Körper, zu den eigenen Bewegungsmöglichkeiten und der Umgebung zu erfahren. Die Grundlagen für diese Theorien entstanden jedoch schon Jahre davor in Deutschland.

In seiner Zeit in Deutschland, nach der vorigen Jahrhundertwende, beobachtete Laban ein großes Bedürfnis an Erfahrung der eigenen Körperlichkeit und Innerlichkeit, an der Erkundung des eigenen lebendigen Leibes - als Alternative zur zerebralen Dominanz der modernen Kultur. Er bot darauf eine 1 Suzanne Perrottet: Befreiung des Körpers. Erinnerungen. Hg. v. G. Wolfensberger. Wädeswil: Nimbus 2015, S. 83.

2 Antja Kennedy: Bewegtes Wissen. Laban/Bartenieff-Bewegungsstudien verstehen und erleben. Berlin: Logos Verlag 2014, S. 5. Zur

breiten Einsetzung von Labans Methoden siehe auch z.B. diese Fortbildung ‚Dansante Fysiotherapie‘ für Physiotherapeuten in den Niederlanden: URL https://www.psychfysio.nl/dansante-fysiotherapie-op-basis-van-laban-bartenieff/ (Zuletzt abgerufen am 31.08.2019).

3 An der Tanzfabrik, ein Zentrum für zeitgenössischen Tanz in Berlin: URL https://www.eurolab-programs.com/. (Zuletzt abgerufen

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Antwort in Form von neuem modernen Tanz und freier Bewegung. Sein Ziel war es, mittels Bewegung bei sich selbst, seinen Schülern und möglichst vielen Menschen in Deutschland den „tänzerischen Mensch“ zu erwecken, damit man zur „wirklich allseitigen Lebensbejahung“ kommen könnte:4

Ein Bedürfnis nach individuellem Ausdruck, nach vertieftem eigenen Körperempfinden und

Körperbewusstsein ist auch heute in Teilen unserer westlichen Kultur deutlich anwesend. Dies zeigt sich nur schon an der Vielzahl, der Popularität und den Möglichkeiten von Yogastunden, Retraiten, ‚Womencircles‘, Männergruppen, ‚Ecstatic Dance‘ Abenden (auch an der UvA im Angebot), Sufi-workshops, spirituellen Festivals (einer von Labans Lieblingsbegriffen war die Festkultur) und Mantrakonzerten. Auch gibt es zahlreiche Möglichkeiten, über einen längeren Zeitraum in ashramartigen Gemeinschaften zu leben und arbeiten, zu tanzen und zu meditieren.5 Dies ruft Assoziationen hervor an den fast mythischen Monte Verità in Ascona, wo u.a. Laban ab 1913 mit Schülern ein Paar Sommer lang eine ähnliche Gemeinschaft bildete.6

Mit Laban verbinden sich also nicht nur Tanz und Choreographie, sondern auch Begriffe wie Körpererfahrung, freier Ausdruck, Lebendigkeit, Befreiung – von gesellschaftlichen Zwängen, von Uniform und Korsett; experimentelle Lebensformen wie der erwähnte Monte Verità, die Organisation von großen Tanzveranstaltungen, wie etwa für die Nazis bei den Olympischen Spielen von 1936, Kontakte mit Goebbels und das Ausweichen nach England, wonach seine Karriere nochmal einen neuen Schub bekam. Labans Schaffen ist sehr breit und vielschichtig. Er hat neben der Publikation von vierzehn Büchern und gut siebzig Aufsätzen eine große Anzahl an Choreographien entworfen, war überdies tätig als Tänzer und Direktor an Theatern und Tanzvereinen, als Organisator von Kongressen. Er wirkte als Lehrer vieler bedeutenden Künstler und Bewegungspädagogen und als Inspirator eines neuen Bewegungsbewusstseins. Zwar gibt es auch heute noch in Deutschland eine lebendige Labanszene7, die Terminologie, viel Literatur und der Diskurs jedoch sind überwiegend auf die englische Sprache und Denkweise hin orientiert. Die Gründe dafür scheinen deutlich: Seine Theorien bekamen erst als er 1937 nach England zog eine mehr theoretisch systematisierte Form, und viele seiner ebenfalls ausgewanderten Schüler entwickelten sie in England und in den USA weiter. Jedoch meinte Laban in den 50er Jahren in England, dass er sich doch in Deutschland am besten verstanden fühle: „I feel my work is still best understood in Germany because of their intuitive and sensitive nature.“8

Es stellt sich nun die Frage, wie Laban sich in seiner deutschen Zeit äußerte. Wie klingt er in der deutschen Sprache? Was sind seine Begrifflichkeiten? Wie äußerte er sich vor dem Hintergrund seiner

4 Laban, Rudolf von: Ein Leben für den Tanz. Erinnerungen. Dresden: Carl Reißner Verlag 1935, S. 112.

5 Siehe dafür beispielsweise die Ponderosa in Deutschland. Dies ist eine Gemeinschaft und Treffpunkt für modernen Tanz

in Deutschland, wo Lehrer und Tänzer zusammenkommen. Auch bieten sie “Summercamps” und “Jugendcamps” an: https://www.ponderosa-dance.de/work-exchanges-and-jobs.html. (Zuletzt abgerufen am 31.08.2019).

6 Siehe dazu Kapitel 2.3.2.

7 Website des vor allem in Deutschland aktiven Laban/Bartenieff Verbands: https://www.laban-eurolab.org/.

(Zuletzt abgerufen am 31.08.2019).

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deutschen Zeit, in der er sich besser verstanden fühlte? Was verbindet ihn mit den Reformbewegungen, und worin unterscheidet er sich vielleicht?

Die Fragen lassen sich nicht einfach beantworten, denn bei all seiner Vielseitigkeit war Laban nach der Erfahrung vieler Zeitgenossen und ‘Labanites’ zugleich ungreifbar und verwirrend. 9 Er war wandelbar, weil in steter Entwicklung.10 So erscheint Laban oft als eine rätselhafte Gestalt in verschiedenen

Zusammenhängen. “It almost seems that, at times he was as much an enigma to himself as he was to others”, so sagt der Gründer des Laban Archives John Hodgson.11

Hauptfrage

Trotz dieser Ungreifbarkeit will die vorliegende Arbeit Laban näher kommen. Dazu dient der folgenden Hauptfrage: Wie ist der Bewegungspionier Laban, der heute überwiegend in englischsprachiger Rezeption weiter wirkt, in seiner deutschen Zeit und Sprache zu verstehen und vor dem Hintergrund von

Reformbewegungen einzuschätzen?

Damit verbunden sind weitere Fragen: Welcher Art waren die Probleme der Moderne als deren Antwort die Reformbewegungen wirkten? Wie sahen Beispiele von Antworten in der Praxis aus, wenn Laban mit ihr verbunden war?

Mit diesem Hintergrund kann der deutschsprachige Laban in seiner Eigenart und im Besonderen in seinen schriftlichen Äußerungen besser eingeschätzt werden. Dazu werden drei Schriften ausgewählt und in Beziehung zu ihrem lebensreformerischen Hintergrund gesetzt.

Angesichts des vielseitigen Werkes von Laban muss diese Arbeit sich auch beschränken. Im Folgenden kommen kaum zu Sprache: Choreographien, Theater und Filmarbeiten.12 Das gilt ebenso für seine

organisatorische und kulturpolitische Arbeit - auch die Festkultur, - teils im politisch völkischen Sinn, kann hier leider nur am Rande berührt werden. Spezifisch Tanztechnisches und das Notationssystem bleiben ganz außer Betracht.

Aufbau

Die Untersuchung gliedert sich in vier Kapitel, in denen jeweils Teilfragen erörtert werden.

Das erste Kapitel gibt eine biographische Übersicht, wodurch eine Orientierung in Labans Umfeld, in der Zeit und in Personen und Beziehungen ermöglicht wird. Die kurze Darstellung verwendet dazu die zwei zentralen Studien von McCaw 2011, Doerr 2008 und auch Labans Autobiographie Ein Leben für den Tanz aus dem Jahr 1935.

Das zweite Kapitel will die historischen Bedingungen erkunden. Der lebensreformerische

9 Valerie Preston-Dunlop: Rudolf Laban. An extraordinary Life. London: Dance Books Ltd 1998, S. ix.

10 John Hodgson: Mastering Movement. The life and work of Rudolf Laban. London: Methuen Publishing 2001, S. 16. 11 Ebd., S. 17.

12 Eine vollständige Übersicht dazu gibt Evelyn Dörr: Rudolf Laban. Das choreographische Theater. Die erste vollständige Ausgabe

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Hintergrund von Labans Ideen soll hier erörtert werden. Zuerst werden in 2.1 allgemeine Probleme mit dem Übergang zur Moderne geschildert. Dann stellt sich in 2.2 die Frage nach Antworten auf diese Probleme, in der Form von breiten lebensreformerischen Ansätzen. Die Teilkapitel in 2.3 richten den Blick auf die Praxis in Teilgebieten von Lebensreformen, soweit sie für Labans Wirken relevant sind und auf seinen Anteil darin: Zuerst werden in 2.3.1 aus dem ‘dezentralen Geflecht’ (Fritzen) konkrete Beispiele für Reform auf dem Gebiet der Körperlichkeit und des Tanzes vorgestellt. Die darauf folgenden Praxisbeispiele bringen Laban ins Bild: in 2.3.2 wird die lebensreformerische Praxis in Ascona und Labans Rolle dabei befragt. Anschließend wird in 2.3.3 ein populärer zeitgenössischen Film untersucht: Wege zu Kraft und Schönheit, in welchem auch Labans Werk vorgestellt wird. Der Film bietet nicht nur Bilder, sondern mit seinen Texteinschüben auch Material für die Begrifflichkeit.

Das dritte Kapitel stellt die Frage nach der Begrifflichkeit von Reformbewegungen und

Bewegungskultur. Es werden nach einer Begriffsdiskussion drei zentrale Reformbegriffe (nach Fritzen) dargestellt: In 3.1 Natürlichkeit, 3.2 Gesundheit und 3.3 Ganzheitlichkeit.

Das vierte Kapitel wendet sich dann Labans Schriften und Begriffen zu. Wie spricht er, wie lautet Laban? Was sind seine Ideen? Was ist das Verhältnis zu Reformbewegungen im Rahmen der erarbeiteten Begriffe? Es werden in 4.1 drei Texte behandelt (zur Begründung der Auswahl, siehe unten): Die Welt des Tänzers (1920), Gymnastik und Tanz (1926) und Ein Leben für den Tanz (1935). In 4.2 werden Labans Begriffe mit den drei zentralen reformerischen verglichen. 4.3 stellt die Frage nach Labans Stileigenarten. 4.4 untersucht den ‘mythischen’ Laban im Verhältnis zwischen ‘großem Lehrer’, Reformer und Prophet.

Zur Forschungsliteratur

Ziel dieser Studie ist also Laban in seiner deutschen Zeit zu untersuchen. Dazu soll zunächst die für diese Arbeit relevante Literatur erkundet werden A) zu Labans Leben und Werk und B) zu den

Reformbewegungen seiner Zeit im deutschsprachigen Raum. A) Zu Labans Leben und Werk:

Am wichtigsten für diese Arbeit ist die jüngste biografische Übersicht Rudolf Laban. Dancer of the Crystal von Evelyn Doerr, 2008.13 Die Autorin hat zu Laban promoviert und ist die erste Biographin, die Labans Leben und Werk auch tatsächlich nach akademischen Maßstäben dokumentiert hat. Das

Erkenntnisinteresse ihrer Arbeit liegt, neben einer genauen Dokumentation seines Lebens, vor allem auf Labans choreographischen Arbeiten und weniger auf seinen Schriften. Sie erwähnt zwar seine Schriften, inhaltlich geht sie aber nur auf Labans ersten und berühmtesten Text Die Welt des Tänzers von 1920 ein (im Folgenden WT). Anhand dieses Buches gibt sie eine Einführung in Labans Denken und seine

Bewegungsphilosophie. Das Buch Gymnastik und Tanz von 1926 (im Folgenden GT) nennt sie nur beiläufig

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oder in Bezug zu seinen Lebensereignissen. Labans Autobiographie Ein Leben für den Tanz (im Folgenden LT) wird kaum explizit erwähnt. Doerr zitiert zwar hieraus, Entstehungsbedingungen oder Rezeption 1935 werden nicht erörtert.

Neben Doerrs Studie gibt es noch eine ältere und in der Literatur viel zitierte Biografie von der Laban-Schülerin Valery Preston-Dunlop: Rudolf Laban. An Extraordinary Life.14 Preston-Dunlop wurde von Laban selbst ausgebildet. Sie beschreibt seinen Lebenslauf zwar bis ins kleinste Detail, jedoch wenig kritisch und ohne Quellenangaben und Verweisungen. Anekdoten und Geschichten werden frei übersetzt und sind weiter nicht dokumentiert. Sie stellt Labans Denken dar an der Hand von Choreographien und von WT, geht aber nicht tiefer auf Labans Texte und Sprache ein. John Hodgson, Gründer des Laban Archive, bespricht in Mastering Movement, The Life and Work of Rudolf Laban zunächst das Problem, Laban überhaupt zu verstehen. Auch thematisiert er die Sprachbarriere und stellt er einige Texte kurz vor. Leider bietet auch dieses Buch keine genauen Referenzen.15 Zu Labans Wirken in der Schweiz und zu seinen Methoden gibt Suzanne Perrottet, Mitarbeiterin und Geliebte von Laban, in ihrem postum ausgegebenen Erinnerungen Die Befreiung des Körpers kenntnisreiche Informationen aus erster Hand.16

Zu Labans Schriften ist besonders das Laban Sourcebook, herausgegeben von Dick McCaw, zu erwähnen.17 Hierin sind u.a. frühe deutsche Texte mit einer Einleitung versehen, und sind auch einzelne Textfragmente ins Englische übersetzt. WT bekommt auch in diesem Buch die meiste Bedeutung, die Autobiographie wird außer Acht gelassen. Vera Maletic gibt mit ihrem Body - Space - Expression, The Development of Rudolf Laban’s Movement and Dance Concepts eine komprimierte Einführung in Labans tanztheoretisches Denken. Ihr Schwerpunkt sind seine in England ausgearbeiteten Konzepte von space, effort, shape und sein Tanznotationssystem - Labanotation -, so dass das Buch für diese Arbeit weniger brauchbar ist.18 Eine historisch-kritische Ausgabe von Labans gesamten choreographischem Werk bietet Evelyn Dörr in Rudolf Laban. Das choreographische Theater.19 Die zahlreichen Choreographien und Filmskripts werden hierin geschildert und kontextualisiert.

Zum völkischen-nationalen Aspekt im Ausdruckstanz und in Labans Denken äußert sich beschränkt Gabriele Brandstetter in ihrem Beitrag Ausdruckstanz von Kerbs/Reuleckes Handbuch der

Reformbewegungen (siehe unten). Im weiteren auch Carole Kew in From Weimar Movement Choir to Nazi Community Dance: The Rise and Fall of Rudolf Laban's “Festkultur”20 und die jüngeren Studien von Christine

14 Preston-Dunlop, An extraordinary Life. 15 Hodgson, Mastering Movement. 16 Perrottet, Befreiung des Körpers. 17 McCaw, Laban Sourcebook.

18 Vera Maletic: Body, space, expression. The development of Rudolf Laban’s movement and dance concepts. Berlin:

de Gruyter 1986.

19 Dörr, Choreographisches Theater.

20 Carole Kew: From Weimar Movement Choir to Nazi Community Dance: The Rise and Fall of Rudolf Laban's "Festkultur". Dance

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Dickson, Dance under the Swastika: Rudolf von Laban’s Influence on Nazi Power21 und von Ana Isabel Keilson, Making Dance Modern. Knowledge, Politics and German Modern Dance.22

B) Zu Problemen der Moderne und Reformbewegungen:

Die Lebensreformbewegungen der Zeit um 1900 sind sehr gründlich und ausführlich erforscht. Das Interesse der Geschichtswissenschaft an ihnen begann um 1970 und stand in Zusammenhang mit den in den Jahren 1968 entstehenden “neuen sozialen Bewegungen, die man mitunter in inhaltliche Verbindung mit den Reformbewegungen der Jahrhundertwende brachte.” 23 Ein Beispiel hierfür ist das ältere, aber in der Reformforschung viel zitierte Buch von Wolfgang Krabbe Gesellschaftsveränderung durch

Lebensreform.24

Die meiste große Übersichtsliteratur zur Lebensreform und ihrer Zeit ist um die letzte

Jahrhundertwende erschienen. Maßgebend ist erstens das Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933 von Diethart Kerbs und Jürgen Reulecke (Hrsg.).25 Es bietet einen breiten Überblick über

Lebensreformen auf allen möglichen Teilgebieten des persönlichen und gesellschaftlichen Lebens; genauer auf zweiundvierzig Teilgebieten, die in sieben Kategorien geordnet sind.26 Lebensreform als Begriff ist dabei die zweite Kategorie. In der Kategorie Kunst und Kultur schreibt Gabriele Brandstetter über den

Ausdruckstanz und Laban.

Einen noch viel weitergehenden Überblick mit Detailuntersuchungen bietet zweitens Die

Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, von Kai Buchholz in zwei Bänden herausgegeben.27 Darin werden nicht nur historische Reformbewegungen untersucht, sondern auch ihre Kontinuität und Aktualität heute [d.h. 2001]. In den jeweiligen Vorworten von Kerbs/Reulecke und Buchholz wird betont, dass die Studien als eine Art Rückblick auf das vergangene 20. Jahrhundert dienen und gleichzeitig auf deutliche Parallelen zum ‘neuen’ Jahrhundert verweisen. In beiden Publikationen wird im Rahmen von Bewegungskultur auch der Ausdruckstanz untersucht und darin Laban als einer der führenden Köpfe genannt.28

Jünger ist drittens die Arbeit von Florentine Fritzen, Gesünder leben, Die Lebensreformbewegung im

21 Christine Dickson: Dance Under the Swastika. Rudolf von Laban’s Influence on Nazi Power. In: International Journal of

Undergraduate Research and Creative Activities: Vol. 8, Article 7 2016.

22 Ana Isabel Keilson: Making Dance Modern. Knowledge, Politics and German Modern Dance, 1890-1927.

Columbia University Press 2017.

23 Florentine Fritzen: Gesünder leben. Die Lebensreformbewegung im 20. Jahrhundert. Stuttgart: Steiner 2006, S. 23.

24 Wolfgang Krabbe: Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform. Strukturmerkmale einer sozialreformerischen Bewegung im

Deutschland der Industrialisierungsperiode. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1974.

25 Diethart Kerbs; Jürgen Reulecke (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933. Wuppertal:

Hammer 1998. 1998.

26 1. Umwelt und Heimat; 2. Lebensreform und Selbstreform; 3. Gemeinschaft und Gesellschaft; 4. Leben und Arbeiten; 5.

Erziehung und Bildung; 6. Kunst und Kultur; 7. Religiosität und Spiritualität. In: Kerbs/Reulecke, Handbuch der deutschen Reformbewegungen.

27 Kai Buchholz; Rita Latocha u.a.: Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900.

Band 1. Darmstadt: Häusser Verlag 2001.

28 Gabriele Brandstetter: Ausdruckstanz. In: Kerbs/Reulecke, Handbuch der deutschen Reformbewegungen, S.451-463 und Hedwig

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20. Jahrhundert. Fritzen begründet hierin, dass die Lebensreform nicht als eine einseitige Reaktion auf moderne Entwicklungen verstanden werden sollte, sondern selbst auch ein zutiefst moderner Gedanke war. Damit richtet sie sich gegen ältere Auffassungen von z.B. Krabbe, die oft der Rhetorik der jeweiligen Reformer selbst entnommen wurden.29

Seit den späten 1990er Jahren ist eine „gewisse Konjunktur des Körpers“ in der

Geschichtsschreibung zu sehen. Dies ist sicherlich auch zu verstehen in Zusammenhang mit der damals aufkommenden Geschlechterforschung, die sich den Themen der Sexualität und Körper zuwandte.30 Diesen Teilaspekt der Reformbewegung stellt Maren Möhring in ihrer körperhistorischen Analyse der deutschen Nacktkultur Marmorleiber: Körperbildung in der deutschen Nacktkultur (1890-1930) dar.31 Bernd

Wedemeyer-Kolwe legte in seiner Habilitationsschrift Der neue Mensch. Körperkultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik eine umfassende Studie auch über die Wechselwirkungen zwischen Lebensreform-, neureligiösen und Körperkulturbewegungen vor. Er untersucht die Körperlichkeit des ‘Neuen Menschen’ in den vier Ordnungskategorien von Rhythmus, Reinkarnation, Licht und Luft, Kraft und Schönheit. Danach schlägt er den Bogen zum ‘Neuen Menschen’ im Dritten Reich. Laban wird in der Kategorie Rhythmus beschrieben, u.a. auch in Zusammenhang mit seinem Wirken in Ascona. Auffällig ist die Position von ‘Reinkarnation’, noch vor ‘Kraft und Schönheit’ schon als zweite Kategorie. Hierin werden u.a.

Asienrezeption und Yoga in der Weimarer Republik erkundet. Er untersucht auch die Organisationsstruktur und Zahlen der Reform- und Körperkulturbewegungen. Sie könnten in der Weimarer Republik mehr als eine Million Anhänger gehabt haben.32

Besonders zur Reformsiedlung Monte Verità über Asconaist neben Wedemeyer-Kolwe maßgebend die Arbeit von Martin Green Mountain of Truth. The Counterculture Begins, Ascona.33 Der Text stellt Otto Gross, Gusto Gräser und Laban als drei zentrale Figuren von Ascona vor und vergleicht sie mit einander. Er beschreibt auch u.a. den Einfluss von Ascona auf Labans Karriere und vergleicht Labans große Erfolge mit denen der beiden anderen Reformer.

29 Fritzen, Gesünder leben, S. 37.

30 Maren Möhring: Marmorleiber. Körperbildung in der deutschen Nacktkultur (1890-1930). Köln: Böhlau Verlag 2004, S. 20. 31 Möhring, Marmorleiber.

32 Bernd Wedemeyer-Kolwe: Der neue Mensch. Körperkultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Würzburg:

Königshausen & Neumann 2004, S. 425. Die Studie ist mir leider erst vor Kurzem bekannt geworden. Ich konnte sie hier nur sehr beschränkt verwenden, da sie mir nur unvollständig digital zu Verfügung stand.

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1. Biographischer Überblick

Rudolf von Laban wurde am 15. Dezember 1879 in der Nähe von Pressburg - heute Bratislava - geboren. Sein Vater war ein respektierter Feldmarschallleutnant der Österreich-Ungarischen Armee, ein sehr autoritärer Mann; die Mutter war französischer Abstammung und sanfterer Natur.

Seit frühester Kindheit hatte Laban, nach seiner Selbsteinschätzung, eine große Einbildungskraft und ein großes Beobachtungsvermögen. Er zeigte Talent für persönlichen Ausdruck in Tanz, Theater, Bewegung und Zeichnen: “Ich war ein mit Augensinn und Formensinn begabter Mensch, und da gab es keinen anderen Weg zu meiner Seele, zu meinem Charakter, als über ein meiner Veranlagung

entsprechendes Handwerk.”34 Er war Zeichen- und Malerlehrling bei einem Meister in der naturalistischen Schule von Defregger.35

Zwischen 1891 bis 1896 reiste die Familie wegen der Posten des Vaters durch das ganze Österreichisch-Ungarische Kaiserreich, besonders auch in dessen peripheren Teile, sowie in Nordafrika. Während diesen Reisen sah Laban zum ersten Mal Derwischtänzer, Fakire und Schwerttänze. Diese

kultischen, mystischen und spirituellen Körper- und Bewegungserfahrungen beeindruckten ihn zutiefst und prägten sein Verständnis von Tanz, Bewegung und Leben.36 Ebenso fasziniert war er von den Bewegungen und geometrischen Figuren, die er bei den militärischen Übungen seines Vaters sah, und vom

theatralischen Aspekt der Märsche, Paraden und Leichenzüge.37

Unter dem Druck des Elternhauses fing Laban 1899 mit einer Offiziersausbildung an der

renommierten Militärakademie in Wien an. Diese brach er jedoch nach einem Jahr ab, um zuerst an der Kunstakademie in München, und später Architektur in Paris an der École des Beaux-Arts zu studieren.38

1900 heiratete er die Malerin Martha Fricke. Sie starb 1907 in Paris, Laban zog darauf wieder nach München und heiratete 1910 die Sängerin Maja Lederer. In München arbeitete Laban als Maler und Illustrator und gründete seine erste Tanzschule. Laban entwickelte hier auch sein Organisationstalent: Er organisierte große Tanz- und Theaterveranstaltungen, insbesondere theatralische Faschingszüge. Während eines Kuraufenthalts in der Siedlung Hellerau (bei Dresden) traf er auf den Musiker und ‘Rhythmischen Gymnastiker’ Émile Jaques-Dalcroze39 und auf dessen Schülerin Suzanne Perrottet. Sie wurde zu seiner Mitarbeiterin und Zweitfrau.

1913 zogen Laban, seine Frauen und einige Schüler zum ersten Mal für die Sommermonate nach Ascona. Hier gründete er seine Schule für Kunst, die bis 1918 große Anziehungskraft auf Tanz- und

Bewegungsbegeisterte aus ganz Europa ausübte.40 Die Erfahrungen in Ascona wurden prägend für den Rest 34 LT 1935, S. 21.

35 Hodgson, Mastering Movement, S. 22. 36 Doerr, The Dancer of the Crystal, S. 5-6. 37 Ebd., S. 6.

38 Ebd., S. 13.

39 Vgl. dazu ausführlich Perrottet, Befreiung des Körpers. 40 Doerr, The Dancer of the Crystal, S. 33.

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seiner Laufbahn: Hier sammelte er u.a. die vielen Ideen, die 1920 in WT ihren Ausdruck fanden. Seit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs lebte Laban mit seiner Gefolgschaft in Zürich41, wo er erfolgreich an einer eigenen Schule lehrte, choreographierte, im dadaistischen Umkreis auftrat und an WT weiterarbeitete. Trotz Problemen mit Gesundheit und Ausländerbehörden sowie Geldsorgen war Zürich eine fruchtbare Zeit seiner Entwicklung. 1920 wurde WT publiziert. Dies führte zu Labans Durchbruch beim großen Publikum. Das Buch wurde zur Bibel der Tanzbewegung.42

In den 1920er Jahren lebte und arbeitete Laban in verschiedenen Städten Deutschlands. Es war für ihn eine fruchtbare Zeit. Die Ideen aus WT wurden nun allmählich ausgearbeitet. Er publizierte in kürzester Zeit zahlreiche Aufsätze und Texte, so in 1926 drei Bücher, worunter GT. 1928 publizierte er die erste Studie Kinetographie über sein Tanznotationssystem, das heute als Labanotation43 bekannt ist und

verwendet wird. Laban war in diesen Jahren immer wieder erfolgreicher Organisator von Tanzanlässen und Kongressen. Er und seine Schüler eröffneten vierundzwanzig Labanschulen in ganz Europa - von denen manche bis heute existieren - und gründeten Bewegungschöre für Laien. 44

1930 bis 1933 war Laban Tanzdirektor der Berliner Staatsoper. 1934 wurde er von Goebbels zum Tanzdirektor der Deutschen Tanzbühne ernannt,eine hochangesehene Stelle im nationalsozialistischen System.45 Er war nun verantwortlich für die Organisation, Programmierung und Ausbildung zum Deutschen Tanz.46 Auf diesem Höhepunkt seiner gesellschaftlichen Anerkennung schrieb Laban 1935 seine

Lebenserinnerungen Ein Leben für den Tanz(LT). Auch bekam er 1936 den Auftrag, die Choreographie zur Eröffnung der Olympischen Spiele in Berlin zu gestalten. Nach der Generalprobe in der Dietrich Eckart Bühne47 aber, wo Goebbels und viele prominente Nationalsozialisten anwesend waren, wurde sein Stück Vom Tauwind und der neuen Freude kurzfristig abgesetzt. Obwohl von der Presse hoch gelobt, wurde die riesige Produktion mit 1200 Tänzern von Goebbels persönlich abgewiesen. Dieser schrieb dazu in seinem Tagebuch: “Dietrich Eckartbühne. Tanzspiele Probe: frei nach Nietzsche, eine schlechte, gemachte und erkünstelte Sache. Ich inhibiere vieles. Das ist alles so intellektuell. Ich mag das nicht. Geht in unserem Gewande daher und hat garnichts mit uns zu tuen [sic].”48

41 Genauer im ländlichen Hombrechtikon, wo sie im Reformgeist u.a. Gemüse anbauten und eigenen praktische Kleidung nähten.

Vgl. Perrottet, Befreiung des Körpers, S. 94.

42 Doerr, The Dancer of the Crystal, S. 82. 43 McCaw, Laban Sourcebook, S. 155.

44 Doerr, The Dancer of the Crystal, S. 107. Schulen in Deutschland und die Schweiz (Zürich) werden erwähnt, andere Länder

(die Niederlande z.B. nicht). Zur Fortentwicklung der Labanschulen siehe die Folkwangschule in Essen URL: https://www.folkwang-uni.de/home/tanz/izt/kuenstlerisches-profil/ und die Lola Roggeschule in Hamburg: URL: http://lolaroggeschule.de/kurze-schulgeschichte/. (Zuletzt abgerufen am 31.08.2019).

45 Doerr, The Dancer of the Crystal, S. 158. 46 Ebd., S. 160.

47 Dietrich Eckart war völkischer Publizist, radikaler Antisemit und Redaktor des Völkischen Beobachters. Gestorben 1923. Zu

Dietrich Eckart siehe Joseph Howard Tyson Hitler’s Mentor: Dietrich Eckart, His Life, Times & Milieu. New York: IUniverse Inc. 2008

48 Joseph Goebbels: Die Tagebücher. Im Auftr. des Instituts für Zeitgeschichte. Hrsg. v. Elke Fröhlich. Teil I, Aufzeichnungen 1923

1941. Band 3/II, März 1936 - Februar 1937. S. 323. Das Wort ‘inhibieren’ scheint bei Goebbels häufiger vorzukommen, im Sinne von ‘verhindern’ und einstweilig verbieten.

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Nach dieser Abweisung stand Laban zwar noch ein Jahr bei der Deutschen Tanzbühne unter Vertrag, seine Karrierechancen in Deutschland waren aber verspielt. Eine andere Stelle konnte er nicht mehr erhalten und sah sich unter Druck des Regimes 1937 gezwungen, Deutschland zu verlassen; er zog über Frankreich nach England. Hier gelang es Laban, vor allem durch die Hilfe seiner ebenfalls geflüchteten Schüler, seiner Karriere einen neuen Schwung zu geben: seine Ideen wurden nun praktischer, bekamen klarere Umrisse. Er schrieb, teilweise mit Hilfe seiner Studenten sieben englischsprachige Bücher.

1958 starb Laban. Seine Schüler entwickelten sein Werk in verschiedene Richtungen weiter: in Tanzanalyse, Choreographie, Labanotation, LMA, Tanztherapien und sogenanntes Bodywork, die sich bis heute als lebendige Methoden erweisen.49

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2. Historischer Rahmen: Moderne und Reformbewegungen

“Aus dem ölglatten Geist der zwei letzten Jahrzehnte

des neunzehnten Jahrhunderts hatte sich plötzlich in ganz Europa ein beflügelndes Fieber erhoben. Niemand wußte genau, was im Werden war; niemand vermochte zu sagen, ob es eine neue Kunst, ein neuer Mensch, eine neue Moral oder vielleicht eine Umschichtung der Gesellschaft sein solle.“

Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften50

Dieses Kapitel dient der Darstellung des historischen Hintergrunds: In welchem Verhältnis standen Probleme der Moderne und Reformbewegungen zueinander? Wie sahen konkrete Beispiele von Reformprojekten aus, in denen Laban eine Rolle spielte?

2.1. Probleme der Moderne

Mit dem Ende des 19. und dem Übergang zum 20. Jahrhundert geriet auch die deutschsprachige Gesellschaft in einen großen Umbruch. Schon seit dem mittleren 19. Jahrhundert gab es zahlreiche Wandlungsprozesse. Die traditionelle Gesellschaft wandelte sich in einem bis dahin noch nicht gekannten Tempo und veränderte das Leben in allen Richtungen. Die in Deutschland spät in Gang gekommene Industrialisierung mit der dazugehörenden Technisierung und Urbanisierung führte nun zu einer anderen Lebenswelt, mit überfüllten Städten, mit modernen Verkehrsmitteln, Elektrizität, Massenpresse, und neuen Kommunikationstechniken: zunächst Telegraph, dann Telefon, Radio und Film.

Die Einführung von Elektrizität und besonders von elektrischem Licht hatte weitreichende Konsequenzen für die Lebenswelt: In den frühen 1880er Jahren beleuchteten die ersten elektrische Laternen das nächtliche Berlin und Wien, sowie auch andere Metropolen.51 Dies führte u.a. zur Möglichkeit, längere Arbeitstage einzuführen: Fabriken konnten nun gasfrei, sicherer, verhältnismäßig geruchlos und hell erleuchtet rund um die Uhr produzieren. Zwar wurde in privaten Haushalten erst allmählich und viel später elektrisches Licht eingeführt - in Berlin waren z.B. erst Ende der 1920er Jahren 50 Prozent der Wohnungen mit Elektrizität ausgestattet - die meisten öffentlichen Räumlichkeiten aber, sowie Straßen und Plätze verloren nun ihren früheren Schimmer und ihre Dunkelheit.52 Dieses moderne Denken mit seinen technischen Folgen bewirkte, was auf Niederländisch oder Englisch Verlichting oder

Enlightenment heißt, eine Aufklärung im praktischen Sinn: das Leben wurde heller und vieles berechenbar. Max Webers vielzitierter Begriff der „Entzauberung der Welt“ lässt sich in diesem Kontext sehen. In seinem Vortrag Wissenschaft als Beruf (1919) heißt es:

50 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. München: Carl Hanser Verlag 2013, S. 200. 51 Kerbs/Reulecke, Handbuch der deutschen Reformbewegungen, S. 19.

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Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet also nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht. Sondern sie bedeutet etwas anderes: das Wissen davon oder den Glauben daran: daß man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt. Nicht mehr, wie der Wilde, für den es solche Mächte gab, muss man zu magischen Mitteln greifen, um die Geister zu beherrschen oder zu erbitten. Sondern technische Mittel und Berechnung leisten das. Dies vor allem bedeutet die Intellektualisierung als solche.53

Die ‚Intellektualisierung der Welt‘ und die technische Aufklärung bedeutete nicht nur einen Verlust von altem ‚geheimnisvollen‘ Schimmer - und vom Glauben, auf ,magische Mittel‘ zurückgreifen zu können, sondern auch einen Anspruch auf eine Vorherrschaft der Rationalität.

Der zunehmende Prozess der Verwissenschaftlichung und Rationalisierung der Gesellschaft, den Weber hier darlegt, wurde von vielen Zeitgenossen ähnlich empfunden und in zahlreichen philosophischen und literarischen Schriften geäußert. So schreibt Musil - nur ein Jahr jünger als Laban, auch Kind der k.u.k. Monarchie und aus der gleichen Gesellschaftsschicht stammend - im obigen Motto von einem

‚beflügelnden Fieber’, wovon niemand wusste, wozu es führen würde. Es zeigt die Spannung und das Sentiment der Zeit um die Jahrhundertwende: Sie war geprägt vom zentralen Gegensatz zwischen einem großen Fortschrittsglauben und der Angst vor eben diesem Fortschritt. Besonders das Bildungsbürgertum schwankte zwischen “Modernitätseuphorie und Kulturpessimismus, zwischen Hoffnung und Zuversicht einerseits, Angst und Desorientierung anderseits, zwischen Selbstüberschätzung und Selbstzweifel.”54 Als Musterbeispiel für die “Ängste hellsichtiger Menschen” kann die Äußerung des Philosophen Ludwig Klages gelten,55 der 1913 er im berühmt gewordenen Aufsatz Mensch und Erde schrieb:

[Der Fortschritt] rodet Wälder, steigt die Tiergeschlechter, löscht die primitiven Völker aus, überklebt und verunstaltet mit dem Firnis des Industrialismus die Landschaft und entwürdigt, was er von Lebewesen noch überläßt gleich dem ‘Schlachtvieh’ zur bloßen Ware, zum vogelfreien Objekt ‘rationeller‘ Ausbeutung. In seinem Dienste aber steht die gesamte Technik und in deren Dienste wieder die weitaus größte Domäne der Wissenschaft.56

Tatsächlich erlitten soziale Selbstverständlichkeiten wie Konfession und feste gesellschaftliche Rollen, die schon über Jahrhunderte galten, innerhalb weniger Jahrzehnte schwere Legitimitätseinbußen und Funktionsverluste. Die einstmalige gesellschaftliche Kohäsion (die aber auch stark idealisiert wurde) schien auseinanderzufallen, die vormoderne Gemeinschaft wurde zu einer Gesellschaft.57 So relativierten

53 Weber, Max: Wissenschaft als Beruf. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jan 1. 1989. Nr. 37 (4), S. 340. 54 Kerbs/Reulecke, Handbuch der deutschen Reformbewegungen, S. 157.

55 Ebd., S. 13.

56 Klages zitiert nach Kerbs/Reulecke, Handbuch der deutschen Reformbewegungen, S. 13.

57 Ferdinand Tönnies beschreibt diese Trennung in seiner soziologischen Studie Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen. (Leipzig: Fuesverlag 1887). Digitalisat und Volltext:

http://www.deutschestextarchiv.de/book/show/toennies_gemeinschaft_1887. (Zuletzt abgerufen am 31.08.2019). Tönnies Studie hatte in der Jugendbewegung der 20er Jahre eine erneute und breite Wirkung. Siehe dazu Kerbs/Reulecke, Handbuch der deutschen Reformbewegungen, S. 157.

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Säkularisierung und Verwissenschaftlichung die herkömmlichen Gewissheiten des Glaubens und der Moral.58 Es gab dazu eine neue und viel größere Freiheit des Einzelnen, um nicht nur eine andere Arbeit, sondern auch eine andere Autorität, einen anderen Glauben, eine neue soziale oder seelische Heimat zu suchen. Man strebte nach neuen Zugehörigkeiten, die Sinn und Anschluss vermitteln konnten und so auf irgendeine Weise die „transzendentale Obdachlosigkeit“ aufheben würden.59 Vor allem in

bildungsbürgerlichen Kreisen löste diese Entwicklung eine große Reformbereitschaft aus.60 Dies zeigte sich in Kunst-, Literatur- und Architekturströmungen; es wurde aber auch im Besonderen propagiert, einen neuen Lebensstils zu führen. Die Absicht dabei war, die Gesellschaft neu einzurichten und dies unmittelbar anders, als es die alte traditionelle „Väterwelt“ bis dahin gemacht hatte.61

Ein zurückkehrender Begriff ist also modern oder als Epochenbegriff Die Moderne. Dies war zum einen eine Selbstzuschreibung verschiedener neuen Bewegungen, die sich um die Jahrhundertwende intellektuell, kulturell, ästhetisch vom Gegebenen und Beschränkten abkehrten.62 Zum anderen wurde dies den Bewegungen mit einem starken „Erneuerungspotenzial“, vor allem im Nachhinein und nicht selten spöttisch, zugeschrieben.63

2.2. Die Antwort: ‘Lebensreform’

Reform, Reformbewegung und Lebensreform waren die prägnanten Begriffe für diese Erneuerung. Der Begriff Reform entwickelte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einem Schlagwort, das zunächst vor allen den „bloßen Neuheitsaspekt gegenüber der Konvention“ ausdrucken wollte, und kaum politisch gemeint war.64 Der Begriff wurde von den jeweiligen modernen Reformern selbst anfänglich nur selten verwendet. Erst im Laufe des Ersten Weltkrieges setzte sich ‘Lebensreform’ auch als üblicher Oberbegriff durch und wurde von sowohl den dazugehörigen Bewegungen als auch den oft skeptischen

Außenstehenden als solcher beschrieben.65 ‚Reform‘ bedeutete keinen radikalen Bruch mit dem bestehenden System, sondern eher eine Umwandlung in eine frühere oder andere Gestalt, die als besser idealisiert wurde. Die Reformbewegungen kämpften nicht politisch gegen die herrschende Gesellschaft, wie es z.B. der Kommunismus tat; sie wollten umgestalten, nicht zerstören:„[Die Lebensreformer] waren nicht antithetisch, wollten keinen Umsturz, sondern eine ruhige, friedliche Entwicklung.“66

58 Kerbs/Reulecke, Handbuch der deutschen Reformbewegungen, S. 156.

59 Ebd., S 157. Der Begriff der ‚Transzendentale Obdachlosigkeit‘ der bürgerlichen Welt stammt von Georg Lukács und seiner Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der Großen Epik aus 1916. 60 Kerbs/Reulecke, Handbuch der deutschen Reformbewegungen, S. 11.

61 Ebd., S. 11. und S. 244.

62 Thomas Nipperdey: Probleme der Modernisierung in Deutschland. In: Kann Geschichte objektiv sein? Historische Essays. Hrg. v. Paul Nolte. München: C.H. Beck Verlag 2013. S. 244.

63 Fritzen, Gesünder leben, S. 11 und Nipperdey, Historische Essays, S. 253.

64 Reinhart Koselleck u.a.: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hrsg. V. dens.; [im Auftr. des Arbeitskreises für Moderne Sozialgeschichte]. Bd.1 A-D. Stuttgart : Klett-Cotta 1972, S. 357. 65 Fritzen, Gesünder leben, S. 10.

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Die Bestrebungen waren dabei nicht bescheiden: Durch eine Reform des individuellen Lebens sollte der „fortschreitende[n] Gesundheitsminderung des modernen Menschen durch Zivilisationsschäden“ entgegen gewirkt werden.67 Ziel war es, über individuelle Verbesserungen und Veränderungen zu einer gesamtgesellschaftlichen Erneuerung der Lebensführung zu gelangen. Mit der Steigerung des persönlichen Wohlbefindens sollte allmählich auch das “als krank empfundene Gemeinwesen” umgestaltet werden.68 Über das individuelle Bedürfnis und Engagement hinaus sollte also eine kollektive Verbesserung zustande kommen. „Durch Selbstreform, durch eine ‚schrittweise Aufklärung und Arbeit an uns selbst‘, sollte eine evolutionäre Transformation der Gesellschaft bewerkstelligt […] werden.“69 Dies würde dann für die Gesellschaft als Ganzes, als ‚Nation‘ oder ‚Rasse‘, zu einer Verbesserung führen. Damit bewegten die Reformbewegungen sich nicht selten in einem fließenden Übergang zum nationalsozialistischen Gedankengut.70

Die Sichtweise, worin die Lebensreform nur als eine unmittelbare Reaktion auf die im Folge des 19. Jahrhunderts aufgekommenen Modernisierungsprozesse verstanden wird, ist jedoch problematisch. Sie kam zunächst von den jeweiligen Reformern selbst, die sich in ihrer Rhetorik gerne als Gegenbewegung positionierten, aber wurde auch lange Zeit von der Forschung nahtlos übernommen. Inzwischen gilt sie als vereinfacht und veraltet.71 Florentine Fritzen bezeichnet dieses alte Erklärungsmuster in ihrer Dissertation als die ‚Antimodernisierungsthese‘ und ergänzt und differenziert diese weitverbreitete Idee. Die

Lebensreform sollte nicht nur als ein einseitiges Schema von Ursache und Wirkung verstanden werden, sondern vielmehr in ihrem ambivalenten Zusammenhang: denn die Reformbewegung bot zwar eine Alternative für Menschen, die an der modernen Welt verzweifelten, war aber gerade dadurch selbst ein modernes Konzept. Sie war eine „Modernisierungskritik, die selber auf dem Boden der Moderne stand.“72 Damit war sie nicht nur Folge der Modernisierungsprozesse, sondern auch deren Motor.73 Wedemeyer-Kolwe stellt für die Körperkulturbewegung fest, dass sie gleichermaßen “fortschrittliche und

rückschrittliche” Züge in sich vereint habe und dass sich die Flügel in einer “Utopie der Versöhnung” zwischen Modernisten und Antimodernisten getroffen hätten.74

Lebensreform gab es übrigens nicht nur im deutschen Raum, sondern sie war ein

gesamteuropäisches Phänomen und wurde von dort auch nach Nordamerika und Australien exportiert.75

67 Kerbs/Reulecke, Handbuch der deutschen Reformbewegungen, S.12. 68 Fritzen, Gesünder leben, S. 10.

69 Möhring, Marmorleiber, S. 12. Arbeit an uns selber heißt in diesem Fall also konkret Körperbildung.. 70 Kerbs/Reulecke, Handbuch der deutschen Reformbewegungen, S.15.

71 Vorbilder worin diese These noch verwendet wurde, sind z.B. Thomas Faltin: Heil und Heilung. Geschichte der Laienkundigen und Struktur antimodernistsicher Weltanschauungen in Kaiserreich und Weimarer Republik am Beispiel von Eugen Wenz. Stuttgart 2000, S. 195. Und Wolfgang J. Mommsen: Max Weber and his Contempories. Londen: Routledge 1987. S. 299.

72 Detlev Peukert: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne. Darmstadt 1997. S. 186. 73 Fritzen, Gesünder leben, S. 31.

74 Wedemeyer-Kolwe, Der neue Mensch, S. 425.

75 In Australien wurde 1904 in den Blue Mountains das “Hydro Majestic” gegründet und als “Australia’s first health Retreat” beschrieben. Vgl. Fritzen, Gesünder leben, S. 35.

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Gleichzeitig jedoch hatte sie auch ein „spezifisch deutsches Profil“, denn gerade im deutschsprachigen Raum war sie von einem starken Idealismus und einer „gewisse[n] Tiefsinnigkeit“ geprägt.76 Diese ‚Tiefsinnigkeit’ bezieht sich vor allem auf die Betonung von Fühlen und Erleben, was in den deutschen Schriften stets hervorgehoben wird. Dies in Gegensatz zu den -in ihrer Rhetorik- viel pragmatischeren Gesundheitsbestrebungen in den skandinavischen Ländern, in England und Amerika.77 Gleichzeitig bezieht die Tiefsinnigkeit sich auch auf das Bedürfnis, die lebensreformerischen Ideen

weltanschaulich-philosophisch zu verbreiten und damit konkrete gesellschaftliche Veränderungen durchführen zu können. Gerade die deutsche Bewegung beanspruchte große ideelle Werte. Sie strebte „nicht nur eine

Verbesserung der seelischen, geistigen und körperlichen Gesundheit oder eine Läuterung der Persönlichkeit von Individuen“ an, sondern im besonderem Maße auch eine Reform der gesamten modernen Gesellschaft.78

Von einer einheitlichen Lebensreformbewegung zu sprechen ist jedoch nicht möglich:

‘Lebensreform’ ist nur ein grober Oberbegriff. Sie war vor allem ein „sperriges und unüberschaubares Gebilde“; das Gebilde war zwar als „dezentrales Geflecht“, an vielen Stellen lose verwoben, die mannigfaltigen Gruppen mit Abzweigungen und Spezialismen hatten aber oft sehr unterschiedliche Vorstellungen von Reform, die sie jeweils zu propagieren versuchten.79 Wedemeyer-Kolwe beschreibt die Organisationsformen und Wechselwirkungen zwischen reformerischen Gruppierungen: Sie organisierten sich nicht mehr in alten traditionellen Vereinen - wie den zahlreichen Sportvereinen -, sondern in neuen eigenen Organisationen, die sich häufig um eine charismatische Figur scharten. Sie veröffentlichten Zeitschriften und Bücher und hatten nicht selten ein kommerzielles Interesse, ihren Kunden auch Fernkursen und Anleitungsbüchern an zu bieten.80 Sie sahen sich als „Verkünder einer frohen Botschaft“ und boten gleichzeitig praktische und theoretische Vorlagen als eine Art Gebrauchsanweisung, wie ein gesünderes Leben zu führen sei. 81 Dies galt zum Teil auch für Laban: er schrieb zwar theoretische Texte mit einem viel höheren Anspruch als nur ‚eine‘ Lebensweise zu propagieren, veröffentlichte aber in mehreren Büchern auch konkrete Übungsanleitungen.82

Die unterschiedlichen Gruppen und ihre Methoden erschienen auf den ersten Blick häufig als marginale Phänomene - gerade auch weil viele Reformer sich als „einsame Propheten in der Wüste“ inszenierten und dabei sich und ihre kleine Gemeinschaft kultivierten.83 Über Freundschaften, Zeitschriften und Treffen (wie z.B. in der Gemeinschaft von Monte Verità) kannten sie sich oft, und hatten wegen ihrer gesellschaftlichen Positionen dann häufig auch gute Querverbindungen zum gesellschaftlichen Mainstream.

76 Kerbs/Reulecke, Handbuch der deutschen Reformbewegungen, S. 155. 77 Fritzen, Gesünder leben, S. 35.

78 Ebd., S. 36.

79 Ebd., S. 11. und S. 16.

80 Wedemeyer-Kolwe, Der neue Mensch, S. 423. 81 Fritzen, Gesünder leben, S. 187.

82 Siehe dafür Labans Gymnastik und Tanz (1926), weiter besprochen in Kapitel 4.2.

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Die am Anfang beim großen Publikum als skurril betrachteten Reformideen wurden nach dem Ersten Weltkrieg von weiteren Teilen der Bevölkerung adaptiert.84 Obwohl ‚anders Leben‘ immer noch ein „Luxusphänomen der Wohlstandsgesellschaft“blieb, und es also zunächst ein Privileg war, alternativ leben zu können, breitete sich das Bedürfnis, reformerische Änderungen im Täglichen Leben durch zu setzen, allmählich aus.85 So war das Korsett nach 1918 nahezu aus dem Modebild verschwunden, erkannten staatlichen Stellen immer mehr den Nutzen von frische Luft für Schulkinder und wurde Sportunterricht im Freien verordnet.86

2.3. Lebensreform und Bewegungskultur in der Praxis

Für die Vielheit der unterschiedlichen Reformströmungen, die Kerbs/Reulecke wie erwähnt in

zweiundvierzig Teilgebieten beschreiben, kommt Fritzen zum Bild eines “dezentralen Geflechts.”87Wie sahen nun aber lebensreformerische Ansätze in der Praxis aus? Und wie verhält Laban sich zu diesen? Drei Beispiele von praktischen Auswirkungen, mit denen Laban in direkter Beziehung stand, werden im Folgenden erkundet: Körper- und Bewegungskultur - Ausdruckstanz (2.3.1); ‘Monte Verità’ als Zentrum neuen Lebens (2.3.2); Wege zu Kraft und Schönheit, der Film (2.3.3). Dabei werden auch andere

Persönlichkeiten vorgestellt, die entweder ausgesprochene Vertreter eines Teilgebietes waren oder mit Laban in direkter Verbindung standen.

2.3.1. Körper- und Bewegungskultur – Ausdruckstanz

Eines der zentralen Themen für viele lebensreformerische Strömungen war die Hinwendung zum eigenen Körper. Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts gab es eine richtige „Körperkultur“ und

“Körperkulturbewegung.”88 In diesem Geist schrieb 1906 beispielsweise die Zeitschrift Kraft und Schönheit, Monatsschrift des Vereins für moderne Körperkultur, die als eines der einflussreichsten Publikationsorgane der Nackt- und Körperkultur gilt, pamphletartig:89

Was wir wollen:

Wir sehen den körperlichen Verfall eines großen Teiles unseres Volkes und wollen ihm entgegenarbeiten, soweit es möglich ist.

Wir sehen in der Nacktgymnastik das vorzügliche Mittel zur Abhärtung der Haut, Kräftigung der Nerven und Stählung der Muskeln. […]

Wir arbeiten für Aufklärung über die wichtigsten Fragen des körperlichen Daseins und fordern jede gesunde Lebensreform. […]90

84 Fritzen, Gesünder leben, S. 191. 85 Ebd., S. 33.

86 Ebd., S. 191. 87 Ebd., S. 16.

88 Möhring, Marmorleiber, S. 15.

89 Koerber in Kerbs/Reulecke, Handbuch der deutschen Reformbewegungen, S. 104.

90 Ebd., S. 104. Einen mehr ästhetisierten ‘körperlosen’ Schönheitsbegriff bediente die Zeitschrift Schönheit, begründet 1903, zwei Jahre später als Kraft und Schönheit. Ihr Schönheitsbegriff war eher für “durchgeistigte bildungsbürgerliche Schöngeister” gedacht. Vgl Fritzen, Gesünder leben, S. 239.

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In diesem Rahmen war auch die Bewegung der Nackt- und Freikörperkultur entstanden. Einer ihrer Pioniere war der Vegetarier und Publizist, auch Ehrenmitglied des oben genannten Vereins, Heinrich Pudor.91 Er veröffentlichte bereits in den 1890er Jahre Photographien von Nackten, die nicht

pornographisch sein sollten, sondern mit denen er gerade die Prüderie und die gesellschaftliche Doppelmoral überwinden wollte.92 Der nackte Körper sollte von sexuellen Implikationen abgekoppelt werden; vielmehr wollte Puder die Ästhetik, Freiheit, Körpergefühl und -bewusstsein des Nacktseins zeigen. Im nackten Zustand war der „authentische“, „wahre“ und „ausdrucksvolle“ Körper zu sehen.93 Nacktheit galt als Synonym für Natürlichkeit.94 Dies sollte eine funktionelle Nacktheit sein: So habe man mehr Bewegungsfreiheit, eine bessere Hautatmung und mehr Naturkontakt mit Licht, Luft und Sonne. Nicht zuletzt bot die Nacktheit die Möglichkeit zu einem „unbehinderten Anblick des in Bewegung begriffenen Körpers“.95 Dies aus pädagogischen Gründen, aber sicherlich war es vor allem auch ein legitimer Grund, Nacktbilder anschauen zu können. Ein anderes Ehrenmitglied des Vereins war der Maler Hugo Höppener, der unter dem Pseudonym ‘Fidus’ bekannt war und dessen Lichtgebet mit dem androgynen

sonnenanbetenden Jüngling zur “prägenden Bildmetapher der Nacktkultur” wurde.96

Wichtig war die Hinwendung zum Körper als eine ästhetische Herausforderung: “Als Produkt zeitintensiver Pflege und Übung sollte er Gesundheit und Schönheit demonstrieren.”97 Körper sollten also äußerlich schön sein, und dies gerne nach einer antiken Vorstellung. Antike Plastiken boten Beispiele für nackte Körper als Ideal eines ‚natürlichen‘ Körpers. Bei vielen Vertretern der Bewegungskultur jedoch war der nur schöne, muskulös oder kräftig aussehende Körper nicht das Endziel. Vielmehr sollte er durch gesundes Leben, Bewegung, frische Luft, Sonne usw. zwar schön aussehen, vor allem sollte er aber „beseelt“ werden.98 Dies konnte nicht mittels äußerlichem, turnerischem oder gar militärischem Drill geschehen, sondern sollte durch eine „Allgemeindurchbildung des ganzen Körpers“ angestrebt werden.99 Viele Bewegungsreformer fühlten sich gerade von den „dressurhaften“ und sehr äußerlich wirkenden turnerisch-gymnastisch orientierten Systemen abgestoßen.100 Diese waren oft zu sehr verbunden mit militärischen Übungen und eher für „Drahtpuppen berechnet“ als für „organische, lebendige Menschen“ gedacht.101 Der Körper sollte anstelle dessen von einer inneren Bewegungslust erweckt und beseelt 91 Möhring, Marmorleiber, S. 41.

92 Koerber in Kerbs/Reulecke, Handbuch der deutschen Reformbewegungen, S. 106. Er publizierte sie auch in der oben genannten Zeitschrift.

93 Gabrielle Brandstetter: Ausdruckstanz. In: Kerbs/Reulecke, Handbuch der deutschen Reformbewegungen, S. 451. 94 Möhring, Marmorleiber, S. 12.

95 Ebd., S. 57. Funktionelle Nacktheit, lässt sich aber sicherlich auch verstehen als „legitime Nacktheit“.

Filme wie Wege zu Kraft und Schönheit wurden sicherlich nicht nur aus Interesse an Körperbildung weithin gesehen. Es hatte

natürlich auch eine große Anziehungskraft, nackte Leiber und nicht zuletzt schöne junge Frauenkörper, im Kino anschauen zu können. Dies gilt auch sicher für Labans Bücher, die vielfach Nacktfotos, überwiegend von jungen Frauen, publizieren.

96 Ebd., S. 41. Siehe Abbildung 2 im Anhang. 97 Ebd., S. 16.

98 Ebd., S. 75. 99 Ebd., S. 59. 100 Ebd., S. 74. 101 Ebd., S. 74.

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werden; dies würde dem Körper dann einen Glut von Schönheit geben.102

Über die unterschiedlichen Wege zu Kraft und Schönheit hatten Vertreter der Bewegungskultur durchwegs Vorstellungen einer Hierarchie, wenn auch nicht immer die gleiche.103 Die untere Stufe bildete meist der Sport, danach kam die rhythmische oder tänzerische Gymnastik, und als höchste Kunstform galt

der Ausdruckstanz. Die deutsche Turntradition, die seit 'Turnvater Jahn’104 an den meisten Schulen

unterrichtet wurde und militärisch ausgerichtet war, sei dabei nichts anderes als „körperlich umgesetzte Grammatikstunden“ und außerdem nur „Oberflächenarbeit“, so der Mediziner und produktive Publizist zur Freikörperkultur Johannes Grosse.105 Tänzerische Gymnastik und Tanz seien hingegen authentisch und natürlich und würden zurückgreifen auf archaische und antike Bewegungslust.

Ausdruckstanz

‘Ausdruckstanz’ war nur ein Sammelbegriff für die unterschiedlichen ‚freien‘ Darstellungsformen. Er stand “in enger Verbindung mit den Gedanken der Körperkultur-, der Gymnastik- und der Sport-Bewegung.”106 Er war auch als ‚freier Tanz‘, als ‚moderner künstlerischer Tanz‘, oder gar als spezifisch ‚deutscher Tanz‘ - ‘German dance’107 bekannt und erreichte in den späten 20er Jahren seinen Höhepunkt öffentlicher Wirkung.108 Schon die unterschiedlichen Namen deuten auf die auseinandergehenden Konzepte und Theorien der jeweiligen Tanzgruppen und Strömungen. Gemeinsam hatten sie jedoch, dass sie stets die Individualität des Tänzers höher stellten als das Übernehmen eines von außen auferlegten, kodifizierten und disziplinierten Bewegungssystems. Einfacher gesagt: der Tänzer konnte etwas aus seinem Innern ausdrücken und nicht bloß vorgegebene Tanzschritte und Bewegungsabläufe imitieren, sowie man es vom Turnunterricht oder von der Klassischen Balletttechnik gewohnt war.Die Vielfalt an Methoden, aber auch die Institutionalisierung und Professionalisierung der ‚modernen‘ Tanzwelt des frühen 20.Jahrhunderts zeigte sich etwa auf den Tanzkongressen von 1927 in Magdeburg, 1928 in Essen und 1930 in München, die überwiegend von Laban organisiert waren und gut besucht wurden.109 Vor allem zeigt es sich aber an der weitverbreiteten Begeisterung in der Gesellschaft, an der großen Menge von Tanzschulen und

Amateurtänzern.110 Ende der 20er Jahre gab es schon vierundzwanzig offizielle Labantanzschulen.111 Maßgebliche Impulse für den Ausdruckstanz gaben amerikanische ‚freie‘ Tänzerinnen, wie z.B.

102 Möhring, Marmorleiber, S. 74. 103 Ebd., S. 60.

104 Marion Kant: The Moving Body and the Will to Culture. European Review Vol. 19, No. 4, S. 579–594. 2011, S. 579. 105 Zitiert nach Möhring, Marmorleiber, S. 82.

106 Brandstetter, Ausdruckstanz. In Kerbs/Reulecke, Handbuch der deutschen Reformbewegungen, S. 451. 107 Zu ‘German Dance’ oder ‘deutschem Ausdruckstanz’ unter dem völkisch politischen Aspekt, siehe Doerr,

The Dancer of the Crystal, S. 153-171.

108 Brandstetter, Ausdruckstanz in Kerbs/Reulecke, Handbuch der deutschen Reformbewegungen, S. 451. ‚Ausdruck‘ bezieht sich

hier auch auf die in der Reformpädagogik und in der Ausdruckspsychologie formulierte Idee, das in jedem Menschen eine innere „schöpferische Kraft“ wirkt, die freigesetzt werden müsse. Sie dazu auch S. 453 ebd.

109 Doerr, The Dancer of the Crystal, S. 107 f.

110 In der Weimarer Republik haben rund 400000 Menschen Rhythmischer Gymnastik geübt. Vgl. Wedemeyer-Kolwe, Der neue Mensch, S. 424.

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Isadora Duncan (1878-1927) und Ruth St. Denis (1879-1968), die um die Jahrhundertwende nach Europa kamen und hier ihre neuen Ideen von Tanz vermittelten, „in dem der Körper ohne Korsett und ohne strikten Bewegungscode, mit einfachem Schrittvokabular und in freien, wie improvisiert wirkenden Gebärden den Gefühlen, Stimmungen und Naturimpressionen Ausdruck verlieh.“112 Sie wurden von vielen deutschen Tanzreformern als Vorläufer und Pioniere des modernen Tanzes gesehen. Isadora Duncan, die damals in Europa schon sehr berühmt war, hielt sich nach einer persönlichen Krise zwischen 1913 und 1918 in Ascona auf. Laban schreibt in WT über sie, wie sie schon vor der Jahrhundertwende versuchte, “den Tanz auch in unserem Kulturkreis wieder neu zu beleben. Duncan tanzte ohne Schuhe und in einfachem Kittel und versuchte, die Anmut des menschlichen Körpers neu aufzuzeichnen.”113

Ein anderer starker Einfluss auf die Tanzreform kam vom Musikpädagogen Émile Jaques-Dalcroze (1865-1950). Seine Methode bezog sich vor allem auf die Verbindung von Musik und Tanz. Jaques-Dalcroze zog 1910 aus Genf in die Gartenstadt Hellerau bei Dresden, um dort in der Bildungsanstalt für Musik und Rhythmus sein System von ‚Rhythmischer Gymnastik‘ zu lehren. Die Schule wurde damals als eine der angesehensten Tanzschulen Europas betrachtet und zog Schüler aus ganz Europa an. Laban war 1911-1912 wegen seiner anhaltenden gesundheitlichen Probleme und Depressionen auf Kur in Dresden und traf hier Jaques-Dalcroze. Er war zwar begeistert von den Tanzvorstellungen die er hier sah, fand aber die Methode zu beschränkt, weil sie nach seinem Geschmack zu sehr an Musik gebunden blieb. Labans Idee war es nämlich gerade, aus dem Tanz eine von Bühnenbild und Musik unabhängige Kunstform des

Körperausdrucks zu machen.114 Der Besuch gab ihm vor allem einen Impuls, seine eigenen Ideen anderswo umzusetzen.115

Ein wirklicher Konkurrenzstreit entstand nicht zwischen den beiden: sie blieben von ihren

jeweiligen eigenen Ansätzen überzeugt, und tanzbedürftige Schüler gab es anscheinend genug. Wohl aber wechselten einige der Schüler Jaques-Dalcrozes zu Laban, wie beispielsweise die Musikerin und Dozentin in Hellerau Suzanne Perrottet (1889-1983). Sie beschreibt in ihrem Buch sowohl die Beschränkungen der Methode Jaques-Dalcrozes als ihre Hinwendung zur mehr befreienden Arbeitsweise von Laban sehr detailliert. Ebenso zeichnet sie darin ein klares Bild der Möglichkeiten von rhythmischer

Ausdrucksgymnastik als Mittel der Befreiung und neuer Körperlichkeit, “als Reaktion auf die verkrampften Anschauungen, Sitten und Erziehungsmängel unserer seelenlosen, nivellierenden Zivilisation.”116 Auch wechselte Mary Wigman (1986-1973), einer der berühmtesten Tänzerinnen der Zeit, zu Laban. Sie studierte sieben Jahre lang mit ihm und wurde seine Muse, gründete aber auch ihre eigenen Tanzschulen (mit Ermutigung von Laban) und entwickelte ihre eigene Methode. Laban dankt in WT, in seinem “Suchen und Streben”, unter seinen Helfern vor allem Wigman ausführlich.117

112 Brandstetter, Ausdruckstanz. In: Kerbs/Reulecke, Handbuch der deutschen Reformbewegungen, S. 453. 113 GT 1926, S. 129.

114 Brandstetter, Ausdruckstanz. In: Kerbs/Reulecke, Handbuch der deutschen Reformbewegungen, S. 454. 115 Preston-Dunlop, An extraordinary Life, S. 22.

116 Perrottet, Befreiung des Körpers, S. 198. 117 WT 1920, S. 255. Mehr dazu in Kapitel 4.2.1.

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Unter den Publizisten zum Thema Tanz verdient Hans Brandenburg (1885-1968) noch besondere Erwähnung wegen der engen Verbindung zu Laban. Er war Schriftsteller auf verschiedenen Gebieten, u.a. als Biograph von Goethe, Schiller, Hölderlin, und Organisator im Bereich des neuen Theaters. Besonders war er interessiert am modernen Tanz. Mit Laban befreundete er sich in München und er wurde zu seinem Vertrauten. Er war Kursteilnehmer in Ascona, und sie standen in regelmäßigem Briefwechsel. Brandenburg war fasziniert von Labans Tanzmethoden. Er schrieb lobend über sie und war schon früh davon überzeugt, dass Laban die Zukunft des Tanzes prägen würde.118 In seiner Studie Der Moderne Tanz119, in der er viele Pioniere des modernen Tanzes und Schulen bespricht, widmete er Laban ein ausführliches Kapitel, ebenso wie Jaques-Dalcrozes Arbeit in Hellerau. Die Studie erfuhr mehrere Ausgaben zwischen 1913 und 1930.120

2.3.2. ‘Monte Verità’ als Zentrum neuen Lebens

Als ein konkretes Beispiel von lebensreformerischer Praxis, in welchem Körperkultur und Ausdruckstanz als Teil einer breiten Alternativbewegung zusammenkamen, wird im Folgenden die Kommune in Ascona und ihr Publikum beschrieben, und im Besonderen das Wirken von Laban darin.

1900 ließ sich eine internationale Gruppe von Vegetariern oberhalb Ascona nieder, am Lago Maggiore in der damals armen italienischsprachigen Südschweiz, um eine Reformsiedlung zu gründen.121 Sie nannten die Siedlung Monte Verità – ‚Berg der Wahrheit’. Der sehr vermögende Unternehmer Henri Oedenkoven und seine Frau Ida Hofmann, Musiklehrerin und Feministin, errichteten hier mit ein paar anderen Vegetariern ihre “Naturheilanstalt”, wo Patienten “Naturbehandlungen” erhalten konnten. Die

Behandlungen bestanden u.a. aus einer strikt vegetarischen Diät von Rohkost und Wasser, aus “Licht- und Luftbädern”, wobei die nackte Haut mit möglichst viel Sonne, Wind und Regen und auch Erde in Berührung gebracht werden sollte, aus Schlafen in einfachsten selbstgebauten “Licht- und Lufthütten” zwischen selbstgebauten Möbeln und nicht zuletzt aus naturphilosophischen Gesprächen mit anderen Gästen und den Begleitern.122 Ab 1902 lebte eine Gruppe permanent in der Siedlung.123 Die Anstalt übte, trotz oder gerade wegen der primitiven Ausstattung, gerade auf junge Menschen aus bildungsbürgerlichen und aristokratischen Kreisen aus ganz Europa eine große Anziehungskraft aus.124

Bald nachdem das Sanatorium geöffnet wurde, gewann der Monte Verità Anziehungskraft auf eine

118 Doerr, The Dancer of the Crystal, S 39. Brandstetter, Ausdruckstanz. In: Kerbs/Reulecke, Handbuch der deutschen

Reformbewegungen, nennt ihn nicht.

119 Vgl. dazu Hans Brandenburg: Der moderne Tanz. Dritte, stark umgearbeitete und erweiterte Ausgabe. München: Georg Müller

1921. Digitalisat: https://archive.org/details/bub_gb_KRluAAAAMAAJ/page/n223. (Zuletzt abgerufen am 31.08.2019).

120 Mehr zu Brandenburg, siehe Kapitel 4.3. u. 4.4.

121 Green, Mountain of truth, S. 120. Erst in den zwanziger Jahren, nachdem es sich erwiesen hatte, dass das primitive Leben nur ganz wenig bezahlende Gäste anzog, wurden die Sanatorien langsam luxuöser und damit auch beliebter. Das berühmte Hotel Monte Verità von Emil Fahrenkamp wurde erst 1929 gebaut. Einmal auf Luxus eingerichtet, wurden Ascona und der Monte Verità zu einem Luxusort mit Villen.

122 Green, Mountain of truth, S. 123. 123 Ebd., S. 123.

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breiter orientierte Gruppe als nur die vegetarischen Reformer.125 Er wurde zu einem Sammelplatz, wo sich Menschen aller Art trafen: Künstler, Schriftsteller, Anarchisten, Theosophen, Psychoanalytiker,

Dienstverweigerer, Emigranten, Rosenkreuzer, Aussteiger - Wahrheitssucher und Lebensreformer im weiten Sinne. Als Zürich im Ersten Weltkriegs zum Zufluchtsort vieler Künstler wurde, bekam Ascona besonders im Sommer auch aus dieser Szene Zuzug. Einige mit Ascona verbundene Persönlichkeiten waren Sophie Taeuber-Arp, Hans Arp, Hermann Hesse, Carl-Gustav Jung, Otto Gross, Rudolf Steiner, Paul Klee, D.H Lawrence.

Die Siedlung war keine einheitliche Gemeinschaft mit einer geteilten Grundidee. Vielmehr wurde Monte Verità Brutstätte und Symbol des alternativen Lebens. Doerr sagt in ihrer Laban-Studie dazu: “Within the commune, everything was celebrated that seemed to offer freedom and a way to escape civilizing constraints and that produced a feeling of life in harmony with nature and the cosmos.”126 Diese Wege zum alternativen Leben, zu Natur und Kosmos wurden von den vielen Bewohnern und Besuchern aber stark unterschiedlich interpretiert und gelebt, was stets Grund für Streitereien und Abspaltungen bot127 und auch tragische Situationen zur Folge hatte.128

Laban zog 1913 zum ersten Mal nach Ascona, u.a. mit Suzanne Perrottet, die ihren ersten Eindruck von der dortigen Gemeinschaft schildert:

Mein erster Eindruck auf dem Monte Verità war, dass hier lauter sehr interessante Leute lebten und es sehr viele Streitereien und Diskussionen über alles gab, denn die einen waren sehr fortschrittlich und die anderen sehr konservativ. Und dann gab es noch die Faulenzer. Eine von ihnen war richtig verrückt geworden und lebte ganz für sich. Vor ihrem Fenster lagen ihre Kleider und Bücher, sie hatte alle in der Natur verstreut. Sie lebte nur von selbst gesammelten Beeren und manchmal von ein wenig Mais.129

Laban gründete 1913 zusammen mit Hofmann und Oedenkoven seine Schule für Kunst, die in den Sommermonaten bis 1918 jährlich zum Zentrum des Ausdruckstanzes wurde.130 Das Kursprogramm bestand aus Schulung in “Tanz-Ton-Wort-Form”. Konkret hieß dies: Unterricht in Bewegungsübungen und ‘freiem Tanz’, Gesang und musikalische Übungen, sprachlicher Vortag und Stimmtechnik, erteilt durch Laban und Assistenten - besonders auch durch die Sängerin und Labans Ehefrau Maja Lederer, und eine Lehre in allgemein praktischen Kunstfächern wie Handwerk, Malen, Architektur, aber auch Gartenarbeit und Kochen, wofür u.a. Hofmann und Oedenkoven zuständig waren.131 Laban wollte seine Schüler 125 Ab 1904 ließen sich, auf Empfehlung vom Arzt Raphael Friedeberg die erste Anarchisten nieder. Ebd., S. 125. 126 Doerr, The Dancer of the Crystal, S. 30.

127 Ein Beispiel dafür ist Karl Gräser, Mitbegründer der Anstalt. Er spaltete sich von den anderen ab, um seinen viel radikaleren vegetarischen Idealen zu folgen. Wo Oedenkoven ein Verdienmodell sah, wollte Gräser völlig von Eigentum absehen. Vgl. Enno van der Eerden: Ascona, bezield paradijs. Amsterdam: Uitgeverij Bas Lubberhuizen 2011, S. 30.

128 Etwa das Schicksal der Mitbegründerin Lotte Hattemer, die Patientin von C.G. Jung wurde, und 1906 an Kokain starb. Eerden 2011, S. 31.

129 Perrottet, Befreiung des Körpers, S. 81. Perrottet beschreibt hier Jenny Hofmann, Frau von der oben beschriebene Karl Gräser (Vgl. Fußnote 127).

130Brandstetter, Ausdruckstanz. In: Kerbs/Reulecke, Handbuch der deutschen Reformbewegungen, S. 454. 131 Doerr, The Dancer of the Crystal, S. 33.

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