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Somatische Sinnsuche. Körper und Identität in Soziologie und Literatur der Gegenwart

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Seminar: Masterscriptie Literary Studies: Literature and Culture – German Fachcode: 178419200Y

Leitung: Dr. A. Seidl Universität von Amsterdam Abgabe: 31.05.2015 Verteidigung: 29.06.2015

Somatische Sinnsuche

Körper und Identität in Soziologie und Literatur der Gegenwart

Masterarbeit im Studiengang:

Literary Studies: Literature and Culture – German Hauptbegleitung: Dr. A.S. Seidl

Zweitleserin: Prof. Dr. N. Colin

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Inhalt

1. Flexibel und dynamisch oder sinnlich und fassbar? 2

Soziologischer Kontext

2. Personale Identitätskonstruktionen der Gegenwart 7

2.1. Traditionelle Identitätsmodelle 8

2.2. Patchwork-Konstruktionen der Gegenwart 10

2.3. Zwiespalt im Identitätsbewusstsein 14

3. Körperdiskurs der Gegenwart: Body Turn in der Soziologie 16

3.1. Historisch entwickelter Körperdiskurs 16

3.2. Doppelaspekt von Leib und Körper 18

3.3. Körperdiskurs und Gegenwartsgesellschaft 22 4. Körper und Leib als Stützen der Identitätsbildung 24

4.1. Gugutzers Identitätsmodell 25

4.2. Bourdieus Modelle von Habitus und Feld 28

4.3. Flexibilität und Leiblichkeit 30

Exemplarische literarische Beispiele

5. Marion Poschmann: Die Sonnenposition 32

5.1. Darstellung von Körpern 33

5.2. Funktionen von Körpern 36

5.3. Körper und Identität 37

5.4. Identitätskonflikte 39

6. Ulrike Kolb: Die Schlaflosen 41

6.1. Darstellung von Körpern 42

6.2. Funktionen von Körpern 44

6.3. Körper und Identität 46

6.4. Identitätskonflikte 47

7. Leif Randt: Schimmernder Dunst über Coby County 49

7.1. Darstellung von Körpern 50

7.2. Funktionen von Körpern 52

7.3. Körper und Identität 53

7.4. Identitätskonflikte 55

8. Inszenierung und Sinnsuche 57

9. Der Sprung ins kalte Wasser? 66

10. Literaturverzeichnis 68

11. Erklärung1 72

1

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2

Ein Mann, der Herrn K. lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: „Sie haben sich gar nicht verändert.“ „Oh!“ sagte Herr K. und erbleichte.2

1. Flexibel und dynamisch oder sinnlich und fassbar?

„Kein Weg führt mehr an der Einsicht vorbei, dass es die Wiederent-deckung der Sinnlichkeit, des Körpers und des Menschen als Naturwesen zu verzeichnen gilt“,3

schreibt Christian Schüle 2010 in der ZEIT und bestätigt damit, was die zahlreichen Ratgeber zur inneren Balance, Yoga oder Atem-techniken vermuten lassen. Er macht den Naturkontakt im Selbstversuch und berichtet:

Wir wundern uns, wie ganzheitlich wir sind. Schritt für Schritt nehmen wir das Rattern im Kopf weniger ernst, weniger wahr. Wir atmen tief durch und bilden Respekt aus vor Bäumen, die an grotesk geneigten Hängen Wurzeln zu schlagen verstehen. Nach einigen Kilometern ist das Gehen be-reits eine Art aktive Meditation, denn man denkt an nichts, ist leer und nur man selbst.4

Das unmittelbare Spüren des eigenen Leibes beschreibt er nun als seine ei-gene Identität, sein ‚Selbst‘. Diese Erfahrung, mit der Schüle – wie er in seinem Artikel selbst beschreibt – nicht alleine dasteht, bezeichnet eine weitreichende Veränderung im Denken über die Basis individueller Identi-tätsbildung. Doch woran liegt diese Besinnung auf das Leibliche, vermeintlich Natürliche?

Mit dem Anfang der 1990er Jahre einsetzenden „Body Turn“5 erfuhr der menschliche Körper eine Aufwertung: Ab diesem Zeitpunkt begannen Philosophie und Soziologie, sich mit dem Phänomen und der Wirkung des menschlichen Körpers und mit der bereits 1928 von Plessner6 eingeführten

2 Bertolt Brecht: Geschichten vom Herrn Kreuner. In: ders.: Kalendergeschichten.

Ham-burg: Rororo 1953, S. 143.

3

Christian Schüle: Sinnsuche im Gehölz. In: ZEIT Wissen 5 (2010). URL: http://www.zeit.de/zeit-wissen/2010/05/Lust-auf-Natur. [11.05.2015, 15:00 Uhr].

4 Ebd.

5 Robert Gugutzer: Soziologie des Körpers. 5., vollständig überarbeitete Ausgabe.

Biele-feld: Transcript 2015, S. 39.

6

Der Philosoph und Soziologe Helmut Plessner stellte das Konzept von einem zweifachen Verhältnis des Menschen zu seinem Körper auf: der Mensch sei einerseits sein Leib – die organischen und sinnlichen Gegebenheiten seiner Existenz -, habe aber gleichzeitig einen Körper, den er reflektierend wahrnimmt und den er bewusst gestalten, inszenieren kann. Um den Unterschied zwischen reflektierter Erscheinung und vorreflexiver Gegebenheit

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3

Unterscheidung zwischen Körper und Leib eingehend zu beschäftigen. Während sich die Philosophie konzeptuell mit dem Körper- und dem Leib-begriff auseinandersetzt7, will die Soziologie vor allem den Einfluss und die Beeinflussbarkeit von Körper und Leib erforschen. Dabei setzt sie sich mit der Bedeutung des eigenen Körpers für das Individuum, wie auch mit den Wechselwirkungen von Körpern innerhalb gesellschaftlicher Gruppen aus-einander.8

Etwa zeitgleich mit diesem neuen Interesse am menschlichen Körper ist eine Wende im soziologischen Denken über Identitätsbildung auszu-machen, wie sich unter anderem am neuen Begriff der „Patchwork-Identität“9

festmachen lässt. Identitätskonstruktionen werden nicht länger als linear bzw. statisch gesehen, sondern als flexibel, unstet, und nie abge-schlossen.10 Hier liegt die Vermutung nahe, dass der Wandel in sowohl Körper- wie auch Identitätsdiskurs nicht zufällig gleichzeitig geschieht,

deutlich zu machen, spricht die Körpersoziologie nach Plessner oft von ‚Leib sein‘ und ‚Körper haben‘. Vgl. dazu Gugutzer 2015, S.13ff und auch Kapitel 3 dieser Arbeit.

7 Vgl. dazu z.B. - Helmut Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Berlin u.

New York: De Gruyter 1975 [1928]. - Hermann Schmitz: System der Philosophie. Band 2, Teil 1: Der Leib. Bonn: Bouvier 1965. - Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin u. New York: De Gruyter 1966. - Maurice Merleau-Ponty: Die Struktur des Verhaltens. Berlin u. New York: De Gruyter 1976. - Judith Butler: Das Unbe-hagen der Geschlechter. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991. - Gernot Böhme: Der Begriff des Leibes: Die Natur, die wir selbst sind. In: DZPhil, Akademie Verlag 59/4 (2011), S. 553-563. - Hans-Peter Krüger: Die Körper-Leib-Differenz von Personen: Exzentrische Positio-nalität und homo absconditus. In: DZPhil, Akademieverlag 59/4 (2011), S. 577-589.

8 Vgl. dazu z.B. Erika Fischer-Lichte u. Anne Fleig (Hg.): Körper-Inszenierungen. Präsenz

und kultureller Wandel. Tübingen: Attempto 2000. - Kornelia Hahn u. Michael Meuser (Hg.): Körperrepräsentationen. Die Ordnung des Sozialen und der Körper. Konstanz: UVK 2002. - Robert Gugutzer: Körperkult und Schönheitswahn - Wider den Zeitgeist. In: APuZ 18 (2007), S. 3-6. - Paula-Irene Villa: Der Körper als kulturelle Inszenierung und Status-symbol. In: APuZ 18 (2007), S. 18-26.

9 Heiner Keupp prägte den Begriff der „Patchwork-Identität“, die im folgenden Kapitel

näher erläutert wird. 1999 trug eine seiner Publikationen diesen Begriff im Titel (vgl. Hei-ner Keupp, Thomas Ahbe u.a.: Identitätskonstruktionen: Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. 5. Auflage. Hamburg: Rohwolt 2013 [1999].), er hatte sich aber schon 1989 in einem programmatischen Aufsatz dazu geäußert: Heiner Keupp: Auf der Suche nach der verlorenen Identität. In: Verunsicherungen. Das Subjekt im gesellschaftlichen Wandel. Hg. v. ders. u. H. Bilden. Göttingen: Hogrefe 1989, S. 47-70.

10 Birgit Neumann schreibt: „So wenden sich die [neuen] Ansätze [zur Identitätsbildung,

L.A.] vornehmlich gegen die präskriptive Vorstellung einer ganzheitlichen, gleichsam na-türlich gewordenen Identität, der […] ein gleichbleibendes ‚Ich‘ als unveränderlicher Wesenskern zugrunde liegt. An die Stelle statischer, essentialistischer Identitätsmodelle rücken zunehmend prozessuale Modelle, die Identitäten als dynamische, wandelbare und sozialkulturell fundierte Konstrukte konzeptualisieren […]“ Birgit Neumann: Erinnerung – Identität – Narration. Gattungstypologie und Funktionen kanadischer „Fictions of Memo-ry“. Berlin: De Gruyter 2005, S. 19f. Im folgenden Kapitel wird ausführlicher auf die unterschiedlichen Identitätsmodelle und den diesbezüglichen Diskurswandel eingegangen.

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sondern sich vielmehr im logischen Zusammenspiel bzw. in einer Wechsel-wirkung von sich ändernden gesellschaftlichen Umständen und Selbstbildern vollzieht.

Während sich die Soziologie nun dem Körper bewusst und reflektie-rend nähert, hat sich die Literatur in gewisser Weise ‚schon immer‘ mit ihm beschäftigt: Der Mensch verfügt schließlich ‚von jeher‘ über einen Körper, welcher in der Regel in Texten, die sich mit Menschen beschäftigen, auch in irgendeiner Form beschrieben wird. In der Literatur ist der Körper also ein notwendiger Zeichenträger. Die literaturwissenschaftliche Analyse kann daher den Blick für die unterschwelligen, unreflektierten Körperdiskurse einer Gesellschaft öffnen, die in literarischen Werken verhandelt werden.

Im Anschluss an die Diskussion von einer soziologischen Verflech-tung von Körper- und Identitätsdiskurs in der Gegenwart möchte die vorliegende Arbeit exemplarisch auf zeitgenössische deutschsprachige lite-rarische Werke eingehen und sie hinsichtlich der jeweiligen Körper-Identitäts-Relation untersuchen. Im Fokus der Betrachtung stehen dabei die Romane Die Sonnenposition11 (2013) von Marion Poschmann, Die Schlaflo-sen12 (2013) von Ulrike Kolb und Schimmernder Dunst über Coby County13 (2011) von Leif Randt.

Die übergreifende Frage ist, wie der Körper die Identitätsbildung in der Gegenwart beeinflusst. Antworten werden sowohl in der soziologischen Forschung wie auch in literarischen Werken gesucht, da es hier um die wechselseitige Ergänzung und Bereicherung geht: Soziologische Untersu-chungen sollen den Blick auf gesellschaftliche Diskurse in literarischen Texten schärfen, umgekehrt sollen die Ergebnisse des literaturwissenschaft-lichen Close Readings auf ihre Verwendbarkeit für den weiteren gesellschaftlichen Diskurs geprüft werden. Aus der allgemeinen Frage erge-ben sich Teilaspekte für die literaturwissenschaftliche Diskussion: Wie werden Körper dargestellt, welche Funktionen werden ihnen zugeschrieben,

11 Marion Poschmann: Die Sonnenposition. Berlin: Suhrkamp 2013. 12 Ulrike Kolb: Die Schlaflosen. Göttingen: Wallstein 2014.

13 Leif Randt: Schimmernder Dunst über Coby County. Berlin: Berlin Verlag Taschenbuch

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welche Position nimmt der individuelle Körper in der Gesellschaft ein, was sind Identitätsmerkmale von Körpern? Wie stellen sich Eigen- und Fremdwahrnehmung von Körperbildern dar? Und schließlich: Welche Kon-flikte ergeben sich durch den Körper möglicherweise für die Identitätsbil-Identitätsbildung? Die Ausgangsvermutung ist an dieser Stelle, dass die literarischen Texte Körperbilder bzw. die diesen Körperbildern zugeschrie-benen Funktionen und/oder die zufriedenstellende Bildung einer personalen Identität – implizit oder explizit – problematisieren. Daher soll abschließend auch untersucht werden, ob und gegebenenfalls welche möglichen Bewälti-gungsstrategien die Texte anbieten.

Zunächst soll ein Überblick der aktuellen soziologischen Diskurse hinsichtlich des Identitäts- und des Körperbegriffs die notwendige Kennt-nisgrundlage verschaffen. Im darauf folgenden Kapitel werden Identitäts- und Körperdiskurs schließlich unter Rückgriff auf das Leib-Körper-fundierte Identitätsmodell von Gugutzer14 zusammengeführt. Im anschlie-ßenden Close Reading der Beispieltexte werden dann die soziologischen Erkenntnisse als Ausgangspunkt genutzt, um die Gestaltungen von Körper und Identität in den literarischen Werken zu analysieren. In einem abschlie-ßenden Schritt werden die Ergebnisse der literaturwissenschaftlichen Analyse wiederum in den gesellschaftlichen Diskurs zurückgeführt und An-haltspunkte hinsichtlich der Frage gesucht, in welcher Weise sie die soziologischen Befunde unterstützen oder widerlegen bzw. relativieren.

Anliegen dieser Arbeit ist es, die aktuelle soziologische Forschung zum Körper mit der literaturwissenschaftlichen Arbeit zu verbinden. Diese Kombination ermöglicht eine Erkenntniserweiterung, da der Literatur ande-re Mittel zur Verfügung stehen als der Soziologie: Literatur stellt gesellschaftliche Diskurse dar, ohne wissenschaftlich sein zu müssen bzw. ohne diese Diskurse reflektieren zu müssen. Wo die Wissenschaft verallge-meinert, kann die Literatur das Allgemeine am Persönlichen darstellen und so einen weiteren Blickwinkel auf den jeweiligen Diskurs aufzeigen. Sie kann außerdem Bewältigungsvorschläge für bestimmte Probleme machen,

14 Vgl. Robert Gugutzer: Leib, Körper und Identität. Eine phänomenologisch- soziologische

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ohne dabei belehrend oder bestimmend sein zu müssen. In der Fiktion ist sie in der Lage, mögliche gesellschaftliche Szenarien durchzuspielen. Die Un-tersuchung literarischer Texte aus soziologischer Perspektive kann also ei-einen Beitrag zur Debatte gesellschaftlich relevanter Problemstellungen leisten.

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2. Personale Identitätskonstruktionen der Gegenwart

Die Frage nach der Identität des Menschen scheint gegenwärtig ver-breiteter denn je – Soziologen sprechen sogar von „inflationäre[n] Züge[n]“15

der Begriffsnutzung im Alltagsleben. Aber auch die Soziologie selbst beschäftigt sich seit Beginn der 1990er Jahre eingehend mit der The-matik und entwickelt neue Modelle der Identitätsbildung. Dies deutet darauf hin, dass alte „klassische“16 Identitätsmodelle nicht mehr ausreichen bzw. nicht länger mit den heutigen Lebenswelten in Einklang zu bringen sind. Die Verknüpfung von sozialem Raum und personaler Identität17 nennt Keupp die „kulturell-spezifische Dimensionierung“ der Frage nach der Identität: Es gehe „bei Identität immer um die Herstellung einer Passung zwischen dem subjektiven ‚Innen‘ und dem gesellschaftlichen ‚Außen‘ zur Produktion einer individuellen sozialen Verortung.“18

Sich wandelnde so-ziale Bedingungen führen damit zwangsläufig zu veränderten Identitäten. Allerdings muss das nicht notwendigerweise bedeuten, dass die Bildung von Identität als Prozess sich ändert. Dass sich das Resultat, das Was, ändert, muss nicht bedeuten, dass der Weg dorthin, das Wie, ein anderer ist. Genau dies scheint jedoch hinsichtlich des Identitätsdiskurses der Fall zu sein: An die Stelle eines statischen, vorbestimmten Modells der Identitätsentwick-lung treten nun dynamische, kreative Modelle. Diese neuen Modelle haben die alten essentialistischen Vorstellungen jedoch nicht vollständig

15 Heiner Keupp: Identitätskonstruktionen in der spätmodernen Gesellschaft. Riskante

Chancen bei prekären Ressourcen. In: ZPS 7/2 (2008), S. 291-308, hier S. 292.

16 Ebd. 17

Der Begriff der ‚personalen Identität’ wird in der Soziologie verwendet, um sie von der ‚kollektiven Identität’ abzugrenzen. Erstere beschreibt das individuelle Selbstverständnis eines Menschen, während letztere gruppen- bzw. gemeinschaftsstiftende Merkmale um-fasst, die damit auch abgrenzend zu anderen Gruppen bzw. Nicht-Mitgliedern einer Gruppe wirken. Vgl. dazu Jürgen Straub: Personale und kollektive Identität. Zur Analyse eines theoretischen Begriffs. In: Identitäten. Erinnerung, Geschichte, Identität 3. Hg. v. Aleida Assmann u. Heidrun Friese. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999. Die Trennung von personaler und kollektiver Identität wird von einigen Soziologen allerdings problematisiert, die den sozialen Aspekt – die Wechselwirkungen zwischen Individuen bzw. Gruppen – der Identi-tätsbildung betonen. Z.B. Keupp u.a. betonen den „engen Zusammenhang zwischen individueller und kollektiver Identität“, welchem sie in der zukünftigen Forschung mehr Beachtung schenken wollen. Keupp 2013, S. 299. Zitate aus diesem Werk werden im Fol-genden gekennzeichnet mit (IK). Seitenzahlen werden direkt angefügt (IK 299).

18 Keupp 2008, S.293. Neben dieser kulturspezifischen Ebene gibt es Keupp zufolge noch

eine „universelle” Dimensionierung für die Frage nach der Identität, nämlich die „Notwen-digkeit zur individuellen Identitätskonstruktion“, die auf ein „menschliches Grundbedürfnis nach Anerkennung und Zugehörigkeit“ hinweise. Keupp 2008, S. 293.

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drängt, wie Moser/Nelles bemerken, wenn sie der personalen Identität der Gegenwart ein „zwiespältiges Ansehen“19

zusprechen. Einerseits gelte sie (in der Folge der klassischen Identitätsmodelle) immer noch als „natürliche Gegebenheit“, andererseits aber auch als ein „künstliches Konstrukt“.20

Im Folgenden soll deshalb zunächst deutlich gemacht werden, welche die Eck-pfeiler traditioneller Identitätsmodelle sind, um so den aktuellen Diskurs hiervon absetzen und schließlich den von Moser/Nelles genannten Zwie-spalt thematisieren zu können.

2.1. Traditionelle Identitätsmodelle

Wenn von traditionellen Identitätsmodellen die Rede ist, wird zumeist auf Modelle der Moderne verwiesen, die „kulturell tief eingebettet[ ]“ (IK 16) erscheinen. Das moderne Individuum ist seit der Aufklärung aufgefor-dert, selbständig zu denken21 und damit „seinen eigenen authentischen Lebenssinn zu finden“ (IK 19). Die humanistische Vorstellung des frei han-delnden Individuums hat sich tief im Bewusstsein unserer Gesellschaft verankert. Keupp u.a. meinen sogar, die Moderne habe

diese Subjektvorstellung zu einem so nachhaltig wirkenden Konstrukt in den Köpfen der Menschen verortet, daß sie wie eine Aussage über die Na-tur des Menschen gewirkt hat, also zur zweiten NaNa-tur geworden ist. (IK 20)

Die individuelle Selbstfindung und Lebensgestaltung ist damit im Alltagsle-ben zur ‚natürlichen‘, und damit nicht hinterfragten Anforderung geworden. Gleichzeitig ist die Moderne aber auch von bürgerlichen Normen und Struk-turen geprägt, in die der Einzelne sich einzufügen hat. Identitätsbildung bedeutet in diesem historischen Zusammenhang daher vor allem, seinen Platz in der Gesellschaft zu finden. Erikson, der mit seinem heute klassisch zu nennenden Modell den Identitätsbegriff prägte, sieht die Krise der Selbst-findung deswegen begreiflicherweise in der Adoleszenz, in der die personale Verortung in der Gesellschaft stattfindet. Seinem Modell zufolge

19 Christian Moser u. Jürgen Nelles: Einleitung: Konstruierte Identitäten. In:

AutoBioFikti-on. Konstruierte Identitäten in Kunst, Literatur und Philosophie. Hg. v. dens. Bielefeld: Aisthesis 2006, S. 7.

20 Ebd.

21 Vgl. Kants Aufruf sich aus der „selbst verschuldeten Unmündigkeit” zu befreien in

sei-nem Aufsatz Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? URL: http://gutenberg.spiegel.de/buch/-3505/1. [03.05.2015, 11:00 Uhr].

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wird die Identität im Normalfall in dieser Lebensphase gebildet, während sie im Erwachsenenleben verwirklicht wird. Erikson geht also von einer ein-heitlichen, abgeschlossenen Identität aus, die nach der erfolgreichen Ausbildung „grundlegend stabil“22

bleibt. Der Identitätsbegriff der Moderne wird einerseits positiv besetzt als Emanzipation verstanden, andererseits aber auch negativ als Unterwerfung und Entfremdung.23 Entscheidend ist an dieser Stelle, dass Identität als historisches Konzept anzusehen ist, welches den „komplexen Prozeß der Selbstverortung von Menschen in ihrer sozialen Welt erfaßt“ (IK 26). Schon bei Erikson wird dieser Prozess aktiv vom Sub-jekt gestaltet, indem es seine Position innerhalb der Gesellschaft selbst sucht. Erikson konstruiert zwei Pole, den der „Identitätsbildung“ und den der „Identitätsdiffusion“ (IK 77). Dieses Spannungsfeld wird Erikson zufol-ge nie vollständig aufgelöst: im Idealfall würden störende Diffusionsmomente in die relativ stabile Identität des Einzelnen integriert. Eriksons lineares Modell setzt kontinuierliche, verlässliche Gesellschafts-strukturen voraus; vorgegebene Rollenmuster und Gesellschaftsgefüge erleichtern dem Individuum dann die Einpassung. Diese vorgegebenen Grundlagen benennen Keupp u.a. mit Beck für die jüngste Vergangenheit folgendermaßen: 1. die Beschäftigungsgesellschaft, die Erwerbsarbeit als wichtige Basis für Zugehörigkeit und Identität betrachtet, 2. die Vorstellung von perfektionierbarer Rationalität und Kontrollierbarkeit gesellschaftlicher Abläufe, 3. Denkkategorien von Nationalzugehörigkeiten, 4. die Vorstellung vom wirtschaftlichen Wachstum, 5. soziale Klasse als kollektive Identität, 6. geschlechtsspezifische Rollenverteilung (vgl. IK 44f). Identitätsdiffusion entsteht Erikson zufolge hingegen vor allem durch folgende Probleme: die Auflösung von „Beziehungsfähigkeit“, die Auflösung einer deutlichen

22

Peter Wagner: Fest-Stellungen. Beobachtungen zur sozialwissenschaftlichen Diskussion über Identität. In: Identitäten. Erinnerung, Geschichte, Identität 3. Hg. v. Aleida Assmann u. Heidrun Friese. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S.44-72, hier S. 51.

23 Vgl. dazu Horkheimer und Adorno: „Den Menschen wurde ihr Selbst als ein je eigenes,

von allen anderen verschiedenes geschenkt, damit es desto sicherer zum gleichen werde.“ Der moderne aufgeklärte Mensch mache sich nicht nur die äußere Natur nutzbar, sondern auch die innere, indem er unter dem Begriff der Identitätsbildung Selbstzwang und Selbst-kontrolle ausübt und sich so ins bestehende Herrschaftsgefüge nutzvoll einfügt. Max Horkheimer u. Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. 20. Auflage. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 2011, S. 19.

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„Zeitperspektive“24

und die Auflösung des „Werksinns“25 (IK 78). Was Erikson als ausnahmsweise auftretende Probleme bei der Ausbildung der Identität bezeichnet, sehen Keupp u.a. als den Normalfall der Spätmoderne. Die genannten gesellschaftlichen Grundpfeiler, die die Identitätsbildung sichern sollten, lösen sich in der Spätmoderne dagegen auf. Der Einzelne muss sich also bei seiner Selbstorientierung mit völlig anderen gesellschaft-lichen Werten auseinandersetzen – mit weitreichenden Folgen für sowohl den Prozess der Identitätsbildung als auch das Produkt der Identität, wie Keupp u. a. zeigen.

2.2. Patchwork-Konstruktionen der Gegenwart

Die gegenwärtige westliche Wohlstandsgesellschaft – in der Soziolo-gie als „Spätmoderne“ (IK), „Postmoderne“26

oder auch „liquid modernity“27

bezeichnet – ist geprägt von „Umbruchserfahrungen“ (IK 45): Die Auflösung altbekannter Strukturen wie geregelte Arbeitsverhältnisse, geographische, politische, religiöse, soziale oder familiäre Zugehörigkeiten verleihen den Subjekten ein Gefühl der „Entbettung“ (IK 46). Mit dem Ver-lust der Strukturen dieser kollektiven Identitäten wird auch die Abgrenzung der individuellen Identität schwieriger: Gefragt werden weniger erlernte funktionale Fertigkeiten als Reflexions- und Entscheidungsfähigkeiten. Die Orientierungspunkte, an denen das eigene Lebensmuster bzw. dessen

24 Der Verlust der Zeitperspektive zeige sich, so Erikson, im Gefühl der Zeitbedrängnis. Er

zeige sich aber auch im Verlust der zeitlichen Lebensdimension, wenn ein Mensch sich etwa zugleich sehr jung und uralt fühlt und dadurch in seiner Selbstorientierung verwirrt ist (vgl. IK 79).

25 Als Auflösung des Werksinns bezeichnet Erikson sowohl die Unfähigkeit, sich auf eine

bestimmte Arbeit zu konzentrieren, als auch die exzessive, selbstzerstörerische Ausübung einer bestimmten Tätigkeit. Beide Fälle seien eine Störung der Leistungsfähigkeit (vgl. IK 79).

26 Wagner 1999, S. 55. 27

Zygmunt Bauman benennt die gegenwärtige Gesellschaft als „liquid modernity”, im Gegensatz zur „heavy” und „light modernity”. Die Begriffe beziehen sich dabei auf den Aspekt des Raum-Zeit-Verhältnisses: Während zu Beginn der Moderne die räumliche Dis-tanz ihre zeitliche Entsprechung hatte, da man nur langsam reisen konnte, wurde es im Zeitalter der Technik möglich, dieselbe Distanz wesentlich schneller zurückzulegen. In der heutigen vernetzten Welt spielt die zeitliche Dimension kaum noch eine Rolle: Informatio-nen könInformatio-nen fast gleichzeitig überall auf der Welt abgerufen werden. Diese veränderte Mobilität hat Bauman zufolge signifikante Auswirkungen für die Strukturen von Gesell-schaften bzw. deren Auflösung. Vgl dazu: Zygmunt Bauman: Liquid Modernity. Cambridge: Polity Press 2006.

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wurf abgeglichen werden kann, müssen immer mehr selbst bestimmt wer-den.

Die Auflösung vorgegebener Strukturen bietet dem Einzelnen die Freiheit der individuellen Lebensgestaltung, stellt ihn aber gleichzeitig auch vor die Notwendigkeit, dieses Selbst aktiv zu strukturieren und zu formen:

Aus der Destruktion von Ligaturen28 gewonnene Wahlmöglichkeiten ver-lieren ab einem spezifischen Punkt ihren Sinn, weil sie […] in einem sozialen Vakuum stattfinden […] (IK 38 mit Berufung auf Dahrendorf)

Es genügt also nicht, sich in die Gesellschaft einzupassen, vielmehr müssen die gesellschaftlichen Strukturen, in die das Individuum sich einfügt, indivi-duell mitgeschaffen, muss die eigene Lebenswelt in einen sinnvollen Zusammenhang gebracht werden. Hier zeigt sich, dass sich nicht nur das

Produkt Identität, sondern auch der Prozess der Identitätsbildung verändert

hat. Nach Keupp u.a. kann es in dieser Situation keine abgeschlossene Iden-tität geben, da sich das Individuum immer wieder an sich wandelnden äußeren Umständen abgleichen muss. Produkt und Prozess fallen daher zu-sammen, werden in einer „Syntheseleistung“ (IK 189) verschränkt. Keupp u.a. haben ein sogenanntes „Modell alltäglicher Identitätsarbeit“ (IK 189) erstellt, welches die Bildung von Identität als einen lebenslangen, alltägli-chen Vorgang beschreibt. Der von Keupp geprägte Begriff der „Patchwork-Identität“ meint dabei nicht eine ‚zusammengeflickte‘ Identität oder eine Art ‚zerrissenes‘ Subjekt, sondern verweist vielmehr auf den Prozess der Identi-tätsbildung. Keupps Metapher bezieht sich auf die Technik des Patchworks, nicht auf beispielsweise den Quilt als Resultat.

Der Prozess der Identitätsbildung besteht Keupp u.a. zufolge nämlich aus einer „permanente[n] Verknüpfungsarbeit“ (IK 190). Alle Selbsterfah-rungen, also alle situationalen ErfahSelbsterfah-rungen, die in Bezug auf das eigene Selbst gemacht werden und dieses thematisieren, werden auf diese Weise

28 Der Begriff der Ligatur ist Dahrendorfs „Konzept der Lebenschancen“ entlehnt, in dem

er die Elemente „Option“ und „Ligatur“ einander gegenüberstellt. Ligaturen sind darin soziale, ideologische und geographische Einbindungen von Individuen. Sie sind die festen Orientierungspunkte, während Optionen die Wahlmöglichkeiten bzw. den Handlungsspiel-raum bezeichnen. Ligaturen und Optionen sind in ihrer Ausgestaltung historisch

veränderlich. In ihrer Verbindung bildet sich der Gestaltungsraum des Einzelnen (vgl. IK 37).

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strukturiert, in eine für das Subjekt sinnvolle Ordnung gebracht. Die Ver-knüpfungen finden auf verschiedenen Ebenen statt: Keupp u.a. nennen die zeitliche Komponente, die Erfahrungen diachron verortet, die lebensweltli-che Komponente, die Erfahrungen im sozialen Raum bzw. in Rollenzugehörigkeiten ordnet und eine abgleichende Komponente, die die Erfahrungen mit früheren Erfahrungen vergleicht und dementsprechend als bestätigend, widersprüchlich oder neu einstuft (vgl. IK 190). Die Selbst-wahrnehmung, auf der die Selbsterfahrungen beruhen, muss dabei keineswegs immer einheitlich sein: Sie findet, so Keupp u.a., hauptsächlich in fünf Modi statt – emotional, körperlich, sozial, kognitiv, produktorientiert -, die in der Selbstwahrnehmung ambivalent bewertet werden können. So kann z.B. eine Arbeitssituation emotional negativ (z.B. durch Nervosität) besetzt sein, während die eigene Leistung in der Produktorientierung den-noch als positiv bewertet wird. Beides sagt wiederum den-noch nichts über z.B. die soziale Anerkennung der Mitarbeiter aus. Die Verknüpfungsarbeit ist sowohl retro- wie prospektiv: Rückblickend werden Selbsterfahrungen für die Bewertung des eigenen „Identitätsprojekt[s]“ (IK 194)29

und für ange-messene Reaktionen verwertet. Prospektiv helfen sie bei der Gestaltung neuer Selbstentwürfe und zukünftiger Aktionen. Beides sind Prozesse, die sich auf das Subjekt beziehen und die in der Praxis nicht voneinander zu trennen sind. Eine weitere Form der Verknüpfungsarbeit stellt die Selbstnar-ration dar: Die Erzählung der eigenen Lebensgeschichte strukturiere und erkläre diese und gebe ihr damit einen Sinn.30

Identitätsarbeit ist Keupp u.a. zufolge immer auch Konfliktarbeit: Identität erreiche in der heutigen Pluralitätsgesellschaft nie ein Stadium vollständiger Einheit von ‚Innen‘ und ‚Außen‘, da es im Spannungsfeld zwischen Autonomie (d.h. selbständigem, egozentrischem Handeln) und

29

Keupp u.a. sprechen von Identitätsprojekten, da sie davon ausgehen, dass der Einzelne unterschiedliche Projekte angeht, welche zu seiner Identität beitragen. Diese Projekte kön-nen sowohl synchron wie auch diachron stattfinden. Subjekte gestalten Keupp u.a. zufolge ständig „Identitätsentwürfe“ (IK 194), welche immer wieder auch verworfen werden. Erst durch eine innere Entscheidung, welche eine Reflexion der vorhandenen individuellen Ressourcen zur Umsetzung dieses Entwurfes voraussetzt, wird aus einem Identitätsentwurf ein Identitätsprojekt.

30 Vgl. ausführlich zur Selbstnarration: IK 56ff und 105f. Mit narrativer Identität haben sich

auch Neumann (Neumann 2005) und Moser/Nelles (Moser u. Nelles 2006) auseinanderge-setzt.

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sozialer Anerkennung (d.h. Anpassung an die Umwelt bzw. Teilbereichen der eigenen Lebenswelt) stehe. Dieses Spannungsfeld sei dabei nicht als Problem zu betrachten, sondern als Quelle von Dynamik. Ziel der Identi-tätsarbeit sei nicht das Erreichen von Homogenität sondern das Schaffen und Gestalten einer „Struktur, die Verschiedenheit integriert“ (IK 197). Ge-lungene Identitätsarbeit sei folglich nur subjektiv zu bestimmen, sie äußere sich nämlich in einem „subjektiv stimmigen Passungsverhältnis“ (IK 197). Wieviel Ambiguität und Ambivalenz der Einzelne als akzeptabel bzw. posi-tiv empfindet, ist also individuell unterschiedlich.

Als ‚Produkte‘ bzw. Identitätskonstruktionen nennen Keupp u.a. „Tei-lidentitäten“,31

welche durch Reflexion der Selbsterfahrungen und deren Integration geformt werden und ein individuelles „Identitätsgefühl“,32

wel-ches durch die Bündelung und Generalisierung aller Selbsterfahrungen und Teilidentitäten entstehe. Dieses Identitätsgefühl führe wiederum zu einer verdichteten narrativen Darstellung des Einzelnen, der „Kernnarration“ der jeweiligen Person. Während das Identitätsgefühl als „Vertrauen zu sich selbst“ beschrieben werden kann, ist die Kernnarration die „Ideologie von sich selbst“ (IK 229), die die persönliche Lebensgestaltung logisch und sinnvoll strukturiert. Teilidentitäten, Identitätsgefühl und die Kernnarration bestimmen schließlich die „Handlungsfähigkeit“ des Einzelnen (IK 217). Diese ‚Produkte‘ sind in ständigem Wandel, da sie in der Praxis mit dem Prozess der Identitätsarbeit verflochten und daher nie ‚fertig‘ sind.

31 Teilidentitäten können sich überlappen, müssen es aber nicht. Sie stehen in hierarchischer

Ordnung, wobei dominante Teilidentitäten eine leitende Rolle für das Identitätsgefühl des Subjekts spielen. Dominanz entsteht durch eine bessere Organisation der Teilidentität und bietet damit mehr Sicherheit und Relevanz. Teilidentitäten können sich in ihrer inneren Struktur verändern (z.B. die Arbeitsidentität beim Jobwechsel), aber auch hinsichtlich ihrer Position zu anderen Teilidentitäten, d.h. auch die dominante Position kann von einer ande-ren Teilidentität besetzt werden (z.B. kann an die Stelle der dominanten Partyidentität eines Jugendlichen seine Arbeitsidentität rücken). Im Laufe des Lebens können Teilidentitäten hinzukommen, andere können sich auflösen. Die Gesamtheit der Teilidentitäten ist also ein dynamisches Feld, welches in seiner Bündelung und Abstraktion ein wandelbares Identi-tätsgefühl mit sich bringt (vgl. IK 224f).

32 Das Identitätsgefühl setzt sich bei Keupp u.a. aus dem Selbstgefühl und dem

Kohärenz-gefühl zusammen. Das SelbstKohärenz-gefühl drückt die Qualität und Art der Beziehung „zu sich selbst“ (IK 226) aus. Ob es positiv oder negativ ist, hängt vor allem davon ab, inwieweit man seine eigenen Identitätsprojekte verwirklichen konnte bzw. kann, und inwieweit das individuelle Bedürfnis nach sozialer Anerkennung und Autonomie erfüllt wird. Das Kohä-renzgefühl wird dadurch bestimmt, wie das jeweilige Subjekt seine Alltagsanforderungen bewältigen kann. Dabei spielen drei Komponenten eine wesentliche Rolle, nämlich die der Sinnhaftigkeit, der Machbarkeit und der Verstehbarkeit (vgl. IK 227).

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Als wesentlichen Aspekt für gelingende Identitätsarbeit benennen Keupp u.a. die zur Verfügung stehenden Ressourcen. Sie beziehen sich da-bei auf die von Bourdieu beschriebenen Kapitalressourcen.33 Entscheidend für die Identitätsarbeit ist dabei nicht der reine Besitz von Ressourcen, son-dern die Fähigkeit, diese für die eigene Identitätsbildung nutzbar zu machen. Keupp weist mit Bourdieu daraufhin, dass nicht allen Individuen gleiche Ressourcen zur Verfügung stehen, weshalb die Identitätsarbeit nicht für alle gleich gute Chancen hat. Während Keupp u.a. mit ihrem Modell eine de-skriptive Erklärung zur Identitätsbildung in der Spätmoderne geben wollen, ist ihr Konzept von Kritikern wie Befürwortern der Gegenwartsgesellschaft normativ gedeutet worden. Die neoliberale Ideologie erwartet vom Subjekt, flexibel zu sein und zur ‚Patchwork‘-Arbeit fähig und willens zu sein.34

Kri-tiker sehen in diesem Modell die Überforderung des Subjekts.

2.3. Zwiespalt im Identitätsbewusstsein

Trotz ihrer deskriptiven Herangehensweise bemerken Keupp u.a., dass das von ihnen dargestellte Modell der alltäglichen Identitätsarbeit in der subjektiven Wahrnehmung auf den Einzelnen bedrohlich bzw. frustrierend wirken kann:

[Die] Erfahrung, daß Identitätsarbeit ein lebenslanger und unabschließbarer Prozeß geworden ist, [ist] eine schmerzliche Einsicht, ein Verlust- und Verunsicherungserlebnis. Denn die menschlichen Vorstellungen über die gesellschaftliche Realität und ihre Normen ändern sich in der Regel viel langsamer als die Realität selbst. Immer noch glauben viele Menschen, daß Identität ein haltbarer Besitz zu sein hat, den man „hat“, wenn, indem und weil man erwachsen wird. (IK 82f)

33 Die individuellen Ressourcen nennt Bourdieu „Kapital“, wobei er zwischen

ökonomi-schem, kulturellem und sozialem Kapital unterscheidet. Unter ökonomischem Kapital versteht er Werte, die direkt in Geld umwandelbar sind, während soziales Kapital sich auf die Zugehörigkeit einer bestimmten Gruppe bzw. Netzwerke bezieht, die für individuelle Zwecke nutzbar gemacht werden können. Kulturelles Kapital bezeichnet hier alle angeeig-neten, erlernten, verinnerlichten Werte, Kenntnisse und Fertigkeiten. Die Verfügbarkeit von inkorporiertem kulturellem Kapital ist zwar stark herkunftsabhängig, kann aber nicht losge-löst von der jeweiligen Person bestehen, die dieses Kapitel zeitaufwendig selbst erwerben muss. Jedes Individuum verfügt über eine eigene Kombination der verschiedenen Kapitals-orten. Der Wert eines Kapitals – egal um welches es sich handelt –- wird von seinem Seltenheitswert bestimmt, welcher sich jedoch Schwankungen unterliegt. Deshalb ist auch der ‚Wechselkurs‘, zu dem eine Kapitalsorte in eine andere umgewandelt werden kann, nicht stabil. Vgl. Eva Barlösius: Pierre Bourdieu. 2. Auflage. Frankfurt, New York: Cam-pus 2011. Ausführlich zu den Transferleistungen des Individuums hinsichtlich der Ressourcennutzung für die Identitätsarbeit siehe IK 201ff.

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Hier zeigt sich der Zwiespalt im subjektiven Verständnis von Identität und der tatsächlich zu leistenden Identitätsarbeit. Möglichkeiten der offenen, flexiblen Identitätsbildung werden daher oftmals als problematisch erfah-ren. Die Erwartungshaltung ist immer noch die, sein „wahres Selbst“35

zu finden, eine einzige – möglicherweise sogar vorbestimmte oder bereits an-gelegte – Identität zu haben bzw. auszubilden. Es ist diese Suche nach etwas Essenziellem der eigenen Persönlichkeit, die hier eine Brücke baut zum ge-genwärtigen Diskurs über den Körper. Der eigene Körper gilt zum einen traditionell als das natürlich Gegebene des Menschen und erscheint in einer ‚flüssigen‘, sich ständig wandelnden Gesellschaft eine letzte verlässliche Konstante zu sein. Zum anderen bietet der eigene Körper gerade in der spätmodernen Gesellschaft eine Projektionsfläche für Identitätsprojekte. Er kann als Symbol für individuelle Wertmaßstäbe funktionalisiert und damit identitätsstiftend eingesetzt werden. Ob alltägliche Identitätsarbeit nun als bedrohliche Notwendigkeit oder Optionen bietende Freiheit verstanden wird – in jedem Fall scheint der Körper als identitätsrelevante Ressource an Be-deutung zu gewinnen.

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3. Körperdiskurs der Gegenwart: Body Turn in der Soziologie

2004 beschreibt Meuser Körper als den „prominenten Forschungsge-genstand“36

der Soziologie. Dies ist er allerdings erst seit Beginn der 1990er Jahre. Bevor der gegenwärtige Körperdiskurs und die dort verwendeten Be-grifflichkeiten erklärt werden, soll daher zunächst kurz dargelegt werden, wie sich das aktuelle soziologische Interesse am Körper historisch begrün-det. Auch vor dem Hintergrund, dass der Körperdiskurs in dieser Arbeit mit dem Identitätsdiskurs zusammengebracht werden soll, dringt sich eine Übersicht über die Entwicklung des Körperdiskurses innerhalb der gesell-schaftlichen Entwicklung auf.

3.1. Historisch entwickelter Körperdiskurs

Mit Descartes ist die Zweiteilung des Menschen in ‚Geist‘ und ‚Kör-per‘ in der Moderne zur Norm geworden.37

Dieser Dualismus hat zu einer Entfremdung des Menschen von seinem Körper geführt. Die Maximen der Aufklärung verlangten ein vernunftgeleitetes, überlegtes Handeln des Indi-viduums und damit die gleichzeitige Kontrolle leiblicher Bedürfnisse und sinnlicher (Re-) Aktionen. Agens menschlichen Handelns wurde auf norma-tiver Basis die (kognitive) Vernunft. Zu dieser Zeit, in der der menschliche Körper keinen eigenständigen Stellenwert innehatte, entwickelte sich in Westeuropa im 19. Jahrhundert die Soziologie als Forschungsdisziplin. Die-se konzentrierte sich hauptsächlich auf geDie-sellschaftlichen Wandel im Zusammenhang mit der industriellen Entwicklung.38 Der Fokus der Unter-suchungen lag dabei weniger auf dem Individuum als auf der Gesellschaft als sozialem System. Soziales Handeln sollte dabei sowohl von psychologi-scher als auch von biologipsychologi-scher Motivation unterschieden werden – und der Körper galt eben als ein „vorsoziales, natürliches Phänomen“ (SK 25). Hie-raus lässt sich erkennen, weshalb die Soziologie dem menschlichen Körper

36 Michael Meuser: Zwischen „Leibvergessenheit“ und „Körperboom“. Die Soziologie und

der Körper. In: Sport und Gesellschaft - Sport and Society 3 (2004), S. 197-218, hier S. 197.

37 Abraham/Müller sprechen von der „in der abendländischen Kultur so fest verankerten

Überzeugung von der Dichotomie von ‚Leib‘ und ‚Seele‘ bzw. von ‚Körper‘ und ‚Geist‘“. Anke Abraham u. Beatrice Müller (Hg.): Körperhandeln und Körpererleben. Multidiszipli-näre Perspektiven auf ein brisantes Feld. Bielefeld: Transcript 2010, S. 11.

38 Vgl. Gugutzer 2015, S. 24f. Zitate aus diesem Werk werden im Folgenden

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kaum Beachtung schenkte. Gugutzer beschreibt in seiner Einführung zur Soziologie des Körpers die unterschiedlichen Bedeutungen, die dem Körper in den Überlegungen der führenden Soziologen des 19. Jahrhunderts zuka-men. Dies geht vom „biologischen Organismus“ (SK 29), also die naturgegebene Grundlage des Menschen bei Spencer über das Medium „in-dividueller Aneignung der Umwelt“ (SK 31) bei Mead zur „Natur des Menschen“ als „Möglichkeitsbedingung von gesellschaftlicher Entwick-lung“ (SK 33)39

bei Marx. Dabei scheint allen Erwähnungen des Körpers eines gemein: nämlich der andauernde Dualismus, also die klare Trennung von Körper und Geist. Sie entspricht der „Trennung von Natur und Gesell-schaft“ (SK 33). Dabei bleibt der Körper immer der passive, naturgegebene, statische Teil des Menschen, während der Geist entscheidet und handelt und damit soziale Beziehungen eingeht bzw. von sozialen Bedingungen beein-flusst wird. Für die soziologische Forschung, die sich für die Interaktionen von Individuen und Gruppen interessiert, bleibt das passive Objekt Körper damit irrelevant.

Die industrielle Weiterentwicklung brachte beträchtliche Arbeitser-leichterungen mit sich, wodurch geistige Fähigkeiten und Leistungen auch im Arbeitsleben immer wichtiger wurden, während körperliches Leistungs-vermögen in den Hintergrund trat. Damit verliert der Körper auch im Sektor der wirtschaftlichen Produktion seinen Stellenwert als Nutzobjekt. Er ge-winnt eine neue Relevanz als individuelle und kollektive Darstellungsfläche: In der Wohlstands- und Konsumkultur der „postindust-riellen […] Gesellschaft“ (SK 40) setzt eine Rückbesinnung auf den Körper ein. Die Überhöhung der Vernunft, die sich den Körper nutzbar macht, wird kritisiert. Was folgt ist die Aufwertung des Körpers in der Nachmoderne, die eine neuerliche Leib-Seele-Einheit anstrebt.40 Solch eine Einheit halten

39

Aufgrund seiner biologisch-organischen Beschaffenheit, so Marx, muss der Mensch bestimmte Bedürfnisse befriedigen, um zu überleben (z.B. Essen, Trinken, eine Behausung schaffen, sich durch Kleidung warm halten). Die Produktion dieser überlebenssichernden Mittel sei der Grundstein gesellschaftlicher Entwicklung.

40 Horkheimer/Adorno bemerken hierzu, dass dieses Bestreben sogleich von der

industriel-len Konsumkultur ausgenutzt wurde: „Die Abkehr von der Mechanisierung wurde zum Schmuck der industriellen Massenkultur, die der edlen Geste nicht entraten kann. Die Künstler bereiteten das verlorene Bild der Leib-Seele-Einheit wider Willen für die Reklame zu.“ Horkheimer u. Adorno 2011, S. 248. Gugutzer bestätigt diese Annahme, wenn er sagt: „Wir leben in einer Konsumkultur, deren zentrale Aufmerksamkeit dem Körper gilt“ und

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Horkheimer/Adorno für unmöglich: „Der Körper ist nicht wieder zurückzu-verwandeln in den Leib.“41

In den Begrifflichkeiten dieses Zitats wird allerdings schon der Diskurswandel, den die Soziologie Ende des 20. Jahr-hunderts erlebt, angedeutet: Der bewusst wahrgenommene, reflektierte Körper kann nicht in den unbewusst wahrgenommenen und wahrnehmen-den Leib zurückgeführt werwahrnehmen-den; der Mensch kann sein Wissen um seinen Körper nicht ablegen. Horkheimer/Adorno verwenden hier die bereits in der Einleitung genannten Begriffe Plessners, die mit dem „Body Turn“ (SK 39) auch in der Soziologie Verwendung finden.

Im Zuge des Body Turn erfahren sowohl Körper als auch Leib ein verstärktes Interesse und zugleich eine Aufwertung ihrer Bedeutung für so-ziales Wirken. Mit der Verwendung der Begriffe ‚Körper‘ und ‚Leib‘ findet im Grunde eine analytische ‚Dreiteilung‘ des Menschen in Geist/ Kognition, Körper und Leib statt. Gleichzeitig wird aber auch deren Verschränkung betont und so ein letztendlich ganzheitlich wirkendes bzw. beeinflussbares Wesen des Menschen beschrieben. Im Folgenden sollen die Begriffe ‚Kör-per‘ und ‚Leib‘ aus soziologischer Perspektive näher erläutert werden. Obwohl diese Unterscheidung rein analytisch aufzufassen ist, erscheint sie dennoch sinnvoll, da sie eine verständliche Grundlage für die neuen sozio-logischen Konzepte sozialer Ordnung und sozialen Handelns bietet, die körperliche und leibliche Gegebenheiten gleichermaßen einbezieht.

3.2. Doppelaspekt von Leib und Körper

Die Begriffe des „Leibsein“ und „Körperhaben“42 gehen, wie bereits erwähnt, auf Plessner zurück. Im Wesentlichen benennt das Leibsein den biologischen menschlichen Körper, mit dem man geboren wird und der man ohne jegliche kognitive Leistung ganz unmittelbar ist. Das Körperhaben bezeichnet dagegen das Sich-Distanzieren vom eigenen Leib, indem man ihn reflektierend betrachtet. In mittelbarer Form hat der Mensch daher sei-nen Körper, er kann über ihn verfügen und ihn gestalten. Entscheidend ist

vom „Körperboom“ spricht, um den herum sich ganze „Industriezweige“ gebildet haben (SK 40).

41 Horkheimer u. Adorno 2011, S. 248.

42 Gugutzer 2002, S. 61. Zitate aus diesem Werk werden im Folgenden gekennzeichnet mit

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für Plessner dabei die unaufhebbare „Doppelaspektivität“ (LK 62) des Men-schen: Er ist immer sowohl sein Leib als auch der von ihm selbst geformte Körper, da Leib und Körper nicht voneinander zu trennen sind.

Den menschlichen Leib beschreibt Gugutzer in Anlehnung an Schmitz als einen Ort spürbarer Erfahrung. Dabei ist der Leib immer etwas Subjekti-ves, die leiblichen Erfahrungen wie z.B. Schmerz oder Frieren nimmt der Mensch selbst wahr und kann diese Empfindung auch nicht an eine andere Person weitergeben oder sie teilen. Der Ort, an dem diese leiblich-sinnliche Erfahrung stattfindet, ist für den Menschen unabhängig von seiner Umge-bung feststellbar. So kann er z.B. bei Schmerzen sagen, wo er diese spürt, ohne dies erst reflektierend überprüfen zu müssen. Sinnliche Erfahrungen wie Kribbeln im Bauch, Angst oder Müdigkeit werden unabhängig vom Umfeld im eigenen Leib verortet, weswegen dieser als eine „absolute Ört-lichkeit“ (SK 21) beschrieben werden kann. Der Körper wird dagegen subjektiv vom Individuum wahrgenommen, ist aber immer auch als Objekt von anderen wahrnehmbar. Er ist sichtbar und tastbar und damit auch mit anderen teilbar. Da der Körper sich in Beziehung zu seiner Umwelt verhält, kann er als „relative Örtlichkeit“43 verstanden werden (SK 21). Als Beispiel für diese Relativität nennt Gugutzer das Händeschütteln zur Begrüßung oder einen Kuss, bei denen die beteiligten Körper in bestimmten Nähe-Distanz-Verhältnissen zueinander stehen und damit ‚relativ‘ zueinander zu verorten sind. Beispiele für die relative Örtlichkeit des Körpers sind aber auch Situa-tionen, in denen Körper sich gerade nicht berühren, sondern einander ausweichen bzw. sich der Wahrnehmung anderer entziehen, wie z.B. beim Gehen auf der Straße, beim Zuziehen der Gardinen oder Schließen einer Tür.

43 Die Begriffe der relativen und absoluten Örtlichkeit übernimmt Gugutzer von Schmitz.

Dabei erläutert er ebenfalls mit Schmitz, wie relativ spürbare, aber doch deutlich leiblich-sinnliche Erfahrungen einzuordnen sind, wie z.B. ein Jucken zwischen den Schulterblättern, das in seiner Position relativ verortet wird, aber doch unmittelbar und subjektiv wahrge-nommen wird. Was der Mensch nämlich wahrnehme, sei weder der reine Leib, noch der reine Körper, sondern ein „körperlicher Leib.“ Der Leib sei in sogenannte „Leibesinseln“ aufgeteilt, die für sich absolute Orte vorstellten. Die für den Leib kennzeichnende Einheit führe trotz der relativen Verortung einer Empfindung zu einer ganzheitlichen leiblichen Erfahrung (LK 91).

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Ein wichtiger Unterschied zwischen Körper und Leib liegt in ihren Funktionen: Der Leib, so Gugutzer mit Merleau-Ponty, ist der Vermittler zwischen der Außenwelt und dem Individuum: „Als Medium des Zur-Welt-Seins fungiert der Leib dadurch, dass er dem Ich die Welt sinnlich-wahrnehmend vermittelt“ (LK 76). Sinnliche Erfahrungen eröffnen dem Menschen erst den Zugang zu seiner Umwelt. Diese Vermittlerrolle sei für den Menschen selbstverständlich, so Gugutzer, sie falle erst dann auf, wenn die Vermittlung gestört werde, wenn der „ungehinderte Weltbezug“ unter-brochen werde (LK 78). In dieser Funktion ist der Leib die Basis aller menschlichen Formung, also sowohl die Grundlage seiner kognitiven Tätig-keit als auch seines Körpers. Die Funktion des Körpers liegt hingegen in der Repräsentation. „Körperhaben bedeutet“, so wiederum Gugutzer, „sich selbst zum Gegenstand zu machen, sich zu reflektieren“ (LK 73). Die Aus-formung des eigenen Körpers ist also zum einem eine kognitive, bewusste Tätigkeit, zum anderen eine leibliche, da der Körper erst durch den Leib ein wahrnehmbares Objekt wird. Seine Eigenschaft als reflektierbares und rela-tivierbares Objekt macht ihn zu einem „kulturelle[n] Symbol“ (LK 86); er wird aufgrund der jeweiligen kulturellen Prägung vom Individuum ausge-staltet bzw. von seiner Umwelt gedeutet.

Die Verbindung von Körper und Leib zeigt sich nicht nur in der tat-sächlichen Ausformung des Körpers am Leib, sondern auch in der Wahrnehmung der Umwelt und der darin befindlichen Körper. Gugutzer erläutert: „Unmittelbar ist eine Leib- und Selbsterfahrung nur in dem Sinne, dass sie dem Bewusstsein vorausgeht, dabei aber von der Sozial- und Kul-turwelt […] geprägt ist“ (LK 86). Der Körper setze als normierendes kulturell geformtes „Gefühls- und Verhaltensprogramm“ (SK 22) fest, wie der körperliche Leib etwas spüre. Die kulturelle Prägung dieses Programms nennt Gugutzer mit Lindemann „Körperwissen“ (SK 22): Dadurch, dass man weiß, was gut bzw. schlecht für den eigenen Leib ist, werden sinnlich-leibliche Erfahrungen dementsprechend empfunden. Die sinnlich-leibliche Erfahrung schließt vorreflexiv die kulturelle Deutung der Erfahrung mit ein. So ent-scheidet beispielsweise die kulturelle Prägung, ob eine bestimmte leibliche Erfahrung als Schmerz empfunden wird oder nicht. In dieser Hinsicht formt

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also der Körper den Leib. Allerdings, so Gugutzer, formt auch umgekehrt der Leib den Körper: Das leibliche Spüren setze körperliche Bewegungs-muster in Gang und integriere auf diese Weise Leib und Körper. In der Praxis sind Leib und Körper untrennbar bedingen und formen sich wechsel-seitig (vgl. SK 23). Bourdieus Modell des „Habitus“44 veranschaulicht diese Wechselwirkung: Mit der Hilfskonstruktion des Habitus erklärt Bourdieu menschliches Handeln innerhalb einer Gesellschaft. Jeder Mensch verfügt demnach über einen persönlichen Habitus, der das individuelle Handeln bestimmt. Dieser setzt sich aus allen bewussten und unbewussten Eindrü-cken zusammen, die im Laufe seines Lebens auf den Menschen einwirken. Herkunft, Erziehung, Bildung, soziales Umfeld usw. schreiben sich dabei buchstäblich in den Leib des Individuums ein und zeigen sich in „Körper-haltung, individueller Mimik, Gestik, Stimm- und Tonlage und sonstige[n] individuelle[n] körperliche[n] ‚Eigenarten‘“ (LK 96). Aber nicht nur leib-lich-körperliche Äußerungen werden vom Habitus geprägt, sondern auch individuelle Urteile, der persönliche Geschmack. Damit ist der Habitus eine „ ‚psychische Disposition‘ und zugleich eine ‚leibliche Disposition‘“ (LK 113). Er beeinflusst sowohl „theoretisches“ – also bewusstes, zielstrebiges – Handeln wie auch „praktisches“45

– d.h. spontanes, unbewusstes – Handeln. Insofern geht Bourdieus Modell weiter als das „Körperwissen“ von Linde-mann, welches sich auf kognitiv verarbeitete Erfahrungen bezieht. Bourdieu betont gerade die Grenzen der Manipulierbarkeit des eigenen Habitus, die sich am Körper zeigen: Das dem Leib eingeschriebene Verhaltensprogramm könne vom selbstgestalteten Körperbild nur begrenzt überschrieben werden. Wenn Körperkonstrukt und habitualisierter Leib zu gegensätzlich sind, wer-de dies in einer verkrampften Körpersprache ersichtlich:

Die Beziehung zum eigenen Körper […], die sich widerspiegelt in einer bestimmten Körperhaltung, in Selbstvertrauen, natürlicher Ungezwungen-heit und Autorität dessen, der sich autorisiert fühlt („der kann sich das erlauben“), in Verklemmtheit oder Überheblichkeit desjenigen, der den Zweifel über seine Legitimität auf sich zieht, und dann in einem überhaste-ten Bemühen, sie unter Beweis zu stellen, gerade verrät, daß er selber gar nicht so sicher ist, daß er sie hat – diese Beziehung ist sicher einer der

44 Barlösius 2011, S. 45. 45

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machtvollsten sozialen Markierungsinstanzen und daher ein privilegierter Gegenstand von strategischen Manipulationen […]46

3.3. Körperdiskurs und Gegenwartsgesellschaft

In der heutigen Zeit ist der Körper immer mehr zu einem „brisante[n] Feld“47

geworden. Einerseits sind die medizinischen Möglichkeiten derart gewachsen, dass die vollständige Manipulation der biologischen Gegeben-heiten des Leibes lediglich eine Frage der Zeit zu sein scheint. Die immer weiterschreitende Entwicklung technischer Möglichkeiten der Körperver-nichtung formt andererseits eine Bedrohung. Neben der scheinbar unaufhaltsamen „Entgrenzung“48 des Leibes erstarkt ein neues Bewusstsein gegenüber dem eigenen Körper, welches sich in gesteigerter Pflege bis hin zum „Körperkult“49

oder der Inszenierung des Körpers als „Statussymbol“50 äußert.

Die analytische Unterscheidung von Körper und Leib findet sich vor allem in der Soziologie und der Philosophie, während die Schulmedizin vorrangig von Geist und Körper und deren Trennung bzw. Einheit spricht. Gerade die Vorstellung einer menschlichen Einheit von Leib und Geist, wie sie gegenwärtig von der medizinischen Forschung immer wieder betont wird,51 scheint sich allerdings in dem theoretischen Modell der analytischen Dreiteilung auszudrücken: Da es dem Menschen nach der Verinnerlichung des kartesischen Dualismus52 unmöglich geworden ist, in einem unreflek-tierten, rein unbewusst fungierenden Körper zu leben, hat man das Phänomen dieses Körpers in einen unreflektierten, ursprünglichen, und ei-nen reflektierten, kulturell geformten Teil gespalten. Dies mag für die Aufwertung der vorreflexiven sinnlichen Erfahrungen durchaus sinnvoll sein. Außerdem kann dieses neue Körperbild, welches deutlich sowohl mit

46 Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik an der gesellschaftlichen Urteilskraft.

Übersetzt v. Bernd Schwibs u. Achim Russer. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2013 [1979], S. 393. 47 Vgl. Abraham/Müller 2010. 48 Ebd., S. 13. 49 Gugutzer 2007. 50 Villa 2007. 51

Vgl. Jana Hausschild u. Claudia Wüstenhagen: Körper und Seele - nur gemeinsam stark. In: ZEIT ONLINE. URL:

http://www.zeit.de/zeit-wissen/2013/03/koerper-psyche-gefuehle-gesundheit. [05.04.2015, 13:00 Uhr].

52 Möglicherweise auch schon vorher, wenn auch evtl. mit anderen Wertungen bezüglich

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dem Leib als auch mit der Kognition verbunden ist, die Vorstellung eines ganzheitlich agierenden Menschen erleichtern. Die soziologische Herange-hensweise reagiert damit auf das gegenwärtige gesellschaftliche Verlangen, die Grundlage menschlichen Handelns in der Ganzheitlichkeit des Individu-ums zu suchen. Das gesteigerte „Bedürfnis nach Wiederaneignung der Leiblichkeit und Sinnlichkeit“ (LK 297) lässt sich wiederum aus der Plurali-tät erklären, die gegenwärtige Lebensläufe ausmachen. Wie anhand der Besprechung von gegenwärtigen Identitätsmodellen deutlich wurde, wird die Auflösung von orientierungsspendenden Zusammenhängen und Verhal-tensmustern scheinbar als derart negativ bzw. bedrohlich erfahren, dass sie ein Verlangen nach Zusammenführung weckt. Die Soziologie hat außerdem erkannt, dass gerade die von Plessner genannte Doppelaspektivität des menschlichen Körpers für die eigene Lebensführung und damit für das sozi-ale Handeln entscheidend ist. Müller/Soeffner/Sonnenmoser bemerken dazu:

Charakterisiert man die Körperlichkeit des Menschen durch eben diesen Doppelaspekt, so ist mit dieser Charakterisierung zugleich eine Antwort auf die Frage nach der conditio humana gegeben. Denn in der Distanziert-heit des Körper Habens sind die Möglichkeit wie auch der Zwang zur Reflexion und Formung des eigenen Daseins fundiert: Im Körper Haben, in den vielfältigen Modalitäten der Wahrnehmung, Kontrolle und Gestal-tung seines Körpers, ist der Mensch nicht nur Körper, sondern er ver-körpert sich – (s)eine historisch gewachsene, sozial erlernte und persönlich abgewandelte Art und Weise, in Erscheinung zu treten, sich zu verhalten, auf die Umwelt einzuwirken, sein Leben zu führen.53

An dieser Stelle schließt sich der Kreis von der Aufwertung der Körperlich-keit zurück zur Identitätskonstruktion des Individuums in der heutigen Zeit. Der Fokus auf den eigenen Körper scheint ein Fixpunkt in der Streuung der identitätsbildenden und -repräsentierenden Positionen in den sozialen Fel-dern der Gegenwart zu sein.

53 Michael Müller, Hans-Georg Soeffner u. Anne Sonnenmoser: Körper Haben. Die

symbo-lische Formung der Person. o.O. Velbrück Wissenschaft 2011, o.S. URL: http://www.velbrueck-wissenschaft.de/pdf_ausfuehrlich/978-3-942393-08-9.pdf. [11.05.2015, 14:30 Uhr].

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4. Körper und Leib als Stützen der Identitätsbildung

Aus den vorangegangenen Kapiteln folgt nun die Frage, welche Rolle der Körper in der alltäglichen Identitätsarbeit spielt bzw. spielen kann. Da der Körper subjektiv gestaltbar und gleichzeitig objektiv wahrnehmbar ist, bil-det er eine ausgezeichnete Fläche für symbolische Darstellungen und deren Interpretation. Diesbezüglich lässt sich ein direkter Zusammenhang zwi-schen Identitätsarbeit und Körperarbeit vermuten. Tatsächlich spricht Gugutzer vom Körper als einem „reflexiven Identitätsprojekt“ (SK 45). Als untrennbarer Teil des Menschen bedeutet die Thematisierung des Körpers immer auch eine für die Identitätsarbeit relevante Selbsterfahrung: „In die-ser Hinsicht ist die reflexive Körperarbeit immer auch eine Form von Selbstthematisierung, die Arbeit am Körper immer auch Identitätsarbeit“ (SK 45f).

Sowohl im Identitäts- wie auch im Körperdiskurs finden sich Aspekte, die als speziell menscheneigen, als Bestandteil der conditio humana er-scheinen. Bemerkenswerterweise ist es in beiden Fällen ein ‚Doppelaspekt‘, denn für die Identität ist festzuhalten:

Identität bildet ein selbstreflexives Scharnier zwischen der inneren und der äußeren Welt. Genau in dieser Funktion wird der Doppelcharakter von Identität sichtbar: Sie soll das unverwechselbar Individuelle, aber auch das sozial Akzeptable darstellbar machen. (IK 28)

Während für den Körper gilt:

Der Mensch ist ein Naturwesen, insofern er sein (biologischer) Körper ist, und er ist ein Kulturwesen, insofern er (qua Sozialisation) seinen Körper hat. […] Die Aneignung des eigenen Körpers ist ein biologisch bedingtes Erfordernis, zugleich jedoch offen für kultur- und gesellschaftsspezifische Varianten. (SK 15)

Dadurch, dass der Mensch in der Lage ist, sich von sich selbst zu distanzie-ren und sein eigenes Wesen zu reflektiedistanzie-ren, kann und muss er es selbst definieren und gestalten. Dies lässt sich gleichermaßen für die Identität wie für den menschlichen Körper sagen. Für beide gilt aber auch, dass sie – da nicht selbstverständlich und naturgegeben – der Bestätigung bzw. Anerken-nung von außen bedürfen. Identität und Körper sind Konstrukte, die erst im sozialen Zusammenhang ihre Bedeutung erhalten. An dieser Stelle soll

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Gu-25

gutzers „Leib-Körper-fundiertes Identitätsmodell“ (LK 126) vorgestellt werden, in dem die Bedeutung von Körper und Leib für die Identitätsarbeit deutlich wird. Ergänzend werden die Thesen Bourdieus zu Habitus und Feld angeführt. Im Anschluss sollen einige Fragen besprochen werden, die dieses Modell hinsichtlich der Patchwork-Konstruktion von Keupp aufwirft.

4.1. Gugutzers Identitätsmodell

In Übereinstimmung mit den gegenwärtigen Konzepten von Identität betrachtet Gugutzer „Identitätsentwicklung als einen lebenslang andauern-den Wechselwirkungsprozess zwischen Individuum und Gesellschaft“ (LK 22). Allerdings bemängelt er an der bisherigen Forschung, dass sie den Leib in der Identitätsbildung außer Acht lässt. Gugutzer folgt Plessner mit seinen Begrifflichkeiten von ‚Körper‘ und ‚Leib‘ und bezieht beide in sein Modell der Identitätsbildung mit ein. Er betont, dass die Trennung von Leib und Körper eine rein analytische sei, die praktisch nicht zu leisten wäre:

Leibsein und Körperhaben sind [dem Menschen] ein unaufhebbarer Dop-pelaspekt seiner menschlichen Existenz, weshalb er jeden Moment seines Daseins genötigt ist, eine Balance zwischen Leibsein und Körperhaben herzustellen. (LK 67)

Der Leib sei allerdings in seiner Funktion, dem „Ich die Welt sinnlich wahr-nehmend“ (LK 76) zu vermitteln, die „Basis personaler Identität“ (LK 74). Da die Identität wie gesagt in Wechselwirkung mit der Gesellschaft gebildet wird, ist diese leibliche Vermittlung Grundvoraussetzung für die Identitäts-konstruktion. Des Weiteren setze sich die individuelle Identität aus einer ganzen Reihe von Beziehungen zusammen: Gugutzer nennt zehn verschie-dene Relationen, die jeweils zwischen den Aspekten „Leib, Körper, Denken/Sprache [womit er den traditionellen Geist- bzw. Kognitionsbegriff ersetzt, L.A.], Andere und Gesellschaft/ Kultur“ (LK 126) bestehen. Den „Kern des Leib-Körper-fundierten Identitätsmodells“ bildet dabei die „Rela-tion von Leib und Denken/Sprache“ (LK 128). Identität entwickle sich nämlich durch ein dialektisches Zusammenspiel von „Selbsterfahrung“ und „Selbstbewusstsein“ (LK 84), von direktem leiblichem Empfinden und der distanzierten Reflexion des Erlebten. Diese Reflexion beeinflusse wiederum zukünftige leibliche Wahrnehmungen. Gugutzer bezeichnet dies als

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lektik von Erfahrung und Reflexion“ (LK 85). Dieses Prinzip schließe im Übrigen auch die für die Identitätsbildung ebenso bedeutende Erinnerung mit ein, die ebenfalls nicht nur kognitiv verarbeitet, sondern auch leiblich wahr- und aufgenommen werde (vgl. LK 129). Ein rein kognitives Bestim-men des persönlichen Selbstbildes reiche zur Identitätsbildung nicht aus, entscheidender als das „[W]issen“ sei die „spürbare Selbstgewissheit“ (LK 101). Gerade dann, wenn das kognitive Selbstbild nicht durch leibliches Selbstempfinden gestützt werde, komme es zu existenziellen Identitätsprob-lemen. Gugutzer führt die einleuchtenden Beispiele von Transgender oder einer alternden Diva an. Wenn leibliches und kognitives Selbstbild nicht übereinstimmen, kommt es also zum Problem in der Identitätsentwicklung. Auf der anderen Seite sei aber auch die kognitive Leistung notwendig, um sich „über [das durch] die Versprachlichung von Empfindungen erzielte Wissen […] mit dem neuen Leben und der neuen sozialen Rolle zu identifi-zieren“ (LK 131). Nur dann könne die personale Identität sich auch auf die Zukunft richten.

Laut Gugutzer kommt auch der Wechselwirkung zwischen dem Indi-viduum und seiner Umwelt und der Gesellschaft für die Identitätsbildung eine zentrale Rolle zu. Er betont aber, dass diese Wechselwirkung nicht – wie bei bisherigen Modellen – auf rein kognitiver, reflektierender, sprachli-cher Ebene stattfindet, sondern auch körperlich und vor allem leiblich: Die Funktion des Leibes als Vermittler zwischen Umwelt und Ich wurde bereits erwähnt. Der Körper als reflektierte, manipulierbare, vor allem aber wahr-nehmbare Entität wirke als „kulturelles Symbol“ (LK 86): „Dadurch […], dass der eigene Körper für andere sicht- und wahrnehmbar ist, ist er zur Zu-schreibung bestimmter sozialer Identitäten geradezu prädestiniert“ (LK 87). Da der Körper immer kulturell geprägt und damit in bestimmten gesell-schaftlichen Werten verortet sei, sei er unweigerlich identitätsrelevant – auch für Menschen, die sich über geistige Aktivitäten definieren und ihrem Körper eine identitätsstiftende Funktion absprechen. Durch individuelle körperliche Eigenarten wie „Körperhaltung, […] Mimik, Gestik, Stimm- und Tonlage“ (LK 96) drücke der Körper den Habitus, also die

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ten und einverleibten Werte und Erfahrungen aus und offenbare der Umwelt damit individuelle Identitätsmerkmale.

Gugutzer zufolge ist der Leib/Körper nicht nur wesentlich für die Identität sondern sogar gleichbedeutend mit ihr: Dazu führt er das Körper-bild54 an, welches in Form einer „Ich-Leib-Einheit“ (LK 199) mit dem Selbstbild gleichgesetzt wird – etwa in Feststellungen wie: ‚Ich bin dick‘ oder ‚ich bin sehr sportlich.‘ Wie das Selbstbild bedürfe auch das Körper-bild der sozialen Anerkennung und sei handlungsmotivierend, wenn das Subjekt versucht, es zu verändern. Zu unterscheiden sei hinsichtlich des Körperbildes das Idealbild und das Realbild vom eigenen Körper. Je weiter diese auseinanderliegen, desto wahrscheinlicher werde ein Identitätskon-flikt. Entscheidend dafür sei allerdings nicht die tatsächliche Diskrepanz, sondern die subjektive Bedeutung, die der Einzelne ihr beimesse.55 Analog zum Körper- und Selbstbild benennt Gugutzer auch die Körperkontrolle als „Selbstkontrolle“ (LK 238). Die Körperkontrolle als Technik des instrumen-tellen Gebrauchs des Körpers ermöglicht die Inszenierung der eigenen Rolle „in Form symbolischer Maskierungen [der] leiblichen Existenz“ (LK 249). Die Art der Darstellung werde dabei vom Habitus56 des Einzelnen bestimmt, während der Körper das Medium zur Unterscheidung biete. Beim Kontroll-verlust kann das Individuum auf seinen Leib zurückfallen: „Das Leibsein sichert das Selbstsein trotz des körperlichen Nichthabens“ (LK 242).57

54 Unter ‚Körperbild‘ versteht Gugutzer die persönliche Einstellung zum eigenen Körper,

die wertend ist und sozial geprägt. Er grenzt das Körperbild ab von der „Körpermetapher“, die kollektive Einstellungen zum Körper allgemein bzw. zu Körperkonzepten bezeichnet (LK 197).

55 Dazu muss allerdings angemerkt werden, dass diese subjektive Bedeutung die

grundsätz-liche Gleichbedeutung von Körperbild und Selbstbild wieder in Frage stellt.

56 Als leiblicher, vorreflexiver Teil des Habitus kann das von Gugutzer genannte

„Leibge-dächtnis“ (LK 266) verstanden werden, welches identitätsrelevant sei, da es

Routinehandlungen ermögliche. Im Grunde ist hier die Rede von dem, was Bourdieu als ‚Einschreiben in den Leib‘ bezeichnet und und was schließlich den Menschen in seiner Gesamtheit – leiblich wie geistig – prägt und ihm zu einem „Gespür für die soziale Welt“ (Barlösius 2011, S. 32) verhilft. Dieses Gespür nennt Gugutzer den „Spürsinn“ (LK 304).

57 So erklärt Gugutzer beispielsweise die äußerlich wahrnehmbaren Gesten, die gemeinhin

als Zeichen von Unsicherheit gedeutet werden, wie z.B. das Drehen an einem Fingerring, das ständige Streichen über den Bart oder Ziehen am eigenen Ohrläppchen. In solchen Situationen des „Selbstkontakt[s]“ sei der Leib sowohl wahrnehmend (z.B. die Hand) als auch wahrnehmbar (z.B. das Ohrläppchen) und verschaffe dem Individuum Selbstgewiss-heit (LK 241).

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Gugutzers Modell ist in gewisser Weise zeitlos, da es ein Geflecht von Beziehungen in den Vordergrund stellt, welches sich gleich einem Netz aus Gummibändern in unterschiedlichen Kontexten ‚verziehen‘ lässt. So können bestimmte Beziehungen hervorgehoben werden, andere dagegen in den Hin-tergrund treten; ebenso kann eine bestimmte Beziehung enger werden, während eine andere weiter wird. Allerdings baut das Modell auf dem ge-genwärtigen Körperdiskurs auf und verleiht den soziologischen Konstrukten Leib und Körper eine Bedeutung, die sich nur innerhalb dieses spezifischen – historischen – Kontextes erklären lässt.

4.2. Bourdieus Modelle von Habitus und Feld

Obwohl Gugutzer Bourdieus Konzept des Habitus berücksichtigt und auch die milieuspezifische Prägung von Körperbildern betont, bleibt die enge Verknüpfung der Konzepte des Habitus und des Feldes etwas vage. Bei Bourdieu stehen diese beiden Modelle aber in ständiger Wechselwir-kung, weshalb gerade diese Korrelation für die Identitätsbildung relevant sein dürfte.

Bourdieus Konzept des Habitus (siehe Kapitel 3) ist keine Beschrei-bung eines existierenden Zustandes, sondern eine Hilfskonstruktion, mit der er menschliches Handeln erklärt. Der Habitus prägt das Individuum derart, dass seine Weltwahrnehmung und sein Handeln durch ihn bestimmt werden – und damit auch seine Identitätsbildung. Der Habitus wirkt, so Bourdieu, sowohl passiv als Kategorisierungs- als auch aktiv als Erzeugungsprinzip. Gugutzer bemerkt zudem, der Habitus „gewährleistet eine gewisse

Konti-nuität im Leben des Einzelnen“ (LK 114). Dies gilt sowohl für die

Stabilisierung der eigenen Identität (bzw. das „Identitätsgefühl“ bei Keupp u.a.), als auch für die Zuschreibung von Identitäten bei anderen. Entschei-dend ist, dass Menschen mit ähnlichen Biographien einen ähnlichen Habitus und damit ein ähnliches Netz von Werten, Interessen und auch Körperkon-struktionen aufweisen. Hier kann dann eine gesellschaftliche Identifikation stattfinden, die Zusammengehörigkeit vermittelt und gleichzeitig von ande-ren Gruppen abgande-renzt. Die Interaktion zwischen Subjekten, die ja für die individuelle Identitätsbildung essenziell ist, ist also nicht nur von z.B. der

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i. Dies hier ist ein Blindtext zum Testen von Textausgaben. Wer diesen Text liest, ist selbst schuld. Der Text gibt lediglich den Grauwert der Schrift an. Ist das wirklich so? Ist

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